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Einführung in das Projekt Industrie 4.0
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Einordnung, Programme, Akteure
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Was soll das Projekt Industrie 4.0 erreichen?
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Charakterisierung früherer Revolutionen der Produktivkräfte
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Begriffsklärungen
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Die erste industrielle Revolution
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Schlussfolgerungen aus der ersten industriellen Revolution
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Fließbandproduktion als zweite industrielle Revolution?
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Basistechnologien am Beispiel des automatisierten Fahrens
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Antiblockiersystem, Tempomat und Einparkhilfe
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Weitere Schritte zum automatisierten Fahren
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Veränderungen in der Automobilindustrie
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Industrie 4.0 in den Produktionsprozessen
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Vorbemerkung
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Entwicklung der allgemeinen Rechentechnik
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Numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen und Roboter
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Automatisierung der Produktion nach dem 2.Weltkrieg
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Das Projekt Industrie 4.0
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Mögliche Auswirkungen der Automatisierung auf den Arbeitsmarkt
Autor: pdietrich
Erwin Maurer
Einige Fragen und Anmerkungen zu „F. Gött: Über das Scheitern des maoistischen Entwicklungsweges in China: 1949-1978″
In dem Artikel behandelt F. Gött die Entwicklung in der VR China im Zeitraum von 1949 (Gründung der VR China) bis 1978 (Ende der „Kulturrevolution“), also die Ära Mao Tse-tungs. Der Autor wirft Fragen und Probleme auf und will mit seinem Beitrag zur Diskussion anregen. Dem will ich versuchen nachzukommen. Da auch ich kein ausgewiesener „Chinakenner“ bin, wird sich auch dieser Beitrag auf einige Fragen und Anmerkungen beschränken.
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Die Voraussetzungen bei der Gründung der VR China und die „Festlegung“ der Etappe des Programms der „neuen Demokratie“.
F. Gött beschreibt die „Voraussetzungen“ bei der Gründung der VR China, welche die KP CH vorfand. Dabei benennt er zwei wesentliche Aspekte: 1. die KP China ergreift die Macht „ an der Spitze einer Bauernarmee“ und 2. ihrer mangelnden Verbindung mit der Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung. Aus diesen richtig benannten Voraussetzungen ergibt sich aber auch die Schlussfolgerung, dass es in der KP Chinas, zu mindestens in dem betrachteten Zeitraum, auch ein reales Übergewicht von „Bauernrevolutionären“ gab. Noch 1956/57 waren mehr als 60% der Mitglieder der KP CH der Berufsbezeichnung nach Bauern. Der Anteil der Arbeiter betrug gerade mal 13-14%. Dies war weniger als der Anteil der Intellektuellen. Dieses Verhältnis hatte sich während der ganzen Periode nicht wesentlich verändert. Nur die Gesamtzahl der Mitglieder erhöhte sich stark. (Von 4,5 Mio. in 1945, auf 12,7 Mio. in 1957, auf 17 Mio. in 1961)i. Der Zuwachs erfolgte zumeist während großer Massenkampagnen. Bei den sogenannten Ausrichtbewegungen fand allerdings auch der Austausch von Mitgliedern statt. Dagegen blieb, bis zur Kulturrevolution, die oberste Führungsspitze, während der ganzen Zeit, relativ stabilii. Ich benenne diese Zahlen, weil sie auch etwas über den Charakter und die gesellschaftliche Basis der KP CH aussagt. Die Wirkung dieser Basis auf die Politik der KP CH wird allerdings in fast allen mir bekannten Untersuchungen weitestgehend vernachlässigt. Stattdessen wird die jeweilige Politik nur als Ergebnis des ideologischen Kampfes der verschiedenen Fraktionen in der Führung und ihren jeweiligen Anhängern („Maoisten“ bzw. „Pragmatiker“, „Parteirechte“) reduziert.
Das Programm der „Neuen Demokratie“ wird als „richtig für die Etappe der nationalen Konsolidierung und des sozialen und demokratischen Wandels“ beschrieben. Zuvor aber wird das „Nichtvorhandensein“ einer „Strategie“ und Zeitvorstellung des Übergangs von „der 1. Etappe“, „zur 2. Etappe des Sozialismus“ kritisiert.
Aber, so frage ich, wäre eine konkrete Festlegung Mitte der 1940er Jahre, zur Länge der verschiedenen Etappen, nicht utopisch gewesen? Diese Kritik steht dann auch im Widerspruch zu der Feststellung, dass der, in der „Generallinie“ nach der Machtergreifung 1952, festgelegte Zeithorizont für die Vollendung der 1. Etappe, wiederum eine „bürokratische Festlegung“ gewesen sei.
Im Übrigen wäre zu berücksichtigen, dass die KP CH die 1. Etappe als Fortsetzung und Vollendung der von Sun Yat-sen begonnen demokratischen Revolution ansah. Es gab dafür sowohl inhaltliche, als auch Bündnis– und Machtpolitische Gründe. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass es für den Machterhalt, ein zweites „Standbein“, die „nationale Frage“ bedurfte, was in dem Artikel nicht explizit benannt wird. Daher ist die nationale Frage und das Verspechen der KPCH bei der Proklamation der VR China, ihre Einheit und frühere Größe wiederherzustellen und in diesem Zusammenhang auch die chinesische Außenpolitik, stärker zu beachten.
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Die Industriepolitik, das Verhältnis von Industrie und Landwirtschaft und die Veränderung der Eigentumsverhältnisse.
Warum entschied sich die VR China für die Industriepolitik mit Schwerpunkt Schwerindustrie?
Richtig ist dabei der Hinweis auf die Außenpolitik (d.h. die Militärfrage). Dieser Punkt gab (auch für Mao Tse-tung) bei der Debatte des 1. Fünfjahrplanes und der Festlegung für den Vorrang der Schwer- statt der Leichtindustrie, den Ausschlag für die Schwerindustrie. Ansonsten war es, meiner Meinung nach, nur einer unter mehreren Punkten. Weitere Punkte waren:
1. Die Unerfahrenheit der KP China bei der Leitung und dem weiteren Aufbau der industriellen Produktion. Es gab nur das Beispiel der SU aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Daher war der 1. Fünfjahresplan der VR Chinas mehr oder weniger eine Kopie des 1. Fünfjahresplans der SU.
2. Die verstaatlichte (d.h. von der Kuomintang übernommene) Industrie in China war hoch konzentriert angelegt (wie Mao Tse-tung feststellteiii) und die Leichtindustrie hatte Überkapazitäten. Trotz der Schwierigkeiten waren die industriellen Wachstumszahlen im Ersten Fünfjahresplan enorm (durchschnittlich 18% pro Jahr). Auf die Leicht- und Konsumgüterindustrie entfielen 1957 noch ca. 50% der industriellen Bruttowertschöpfung, was eine relativ gute Versorgung der Bevölkerung, vor allem in den Städten, sicherstellte.
Richtig ist, dass Mao Tse-tung ab 1956 diese Frage kritischer sah und die direkte Kopie der Industrialisierungspolitik der SU kritisierte. Ein wesentlicher Punkt dabei war die Erkenntnis, dass die Größe der Investitionen die chinesische Landwirtschaft überforderte. Dazu gehörte auch, dass sich die landwirtschaftliche Produktion langsamer entwickelte als erwartet bzw. erhofft? Er verlangte bei der weiteren Entwicklung auf „2 Beinen zu stehen“, also die Investitionen in die Landwirtschaft zu erhöhen. Aber gerade seine Kritiker (die so genannten „Leninisten“) verteidigten die alte Politik und wollten sie fortführen. Sie hatten die Mehrheit auf dem 8.Parteitag und es gab nur minimale Plananpassungen zu Gunsten der Landwirtschaft im zweiten Fünfjahrplan 1958 bis 1962. Erst das Desaster des „großen Sprungs“ überzeugte die Planer von der Notwendigkeit, der Landwirtschaft mehr Priorität einzuräumen.iv
Diente die Kampagne gegen „die 5 Übel“ bereits dem Ziel der „Sozialisierung des Privathandels und der Privatindustrie“? Ich meine nein. Sie diente mehr der Durchsetzung der staatlichen Macht gegenüber der „gesetzwidrigen Tätigkeit kapitalistischer Elemente“ auf ökonomischen und rechtlichen Gebieten (Steuern, Veruntreuung, Bestechung, Verrat von Staatsgeheimnissen). Tschou En-lai verweist darauf, dass erst auf Basis des Sieges dieser Kampagnen die Durchsetzung des „Kontrollierten Staatskapitalismus“ möglich war.v
Im Übrigen ist zwischen „nationaler Bourgeoisie“ und „Handwerk und Kleinhandel“ zu unterscheiden. Letztere sollten auch nicht ausgekauft, sondern in Genossenschaften zusammengefasst werden, was auch geschah, parallel bzw. im Anschluss an die Genossenschaftsbewegung auf dem Lande.
Die Erfolge der Industriepolitik für den „Aufbau des Sozialismus“ waren zwiespältig:
Einerseits gab es hohe Wachstumszahlen, aber andererseits ist auch richtig, dass all die Maßnahmen nur begrenzt zu „höherer Effizienz“ führten. Offen bleibt für mich die Frage, ob die Formel „der Vollendung der sozialistischen Revolution, das Eigentum an Produktionsmitteln betreffend“, richtig war, auch wenn sie von der Mehrheit der KP Chinas getragen wurde. Inwieweit war diese „ Vergesellschaftung“ eine rein formale? Inwieweit war sie auch inhaltlich? Trotz der dauerhaften Probleme mit der Unternehmensführung und einer Arbeiterklasse, die noch keine „Klasse für sich“ war, also auch nicht auf der Höhe der Zeit stand. Aber das ist ein Problem, welches in fast allen Ländern mit „nachholender Industrialisierung“, die den Weg des Aufbaus des Sozialismus beschritten haben, zu beobachten ist.
Auch für Mao Tse-tung waren mit der formalen Änderung, die Eigentumsverhältnisse betreffend, neue Produktionsverhältnisse geschaffen, weil die Basis, d.h. das Eigentum an Produktionsmitteln, nur noch in „sozialistischer oder halbsozialistischer Form“ existierte. Damit waren die wesentlichen Widersprüche, die gelöst werden mussten, nichtantagonistisch und in den Überbau gewandert.vi Die Freisetzung der Produktivkräfte fand aber dadurch nicht automatisch statt. Mao Tse-tung selbst, setzte sich in der Hauptsache nur mit der Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft auseinander. Sie war der Schlüsselbereich, der die weitere Entwicklung in der VR China bestimmte. Die große Industrie entwickelte sich aber nicht im Selbstlauf. Leider gibt es dazu wenig Literatur. Es werden fast immer nur quantitative Erfolge/Misserfolge genannt. Zu qualitativen Veränderungen gibt es weniger Aussagen. Einige Zahlen hierzu gibt es in Tschou En-lais Schrift „Das große Jahrzehnt“. Dort verteidigt er u. A. „die Einführung der Arbeitsmethoden der Massenbewegung beim sozialistischen Aufbau“, gegenüber den Kritikern, die der Meinung waren, die Ergebnisse der Bewegungen könnten „nur ‚mehr und schneller‘, aber nicht ‚besser und wirtschaftlicher‘ sein“. Er begründete damit, anhand einiger Zahlen von verkürzten Bauzeiten und Kostensenkungen bei Investitionen, seine Aussage, dass „in der Produktion die Losung ‚mehr und schneller‘ gleichzeitig mit ‚besser und wirtschaftlicher‘ verwirklicht (wurde)“.
Der Charakter bzw. die Schwäche der Arbeiterklasse in der VR China, ist in dieser Zeit auch dadurch gekennzeichnet, dass sie z.B. in den Massenbewegungen auf dem Land nicht als ihre führende Kraft auftritt. Die „Führung durch die Arbeiterklasse“, in diesen Bewegungen ist eine rein „ideologische Führung“ vermittelt über die Parteikader, hauptsächlich rekrutiert aus der „revolutionären Armee“ und der armen Bauernschaft. Statt auf die Arbeiterklasse, greift die Partei, bei Bedarf, fast immer auf die „rote Armee“ zurück, entweder als Organisator dieser Bewegungen (wie im „gro8en Sprung“) oder als einziger Garant des Machterhalts (wie in der Kulturrevolution).
Zum Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung der Produktionsverwaltung:
1954 waren erst 43% des Bruttoproduktionswerts der Industrie unter zentraler Kontrolle. Der Rest entfiel auf Unternehmungen der Lokalverwaltungen, der Privat- und Genossenschaftsbetriebe. Der Höhepunkt der Dezentralisierung wurde 1956 erreicht, als 70% der Betriebe unter Kontrolle der Zentralministerien stand. Es gab fortwährende Spannungen zwischen der Zentralisierungstendenz der Zentralministerien und Dezentralisierungsbestrebungen der lokalen Behörden. 1958 wurde dann eine weitgehende Dezentralisierung eingeleitet. (80% der Betriebe, die von Zentralministerien kontrolliert wurden, werden Lokal- und Provinzverwaltungen unterstellt.) Die Lokalverwaltungen erhielten größere Freiheiten bei Planung der Produktion und bei Investitionen. Nur Schwerpunktbetriebe von Schlüsselindustrien (Stahlindustrie, Maschinenbau, Energie- und Erdölwirtschaft, sowie Chemische Industrie und Bergbau) verblieben bei zentralen Ministerien. Diese Dezentralisierung wurde durch die Gründung der Volkskommunen (lokale Industrialisierung) und während der Kulturrevolution (Propagierung autarker Wirtschaftsbezirke und Vorbereitung auf den Kriegsfall) weiter befördert.
Die Dezentralisierung ging Hand in Hand mit der Verstärkung der „indirekten Kontrolle“. Sei es durch „Parteikomitees, Revolutionskomitees, Armeekader oder durch Bindung der Betriebe an die jeweiligen Zweigstellen der allgegenwärtigen Volksbank“.vii
Ein Grund für die Dezentralisierung war die Erkenntnis, dass das riesige Land, mit seinen sehr verschiedenen lokalen Bedingungen, nur schwer über eine Zentrale zu steuern war.
Mit der Dezentralisierung war auch eine Kritik an der zeitgleich von der KPDSU propagierten Politik verbunden, dass jedes sozialistische Land nur noch das produzieren sollte, was es am besten konnte, und die anderen Produkte und Leistungen zukaufen sollte. Im Gegensatz dazu sollte, in der VR China, jede Provinz möglichst alle Produkte zur Deckung des eigenen Bedarfs selbst produzieren, solange dies die Gesamtlage nicht behinderte.
Die Dezentralisierung sollte aber nicht nur die relative autonome Entwicklung der verschiedenen Provinzen sicherstellen, sondern war mit der Hoffnung verbunden, die wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und das Land schneller verändern zu können.
Mao Tse-tung sah z. B. in der zentralen Verwaltung der chinesischen Dynastien, seit dem 2.Jht., einen Grund für die langsamere Entwicklung in China, im Vergleich zu Europa.
Wie sollte das neue Verhältnis von Zentraler zu Dezentraler Steuerung und Verantwortung funktionieren?
Mao Tse-tung schrieb: „Wir wollen erreichen, dass das ganze Land einheitlich, jede Provinz aber [gleichzeitig] selbständig ist; das bedeutet relative Einheit und zugleich relative Unabhängigkeit.
Jede Provinz folgt den Beschlüssen der Zentrale, unterliegt der Kontrolle der Zentrale, entscheidet aber unabhängig ihre eigenen Fragen. Die Beschlüsse der Zentrale über wichtige Fragen werden indes nicht allein von ihr, sondern in Absprache mit jeder Provinz gemeinsam gefasst, wie zum Beispiel die Beschlüsse der Lushan – Konferenz: Sie entsprechen sowohl den Notwendigkeiten des ganzen Landes als auch denen einer jeden Provinz.“viii
Ich beschreibe dies deshalb so ausführlich, weil mit dieser Art der Machtteilung, der Abstimmungsbedarf zwischen den verschiedenen Einheiten sich enorm erhöhte und auch einige Prozesse und Abläufe, während des großen Sprungs, verständlicher werden. Damit wird auch deutlich, warum es unterschiedliche (auch gegenläufige) Beschlüsse, innerhalb kürzester Zeit, durch verschiedene Gremien (ZK-Konferenzen, Politbüro etc.) gabix. Damit bestand auch die Möglichkeit, nicht genehme Beschlüsse in dem einen Gremium, durch genehmere Beschlüsse in einem anderen Gremium zu ersetzen. Auch Mao Tse-tung scheint davon reichlich Gebrauch gemacht zu haben.x
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Die Bauernpolitik der KP CH und die Massenbewegung auf dem Lande.
Der Ablauf und die Veränderungen in der Bauernpolitik werden korrekt dargestellt. Dabei bleibt aber die Frage nach dem Grund für die Kollektivierung unbeantwortet. Der Vorwurf des Voluntarismus der Maoisten ist mir hier zu einfach. Meiner Meinung nach war die „Kollektivierung“ eine notwendige Konsequenz der Bauernreform. Diese war, wie richtig feststellt wird, ein politischer Erfolg. Die „alte Gentry“ hatte ihre Vormachtstellung im Dorf verloren und war durch neue Kader (Aktivisten) der „armen Bauern und Landarbeiter“ ersetzt worden. Sie war aber auch „ein ökonomischer Rückschritt“, wegen der starken Ausweitung der auf die Einzelfamilien bezogenen Parzellen und dem Mangel an Arbeitskapital (Zugtiere und Geräte)xi. Schon nach kurzer Zeit war der Anteil der Mittelbauern auf Kosten der armen Bauern wieder gestiegenxii. Die erreichten Produktivitätsfortschritte waren geringer als erwartet. Sie waren bereits ab 1952 wieder rückläufig. Außerdem wurden sie fast komplett von der kräftigen Bevölkerungszunahme aufgesogen (Die landwirtschaftliche Produktivität wuchs um 2,7% pro Jahr, bei einem Bevölkerungswachstum von 2,1%xiii). Die Landwirtschaft sollte aber die „Mittel für die Industrialisierung“ liefern.
Die Frage, die sich auch mir stellt, ist die nach der „spontanen Massenbewegung“ für die Kollektivierung? Sie wurde wohl von Mao selbst, an der Mehrheit der Parteiführung vorbei eingeleitet, gestützt auf seine Anhänger bei den niedrigen Parteikadern auf dem Land.
Hatte er recht mit dem Vorwurf der „Nachtrabpolitik“? Zumindest scheint die anfängliche große Begeisterung, ihn selbst überrascht zu haben. Der Beitritt zu den Produktionsgenossenschaften sollte freiwillig sein. Auch wenn nachträglich bekannt wurde, dass oft die örtlichen Kader massiv nachgeholfen haben, war die Forderung, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, richtig. Denn es ging dabei auch darum. die Genossenschaftsbewegung nicht den großen Mittelbauern in den Dörfern zu überlassen. Deshalb sollten sie anfangs auch bewusst nicht in die Genossenschaften aufgenommen werden. Offen bleibt für mich die Frage, warum es 1956 einen weiteren „Umschlag“ zur Beschleunigung der Bewegung gab, ohne dass die ersten Erfolge konsolidiert waren?
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Die Politik des „großen Sprung nach vorne“ und die Initiierung der „3 roten Banner“.
Dabei stellt sich die Frage, warum der „Konsens des 8. Parteitags“ (und das „zurückkehren“ zur „Neuen Demokratie“) von den gleichen Delegierten 1958 wieder revidiert wurde?
Meiner Meinung nach waren mindestens drei Ereignisse dafür mit Ausschlag gebend:
Der 20. Parteitag der KPDSU, der Ungarn Aufstand (und die Suezkrise 1956) sowie das Umschlagen der Losung „lasst 100 Blumen blühen…“ zu einer umfassenden Kritik an der Politik der KP Chinas und ihrer Führung im Lande (1957). Sie zeigte, dass die Führung durch die KP doch nicht so gesichert war, wie geglaubt. Gleichzeitig war eine „rapide steigende Arbeitslosigkeit in den Städten“ zu verzeichnen.xiv Es ging um „den Machterhalt nach innen und nach außen“. Dieser schien jetzt gefährdet. Zumindest wurde die Macht der KP CH in Frage gestellt
War dies einer der Punkte, der einerseits die Kritiker gegenüber der Einschätzung Mao Tse-tungs zur „großen Demokratie“ bestätigte, aber andererseits wiederum sie auch zum Teil verstummen ließ?
Gleichzeitig aber schien die Rekordernte, die im Jahr 1958 in der landwirtschaftlichen Produktion zu verzeichnen war, zum Teil die erwarteten Erfolge der Kollektivierung zu bestätigen und in einigen Provinzen wurden die LPG ’s zu Kommunen zusammengefasst, bevor es dazu Beschlüsse der zentralen Gremien gab. xv.
Waren es diese Erfahrungen und Erkenntnisse, die erneut die Mehrheitsverhältnisse, für eine Politik der weiteren Vergesellschaftung, d.h. die Politik der „3 roten Banner“ und dem „großen Sprung nach vorn“ veränderte? Oder waren auch außenpolitische Aspekte, wie die außenpolitische Isolierung der VR China durch die USA und das Verhältnis zur SU mit maßgebend?xvi
Letztendlich war diese Politik der Versuch, sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen, und die Entwicklung zu beschleunigen, mit dem einzigen Mittel, das an Überfluss vorhanden war, dem koordinierten Arbeitseinsatz der chinesischen Landbevölkerung. Dabei möchte ich auch auf F. Götts Darstellung der Debatte nach dem 8. Parteitag und zum 2. Fünfjahresplan hinweisen. Es gab den Gegensatz: „Fortführung der alten Planung“, trotz der erkannter Probleme (was die Gegner Maos in der KP-Führung wollten), oder „zurück zu Yan‘ an“ und einer „Massenmobilisierung“ mit dem Ziel die landwirtschaftliche Produktion, ohne zusätzlichen Kapitaleinsatz, zu steigern (was Maos Vorstellung entsprach). Übrigens eine Entwicklungsstrategie die, nach K. Seitz, „vom Grundgedanken her … durchaus vernünftig (erschien)“.xvii Es sollte ein Befreiungsschlag nach vorne sein. Daher stimme ich, der zitierten These Wemheuers, „Flucht nach vorne aus einer politischen und sozialen Krise“ eher zu, als der Position H. Peters, der im „ Sprung nach vorn“ eine logische Fortsetzung der „voluntaristischen“ Politik Maos sieht, ohne erklären zu können, warum die Mehrheit seiner bisherigen Kritiker ihm 1958 folgen. Dabei spielte der Versuch ohne Hilfe der SU, bzw. mit möglichst eigenen Mitteln, eine relativ schnellere Entwicklung beim Aufbau des Sozialismus als die SU zu erreichen und sogar früher zum Kommunismus übergehen zu können, eine nicht zu vernachlässigbare Rolle. Die Einschätzung, dass dies möglich sei, war nicht nur bei den „Maoisten“ vorhanden.xviii
Aber warum kam es zu der großen Hungersnot?
Waren die Naturkatastrophen oder die fehlerhafte politische Linie oder die fehlerhafte Umsetzung der Korrekten Linie die Ursache? Meiner Meinung nach war es das Zusammenwirken aller drei Komponenten.
Mao selbst soll, nach einer Aussage Deng Xiaopings in einem Interview in den achtziger Jahren, als Erster eine Korrektur der Politik des „großen Sprung“ eingeleitet habenxix. Als problematisch muss allerdings das „Klima“ eingeschätzt werden, in dem die Auseinandersetzung um den „großen Sprung“ stattgefunden hat. Auch bei führenden Kadern gab es die (berechtigte) Angst in die rechte Ecke gestellt und für seinen Konservatismus verurteilt zu werden.xx Umgekehrt scheint Mao, trotz permanenter Aufforderung zu Kritik und Selbstkritik, selbst immer weniger Kritik an sich geduldet zu haben. Das allgemeine „Klima“ in dem der „große Sprung“ umgesetzt wurde (einerseits eine außerordentliche Euphorie der Massen, bei gleichzeitiger Verunsicherung eines Teils der Kader), scheint auch eine frühzeitige Rückmeldung des Elends auf dem Lande verhindert zu haben, trotz aller Aufforderungen Mao Tse-tungs an die Kader vor Ort, „nicht mit Erfolgen zu prahlen“ und nur „realistische Vorgaben“ umzusetzenxxi. War es die Angst vor „vorgesetzten Kadern“ die vorgegebenen Planzahlen nicht erreichen zu können und der Unfähigkeit oder des Boykotts geziehen zu werden, oder war es die Angst eingestehen zu müssen, dass die selbst gesteckten „unrealistischen Ziele“ nicht erreichbar waren und damit die Gefahr bestand „das eigene Gesicht zu verlieren“? Es war wohl von allem etwas.
Auf jeden Fall waren die Angaben über die gute Ernte im Jahr 1958 schon „maßlos übertrieben“. Die nicht erreichten Planzahlen von 1958 wurden als Grundlage für die Planung und die staatlichen Getreideabnahmemengen in 1959 und 1960 übernommen. Die schlechten Witterungsbedingungen ließen die landwirtschaftliche Produktion ihrerseits einbrechen, aber dass der größte Teil der Erntekatastrophe von „Menschenhand“ verursacht wurde, scheint wohl nach heutigen Erkenntnissen unzweifelhaft zu sein.xxii Dazu trug auch der, bei F. Gött ausführlich beschriebene, fehlerhafte Einsatz der Arbeitskräfte, wegen der gleichzeitig durchgeführten Stahlkampagne und die Unerfahrenheit der Kader vor Ort bei. Die überzogenen Planzahlen wurden im August 1959 zwar angepasst und entsprechend der tatsächlichen, geringeren Ernteerträge von 1958 und dem ersten Halbjahr 1959 nach unten revidiert, aber die Politik des „großen Sprungs“ wurde nicht in Frage gestellt. Sie wurde weiter als Erfolg propagiert, da die vorzeitige Erfüllung des zweiten Fünf-Jahrplans, trotz der reduzierten Planzahlen, erwartet wurde.xxiii Diese Berichtigung der Planzahlen kam wohl schon zu spät und die weitere Verschlechterung in der landwirtschaftlichen Produktion wurde nicht vorhergesehen.xxiv
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Die Politik der „3 Roten Banner“, ein Versuch der radikalen Änderung der Produktionsverhältnisse auf dem Lande.
Der „große Sprung“ wurde nicht nur mit dem Ziel ausgelöst, die Produktion und die Akkumulation, aus eigener Kraft und mit den eigenen vorhandenen Ressourcen, sprunghaft zu steigern, sondern die Produktionsverhältnisse (vor allem auf dem Lande) schrittweise zu verändern. Als Anhänger der „permanenten Revolution“ und der „Entwicklung der Revolution in Etappen“, ging die Mehrheit der KPCH davon aus, dass „zwischen Sozialismus und Kommunismus keine ‚Große Chinesische Mauer‘ liegt und auch nicht liegen darf“, dass man aber die verschiedenen Qualitativen Stufen nicht miteinander vermischen und überspringen darf. Andererseits wird hervorgehoben, dass jede (auch kleine) Änderung der Produktionsverhältnisse eine Qualitative Veränderung darstellt, die wiederum die Voraussetzung für die potentielle Freisetzung d.h. auch Steigerung der Produktivkräfte ist. Unter diesem Gesichtspunkt ging es also auch darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse immer weiter zu treiben, und „entsprechende Maßnahmen ein(zuleiten), die den Bedürfnissen der schrittweisen Veränderung der Produktionsverhältnisse und dem allmählichen Reifen des Bewusstseins der Massen entsprechen.“xxv Zu beurteilen wäre also auch, inwieweit die „eingeleiteten Maßnahmen“ sowohl den Bedürfnissen der Anpassung der Produktionsverhältnisse, als auch dem Bewusstsein der Massen entsprach.
Dazu gehörte vor allem die Veränderung der Produktionsverhältnisse auf dem Land, um Industrie und Landwirtschaft parallel entwickeln zu können. Ich will nur einige erwähnen. Die Industriestandorte lagen, historisch bedingt, an der Küste. Damit war die Versorgung der Landwirtschaft mit Industriegütern, aber auch die Versorgung der Industrie mit Grundstoffen, wegen der fehlenden Transportkapazität, erschwert. Daher sollten vor allem auf dem Lande neue Industrien entstehenxxvi. Auch die Bevölkerungszunahme und die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft durch die Genossenschaftsbewegung, auch wenn sie geringer als erwartet war, verlangte die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen auf dem Lande, damit die „freiwerdenden Bauern“, nicht auch noch in die Städte abwandertenxxvii. Dazu war vor allem die Ansiedlung von Industrien vor Ort notwendig, die nach herkömmlichen, also arbeitsintensiven Methoden produzierten, da sie nur geringe Investitionskosten erforderten und viele Arbeitsplätze schafftenxxviii. Dazu war, nach Tschou En-lai, die Entwicklung zu Volkskommunen der notwendige Schritt.xxix Das war nach Einschätzung der Mehrheit der KP CH die objektive Seite.
Umgesetzt werden sollte und musste sie mit der subjektiven Seite, der Masse der Bauern. Dabei wurden auch Ziele, Losungen und damit auch Versprechen, formuliert, bzw. Hoffnungen geweckt, die zu mindestens kurzfristig nicht zu erreichen waren. Die Hoffnung, auf kurzfristige Verbesserungen, der immer noch relativ schlechten Versorgungslage auf dem Lande, löste einerseits eine große Euphorie bei vielen aus, führte aber bei „Nichterfüllung“ auch notwendigerweise bei Vielen zu großem Frust. So gab es z.B. das Versprechen von Kadern, dass der aufopferungsvolle Produktionskampf (z.B. bei der Wasserbauregulierung 1957/ 1958) sehr schnell oder gar direkt ins „Paradies des Kommunismus“ führt. Aber trotz des riesigen Einsatzes blieb es „ein armer Sozialismus und Kommunismus“. In Wirklichkeit wurde kurzfristig sogar das Gegenteil, eine absolute Verschlechterung der Lebenslage, erlebt. Mit dieser Euphorie und den fehlerhaften Vorstellungen, von den notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen, beim „Übergang zum Kommunismus“, sind auch die Anfangs überzogenen Organisationsstrukturen bei den Volkskommunen, sowie die teilweise durchgeführten „Verteilungsmechanismen“ zu erklärenxxx.
Ein weiteres Beispiel, für nicht erfüllte Perspektiven, lässt sich bei der Jugend feststellen, der erstmals, massenhaft überhaupt eine Schulbildung ermöglicht wurde, (d.h. bei den Kindern der Arbeiter und armen Bauern), die sich zur „neuen Intelligenz“ entwickeln sollte. Auch hier war die Erwartung um vieles größer, als in der Realität darstellbar. So konnte vielen jungen Intellektuellen und Arbeitern nach dem „großen Sprung“ keine qualifizierten Arbeitsplätze in der Stadt bzw. in der Industrie angeboten werden, sondern sie wurden auf das „Land verschickt“. So fielen auch diese nicht erfüllten Erwartungen, zu Beginn der Kulturrevolution auf einen fruchtbaren und massenhaften Boden, da sich die Widersprüche und Probleme, an den Schulen und Hochschulen besonders zeigten. Auch hier zeigte sich, dass die anfängliche Euphorie über das ursprüngliche Ziel hinausschoss, sich gegen die KP und ihre Institutionen insgesamt richtete und nur durch Einsatz der Volksarmee das zeitweise Chaos beseitigt werden konnte.
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Charakter der Massenbewegungen und „revolutionäre Ungeduld“.
Diese Periode in der VR China war durch noch weitere, immer wiederkehrende Probleme, gekennzeichnet.
Es fehlte vielerorts an qualifizierten Kadern. In der „modernen Industrie“ war man auf die russischen Experten angewiesen, die dann 1960 abgezogen wurden. Zum Teil verweigerten sich die „alten Intellektuellen“, die nicht ohne weiteres durch die „neuen Intellektuellen“ aus der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft ersetzt werden konnten, da es ihnen an praktischer Erfahrung fehlte.
Die sich permanent entwickelnde Bürokratie und die immer wieder zu beobachtende Korruption, auch bei einigen Kadern der kommunistischen Partei, zur Erhaltung ihrer Stellung, waren nicht nur durch gutes Zureden (und Appelle an die guten Kommunisten) zu verhindern. Garantierten sie doch in der Regel ein „besseres Leben“, als es die einfachen Arbeiter und Bauern hatten. Erscheinungen, die immer auch dann stärker hervortraten, wenn die „Pragmatiker“ zur Steigerung der Produktion, teilweise auch notgedrungen, auf materielle Anreize setzten.
Mit welchen Methoden waren diese „Verkrustungen“, die sich immer wieder neu bildeten, zu beseitigen und zukünftig zu verhindern?
Mao Tse-tung sah in diesen Erscheinungen Widersprüche, die er sowohl durch wiederholte „Ausrichtbewegungen“ innerhalb wie außerhalb der Partei, als auch durch die Massenbewegungen lösen wollte.xxxi
Daher ist die letzte Frage, die ich aufwerfen will, die zum Charakter der Massenkampagnen.
Einerseits dienten sie der politischen Erziehung der Massen (Arbeiter und vor allem Bauern). Andererseits schossen die Massenbewegungen immer wieder über das ursprüngliche Ziel hinaus. (Z.B. der direkte Sprung in den Kommunismus bei der Gründung in einigen Volkskommunen, oder das nicht mehr beherrschbare Chaos in der Kulturrevolution?).
Im Gegensatz zur „Stellvertreter Politik“, wie sie in anderen sozialistischen Ländern zu beobachten war und die man vermeiden wollte, war es im Wesentlichen ein Rückgriff auf die positiven eigenen Erfahrungen im Befreiungskampf.xxxii
Mao geht richtig davon aus, dass die „Massen die Geschichte machen“, und er stellt fest, dabei „kommt (es) auf das Handeln der Menschen an“.xxxiii
Ihm ist auch klar, dass dazu eine richtige Theorie gehört. Daher auch seine regelmäßig formulierte Forderung nach Aneignung dieser Theorie (des Marxismus – Leninismus) und eines wissenschaftlichen Arbeitsstils, sowie dem Studium der materialistischen Dialektikxxxiv. Die niedrige Kultur der Massen, aber auch der Kader, erschwerten einerseits die Umsetzung dieser Forderung, führte aber andererseits auch zu fehlerhaften Entwicklungen, die dann regelmäßig nachträglich korrigiert werden mussten.xxxv
Auch wenn Mao den allgemeinen Erkenntnisprozess richtig beschreibt, dass „ die Menschen über die Praxis Erfolge erringen (müssen) und Niederlagen erleiden, wenn Probleme auftauchen. Erst durch einen solchen Prozess kann die Erkenntnis schrittweise vordringen“. Und wenn es weiter heißt, „erst wenn man viele Siege und Niederlagen erlebt hat und außerdem gewissenhaft geforscht hat, kann man schrittweise die eigene Erkenntnis in Einklang mit den Gesetzen (d.h. die objektiven Gesetze der Dinge und Prozesse d. V.) bringen“xxxvi, so muss man anfügen, dass dazu entsprechend Zeit benötigt wird. Sowohl zum Studium dieser Gesetze, als auch zur „Verarbeitung“ der eigenen sowie der kollektiven Praxis.xxxvii
Zumindest scheint mir die Erwartung unrealistisch gewesen zu sein, dass während der Massenkampagnen diese Massen selbst, neben der geforderten erhöhten Produktionstätigkeit auch das vertiefte Studium der Theorie leisten konnten. Vor allem auch weil, in kurzen Abständen, eine Kampagne die nächste ablöste. Daher blieb es wohl eher bei einem oberflächlichen Studium und bei einer widersprüchlichen Verarbeitung der gemachten Erfahrungen.
Auch zwischen der ausformulierten, allgemeinen Theorie, den z.T. daraus abgeleiteten Forderungen, und deren Umsetzung in die reale Praxis, ist öfters ein Widerspruch festzustellen.
Die realistischen Möglichkeiten bei der Umsetzung werden immer wieder überschätzt, bzw. es wird im Rückgriff auf die Erfahrung in Yan’an und der ersten Erfolge der Genossenschaftsbewegung, davon ausgegangen, dass die Massen auch zukünftig unter Anleitung der Kader bereit sind, riesige, aufopferungsvolle Anstrengungen zu vollbringen, um ihre Armut zu beseitigen. Bei vielen Kadern wurde die Frage nach der Realisierung der Ziele und ob sie auf Grund der konkreten Bedingungen vor Ort überhaupt umsetzbar sind bzw. welche Zeit man dafür benötigt oft nicht gestellt. Das war z.T. der eigenen revolutionären Erwartung, der Parteidisziplin, aber auch dem oft sehr niedrigen Wissensstand geschuldet.
Auch ich würde bei Mao Tse-tung von „revolutionärer Ungeduld“ sprechen.
Dabei ist festzustellen, dass er bei der Analyse der Verhältnisse, immer von längeren Zeitvorgaben ausgeht, dabei oft niedrigere quantitative Ziele setzt und bei der Umsetzung zur notwendigen Geduld mahnt. Dies ändert sich aber, seit Mitte der 50er Jahre immer dann, wenn die Massen vor Ort beginnen die propagierten Ziele der Partei umzusetzen und die Initiative ergreifen. Auch wenn die Massen dabei oft von den Kadern, mit viel Druck vor Ort, überzeugt werden müssen. Dann fordert er, im Gegensatz zu den „Mahnern“ in der Partei, die Bewegung sogar noch zu beschleunigen und die festgelegten Ziele zu erhöhen. Auch begrüßt er in der Regel die „vorzeitige Übererfüllung“, der gesetzten Ziele.xxxviii Dabei sind ihm die politischen Ziele meist wichtiger als die Ökonomischen.
Auch wenn er dabei regelmäßig die Forderung erhebt, die Qualität bei der Umsetzung zu beachten, so scheint die gleichzeitige Forderung nach Erfüllung von immer höher zu setzenden, quantitativen Zielen, eine gute qualitative Umsetzung oft verhindert zu haben. Was dabei ebenso vernachlässigt wird, ist oft die Frage nach dem Einsatz der verschiedenen Ressourcen und ihrem Verhältnis zueinander.
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Wie ist diese geschichtliche Epoche der VR China und das revolutionäre Handeln Mao Tse-tungs nun insgesamt einzuschätzen?
Letztendlich kann eine abschließende Bewertung nur gegeben werden, wenn man versucht „die Wahrheit in den Tatsachen“ zu suchen, d.h. die tatsächlich erreichten Ergebnisse (Erfolge und Misserfolge) zugrunde gelegt werden.
Betrachtet man die ökonomische Entwicklung über die gesamte Periode (1951-1975) so ist festzustellen, dass „nur“ jährliche Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts von durchschnittlich plus 4% erreicht wurden. Dabei wurden die guten Raten von plus 8 bis 9%, während den sogenannten „pragmatischen Phasen“ (1951-58; 1961-66; 1968-75), durch die Einbrüche während des „Großen Sprungs“ (minus 6-7%) und der „Kulturrevolution“ (minus 2-3%) kompensiert.xxxix
Dabei ist positiv zu vermerken, dass in dieser Zeit die industrielle Produktion in der VR China stark ausgebaut wurde. „Der Anteil der Industrie am materiellen Nettoprodukt Chinas war von 23% im Jahre 1952 auf 50% im Jahre 1976 gestiegen, der Anteil der Landwirtschaft von 58% auf 34% gesunken.“xl Dies gilt nicht nur für den Ausbau der Industrie in den Städten. In dieser Ära wurde auch die Grundlage für die Industrialisierung auf dem Lande gelegt. So stellt H. Peters fest, dass „mit dem „großen Sprung nach vorn“ in der Landwirtschaft in China gewissermaßen die Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Handwerk vollendet (wurde)“.xli Die erhoffte Produktivitätssteigerung durch die Kollektivierung in der landwirtschaftlichen Produktion war aber weitaus geringer als erwartet. Vor allem führte sie nicht zur dauerhaften Verbesserung der Lebenslage der Bauern. Diese stagnierte, ab 1958, mehr oder weniger über 20 Jahre, trotz der starken Ausdehnung des Arbeitseinsatzes der Bauern. Weiter lebten ca. 28% der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums. Die Bauern blieben durch die 1958 eingeführte Haushaltsregistrierung (Hukou) an ihr Dorf gefesselt. Dies wird von bürgerlichen Autoren meist kritisiert, ohne zu vermerken, dass diese Maßnahme die Bildung von Slums in den Städten, wie sie in anderen unterentwickelten Ländern zu beobachten ist, weitestgehend verhinderte.
Die von ca. 21% (1952) auf über 35% (1978) gesteigerte Akkumulationsrate wurde hauptsächlich für den Aufbau der Schwer- und Rüstungsindustrie verwendet. Die Versorgungslage der Bevölkerung war zwar über die ganze Periode (mit Ausnahme der Hungersnot während des „großen Sprungs“) gesichert, und es war ein Wachstum des durchschnittlichen Prokopfeinkommens von 2,3% zu verzeichnen. 1976 wurde aber pro Kopf der Bevölkerung nicht mehr Getreide produziert als 1957.xlii
Dieses Wachstum war aber hauptsächlich durch erhöhten Ressourceneinsatz zustande gekommen, was allerdings auch die Umweltbelastung erhöhte. Die „Brigade- und Kommune-Unternehmen“ produzierten oft mit Verlusten und die staatliche Großindustrie war zunehmend ineffizient. Nach K. Seitz ging „die totale Faktorproduktivität, also die Produktionssteigerung pro Arbeitsstunde und Kapitaleinheit, in der Mao-Zeit durchschnittlich um jährlich 0,8 Prozent zurück.“xliii
Mao – Tse-tung und die KP Chinas haben sich bei der nachholenden Industrialisierung des Landes hauptsächlich auf die Produktionskraft der Landbevölkerung gestützt, auf die einzig im „Überfluss“ vorhandene Ressource. Dabei führten die permanente Beschleunigung der Kampagnen und die gleichzeitig durchgeführte permanente Revolution, sowohl in der Politik als auch in der Produktion und Technik, zur zeitweisen Überforderung dieser Ressource. Die versprochenen, kurzfristig zu erreichenden Ziele wurden aber nicht erreicht.
Dies alles Mao Tse-tung und den „Maoisten“ anzulasten, weil sie zu früh den „Weg der Neudemokratischen Revolution“ verließen, halte ich aber für falsch. Die Stagnation in der Ökonomie und vor allem bei der Produktivität war ja auch in anderen sozialistischen Staaten zu beobachten. Gleichzeitig ist es fraglich, ob sich der erreichte Zustand, Mitte der 50er Jahre, über einen längeren Zeitraum stabilisieren ließ. Eine Entscheidung über die weitere Entwicklung schien erforderlich. Allerdings hat die Zuspitzung aller Probleme und Widersprüche auf den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit und der möglichen „Restauration des Kapitalismus“, viele richtige Lösungen der Probleme möglicherweise verhindert. Zu den teilweise chaotischen Verhältnissen trugen aber auch das niedrige kulturelle Niveau und die geringe Erfahrung beim Aufbau der Industrie bei.
Die Massenkampagnen sollten nicht nur die Produktion steigern, sondern sie sollten als politische Kampagnen die Bürokratisierung verhindern und die Korruption beseitigen. Erscheinungen die aus dem „alten China“ übernommen wurden und auch im „neuen China“ immer wieder neu entstanden sind. Dass sie durch diese Kampagnen auch nicht beseitigt werden konnten, zeigt auch der Verlauf der Kulturrevolution. Durch sie sollte die „Restauration des Kapitalismus in China“ verhindert werden. Das war zumindest die Absicht von Mao Tse-tung. Aber sie säuberte die KP CH nicht nur von „Anhängern des Kapitalismus“, sondern sie wendete sich auch gegen die KP insgesamt und entwickelte sich teilweise zum Bürgerkriegxliv.
Durch die Kulturrevolution sollte vor allem das Denken umgestaltet und eine „neue Generation von Revolutionären“ hervorgebracht werden. Dies wurde zwar z.T. erreicht aber nur auf Kosten eines sehr hohen Preises. In mehreren Bereichen hat sie stattdessen sogar zu einer weiteren Stagnation beigetragen. So hat sie z.B. den, auch von Mao Tse-tung geforderten, notwendigen Ausbau einer Schicht von Intellektuellen (und besser qualifizierten Fachkräften) aus der Arbeiter- und armen Bauernklasse für fast 20 Jahre unterbrochen. „1965 betrug der Anteil der Ingenieure und Techniker unter den Arbeitnehmern der Industrie über vier Prozent. Nun brachte die Kulturrevolution eine zehnjährige Ausbildungslücke. Bis 1976 sank der Anteil der technischen Fachkräfte auf 2,6 Prozent. Es dauerte mehr als zehn Jahre bis 1987 wieder das Niveau von 1965 erreicht war.“xlv Hier wird deutlich, wie eine richtige allgemeine Anweisung, wie „Rot und Sachkundig“ unter den konkreten anarchischen Bedingungen der Kulturrevolution sich in ihr Gegen teil verwandelte, und das „Rot“ nicht durch das „Sachkundig“ ergänzt, sondern stattdessen das „Sachkundig“ durch das „Rot“ weitgehend ersetzt wurde, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen.
Unabhängig von der ökonomischen Entwicklung sind für eine Gesamtbewertung auch noch weitere gesellschaftspolitische Veränderungen in der VR China zu berücksichtigen, deren wesentliche Grundlagen in der Ära Mao Tse-tungs gelegt wurden. Dazu gehören u. A. die Frauen-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, die alle weitestgehend positiv zu bewerten sind.
Auch in der Außenpolitik sind in dieser Periode mehrere Erfolge zu verzeichnen, wie z.B. die diplomatische Anerkennung der VR China durch eine Vielzahl von Staaten und die Aufnahme der VR China in den Sicherheitsrat der UNO.
Abschließend kann ich mich der Bewertung Mao Tse-tungs als eines großen Revolutionärs anschließen, und möchte dies durch die 70/30 Abstimmung der KP Chinas (70% für die Verdienste und 30% für die Irrtümer) ergänzen.
Inwieweit sowohl die positiven als auch die negativen Erfahrungen, die die Arbeiter und Bauern in den 60iger Jahre und der Stagnationsphase nach der Kulturrevolution machten, nicht nur eine der Ursachen, sondern auch zur notwendigen Bedingung für die anschließende „Reformphase“ und ihrer Akzeptanz bei der Masse der Bevölkerung wurden und immer noch sind, wäre einer weiteren Untersuchung und Bewertung zu überlassen.
Im Oktober / November 2014
i Sie war damit die zahlenmäßig größte kommunistische Partei der Welt. Dies entsprach aber gerade 2,5% der Gesamtbevölkerung der VR China. (siehe China Handbuch; Herausgegeben von W. Franke, 1974; Bertelsmann Universitätsverlag; S.651)
ii siehe China Handbuch; S.652-655. Erst während der Kulturrevolution wurde der „alte Parteiapparat“ weitestgehend entmachtet. Bis 1968 verloren 65-80% der Kader ihre bisherige Stellung und wurden in einer „Parteireform“ durch neue Kader (hauptsächlich aus der Volksarmee) ersetzt.
iii Siehe Helmut Martin „Mao Tse-tung, Was machen wir anders als Moskau!“ (rororo aktuell 1975) S.23
iv Siehe China Handbuch S. 726
v Siehe Tschou En-lai „Das große Jahrzehnt“ in „Reden und Schriften 1949-1976“ (Verlag Rote Fahne 1976) S.165
vi Siehe Helmut Peters „Die VR China Aus dem Mittelalter zum Sozialismus, Auf der Suche nach der Furt“ (Impulse Verlag 2009) S. 212
vii Siehe China Handbuch S. 541
viii Siehe H. Martin S.75; Übrigens ein Prinzip das bis heute in der VR China angewendet wird,
ix Gleichzeitig wurden, durch die Verlagerte Verantwortung, neue Arbeitsmethoden in der Partei erforderlich. Alle Verantwortlichen Stellen sollten Pläne erstellen, ihre Durchführung kontrollieren und die Ergebnisse an die Zentrale melden, damit sie „verzahnt“ werden konnten. Dazu wurde z.B. Anfang 1958 ein 60 – Punkte Programm erstellt und von Mao als Entschließungsantrag an das ZK verschickt.. Dieses Programm war eine Mischung aus Punkten zu Arbeitsmethoden und Zielvorgaben. (siehe Mao Papers; DTV-Verlag 12/1975; S. 73 -93)
x Siehe H. Peters S.255 ff; Deng Xiaoping warf Mao vor, er hätte, gegen Ende seines Lebens, zunehmend „sogar den demokratischen Zentralismus vergessen, die kollektive Führung, auf die er so viel gehalten hatte.“ (Thomas Bergmann „Strukturprobleme der kommunistischen Bewegung“, VSA-Verlag 2012; S.229). Siehe auch Bergmann S.250 ff „Resolution über einige Fragen der Parteigeschichte“ 1981
xi Siehe China Handbuch S.10
xii Siehe H. Peters 2009 S.179
xiii Siehe Konrad Seitz, „China Eine Weltmacht kehrt zurück“ (Goldmann – Verlag 5.Aufl. 2006) S. 176
xiv Siehe K. Seitz S. 176
xv Bereits im Frühjahr 1958 hatten Bauern und örtliche Kader in der Provinz Henan begonnen die ersten Volkskommunen auf dem Land zu gründen. (siehe K. Seitz S.187).
xvi Das Vertrauen in die Unterstützung durch die SU, während der 2. Taiwan – Krise (1958) war geschwunden. Gleichzeitig lehnte Mao die Bitte der SU, eine Funkstation auf chinesischem Gebiet zu betreiben und die militärische Nutzung der eisfreien chinesischen Häfen, strikt ab, mit dem Verweis auf die chinesische territoriale Selbständigkeit.(siehe dazu auch H. Kissinger, „China zwischen Tradition und Herausforderung“ S. 181 ff)
xvii Siehe K. Seitz S. 186. Zum „Irrsinn“ entwickelte sie sich, nach seiner Meinung nur durch die Verbindung mit der Idee des großen Sprungs und dass „Mao glaubte, durch die neue Strategie das Wachstum der Gesamtwirtschaft und gerade auch der Schwerindustrie dramatisch beschleunigen zu können.“ (Ebda)
xviii Siehe H. Peters S. 230 ff
xix Siehe Th. Bergmann S.229
xx Siehe H. Peters S. 230
xxi Siehe K. Seitz S. 190
xxii Siehe K. Seitz Ebda
xxiii Siehe Tschou En-lai „Bericht über die Berichtigung des Volkswirtschaftsplans 1959“ in Reden und Schriften 1949 bis 1976, (Verlag Rote Fahne, 1976) S.143 bis 148
xxiv Siehe K. Seitz S.190 Danach brach die Getreideernte von mehr als 200 Mio. t (1958) auf 170 Mio.t (1959) und 143,5 Mio. t (je 1960 u. 1961) ein. Die staatlichen Getreideaufkaufstellen erhöhten sogar noch die Getreideabgabemengen, da sie von den ursprünglich gemeldeten Rekordzahlen ausgingen. So waren gleichzeitig in vielen Provinzstädten die Getreidespeicher voll und die Nettoexporte wurden noch erhöht, während in den Dörfern die Menschen verhungerten.
xxv Alle Zitate aus „Tschou En-lai „Das Große Jahrzehnt“ in Reden und Schriften 1949-1976 S.170/171“ siehe dazu auch Mao Tse-tung in H. Martin, S.86 ff
xxvi Auch militärische Aspekte wurden als Begründung angeführt, um in einem möglichen Krieg die Produktion weiterführen zu können. Ab Mitte der 60er Jahre wurden daher in unzugänglichen Berggebieten Großfabriken der Schwer- u. Rüstungsindustrie aufgebaut, die die Ökonomie stark belasteten. (siehe K. Seitz S. 222/223)
xxvii Maos Aussagen sind hier zum Teil widersprüchlich: Einerseits geschieht die „koordinierte Förderung großer, mittlerer und kleiner Betriebe“ in China „hauptsächlich um einer hohen Geschwindigkeit der Industrialisierung willen“ und nicht wegen „rückständiger Technologie, großer Einwohnerzahl und in der Vergrößerung der Beschäftigungsmöglichkeiten“. (H. Martin S.31; siehe auch S.64) Andererseits benennt er als die einzig mögliche Lösung des Bevölkerungsproblems in China, die Errichtung von Industrien auf dem Lande. Man darf die überschüssige Bevölkerung vom Lande „nicht in die Städte pressen“. Stattdessen muss der Lebensstandard auf dem Lande erhöht werden, und das Niveau der Städte erreichen. Dazu muss „jede Kommune ihr eigenes Wirtschaftszentrum haben und ihre eigenen Schulen höherer Bildung, sie muss ihre eigenen Intellektuellen heranbilden.“ (H. Martin S.95)
xxviii Für Mao waren die Bewusstseinsänderungen der Bauern durch die Massenkampagne und die langfristig zu erreichende Veränderung des Wirtschaftsaufbaus wichtiger, als die kurzfristigen ökonomischen Erfolge. (siehe H. Martin S.61). Letztendlich ging es ihm um die „notwendige“ Umwandlung der Bauern zu Arbeitern. Dass dies nur langfristig möglich ist und möglicherweise sogar die Bewusstseinsveränderung mehrere Generationen erfordert, scheint er zunehmend ignoriert zu haben.
xxix Siehe Tschou En-lai Ebda S.169. Auch wenn die Kommunen nach dem „großen Sprung“ wieder verkleinert und die nicht funktionierenden (überdehnten) Organisationsstrukturen angepasst wurden. Die Form musste erhalten bleiben, auch wenn die Eigentums- und Verrechnungsstrukturen wieder den bisherigen Strukturen der Produktionsgenossenschaften entsprachen. Nur aus ideologischen Gründen (wie einige Kritiker heute meinen) oder auch weil die neue Form, auch nach der Restrukturierung, Vorteile bot?
xxx Siehe dazu H. Martin S. 91 – 93 u. S.113 ff. Hier werden von Mao selbst die Konferenzen benannt, auf denen 1958 die Generallinie (Massenbewegung zur Stahlherstellung, Dezentralisierung der Produktionsverantwortung und Einführung der Volkskommunen) beschlossen wurde und bis Mitte 1959 die Übertreibungen („Wind des Kommunismus“ bei der Verteilung in den Kommunen und die Rücknahme der überzogenen Stahlproduktionsplanung) korrigiert wurden. Weiter beschreibt Martin die gleichzeitig ausgelöste „Studienbewegung der politischen Ökonomie“ bzw. der „sozialistischen Wirtschaft“ die Mao gleichzeitig initiierte, wobei es auch darum ging, die einfachen (auch des Lesens unkundigen) Kader auf dem Land in das Studium einzubeziehen. Ob eine frühzeitigere Schulungskampagne die Fehler vermieden hätte ist nicht sicher?
xxxi Siehe hier u. A. mehrere Reden Maos im Jahr 1957 insbesondere „Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk“ und „Seit aktive Förderer der Revolution“ (alle in Mao Tse-tung, AW Bd.5 S.406 ff)
xxxii Siehe dazu Mao Tse-tungs Anmerkungen in H. Martin S. 23 u. S. 66
xxxiii Siehe H. Martin S.68/69
xxxiv Siehe dazu der Hinweis in Fußnote 31
xxxv Siehe dazu z.B. Tschou En-lai „Das große Jahrzehnt“ (1959)
xxxvi Siehe H. Martin S. 47
xxxvii Bei gesellschaftlichen Prozessen aber auch bei der Wirtschaftstätigkeit zeigen sich Erfolge und Misserfolge oft nur nach einigen Jahren
xxxviii Auch bei Mao Tse-tung werden die Ziele hauptsächlich quantitativ bestimmt. So werden Produktionserfolge fast immer an der Menge des produzierten Stahls bzw. Getreides gemessen. Zwar werden Produktivitätsfortschritte als Beispiele benannt, aber selbst kaum quantifiziert. Andererseits werden aus „Einmalerfolgen“ unrealistische Zielvorgaben abgeleitet. Nachdem er z.B. richtig feststellt, dass eine hohe Akkumulationsrate eine Voraussetzung für die Verbesserung des Lebensstandards des Volkes ist, leitet er aus der Steigerung der Akkumulationsraten während des „großen Sprungs“ (1957: 27%; 1958: 36%; 1959: 42%;) eine mögliche dauerhafte Akkumulationsrate von zukünftig mehr als 30% ab, ohne zu problematisieren, wie stark eine so hohe Akkumulationsrate den Lebensstandard kurzfristig senkt. (siehe H. Martin S.71/72)
xxxix Siehe H. Martin S. 11; Neuere Berechnungen von Maddison/Wu ergeben eine durchschnittliche Wachstumsrate von 4,4% für die Zeit von 1952 bis 1978 und bestätigen die starken Schwankungen.
xl Siehe K. Seitz S.221
xli Siehe H. Peters S.220
xlii Alle Angaben siehe K. Seitz S.222
xliii Ebda
xliv Siehe dazu das Interview Deng Xiaopings in Th. Bergmann S.230. Danach „(hat) ein oder zwei Jahre vor seinem Tod Präsident Mao selbst anerkannt, dass die Kulturrevolution zwei große Irrtümer zur Folge hatte: den Verlust revolutionärer Kader und den Bürgerkrieg“. (ebda)
xlv Siehe K. Seitz S.223
Alfred Schröder
Hundert Jahre russische Februarrevolution
Zur bürgerlichen und marxistischen Publizistik
- Bürgerliche Presse: SPIEGEL, GEO-EPOCHE, ZEITGeschichte
- Die Februarrevolution in der linken Publizistik: von den Marxistischen Blättern bis zur Zeitschrift Marxistische Erneuerung
Die Anzahl der Publikationen zum 100. Jahrestag der russischen Revolutionen des Jahres 1917 ist bis dato (Mai 2017) bescheiden geblieben. Zwar ist es noch etwas hin bis zum Jahrestag der Oktoberrevolution, so dass es voreilig wäre, ein abschließendes Urteil zu Umfang und Inhalt der Veröffentlichungen zu treffen. Aber bereits jetzt ist unübersehbar, dass die bürgerliche Publizistik sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit der Geschichte ihrer Klasse beschäftigen wird, zu deren Formierung und ideologischer Legitimierung der Beginn der Reformation vor 500 Jahren einen mächtigen Anstoß gab. Die Feiern und Veröffentlichungen zum sog. Luther-Jahr und dem Beginn der Reformation werden, dazu bedarf es keiner hellseherischen Gaben, auch im Oktober und November dieses Jahres den 100. Jahrestag der Revolutionen der Arbeiter und Bauern von 1917 in allen Medien deutlich übertrumpfen.1 Dies entspricht sowohl dem Zustand der Arbeiterbewegung als auch der Relevanz des Marxismus in der BRD. Die Bourgeoisie ist an der Macht und feiert ihre Geschichte.
Wenn wir unsere Darstellung mit der bürgerlichen Publizistik zum 100. Jahrestages des Revolutionsjahres beginnen, müssen wir notgedrungen den selbst gesetzten Rahmen der Februarrevolution überschreiten, da diese nur im Zusammenhang mit den nachfolgenden Ereignissen behandelt wird. Sie schafft sozusagen die Voraussetzung, die Bühne, auf der nach bürgerlicher Darstellung ein „Fanatiker der Macht“ der Weltgeschichte eine neue Richtung gab.
Drei Publikationen der bürgerlichen Presse mit einer gewissen Breitenwirkung sind zu erwähnen. Zwei davon behandeln die Februarrevolution in Russland so gut wie gar nicht und reduzieren die Oktoberrevolution auf einen bolschewistischen Putsch. Auf Grund ihrer Breitenwirkung wollen wir sie trotzdem kurz vorstellen, insbesondere da sie ein Bild der heutigen Auseinandersetzung mit dem Marxismus und den russischen Revolutionen liefern.2
Bürgerliche Presse: SPIEGEL, GEO-EPOCHE, ZEITGeschichte
Der SPIEGEL brachte in seiner Reihe Geschichte ein Sonderheft zur Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert heraus. 3 Nur der erste Abschnitt dieser Sondernummer behandelt die Vorgeschichte der russischen Revolution, das Jahr 1917 und den Bürgerkrieg. Zusammen mit vielen abgedruckten Plakaten füllt das Thema knapp 20 Seiten, dementsprechend kurz sind die Ausführungen zum Revolutionsjahr 1917. Es ist ein Text mehr feuilletonistischer Art, ohne jeden Erkenntnisgewinn und voller Ungenauigkeiten. Hier zwei durchaus symptomatische Textbeispiele:
„Endlich stimmt das ZK dem bewaffneten Aufstand zu. Und Lenin legt das Datum fest.“(S. 22) Frei erfundene Dramatik. Im ZK-Beschluss gab es keinen Termin für den Aufstand und Lenin konnte ihn auch später nicht festlegen, da der Aufstand vom Militärrevolutionären Komitee des Sowjets und nicht von der bolschewistischen Partei geleitet wurde. Richtig ist, dass er auch nach dem Beschluss wiederholt auf seine zeitnahe Umsetzung insistieren musste bis hin zum Vorabend des Aufstandes, da es in der bolschewistischen Partei ernsthafte Widerstände gegen die Machtergreifung gab.
Oder ein anderes Beispiel: „Das Bodendekret … war vor allem ein politischer Trick, um die Bauern, die mehrheitlich mit den Sozialrevolutionären sympathisierten, auf die Seite der Bolschewiki zu ziehen.“ (Ebenda) In Wahrheit war es so, dass die Sozialrevolutionäre, die im Oktober/November 1917 bereits seit sechs Monaten in der Provisorischen Regierung saßen und dort fast durchgängig das Landwirtschaftsministerium besetzt hatten, die Sympathien der Bauernschaft verloren, weil sie den „Trick“ nicht kannten, den Bauern das Land zu geben.4 Wen dergleichen erhellende Geschichtsschreibung interessiert – das Heft ist noch erhältlich.
Die zweite Veröffentlichung mit Breitenwirkung ist eine Ausgabe von GEO EPOCHE5, sogar mit einer beiliegenden DVD erwerbbar, die den bezeichnenden Titel trägt „Lenin – Fanatiker der Macht“6 und bereits im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Dem DVD-Titel recht nahekommend ist auch die Darstellung der politischen Ereignisse im genannten Heft. Die Oktoberrevolution wird auf einen Putsch reduziert.7 Der Führer der bolschewistischen Partei wird, der Lenin-Biographie von Robert Service8 folgend (dessen Buch als Leseempfehlung vorgestellt wird), als rachsüchtiger Machtfanatiker dargestellt („Lenin wollte – ohne dies ausdrücklich zu sagen – ein paar alte Rechnungen begleichen. Er wollte Rache, und die noch lebenden Mitglieder seiner Familie – sowie andere Menschen in seiner Partei – wollten dasselbe“9). Dementsprechend wird Geschichte plakativ auf die großen Männer, die sie machen, verkürzt.10 Und von diesen war Lenin nicht nur der „Radikalste der Radikalen“, sondern auch der entschlossenste, machtbesessenste, rücksichtloseste und so weiter und so fort, gegenüber den unentschlossenen, zaudernden und zögernden Kontrahenten wie Miljukow (politischer Kopf der Kadetten) oder Kerenski (Trudowik, rechter Flügel der Sozialrevolutionäre). Bei solch einer Geschichtsschreibung dienen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die materiellen Interessen und ihre politischen Ausdrucksformen nur der Untermalung und Ausgestaltung der Geschehnisse, die von den Männern im Rampenlicht bestimmt werden.
Insgesamt ist die Ausgabe von GEO EPOCHE optisch anspruchsvoller und informativer als das SPIEGEL-Sonderheft, kostet aber auch stolze 17,50 Euro (mit DVD). Dafür erhält man neben einer Fülle historischer Fotos in den entscheidenden Kapiteln zum Revolutionsgeschehen einen literarisch aufbereiteten moralisierenden Antikommunismus, wie er besonders in den Abschnitten des Krimi-Literaten Cay Rademacher hervorsticht, der auch vor grober Geschichtsklitterung nicht zurückschreckt.11
Hier ein Beispiel von vielen, die zitierbar wären: „Es ist, wenn man so will, Lenins dritter Putsch: Nachdem er bereits die Provisorische Regierung besiegt und die Sowjets unter Kontrolle der Bolschewiki gebracht hat, beseitigt er nun alle Dissidenten in seiner eigenen Partei.“ (GEO EPOCHE, S. 102) Anlass zu obigem Zitat ist der Austritt Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger aus dem Zentralkomitee der Bolschewiki (November 1917), nachdem sie dort keine Mehrheit für eine Koalition mit den Menschewiken und Sozialrevolutionären nach dem Sieg der Oktoberrevolution erreichen konnten.12 Mit ihrem Austritt aus dem ZK wollten sie die Mehrheit des ZK unter Druck setzen, die Regierung um Vertreter aller Sowjetparteien sowie Vertreter der Petrograder Stadtduma zu erweitern.13 Dieser freiwillige Austritt zur politischen Erpressung der Partei verwandelt sich unter der Feder Rademachers in die Beseitigung aller Dissidenten aus der Partei und zum dritten Leninschen Putsch innerhalb weniger Tage.
Um die Worte Cay Rademachers zu nutzen: „wenn man so will“, kann man den freiwilligen Austritt der oben Genannten aus dem ZK als Leninschen Putsch bezeichnen, kann man den freiwilligen Auszug der Menschewiki und Sozialrevolutionäre aus dem Sowjetkongress kurz zuvor ebenso als Leninschen Putsch bezeichnen. Nur, man muss es schon wollen: Lenin zu dämonisieren, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen, die Klassenkräfte zu ignorieren und die politischen Positionen der handelnden Parteien wegfallen zu lassen.
Das bietet uns ein Großteil der bürgerlichen Publizistik als Geschichtsschreibung für das breitere Publikum zum Revolutionsjubiläum. Und, was noch viel entscheidender ist, dies kann man dem Publikum bieten, weil es keine marxistische Kritik gibt, die diesen Darstellungen entgegentritt, die selbst halbwegs auf der Höhe des gegebenen Forschungstandes argumentieren, korrigieren, oder den moralisierenden und unhistorischen Unsinn entlarven kann.14
ZEITGeschichte
Von grundsätzlich anderer Art ist die Veröffentlichung der ZEIT in ihrer historischen Reihe ZEITGeschichte. Der Titel „1917 – Revolution in Russland, Kriegseintritt der USA: Ein Jahr das die Welt verändert“ benennt die zentrale inhaltliche Aussage der Publikation: Durch die russische Revolution und den amerikanischen Kriegseintritt mit einem antikolonialen Friedensprogramm wird dieses Jahr zu einem geschichtlichen Wendepunkt, der entscheidend für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert wird. In einer Reihe von Aufsätzen behandeln bekannte und teils renommierte Historiker die zentralen Ereignisse des Jahres mit ihrer jeweiligen Vorgeschichte und den Nachwirkungen. Fast alle Beiträge sind lesenswert und teilweise kontrovers, spiegeln den Stand der bürgerlichen Forschung wieder und geben dem Leser einen tieferen Einblick in das damalige politische und gesellschaftliche Geschehen. Bei einem Preis von 6,90 Euro fällt es leicht, hier eine Kaufempfehlung auszusprechen.
Für unser Thema von besonderem Interesse sind zwei Artikel. Manfred Hildermeier behandelt Lenin als „Genie des Augenblicks“. Obwohl am Ende des Heftes bei den Literaturhinweisen wieder der in bürgerlichen Publikationen nicht fehlen dürfende Robert Service mit seiner Lenin-Biographie angeführt wird, finden wir bei Hildermeier eine eigene, kurz gefasste politische Biographie Lenins. Bei der Beschreibung der Februarrevolution15 wiederholt Hildermeier seine bereits 198916 entwickelte Position von den „Frontgeneralen“ als „entscheidende(m) Faktor“ für den Sieg der Revolution.17 Ihre Abwendung vom Zarismus hätte die Revolution gesichert. Diese in der bürgerlichen Geschichtsschreibung verbreitete Sichtweise geht an den Tatsachen vorbei. Der – wie wir noch sehen werden – entscheidende Faktor für den Sieg war die Verbrüderung der bäuerlichen Regimenter mit den streikenden und demonstrierenden Arbeitern. Dies geschah ohne und in vielen Fällen gegen die kommandierenden Offiziere. Die zaristische Generalität war nach dem Sieg der Revolution mit einigem Zögern bereit, dem herrschenden Zaren Nikolaus II. die Abdankung nahezulegen, aber nur, um zusammen mit den führenden Köpfen der Bourgeoisie einen anderen, geeigneteren Romanow auf den Thron zu heben. Der aber war nicht zu finden.
Die Theorie von der entscheidenden Rolle der Generalität für den Sieg der Revolution dient einzig dazu, der russischen Bourgeoisie eine politische Bedeutung und militärische Macht zuzuschreiben, die sie in keinem Moment des Jahres 1917 besaß.18
Der zweite für uns interessante Artikel ist von Leonid Luks („Das kurze Jahr der Freiheit“). Er stellt unumwunden fest: „Tatsächlich blieb die Provisorische Regierung in allem was sie tat, vom Petrograder Sowjet abhängig. Sie benötigte seine Unterstützung … Unter dem Druck des Petrograder Sowjets verkündete die Provisorische Regierung am 03. März ein Manifest“, in dem sie ihr Regierungsprogramm darlegte. (S. 38) Hier wird das tatsächliche Verhältnis von Sowjet und Provisorischer Regierung auf den Punkt gebracht. Die bürgerliche Regierung und später die Koalitionsregierung waren vom Sowjet abhängig, bei dem die tatsächliche Macht (das Kommando über die Gewehrläufe) lag. Dies findet man selten und schon gar nicht bei der Linken so klar ausgedrückt. Insgesamt – bis auf seinen Schluss19 – ist der Artikel informativ und bietet dem Leser einige Anregungen zur Neubewertung der damaligen Ereignisse.
Die Februarrevolution in der linken Publizistik
Von den Marxistischen Blättern bis zur Zeitschrift
Marxistische Erneuerung
„Die Februarrevolution hatte ‚kein Glück‘ in der sowjetischen Geschichtsschreibung“, schrieb vor über 40 Jahren der Historiker David Anin bei seiner ausführlichen Besprechung der Februarrevolution. 20 Man kann ergänzen, auch bei der marxistischen Geschichtsschreibung außerhalb der Sowjetunion blieb die Behandlung der Februarrevolution „oft im Schatten … des Oktobers“21, ohne eine eigenständige Kontur zu gewinnen. Die Veröffentlichungen in der linken Presse bestätigen diese Feststellungen.
Einzig die MARXISTISCHEN BLÄTTER (Nr. 3/2017) bringen mit dem eben zitierten Aufsatz von Professor Hautmann einen eigenständigen Artikel zur Februarrevolution. Bedauerlicherweise enthält sich der Autor jedes über die offizielle marxistische Orthodoxie hinausgehenden Gedankens. So liefert er eine durchaus detaillierte, aber jede Auseinandersetzung mit strittigen Fragen vermeidende Schilderung der Ereignisse. Hier eine bei weitem nicht vollständige Auflistung der interessanten, aber von Hautmann unzureichend oder gar nicht behandelten Problemstellungen der Februarrevolution:
Warum wurden die sozialistischen Parteien von dieser Revolution so überrascht, während die bürgerlichen Kräfte sie bereits seit Monaten zu vereiteln suchten? 22
Warum wurden bei der Bildung der Provisorischen Regierung in den Verhandlungen zwischen dem Duma-Komitee und dem Sowjet alle entscheidenden Fragen (Stellung zum Krieg, Staatsform, Agrarreform), entweder gar nicht verhandelt oder bewusst offengelassen?
Die Doppelherrschaft wird bei Hautmann, wie durchgängig in der marxistischen Geschichtsschreibung (aber auch der bürgerlichen), für den Zeitraum bis Juli 1917 unterstellt, ohne sie mit mehr als der Existenz zweier sich gegenüberstehenden Körperschaften, dem Sowjet und der Provisorischer Regierung, zu belegen. Die Frage, wer real im Besitz der Macht war, wird nicht untersucht.
Die marginale Rolle der Bolschewiki in den Sowjets der ersten Revolutionsmonate wird durch die kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats der Hauptstadt erklärt23, ein Ansatz der sowjetischen Geschichtsschreibung, über den sich Anin bereits vor 40 Jahren mit Recht lustig machte.24
Die Bauernschaft wird behandelt, ohne die Dorfgemeinschaft zu erwähnen, die das Wesen der russischen Bauernschaft prägte.
Die Aprilthesen Lenins werden kursorisch vorgestellt, ohne die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen, die noch bis nach dem Oktober 1917 andauerten, auch nur anzureißen, obwohl sie die Partei mehrfach zu zerreißen drohten.
Die Kadettenpartei wird zur vorherrschenden Vertretung der russischen „Großbourgeoisie“ gemacht, obwohl ihre wirkliche Basis der liberale Landadel und die Vertreter der „freien Berufe“ in den Städten war, und diese Großbourgeoisie wird für die ganzen acht Monate bis Oktober 1917 an der politischen Macht verortet,25 obwohl die politischen Führer dieser Bourgeoisie die Regierung bereits im April auf Druck der Massen und des Sowjets verlassen mussten.26
Hautmann wiederholt in seinem Artikel alle bekannten Positionen der sowjetischen Orthodoxie, ohne eine einzige davon in Frage zu stellen. Er meidet jede Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung und entwickelt keinerlei eigenständige theoretische oder politische Position. Jahrzehnte nach der Öffnung der russischen Archive für die wissenschaftliche Forschung gibt es nicht einen Versuch zur Neubewertung der russischen Revolutionen. Wenn dies der lebendige Geist des kritischen und revolutionären Marxismus sein soll, dann ist in einer Leichenhalle mehr Leben zu finden als im Umfeld der DKP.
Und dabei ist der theoretisch so unbewegliche Hautmann noch das Beste, was die Linke in diesem Jahr zum Thema produziert hat. Die ARBEITERSTIMME (Nr. 195) druckt gleich einen 30 Jahre alten Artikel zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution nach, um zu dokumentieren, dass es zum Thema nichts Neues zu sagen gibt.27 Garniert wird dieser Artikel mit einer Rezension der Kerenski-Memoiren,28 die den Eindruck hinterlässt, dass der Rezensent sie bestenfalls durchgeblättert, aber nicht gelesen hat. Interessante Ausführungen Kerenskis zu den konterrevolutionären Umsturzplänen des Zaren (Kapitel 11) werden weder dargestellt noch hinterfragt, die Darstellung der Februarrevolution (Kapitel 13) bei Kerenski auf den Satz reduziert, dass Kerenski die Sitzung des Sowjets selten besuchte. Eine moralisierende und völlig unpolitische Rezension eines durchaus politischen Buches, angereichert mit fehlerhaften Behauptungen.29
Die ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG hat in ihrer Nummer Z. 109 vom März dieses Jahres die Diskussion zum russischen Revolutionsjahr 1917 mit zwei Artikeln von Frank Deppe und Stefan Bollinger begonnen, die jeweils in Kurzform den Inhalt ihrer für dieses Jahr geplanten Buchveröffentlichungen vorstellen.30
Deppe versucht, gestützt auf eine Untersuchung der amerikanischen Soziologin Theda Skocpol zu den drei großen Revolutionen seit 1789 (gemeint sind die französische, die russische und die chinesische Revolution) zu neuen Erkenntnissen über die russische Revolution zu gelangen. Hier ist es zu einer ernsthaften Beurteilung dieses Ansatzes zu früh, da die Veröffentlichung in Buchform noch aussteht. Es ist zu hoffen, dass der Erkenntnisgewinn über die Passagen, die uns der Artikel liefert, hinausgeht.31
Stefan Bollingers eher feuilletonistisch angelegter Artikel lässt den Leser etwas ratlos zurück. Auch nach mehrmaligen Lesen bleibt die Frage: Was wollte uns der Autor auf den 14 Seiten seines Aufsatzes mitteilen, was ist sein zentrales Anliegen, welchen neuen Gedanken haben wir in dem Artikel gesucht und nicht gefunden? Warten wir ab, ob das angekündigte Buch mehr Klarheit verschaffen kann.
Allerdings erfahren wir etwas Neues zur Februarrevolution. Gleich auf der ersten Seite des Artikels formuliert Bollinger in mehrdeutig interpretierbaren Schachtelsätzen, dass die Unruhen im Frühjahr 1917, deren Ursachen „die ’neuen‘ politischen Akteure nicht verstanden“, in deren „Ergebnis (aber) eine ‚Palastrevolution‘ der bürgerlichen Duma-Parteien (im Einklang mit den Entente-Verbündeten) möglich wurde, eine Bewegung (war), die von den Massen mit riesigen demokratischen und Anti-Kriegs-Erwartungen aufgeladen wurde.“ Diese sprachlichen Verrenkungen schaffen wenig Klarheit über die tatsächlichen Ereignisse, verdecken aber zwei wesentliche Tatsachen.
Erstens gab es sehr wohl entwickelte Pläne zu einer Palastrevolution ganz ohne Anführungszeichen, wie sie der von Bollinger zitierte englische Premier Lloyd George in seinem Kriegstagebuch beschreibt.32 Ziel dieser Palastrevolution war keineswegs der Sturz des Zarismus, sondern einzig die Beseitigung des aktuellen Zaren plus Zarin und seine Ersetzung durch ein anderes Mitglied des Romanow-Clans.
Und zum zweiten kam die Provisorische Regierung eben nicht durch eine Palastrevolution zustande, wie Lloyd George richtig feststellt: „An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats …“ Das bedeutet, dass die erste Provisorische Regierung ihr Mandat von der siegreichen Revolution erhielt und ihr politisches Programm letztendlich vom Sowjet diktiert wurde. Nur für Stefan Bollinger stellt sich dieser Vorgang völlig anders dar: „All dies ändert nichts an der Tatsache, dass es konservativ-reaktionäre Kreise waren, die in der Revolution zunächst die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“33
Wie es wirklich war (und dass „die ’neuen‘ politischen Akteure“ sehr wohl die Ursachen der Volkserhebung verstanden), soll versucht werden, in dieser Nummer der AzD nachzuzeichnen. Ins Zentrum der Darstellung rücken wir einen Augenzeugen der Februarrevolution, der sowohl bei der Gründung des Petrograder Sowjets als auch bei den Verhandlungen zur Bildung der ersten Provisorischen Regierung beteiligt war und diese Ereignisse in tagebuchähnlicher Form veröffentlichte: Nikolai Nikolajetisch Himmer, bekannter unter seinem publizistischen Namen Nikolai Suchanow. Die gekürzte deutsche Übersetzung seines „Tagebuch der russischen Revolution“ erschien 1967 im Piper Verlag München und ist heute auch antiquarisch nur schwierig erhältlich.34
Wer war Suchanow 1917? Er war ein parteiloser linker Menschewik, der auf den Boden der Zimmerwalder Erklärung stand35 und in Gorkis legaler Zeitung Letopis publizierte. Lenin beschreibt ihn folgendermaßen: „Wenn wir von dem Publizisten (…) N. Suchanow sprechen, werden sicherlich alle damit einverstanden sein, dass er nicht der schlechteste, sondern einer der besten Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie ist. Er hat eine aufrichtige Neigung zum Internationalismus, die er in den schwersten Zeiten, mitten im Wüten der zaristischen Reaktion und des Chauvinismus bewiesen hat. Er hat Kenntnisse, und ihm ist das Bestreben eigen, sich über ernste Fragen ein selbständiges Urteil zu bilden, was er durch seine lange Entwicklung von der sozialrevolutionären Ideologie in Richtung zum revolutionären Marxismus bewiesen hat.“36
Da Suchanows Tagebuch der russischen Revolution mit dem ersten Tag der Februarrevolution beginnt, ist es sinnvoll, dem Leser vorweg eine Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Situation in Russland im Winter 1916/1917 zu geben. Diese Darstellung wird dem bereits erwähnten und gerade im VSA-Verlag erschienen Buch „Das Revolutionsjahr 1917 – Bolschewiki, Bauern und die proletarische Revolution“ entnommen37 und soll es dem Leser ermöglichen, die politischen Akteure und Parteien, die Suchanow in seinem Text erwähnt, einzuordnen. Dass die Autoren dabei zu einer anderen Interpretation der Klassenkräfte und der Vorgeschichte der Februarrevolution gelangen, als die gängige marxistische Geschichtsschreibung bisher, schafft für den Leser vielleicht einen Anreiz, sich mit der Neuinterpretation des gesamten Revolutionsjahrs 1917, die in diesem Buch vorgenommen wird, auseinanderzusetzen.
1 Am 30. Oktober 5017 soll Luther seine 95 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg befestigt haben. Der Vorgang selbst ist nicht eindeutig belegt.
2 Eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Weltanschauung und revolutionärer Theorie findet nicht statt, stattdessen wird die Person Lenins ins Zentrum gerückt und dämonisiert.
3 Russland – Vom Zarenreich zur Weltmacht.
4 Dass sie den „Trick“ auch im Januar 1918 auf der Konstituierenden Versammlung noch immer nicht kannten, obwohl Lenin ihn ja im Oktober 1917 vorgeführt hatte, sollte zu denken geben. Der „Trick“ funktionierte nämlich nur, wenn man bereit war, mit der Bourgeoisie zu brechen. Dazu war die Mehrheit der sozialrevolutionären Abgeordneten auch im Januar 1918 nicht bereit. Man wollte in der Agrarfrage noch immer einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aushandeln.
Dazu Trotzki treffend: „Das Programm der Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie wollten den Sozialismus auf der Basis der kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung des Bodens der Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sich die Partei in Koalitionen. Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich nicht nur die Gutsbesitzer, sondern auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel der Banken investiert. Da sie planten, in der Konstituierenden Versammlung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln, aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik nicht an den Boden heranzulassen.“ (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, Fischer Verlag, S. 526) Es war also weniger ein „Trick“ als vielmehr die banale pekuniäre Frage nach der Entschädigung der Landeigentümer, um das Bündnis mit der Bourgeoisie nicht zu beschädigen.
5 GEO-EPOCHE: Die russische Revolution. Hier wird in acht Kapiteln die Geschichte der handelnden Hauptakteure vom Ende des Zarismus bis Stalins Aufstieg abgehandelt.
6 Eine Ko-Produktion von Arte und ZDF. Die Produktion war bereits im Fernsehen zu sehen und wird uns sicher noch das eine oder andere Mal bis zum Jahresende gezeigt werden.
7 Das entsprechende Kapitel hat den Titel: „Der rote Putsch“.
8 Robert Service: Lenin. Eine Biographie; München 2002. Das Werk ist akribisch in allen Belanglosigkeiten und weitgehend substanzlos bei der Behandlung politischer Fragen. Wen es interessiert zu erfahren, wer aus dem Leninschen Umfeld die besten Hühnergerichte bereiten konnte (S. 365), oder welchen nirgendwo näher bezifferten Anteil an der Oktoberrevolution Frau Luise Kammerer, Frau eines Züricher Schusters hatte (S. 315-316), wird bei R. Service auf seine Kosten kommen, muss dafür aber 68 Euro zahlen.
9 Robert Service, ebenda S. 352. Das gibt natürlich eine schlüssige Erklärung für die Oktoberrevolution.
10 Die entsprechenden Kapitel stellen Stolypin, Miljukow und Lenin vor (Kapitelüberschrift: Der Radikalste der Radikalen).
11 Rademacher schreibt im DuMont-Verlag Urlaubskrimis, die in der Provence spielen und unterhaltsamer zu lesen sind als seine Ausflüge in die Geschichte. Der antikommunistische, moralisierende Grundtenor ist auch den Herausgebern des GEO-Heftes nicht entgangen, die unter den Text von Rademacher die Bemerkung setzen: „Angesichts der Gewalt der Bolschewiki bedauert es der Autor nicht wirklich, dass die meisten führenden Revolutionäre später Josef Stalin zum Opfer fielen.“ Wir würden es auch nicht bedauern, wenn der Autor künftig auf eine Umschreibung der Geschichte verzichten würde.
12 Ziel des Austritts war es, „die Freiheit zu gewinnen, den Massen unsere Ansichten darzulegen … und sie aufzurufen, unsere Forderung nach einer sofortigen Einigung über eine Regierung aus allen Sowjetparteien zu unterstützen. Offenbar hofften Kamenew und seine Mitstreiter, dass sie mit ihrem Rücktritt Unterstützung in der Partei mobilisieren könnten.“ Siehe Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht, Essen 2010, S. 55. Rademacher gibt Rabinowitch als Leseempfehlung am Kapitelende an, eine Empfehlung, der wir uns nur anschließen können. Nur kommt Rabinowitch zu durchaus anderen Schlussfolgerung als unser Krimiautor bei seinem Ausflug in den Bereich der moralisierenden Historik.
13 Worum ging es inhaltlich und weshalb lohnt es sich, darauf näher einzugehen? Sozialrevolutionäre und Menschewiki versuchten vermittels der Eisenbahnergewerkschaft, die Bolschewiki zur Fortsetzung der Koalitions-Regierung mit der Bourgeoisie zu bewegen. Ihre populäre Forderung – auf die der Kamenew-Flügel in den Verhandlungen einging – war die einer sozialistischen Sowjetregierung ohne Lenin und Trotzki. Dieser Vorgang wird in fast jeder bürgerlichen Lenin-Biographie angeführt, als Beleg des kompromisslosen Machtstrebens Lenins, der nur zum Zwecke des eigenen Machterhalts der populären Forderung nach einer gemeinsamen Regierung aller Sowjetparteien eine Absage erteilt.
So populär die Forderung nach einer Regierung der Sowjetparteien bei der Arbeiterschaft im Winter 1917 war, so klar wurden aber auch schon damals die politischen Grenzen einer solchen Koalition definiert. Eine „Delegation Tausender Arbeiter der Putilow-Werke“ überbrachte den Verhandelnden zur Regierungsbildung eine Resolution. In diese Resolution „bekräftigte (man), dass die Bildung einer rein sozialistischen Regierung von entscheidender Bedeutung sei, doch müsse sie das Programm des Sowjetkongresses übernehmen, wie es in den Dekreten über Land, Frieden, Arbeiterkontrolle und die sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung enthalten sei. Sie müsse sich die Notwendigkeit eines erbarmungslosen Kampfes gegen die Konterrevolution zu eigen machen, den zweiten Sowjetkongress … als einzige legitime Quelle politischer Macht anerkennen …und allen Organisationen, die nicht im Sowjet vertreten waren, die Beteiligung am ZEK verwehren.“(Rabinowitch, ebenda)
Damit war die „sozialistische Sowjetregierung“ politisch unmöglich, was Lenin und Trotzki vollkommen klar war. Auf diesem Boden waren nur die linken Sozialrevolutionäre bereit, sich an der Regierung zu beteiligen. Alle anderen Sowjetparteien suchten weiterhin den Schulterschluss mit Teilen der Bourgeoisie, in welcher Verkleidung auch immer (z. B. Vertreter der Stadtduma etc.) Der Versuch Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger, die Oktoberrevolution nach rechts zu korrigieren, traf auf den entschiedenen Widerstand der proletarischen Massen der Hauptstadt. Andererseits waren Sozialrevolutionäre und Menschewiki in ihrer Mehrheit ebenso wenig bereit, sich von der Bourgeoisie zu lösen und die Beschlüsse des 2.Sowjetkongresses als Grundlage einer künftigen Regierungspolitik anzuerkennen. Im besten Fall kann man diesen Vorstoß Kamenews als politisch naiv und wirklichkeitsfremd bezeichnen, im negativsten Fall als Versuch der Liquidierung der Errungenschaften der Oktoberrevolution.
14 Den uns bisher bekannten linken Publikationen zum Thema ist augenfällig eines gemeinsam: Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Forschungstand zu den russischen Revolutionen fehlt ebenso wie eine Kritik an der Popularisierung dieser Positionen, wie sie beispielsweise im genannten GEOEPOCHE-Heft oder der diesem Heft beiliegenden Fernsehproduktion stattfindet.
15 ZEITGeschichte, S. 28
16 Hildermeier: Russische Revolutionen 1905-1921; Frankfurt/M. 1989, S. 146f
17 Zur Auseinandersetzung mit dieser Auffassung siehe Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, S. 42
18 Im weiteren Verlauf von Hildermeiers Artikel treffen wir auf zwei uns bereits bekannte Theorien der bürgerlichen Geschichtsschreibung: Die Oktoberrevolution als „Staatsstreich“ der Bolschewiki und sozialistische Allparteienregierung, die nach dem Oktober „in der Logik des Geschehens gelegen hätte“. Zu dieser Logik siehe Fußnote 13.
19 Luks erklärt das Scheitern der „Demokratie“ aus der „Konfrontation mit einer totalitären Partei“, die die neuen Freiheiten ausnützt, um die Demokratie zu stürzen. Diesen Ansatz dehnt er dann auch auf die faschistische Machtergreifung in Italien und die nationalsozialistische in Deutschland aus. Hier triumphiert die Ideologie (Totalitarismustheorie) über die Beschäftigung mit den historischen Tatsachen. Auf dieser allgemeinen und abstrakten Ebene kann man Luks These mit der Frage konfrontieren, ob die „Demokratie“ nicht vielleicht daran scheiterte, dass sie die politischen und sozialen Interessen der Arbeiter und Kleinbürger in den genannten Ländern missachtet hat?
Konkret für Russland führt dazu Luks‚ Berufskollege Klaus Latzel im selben ZEITGeschichte Heft aus: „Die Provisorische Regierung … wollte nicht sehen, dass es die Gewalt des Krieges und die soziale Not im Reich waren, die große Teile der Bevölkerung zur Verzweiflung oder in den Aufstand trieben. Insofern war die Oktoberrevolution nicht nur ein Militärputsch oder ein Staatsstreich. … Um die Oktoberrevolution zu verstehen, muss man das Unvermögen der russischen Demokraten in den Blick nehmen, mit den dringenden Problemen des Landes fertig zu werden, die sich nach der Februarrevolution stellten.“ (S. 82)
20 David Anin: Die russische Revolution von 1917 in Berichten ihrer Akteure; München 1976, S. 22. Anin verwendet den Begriff „Die russische Revolution“, weil es für ihn nur eine Revolution, die Februarrevolution, gegeben hat. Im Gegensatz zur Februarrevolution, „war der Oktober eine Geheimverschwörung“ (ebenda S. 65). Dies ist, wie wir auf den vorherigen Seiten gesehen haben, eine bis heute gängige bürgerliche Interpretation der Ereignisse. Anins Publikation zur Februarrevolution ist informativ und trotz ihres Alters weiterhin empfehlenswert. Bedauerlicherweise ist sie nur noch antiquarisch zu erwerben.
21 Hans Hautmann, Marxistische Blätter, Nr. 3/2017, S. 82
22 Siehe dazu Anin, S. 49
23 „Die Mehrheit in den Sowjets stellten die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki. Das erklärte sich durch die Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterschaft während des Krieges, die die soziale Inhomogenität verstärkten. Ein nicht geringer Teil der zur Armee einberufenen Stammarbeiter wurde durch Handwerker, Ladenbesitzer und Angehörige der Dorfbevölkerung ersetzt.“ (Hautmann, S. 91) Wohlgemerkt, es ist von jener Arbeiterschaft die Rede, die gerade nach mehrtägigen Straßenkämpfen das Überlaufen der bäuerlichen Regimenter der Hauptstadt erzwungen hatte und wenige Wochen später, im April, die politischen Köpfe der Kadetten und Oktobristen zum Rücktritt aus der Regierung zwingen wird.
24 Anin, S. 52-53. Trotzkis Erklärung dieses unübersehbaren Tatbestandes hat zweifellos mehr Charme als die „kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats“. Für ihn organisierten die Bolschewiki die Revolution auf der Straße, während die anderen sozialistischen Kräfte in Hinterzimmern den Sowjet zusammenschusterten. Der Charme macht die Erklärung aber nicht politisch richtiger. Es mangelte den Bolschewiki im Februar und März 1917 an organisatorischer Präsenz und an politischer Bedeutung. Dazu waren sie noch von Agenten der zaristischen Geheimpolizei durchsetzt.
25 „Durch die Februarrevolution wurde die russische Großbourgeoisie für acht Monate zur herrschenden Klasse. Ihrer politischen Einstellung nach war sie oktobristisch-kadettisch. Der oktobristische, reaktionäre Flügel vertrat primitiv-räuberische Methoden der kapitalistischen Ausbeutung, während die Kadetten die ökonomisch progressiveren Schichten der Bourgeoisie verkörperten, die die neuesten ‚europäischen‘ Ausbeutungsformen ausnützten. Diese Fraktion hatte innerhalb der russischen Kapitalistenklasse in der Kriegszeit die Dominanz inne.“ (Hautmann, S. 84) Mit dieser „ökonomistischen“ Unterscheidung trifft man die politischen Unterschiede dieser Parteien sicherlich nicht, enthebt sich aber der Aufgabe zu erklären, weshalb diese Parteien sich im Jahr 1915 zum „progressiven Block“ zusammenfanden.
26 Gemeint sind Gutschkow (Oktobrist und Verteidigungsminister) und Miljukow (Kadett und Außenminister)
27 Der Inhalt des Artikels beschäftigt sich mehr mit dem Scheitern der Sowjetunion als mit den russischen Revolutionen von 1917.
28Alexander Kerenski: Die Kerenski Memoiren, Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Hamburg 1989
29 So behauptet der Rezensent auf S. 18 der Arbeiterstimme, dass Kerenski „im Grunde (seines) Herzen Monarchist (war).“ Beleg dafür: Kerenski habe als 13jähriger bei der Nachricht vom Tode des vorherigen Zaren geweint.
30 Frank Deppe: 1917 – 2017, Revolution und Gegenrevolution, VSA-Verlag 2017; Stefan Bollinger: Revolution gegen den Krieg, Skizzen zu Geschichte und Aktualität der Russischen Revolutionen 1917-1922 (Arbeitstitel), Eulenspiegel Verlagsgruppe 2017
31 Den genannten Revolutionen soll gemeinsam gewesen sein, „dass – in allen Fällen – die revolutionäre Krise heranreifte, weil die agrarischen Strukturen auf eine autokratische und protobürokratische Staatsorganisation prallten.“ (Z 109, S. 13). Da die agrarischen Strukturen in den drei Ländern ebenso unterschiedlich waren wie die dort handelnden Klassen oder der jeweilige Staatsapparat, ist der Vergleich von Frau Skocpol sehr gewagt und der Erkenntnisgewinn möglicherweise doch so begrenzt wie das angeführte Zitat.
32 „Die Tatsachen, die seit der Revolution ans Licht gekommen sind, klären eine Situation, die seinerzeit recht undurchsichtig war. Die Gerüchte, die überall herumschwirrten und den wohlbehüteten Mitgliedern der interalliierten Delegation zu Ohren kamen, wurzelten in dem Erdreich einer zweifellos vorhandenen Verschwörung. Die Heerführer hatten bereits faktisch beschlossen, den Zaren abzusetzen. Sämtliche Generale sollten beteiligt gewesen sein. Der Stabschef General Alexejew war sicherlich in die Verschwörung verwickelt; Russki, Iwanow und Brussilow sympathisierten mit ihr. Als dem letzteren die Frage der Absetzung des Zaren vorgelegt wurde, soll er gesagt haben: ‚Wenn ich zwischen dem Zaren und meinem Vaterlande zu wählen habe, werde ich für das letztere entscheiden.‘ Die Stimmung der Offiziere äußerte sich deutlich genug in den überschwänglichen Demonstrationen, als die Nachricht von der Ermordung Rasputins eintraf. Ein weiterer Beweis für die Verschwörertätigkeit der Heerführer ist der Umstand, dass die in Petrograd stationierten Regimenter aus jungen Rekruten bestanden, die soeben aus den Fabriken kamen und vor Unzufriedenheit schäumten, geführt von Offizieren, deren Zahl nicht ausreichte, und die zu einem großen Teil eben erst aus den Spitälern entlassen worden waren, krank, verwundet, zusammengebrochen. …
Sie (gemeint sind die Generäle, A.S.) waren entschlossen, Nikolaus den II loszuwerden. Es ist kennzeichnend, dass, als die Nachricht von dem Ausbruch der Unruhen in Petrograd das Oberste Hauptquartier erreichte und der Zar sofort in die Hauptstadt zurückkehren wollte, um das Kommando zu übernehmen, er in Pskow durch General Russki aufgehalten wurde. Die Explosion erfolgte vorzeitig – zufolge eines unerwarteten Ausbruches unter dem elenden stehenden Heer der Menschenschlangen, die ihre Not nicht mehr ertragen konnten -, bevor die militärische Zündschnur zum Abbrennen fertig war. Die Explosion sprengte den Zarismus in die Luft, zerschmetterte aber gleichzeitig das gutorganisierte Komplott der Generale. Das Feuer, das zu früh ausbrach, konnte durch die Brandstifter nicht mehr kontrolliert werden. An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats, dessen Verlauf kein Präzedenzfall regeln konnte, außer der der Französischen Revolution.
Die Beweismaterialien, auf die ich die hier angeführten Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ursachen der Revolution stütze, entstammen fast ausschließlich offiziellen Berichten, die sich in meinem Besitz befinden.“ (David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg, Kriegsmemoiren Bd. 2, Berlin 1934, S. 308-309)
33 Z 109, S. 33
34 Der Text des Schutzumschlages des Piper Verlages macht aus Suchanow einen parteilosen Sozialisten, der „der Regierung des Zaren (angehört)“ hätte. Eine Absurdität, die dem Lektorat keine Ehre macht.
35 Im September 1915 trafen sich in Zimmerwald (Schweiz) linke Vertreter der europäischen Sozialisten und verabschiedeten mehrheitlich eine Resolution für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Dies war die erste gemeinsame öffentliche Stellungnahme von Sozialisten und Sozialdemokraten der kriegführenden Länder gegen die vorherrschende Politik des Sozialpatriotismus. Als Friedenslosung war diese Formel allerdings unzulänglich, da sie die sog. revolutionäre Vaterlandsverteidigung, das heißt die weitere Fortführung des Krieges, zuließ.
36 LW Bd. 25, S. 297
37 Alfred Schröder/Heiner Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, Hamburg 2017
Nicht nur „Kohl muß weg“…
Bundestagswahlen und der übliche Opportunismus der Linken
Bei den in diesem Jahr anstehenden Bundestagswahlen steht für Linke und Kommunisten nichts zur Wahl. Der durch den politischen Kalender vorgegebene Inhalt der anstehenden Wahlentscheidung – die Stellung zur Einführung des Euro – wird von den Volksparteien als Wahlkampfthema gemieden, wie der Teufel in der christlichen Mythologie das Weihwasser meiden soll. Ob Kohl oder Lafontaine, ob Schäuble oder Schröder, sie alle stehen für die Einführung des Euro. Hier gibt es zwischen den führenden bürgerlichen Politikern fast nur Gemeinsamkeiten und kaum Differenzen. Gemeinsam wollen sie verhindern, daß die Bevölkerung ihre Stimme gegen das Euro-Projekt des großen Kapitals abgibt. Gemeinsam wollen sie das Euro-Thema aus den Wahlen heraushalten und gemeinsam wollen sie die Einführung des Euro gegen die eindeutigen Mehrheiten in der deutschen Bevölkerung durchsetzen.
Bei so viel Gemeinsamkeit will die Linke nicht abseits stehen. Auch sie hütet sich, den Kampf gegen die Einführung des Euro in das Zentrum ihrer politischen Agitation zur Bundestagswahl zu stellen. Und dies, obwohl der Euro das Instrument des großen Kapitals und seiner willfährigen politischen Handlanger in den Volksparteien werden soll, den Angriff auf das Lohnniveau und die sozialen Standards in der BRD in den kommenden Jahren zu organisieren.
All das, was die Volksparteien in den letzten Jahren nicht wagten, an Angriffen auf den Lebensstandard der Werktätigen umzusetzen (das Damoklesschwert der Wahlen und des anschließenden Machtverlustes fürchtend), dies alles soll künftig der Euro über die Sachzwänge des europäischen Marktes verwirklichen. In den engeren Kreisen von Politik und Wirtschaft wird dies auch offen formuliert: „Die europäische Einheitswährung wird (…) dazu führen, daß der Standortwettbewerb innerhalb von Europa in noch stärkerem Maße über die Faktorpreise – vor allem über die Löhne – ausgetragen wird.“ (FAZ vom 17.12.97 über die Ergebnisse der Tagung der European International Business Academy) Dies bedeutet wachsende Arbeitslosigkeit und sinkendes Lohnniveau, „portugiesische Löhne bei deutschen Preisen“, wie es in der Erklärung zur Herausgabe dieser Zeitung treffend formuliert wurde.
Die Linke führt seit Jahren einen Kampf zur „Verteidigung des Sozialstaates“, ohne zu begreifen, daß dieser „deutsche Sozialstaat“ als Instrument zur Klassenzusammenarbeit konzipiert wurde und auch zukünftig wenn irgend möglich in seinem Kern (als Instrument der Klassenzusammenarbeit) erhalten werden soll. Nicht dieser „Sozialstaat“ ist zu erhalten, sondern die sozialen Standards der Werktätigen sind zu verteidigen. Dazu gehören die Sozialkassen aus den Händen der Regierung in die Hände der Arbeiterklasse; dazu gehören ökonomische Interessenvertretungen der Werktätigen, die einen aktiven Lohnkampf führen und nicht sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaften, die den Lohnverzicht „sozialverträglich“ organisieren.
Der Euro soll, bei Aufrechterhaltung des politischen Auftrags des „deutschen Sozialstaates“ – nämlich Organisierung der Klassenzusammenarbeit – die sozialökonomischen Attacken des Kapitals auf die Lebenslage der Werktätigen als Sachzwänge des europäischen Marktes verkleiden. Nicht die Klassenzusammenarbeit in der Form des „deutschen Sozialstaates“ will das große Kapital in der BRD aufgeben, sondern vermittels des Euro ein neues Instrument zur Senkung der sozialen Standards gewinnen. Der Euro und die Zwänge des europäischen Marktes, die wachsende Arbeitslosigkeit und die organisierte Zuwanderung von Billigarbeitern aus europäischen Niedriglohnländern, die zu erwartende Geldentwertung (siehe dazu ebenso FAZ vom 17.12.97) bei gleichzeitig stagnierenden Löhnen, das sind die Fakten, die es dem großen Kapital und seinen Vertretern in den Volksparteien erlauben sollen, die künftigen Verschlechterungen unseres Lebensniveaus “sozialverträglich” zu verkaufen.
… sondern der Euro muß weg!
Große Teile der Linken und der Kommunisten führen ihre Wahlagitation unter der griffigen Losung: Kohl muß weg! Die „Vorzüge“ dieser Losung sind unübersehbar. Nicht nur, daß ihre Popularität mit der wachsenden Unbeliebtheit dieser Regierung ansteigt, macht sie in linken Kreisen so beliebt. Sie hat für viele Linke auch den zweiten „Vorzug“, keinen Graben zu den sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften und zu der PDS aufzureißen. Unter dem Banner „Kohl muß weg“ kann sich alles sammeln, was mit der bisherigen Bonner Politik unzufrieden ist, ohne sich inhaltlich auf eine andere Politik festlegen zu müssen. Jedem steht es vermeintlich frei, seine eigenen Vorstellungen über eine andere Politik an diese gemeinsame Losung anzuhängen. Der an sich offenkundige Opportunismus der Losung „Kohl muß weg“, soll so verdeckt werden.
Die Abwahl Kohls nutzt keinem einzigen Werktätigen, solange der zentrale Punkt seines Programms, die Umsetzung des Euro, von allen anderen Kandidaten geteilt wird. Es reicht nicht Kohl abzuwählen, sondern die Verwirklichung seines Programms gilt es zu verhindern. Der tatsächliche politische Inhalt der anstehenden Bundestagswahlen muß auch zum Inhalt der linken Agitation werden: das auf dem Euro fußende Programm der „sozialverträglichen“ Senkung der Löhne und der sozialen Standards in der BRD. Daß dies letztendlich nicht über Wahlen allein zu verwirklichen ist, ist kein Grund, den tatsächlichen Inhalt der Wahlentscheidung Hand in Hand mit allen Volksparteien und natürlich der Gewerkschaftsführung zu verschleiern. Kohl steht ebenso wie Lafontaine, Schäuble und Schröder für das oben skizzierte Programm der „europäisch“ begründeten Senkung der sozialen Standards. Nicht gegen Kohl ist die Agitation zur Bundestagswahl zu führen, sondern gegen die von den Volksparteien und der Mehrzahl der Linken betriebene Verschleierung des eigentlichen Wahlthemas. So läßt sich bereits heute feststellen, daß die 1998 anstehenden Bundestagswahlen die Scheidelinie zwischen einer kleinbürgerlichen Linken und kommunistischer Politik deutlicher hervortreten lassen werden.
(In den folgenden Nummern der Zeitung werden wir die Politik der verschiedenen linken Organisationen zur Bundestagswahl im einzelnen vorstellen und kritisieren.)
Alfred Schröder
Der Euro – die Offensive des deutschen Kapitals gegen die Arbeiterklasse
Die bürgerliche Euro-Allianz
„Das der Euro kommt, das ist sicher; aber was er bringt, das ist nicht so sicher.“ In diesem Werbemotto ist grob umrissen die Haltung der Mehrheit der werktätigen Massen in Deutschland zur Frage der Einführung der neuen Währung ausgedrückt. Der Kohl-Intimus Arnulf Baring bemerkt hierzu richtig: „Die Politiker wissen, daß die Bevölkerung seit langem konstant mit soliden Mehrheiten gegen den Euro ist..“. Gleichzeitig ist er aber überzeugt, daß „der Euro komme. Auf diesen zweiten Befund stützen sie (die Politiker) ihren Entschluß den Euro durchzuziehen.“ (FAZ, 12.11.97)
Alle Umfragen, die in Deutschland zum Euro gemacht wurden, zeigen, das es stabile Mehrheiten in der Bevölkerung gegen die Einführung einer europäischen Einheitswährung gibt. Während 70% der Werktätigen gegen den Euro sind, haben sich die Befürworter der neuen Währung, nämlich das Großkapital, die Volksparteien einschließlich der Grünen und die Gewerkschaften darauf verständigt, den Euro nicht auf die politische Tagesordnung zu setzen.
Die Stellung des bürgerlichen Lagers zur EWU
Für den Kanzler „dieser unserer Republik“, den Europa-Visionär Kohl, ist die Haltung zum Euro im Kern aussenpolitisch-geostrategisch bestimmt. Hierzu noch einmal sein Intimus Baring: „Den Bundeskanzler interessieren, …ökonomische Zusammenhänge kaum. Seine Hoffnung ist im Kern politisch. Noch immer glaubt er, mit Hilfe der Währungsunion den Durchbruch zu irgendeiner Form von europäischen Bundesstaat zu schaffen.“ (ebd.). So soll verhindert werden, daß das wiedervereinigte Deutschland in die Konstellation des Bismarckschen Reiches zurückfällt. Im Zusammenhang mit dem Staatsbesuch in Italien betonte er noch einmal, daß in seine Augen ein Scheitern der EWU den Rückfall Europas in das 19.Jh. bedeuten würde.
Im Unterschied zu dem Visionär Kohl rückt der zweite Mann in der CDU, der Fraktionsvorsitzende Schäuble, die sozialpolitische Frage in das Zentrum der (Außen-) Politik. Für Schäuble „(ist) Maastricht…eine Übereinkunft über das Ende des keynesianistischen Sozialstaates“ (FAZ, 16.10.97). Schäuble formuliert hier politisch die ökonomischen Interessen des deutschen Kapitals an der europäischen Währungsunion. Die deutsche Bourgeoisie will über den Umweg Europa und Euro den Angriff auf den Sozialstaat in Deutschland in seiner derzeitigen Form, als Verteilungs- und Umverteilungsstaat keynesianistischer Prägung. Das Ziel dabei ist, eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten und der sozialen Standards derwerktätigen Massen durchzusetzen. So will das Kapital seinem schon lange anvisierten Ziel, eine allgemeine Senkung des Lohn- und damit Lebensniveaus der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen durchzusetzen, einen entscheidenden Schritt näher kommen.
Neben diesem indirekten Angriff (Lohnnebenkosten) soll die EWU dem Kapital auch die Mittel für einen direkten Angriff auf das Lohn- und Lebensniveau der arbeitenden Massen liefern. Lassen wir hier zu die Vertreter der Kapitalinteressen zu Wort kommen, die Wirtschaftsexperten der NZZ. „Deshalb wäre die Währungsunion nur bei völlig flexiblen Löhnen und Preisen sowie bei ausreichender Mobilität der Arbeitnehmer ökonomisch unproblemat)sch.“… „Lohnflexibilität würde bedingen, …die Lohnentwicklung ausschließlich am Produktivitätsfortschritt zu orientieren.“(N Z 1997, Nr. 167) „Produktivitätsfortschritt“ ist hier selbstver—ständlich im Sinne der Kapitalverwertung zu sehen. Die Löhne sind zu hoch und müssen gesenkt werden. Das ist die Kampfparole des deutschen Kapitals seit Anfang der 90er Jahre. Damit wird auch klar, was mit Lohnflexibilität und Anbindung der Lohnentwicklung an den Produktivitätsfortschritt aus der Sicht des Kapitals gemeint ist. Wenn das deutsche Kapitals mit Hilfe der EWU eine allgemeine Senkung des Lohn- und Lebensstandards der werktätigen Massen in Deutschland durchsetzen will, muß die deutsche Arbeiterklasse die EWU ablehnen und den Lohnkampf führen. Notwendige Voraussetzung dafür wäre allerdings, sich endlich der Büttel des Kapitals und Eurobefürworter in den eigenen Reihen, der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer, zu entledigen.
Arbeiterstimme und Euro
Und damit kommen wir zur Arbeiterstimme, welche in einem recht ausführlichen Papier (kommentarlos in der AzD Nr. 65 abgedruckt) zur EWU Stellung genommen hat und dabei den Anspruch erhebt, Elemente einer strategischen Orientierung der deutschen Linken zur EWU zu entwickeln. Obwohl sich das Blättchen Arbeiterstimme nennt, wird man nach einer strategischen Orientierung für die Arbeiterklasse vergeblich suchen.
Beginnen wir mit dem Problem der sog. „starken“ D-Mark und einem möglichen weichen Euro. Hier wird der Leser mit, für Leute die sich als Marxisten bezeichnen, recht ungewöhnlichen „sozialen“ Kategorien konfrontiert. Es ist die Rede von Urlaubern, Geldkapitalbesitzern und kleinen Sparern. Die Klassenfrage taucht hier überhaupt nicht auf. Darüber, wie die Arbeiterklasse sich auf dem Boden ihrer sozialen Interessen als Lohn- und damit Geldempfänger, zu der Frage einer möglichen Abwertung der DM gegenüber dem Euro um 25% zu stellen hat, wird man in dem ganzen Artikel vergeblich eine Antwort suchen. Oder ist der Referent von der Arsti der Auffassung, dieses Problem würde sich für die werktätigen Massen durch die Tatsache erledigen, das auch der Geldkapitalist ein Interesse an einem starken Euro hat? Der Referent von der Arsti hat etwas bemerkt, und zwar die Tatsache, das die stabilen Mehrheiten gegen den Euro in Deutschland etwas mit der sozialen Frage zu tun haben. Aber die Richtung paßt ihm nicht, deshalb wird er polemisch anstatt zu untersuchen.
Der Kampf gegen den Neoliberalismus
„Das Hauptziel unserer Kritik muß der Neoliberalismus sein und somit die neoliberale Ausrichtung des Projekts EWU…Das strategische Ziel muß sein den Neoliberalismus zu bekämpfen.“ (Arsti zit. nach AzD 65, S. 90 und 92) Wenn der CDU-Mann Schäuble zu recht feststellt, daß Maastricht eine Übereinkunft über das Ende des bürgerlich-keynesianischen Sozialstaat in Europa ist, so finden wir hier den Kern der strategischen Überlegungen der Arbeiterstimme. Gemeinsam mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften für die Erhaltung des Sozialstaates, der Sozialpartnerschaft und der bürgerlichen Hegemonie über die Arbeiterklasse, sowie die wohltätige Erweiterung all dieser schönen Dinge auf ganz Europa. Die Aufgabe von Kommunisten ist es heute nicht, eine Variante bürgerlicher Politik gegenüber einer anderen zu verteidigen, sondern den sozialen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeiterklasse heraus zu arbeiten. Welches Interesse soll das Proletariat daran haben, eine Variante des Lohnabbaus, die keynesianisch-sozialpartnerschaftliche, gegenüber einer anderen, die neoliberale zu verteidigen? Für die Arbeiterklasse und die werktätigen Massen steht heute der Lohnkampf im Zentrum ihrer ökonomischen Interessen. Anstatt der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften im Kampf für ein Europa der Sozialpartnerschaft hinterher zu laufen, wäre es wichtiger, die Gewerkschaften dazu aufzufordern, endlich das zu tun, wozu sie eigentlich da sind: den Lohnkampf zu führen. Dies ist um so notwendiger, wenn man die oben dargestellten Ziele des deutschen Kapitals bei der Einführung einer europäischen Einheitswährung in Rechnung stellt.
Abschied vom Proletariat
Der Referent von der Arbeiterstimme ist ein prinzipieller Befürworter der EWU. Über die teilweise gespenstisch anmutenden theoretischen Konstruktionen, warum die europäische Einheitswährung ein Fortschritt sei, soll hier nicht näher eingegangen werden. Festgehalten werden muß allerdings, daß die Klassenfrage, die soziale Frage und die Eigentumsfrage in diesen ganzen Betrachtungen nicht mehr auftauchen. Die sogenannte Überwindung des Nationalen, die von dem Referenten der Arsti als Fortschritt gefeiert wird, ist ein spezifisches Problem der deutschen Linken. Sie ist die Form, in der ein Teil der Linken in Deutschland heute seinen Abschied vom Proletariat als dem revolutionären Subjekt legitimiert. Der Schreck über den Untergang der DDR, wo das ostdeutsche Proletariat seine sozialen Interessen im nationalen Gewande formulierte, steckt diesen Linken heute noch in den Gliedern. Von solchen „nationalen und rechtspopulistischen Strömungen“ muß man sich als Arbeiterstimme natürlich strikt abgrenzen. Auf diesem Boden grenzt man sich dann auch strikt von den sozialen Interessen der Arbeiterklasse ab. Statt dessen dackelt man lieber in trauter Eintracht zusammen mit den sozialdemokratischen Gewerkschaftsführern und dem deutschen Kapital nach Brüssel.