Eine verfehlte Debatte

Alfred Schröder

Innerhalb der „Kommunistischen Organisation“ (KO) gibt es seit Monaten eine heftige Debatte über den Ukraine-Krieg und die Leninsche Imperialismustheorie. Diese Debatte hat zur Spaltung der Organisation geführt. Positiv an dieser Debatte ist, dass sie öffentlich geführt wird, so dass Interessierten die Möglichkeit gegeben wird, die Auseinandersetzung nachzuvollziehen bzw. selbst Stellung zu beziehen.

Wenn ich die unterschiedlichen Positionen richtig verstehe, versucht der eine Flügel den russischen Einmarsch in die Ukraine zu rechtfertigen, während der andere ihn für imperialistisch hält. Beide Flügel berufen sich letztendlich auf die Leninsche Imperialismustheorie, die jedoch von Protagonisten der beiden Flügel unterschiedlich interpretiert wird. Dem Wesen der Sache nach ist dies ein scholastischer Streit um die richtige Auslegung der „Schrift“ ohne ernsthaften Erkenntnisgewinn, allerdings mit ernsthaften Folgen für die politische Praxis.

Wo liegt das politische Problem?

Beide Flügel bewegt die Frage, wie der „Deutsche Imperialismus“ im jetzigen Ukraine-Krieg richtig zu bekämpfen ist. Muss man sich als deutscher Kommunist nicht notwendig auf die Seite Russlands schlagen, um den „Deutschen Imperialismus“ und die Nato zu bekämpfen? Ist nicht weiterhin die Losung „Der Feind steht im eigenen Land“ als internationalistische Losung richtig?

Der Pro-Putin Flügel in der KO und ihrem Umfeld folgert daraus, dass Russlands Krieg „ein antiimperialistischer Verteidigungskrieg[1] (ist). Die weltweiten Ambitionen der Imperialisten werden durch diesen Krieg ausgebremst. In diesem Sinne ist jede Äquidistanz, jede Verurteilung Russlands als ‚auch Aggressor‘ und ‚auch Imperialist‘ ein Verrat an der internationalen Solidarität.“ https://kommunistische.org/wp-content/uploads/2022/09/Yana-Imperialismus-und-die-Spaltung-der-kommunistischen-Bewegung

Hier wird der russische Einmarsch in die Ukraine zu einem antiimperialistischen Verteidigungskrieg uminterpretiert, da Russland vom „kollektiven Imperialismus“ – so die Argumentation – „ausgebeutet“ wird. Mit dieser These umgeht man die Fragestellung, inwiefern Russland nicht auch eine nichtimperialistische Antwort auf die NATO-Aktivitäten in der Ukraine gehabt hätte und warum die russische Führung dieselbe bewusst ausgeschlossen hat. (siehe dazu weiter unten Fußnote 4)

Doch zurück zu der Ausgangsfragestellung, deren Beantwortung wir für essentiell halten. In der Tat ist es richtig, für die Niederlage der Nato und ihrer ukrainischen Vasallen einzutreten. Jede Schwächung der NATO stärkt die Kampfpositionen der revolutionären Kräfte weltweit. Und deshalb ist es umso unverständlicher, warum die sich aufdrängenden und eindeutig antiimperialistisch-revolutionären Positionen weder in der theoretischen Auseinandersetzung noch bei der politischen Arbeit ins Zentrum gerückt werden:

Deutschland raus aus der Nato – Nato raus aus Deutschland!

Keine Unterstützung für die Kriegsukraine – keine Sanktionen gegen Russland!

Frieden auf dem Bodes des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen!

Diese Forderungen werden in der Linken kaum diskutiert und noch weniger öffentlich propagiert. Auch die Debatten in der KO und in ihrem politischen Umfeld behandeln diese zentralen politischen Forderungen gegen die NATO – um es höflich zu formulieren – „stiefmütterlich“; praktisch ignoriert man sie so gut wie vollständig. Und dies, obwohl eigentlich nur auf dem Boden dieser Forderungen eine eigenständige politische Position der Kommunisten sowohl gegen die eigene Bourgeoisie (dem von beiden Flügeln heftig kritisierten immerwährenden „Deutschen Imperialismus“), gegen den allseits propagierten Sozialchauvinismus (Unterstützung der angegriffenen Ukraine), als auch gegen den kleinbürgerlichen Pazifismus (Waffenstillstand und Frieden ohne Selbstbestimmungsrecht) bezogen werden kann.

Ohne klare Positionen, die sich in den entsprechenden politischen Forderungen (siehe oben) manifestieren, ist der stets beschworene Kampf gegen den immerwährenden „Deutschen Imperialismus“[2] mit allen seinen realen bzw. von den Linken angedichteten Eigenschaften[3] nur ideologisches Geschwätz ohne ernsthafte politische Konsequenz.

Imperialismus in zaristischer Tradition

So richtig es ist, für die Niederlage der „eigenen Seite“ in einem imperialen Krieg einzutreten, so falsch ist es, deshalb im Umkehrschluss für den Sieg des anderen imperialen Räubers einzutreten. Ganz im Gegenteil. Die eigene politische Position verliert jegliche Glaubwürdigkeit, wenn die Kritik an der imperialistisch agierenden NATO mit einer beschönigenden Darstellung des russischen Imperialismus verbunden wird, wie das bei den Putin-Unterstützern in der KO der Fall ist.

Die Tatsache, dass die NATO bzw. Teile der NATO unter Führung der USA die Ukraine als Frontstaat gegen Russland ausgebaut haben, legitimiert keineswegs den ebenfalls imperialen Kriegsgrund Russlands: „Seit jeher nannten sich die Bewohner der südöstlichen, historischen altrussischen Lande Russen und Orthodoxe. So war es vor dem 17. Jahrhundert, als sich ein Teil dieser Gebiete wieder mit dem Russländischen Staat vereinte, und so blieb es danach.“ Für Putin wie für die Romanow-Zaren waren die Ukrainer danach schon immer Russen, und die Ukraine eine Schöpfung Lenins und der Bolschewiki und damit eigentlich keine eigenständige Nation, sondern ein im Westen liegender Teil der russischen Nation, der zum Mutterland zurückgeführt werden muss, um die Fehler Lenins zu korrigieren. (siehe dazu: https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2523) Dies ist russischer Großmachtchauvinismus wie aus der Zarenzeit.

Dank dieser russischen Politik erstarkte in der Ukraine der Nationalismus ebenso wie im Baltikum, in Polen oder in Finnland – alles Staaten, die in der Zarenzeit zu Russland „gehörten“, richtiger gesagt, vom Zarismus annektiert worden waren. Und diese politische Reaktion in den genannten Staaten beruht auf der kaum bestreitbaren Tatsache, dass Putin mit seinen Ausführungen an die imperiale Politik des russischen Zarismus der vergangenen Jahrhunderte anknüpft und dies mit Absicht. Der Nationalismus soll in Russland an die Stelle der sozialen Frage treten, die für das Regime ungleich größere Sprengkraft birgt als das nationalistisch chauvinistische Bündnis mit der KP und der Russisch-Orthodoxen Kirche (deren Mitglied und Ordensträger der KP-Vorsitzende ist).

Dass Russland auf die unbestreitbare Einkreisungs- und Aufrüstungspolitik der NATO nur mit einem durch zaristische Eroberungen der vergangenen Jahrhunderte begründeten Krieg gegen die Ukraine antworten konnte, sagt viel über das politische System und sein außenpolitisches Programm aus: „Da die russische Politik selbst oligarchisch geprägt und damit reaktionär ist, blieb auch nur eine reaktionäre, imperiale Politik als Antwort auf die imperiale Politik der USA und NATO übrig. Dieser Krieg ist von allen beteiligten Seiten reaktionär und dies trifft auch auf jene Kräfte zu, die ihn „nur“ politisch, ökonomisch und mit Waffen unterstützen. …

Da die russische Politik diese Ausweitung nicht auf demokratische oder revolutionäre Weise mit der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen verhindern konnte und wollte – eine für den Mehrvölkerstaat Ukraine sehr gefährliche Forderung -, blieb nur der imperiale Krieg zur Zerschlagung der Ukraine.“[4]

Revolutionärer Defätismus statt neuem „Werkzeugkasten“ oder eine falsch verstandene Kritik Lenins an den Positionen von R. Luxemburg

Die heutige russische Politik mit Lenins Position zum 1. WK begründen zu wollen, wie der KAZ-Autor Corell es mit dem Verweis auf Lenins Kritik an R. Luxemburg[5] ohne nähere Belege andeutet, entbehrt jeder Grundlage. Lenin trat von Beginn des Weltkrieges für die Niederlage des Zarismus im Krieg ein und begründete dies mit der Absicht, damit eine Verbesserung der Kampfmöglichkeiten der revolutionären Kräfte zu erzielen. „Haben wir nicht immer gesagt, und lehrt die historische Erfahrung der reaktionären Kriege nicht, dass Niederlagen das Werk der revolutionären Kräfte erleichtern.“[6] Für die Niederlage des Zarismus, um die Revolution zu forcieren – das war Lenins Position.

Dies bedeutete allerdings nicht, dass er im Umkehrschluss für den Sieg der Mittelmächte oder der restlichen Entente Staaten eintrat. Vielmehr forderte er von den revolutionären Kräften in diesen Ländern, eine ebensolche revolutionär-defaitistische Position zu beziehen. Das ist neben der nationalen Frage sein zweiter grundlegender Kritikpunkt an Luxemburg und ihrer Junius Broschüre. Für Luxemburg war Sieg oder Niederlage des eigenen Landes „beides gleich schlecht“.[7]

Corell von der KAZ argumentiert; „Was haben wir in unserem Werkzeugkasten und was davon wurde aus verschiedenen Gründen nicht genutzt? Zu diesen nicht genutzten Werkzeugen gehören die Fragen der Halbkolonie, Kompradoren und der nationalen Bourgeoisie.“ Die „verschiedenen Gründe“, die Corell nicht näher ausführt, sind einfach zu erkennen. Vor dem Ukraine-Krieg wäre kaum ein Mensch, geschweige denn ein revolutionärer Marxist, auf die Idee gekommen, Russland als „Halbkolonie“ – von welchem Land auch immer – zu definieren. Aber die theoretische Not, einen militärischen Überfall zu legitimieren, macht erfinderisch.

Dazu handelt Lenins Kritik an der Junius-Broschüre nicht von Corells „Werkzeugen“, die auf das heutige Russland gar nicht anwendbar sind, sondern von den Fehlern R. Luxemburgs in der nationalen Frage (mit der Corell sich durchaus näher beschäftigen sollte), von der unzureichenden Abgrenzung zum Kautskyanismus („in der Junius-Broschüre … ist weder vom Opportunismus noch vom Kautskyanertum die Rede.“ – so Lenin, LW 22, S. 312) und der angesprochenen Position des fehlenden revolutionären Defätismus. R. Corells Versuch, in Lenins Kritik an der Broschüre Luxemburgs einen neuen „Werkzeugkasten“ mit Argumenten zur Unterstützung und Legitimierung der russischen Aggression zu finden, geht fehl.

Das theoretische Debakel

Beide Flügel der KO suchen ihre Positionen mit unterschiedlichen Interpretationen der Leninschen Imperialismustheorie zu begründen. Diese Imperialismusdebatte hat zwei unübersehbare Mängel, die den Beteiligten offensichtlich nicht bewusst sind. Ihre Debatte behandelt nicht den Imperialismus, sondern erstens eine Variante der ökonomischen Imperialismustheorie des frühen 20. Jahrhunderts und zweitens den Versuch, die politische Realität des 21. Jahrhunderts aus der ökonomisch begründeten Imperialismustheorie der II. Internationale herzuleiten.

Imperialismus ist aber keine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts, ebenso wenig wie imperialistische Kriege eine Erfindung diese Zeit sind. Imperialismus hat es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte seit der Staatenbildung gegeben und damit ebensolche Kriege. Man höre dazu Lenin: „Ein Beispiel: England und Frankreich haben im Siebenjährigen Krieg um Kolonien gekämpft, d. h. einen imperialistischen Krieg geführt (der ebenso auf der Basis der Sklaverei und der Basis des primitiven Kapitalismus wie auf der gegenwärtigen Basis des hochentwickelten Kapitalismus möglich ist). … Daraus ist ersichtlich, wie sinnlos es wäre, den Begriff Imperialismus schablonenhaft anzuwenden“.[8]

Hinter allen diesen Kriegen steckten Rivalitäten zwischen Staaten um Einflußsphären, politische und militärische Macht, ökonomische Interessen und territoriale Ansprüche. Und in den jeweiligen Staaten gab es unterschiedliche soziale Kräfte (Stände/Klassen) und durch sie gebildete politische Gruppierungen, die die jeweiligen Kriege herbeiführten oder kritisierten. Die Untersuchung dieser Ereignisse ist das Thema der Geschichtsschreibung, vorzüglich als Geschichte von Klassenkämpfen.

Der Ukrainekrieg lässt sich mit imperialistischer Politik, wie wir sie seit wenigsten zweitausend Jahre kennen, ganz ohne eine ökonomische Imperialismustheorie erklären. Zwei Großmächte oder Bündnisse führen Krieg miteinander auf dem Territorium eines anderen Staates, wie z.B. im 30jährigen Krieg das Haus Habsburg gegen Frankreich in Deutschland mit deutschen und spanischen Truppen, während das katholische Frankreich die protestantischen deutschen Fürsten und das ebenso protestantische Schweden finanzierte, um das Reich und die Habsburger Monarchie zu schwächen. Oder nehmen wir den gerade erwähnten Siebenjährigen Krieg zwischen England und Frankreich, in dem England Preußen finanzierte, um Frankreich einige Besitzungen in der Karibik, Nordamerika und in Indien abzunehmen usw.

Und genau einen solchen Krieg sehen wir in der Ukraine. Die US-geführte NATO finanziert die Aufrüstung der Ukraine, wohlwissend, dass Russland diese NATO-Ausdehnung nicht hinnehmen wird. Da Russland – bedingt durch die eigene oligarchisch geprägte Herrschaft – darauf nicht nationalrevolutionär (Selbstbestimmungsrecht der Völker), sondern nur nationalistisch reaktionär reagieren konnte, kam es zum jetzigen Ukraine-Krieg. Ausgefochten wird er auf ukrainischem Territorium mit dem massiven Einsatz von Söldnerverbänden und Vertrags- und Zeitsoldaten. Und dies von beiden Seiten. Jegliche umfangreichere Einbeziehung von Wehrpflichtigen wird von beiden Kriegsparteien wenn irgend möglich vermieden, was den reaktionären Charakter des Krieges zusätzlich illustriert. Je mehr Wehrpflichtige durch Niederlagen an der Front in diesen Krieg einbezogen werden müssen, desto instabiler wird die Oligarchen-Herrschaft sowohl in Russland wie in der Ukraine.

Dieser Krieg ist die Fortsetzung der Politik der US-geführten NATO einerseits und Russlands anderseits. Er bedarf zu seiner Erklärung keiner „ökonomischen Imperialismustheorie“. Sie dient einzig dazu, mit theoretischen Konstrukten, die sich völlig zu Unrecht auf Lenin berufen, die russische Aggression zu legitimieren. Diese Konstrukte nimmt – außerhalb jener sich immer mehr politisch isolierenden linken Gruppierungen – kein politisch interessierter Mensch ernst. Damit desavouiert man den revolutionären Marxismus und leistet dem Kampf gegen die imperiale Kriegspolitik einen Bärendienst.

Eine unsinnige Debatte

Ein Genosse, der offenkundig die Debatte der KO-Flügel ernsthaft verfolgt, schrieb in einer Mail an uns: „Meine zentrale Frage (ist): Wie kommen wir zu einer korrekten Klassenanalyse Russlands? Imperialistische Regionalmacht mit monopolkapitalistischer Rohstoffwirtschaft? Halbkolonie internationaler Rohstoffkonzerne? Kompradorenbourgeoisie vs. Nationale Bourgeoisie? Postsowjetische Gesellschaft im Transformationsprozess zu Oligarchen-Kapitalismus oder Neuer Demokratie?“

Der Genosse übernimmt mit seiner Fragestellung den von Corell und Anhängern eingebrachten „Werkzeugkasten“, aus dem die weitgehend unbewiesene Behauptung ausgepackt wurde, dass es sich bei Russland um eine Halbkolonie des „kollektiven Imperialismus“ handelt. In dieser Halbkolonie soll eine nationale Bourgeoisie, wohl von Putin angeführt, mit einer Kompradorenbourgeoisie, die weitestgehend im Ausland lebt, um die Macht ringen. Dadurch würde sich die Möglichkeit eines Bündnisses von Arbeiterklasse und nationaler Bourgeoisie im Krieg gegen die Ukraine schmieden lassen, welches dann eine nationalrevolutionäre „Neue Demokratie“ hervorbringen könnte.

Diese ganzen Begrifflichkeiten haben mit der Realität des Putinschen Russlands nichts zu tun. Hier wurden Bruchstücke aus – zumeist unverstandenen – Schriften Lenins (siehe Corells Erzählungen zur Junius-Broschüre) entlehnt und der heutigen politischen und ökonomischen Realität mit Gewalt übergestülpt. Sie dienen dazu, dem mit großrussischen nationalistischen Begründungen vorgenommenen Einmarsch in die Ukraine eine vermeintlich „marxistisch-leninistische“ Begründung zu verschaffen.

Zu den tatsächlichen Verhältnissen im heutigen Russland schrieb Willi Gerns in den Marxistischen Blättern: „Wenn wir diese Grundsätze auf das heutige Russland anwenden, müssen wir feststellen: Russland ist ein kapitalistisches Land, in dem der größte Teil der Produktionsmittel im Zuge der antisozialistischen Konterrevolution in kapitalistisches Privateigentum übergegangen ist. Dominierend ist das geraubte Eigentum der Oligarchen-Clans. … Diese Eigentumsstruktur wird durch die von der russischen staatlichen Behörde für Statistik (Rosstat) veröffentlichten Daten belegt.“ Die von dem Genossen Gerns anschließend mit den entsprechenden Angaben zitiert werden. Seine Schlussfolgerung: „Die politische Macht wird in Russland durch eine Herrschaftselite ausgeübt, in der die Macht der obersten Staatsbürokratie mit der Wirtschaftsmacht von Oligarchen zusammenwächst.“[9] Die Konzerne und die sie repräsentierenden Personen werden dann im Einzelnen angeführt und als „Politbüro 2.0“ unter Putins Führung definiert.[10]

Übersetzen wir nun die von Gerns grob umrissenen sozialen Kräfte und ihre Herrschaftsform in die Welt der theoretischen Konstrukte von Corell und Anhängern. Die „nationale Bourgeoisie“ unter Putins Führung wird unterstützt von einer sozialchauvinistischen KP, die wie die Orthodoxe Kirche den Krieg in der Ukraine mitträgt. Die KP nimmt hier dieselbe Rolle ein wie die deutsche Mehrheitssozialdemokratie im 1. WK: die Arbeiter und weitere Teile des Volkes für den imperialen Krieg zu begeistern. Im Feld stützt sich diese Koalition – neben Berufs- und Zeitsoldaten – wesentlich auf die Söldner der sog. Wagner-Gruppe (teils verurteilte Kriminelle) und Kadyrows Tschetschenen. Das soll die Klassenbasis einer künftigen „Neuen Demokratie“ in Russland darstellen?

Sobald man versucht, die abstrakten theoretischen Konstrukte (Halbkolonie, nationale Bourgeoisie, Kompradorenbourgeoisie, kollektiver Imperialismus[11] etc.) mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren, enthüllt sich die ganze Absurdität dieser Debatte. Mit einer Handvoll Schlagworten aus den Leninschen Schriften suchen Corell und Co. die Realität zu „vernebeln“ und statt über einen konkreten imperialen Krieg eine Debatte über gefundene und erfundene theoretische Konstrukte zu führen. In der Praxis führt dies zur Unterstützung eines imperialen, nationalistisch-chauvinistisch begründeten Krieges Russlands und ebenso zur weiteren Isolierung und Diskreditierung der Kommunisten in Deutschland. Es ist eine in jeder Hinsicht verfehlte Debatte.

Gelsenkirchen, 12. Februar 2023

[1] Hervorhebung im Original

[2] Siehe dazu: Karuscheit: „Über eine originelle Theoriebildung“  https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2382

[3] So erzählt R. Corell (KAZ) in einem Interview von der „nächsten Welle des deutschen Ostlandritts, der gerade eingeläutet wird“ und fabuliert an selber Stelle, dass „ein Teil des deutschen Monopolkapitals“ auf eine Niederlage der USA in der Ukraine spekuliert, mit dem Plan, „dass am Ende Russland geschwächt, die USA geschwächt (sind) und der deutsche Imperialismus auftreten kann.“ Der Phantasie sollen ja keine Grenzen gesetzt sein, dem Verstand sowie der Wahrnehmung der Wirklichkeit zuweilen sehr enge.

[4] Siehe https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2523; wie eine nicht imperialistische Politik Russlands gegenüber der NATO in der Ukraine auszusehen hätte, wurde dort ebenfalls dargestellt.

Illustriert wird die Sprengkraft einer demokratischen und revolutionären Politik in der Beilage der Marxistischen Blätter Nr. 4/2022. In einem Interview mit dem griechischen Professor Dimitrios Patelis berichtet dieser von der Stimmung im Donbass und der Politik der russischen Bourgeoisie: „Noch dazu konnte ich bei meinem Besuch im Donbass 2015 mit eigenen Augen sehen, wie – gelinde gesagt – unaufrichtig sich diese russische Bourgeoisie samt ihrem politischen Personal im Kreml gegenüber der Bevölkerung in den beiden Volksrepubliken verhalten hat, als diese über Jahre hinweg gegenüber der Kiewer Junta aufbegehrte und sich der militanten und mörderischen Aktionen gegen russischsprachige Mitbürger zu erwehren versuchte. Als die fortschrittlichsten Kräfte unter den Volksmilizen im Donbass schon tatsächlich einige erstaunliche Siege gegen die Nazi-Bataillone und Teile der damals noch ziemlich desorientierten ukrainischen Armee in Mariupol und Debalzewe errungen hatten, verschwanden auf mystische Weise nach und nach alle Leute, die noch irgendwelche klaren Vorstellungen vom einstigen Ziel des bewaffneten antioligarchischen, antiimperialistischen, antifaschistischen Aufstands hegten, das mir damals vor Ort zum Beispiel eine Reihe von Bergarbeitern erklärten mit dem Satz: ‚Unsere Heimat ist die Sowjetunion‘. Das war natürlich das letzte, was die Führung der russischen Bourgeoisie in ihrer Nachbarschaft gebrauchen konnte.“

[5] LW Bd. 22, „Über die Junius-Broschüre“ S. 310 ff.

[6] LW Bd. 22, S. 324

[7] LW Bd. 22, S. 324

[8] LW Bd. 22, S. 316. Eine Textstelle aus Corells neuem „Werkzeugkasten“, die ihm entgangen ist.

[9] Marxistische Blätter, Heft 1-15, 53. Jahrgang, S. 67-77

[10] Dass W. Gerns im letzten Drittel des Artikels Russlands Politik im Jahr 2015 noch zu verteidigen sucht, ist wohl seiner politischen Herkunft geschuldet. Ob er dies heute noch genauso formulieren würde, ist zu bezweifeln. In der ausgezeichneten marxistischen Arbeit von Ditte Gerns zur nationalen Frage https://www.jungewelt.de/artikel/442254.marxismus-leninismus-eine-klassenfrage.html wird er mit deutlich kritischeren Positionen gegenüber der Putinschen Politik zitiert.

[11] Mir erschließt sich der Unterschied zwischen dem „kollektiven Imperialismus“ von Corell und Yana zu dem theoretisch bekannten „Ultraimperialismus“ von Kautsky und Hilferding nicht. Ist man vielleicht – nicht ganz zufällig – im falschen Werkzeugkasten fündig geworden?