Heiner Karuscheit / Alfred Schröder
Am 30. Januar 2025 bekundete der neue Außenminister der Vereinigten Staaten, Marco Rubio, einen grundlegenden Politikschwenk der USA unter der Präsidentschaft Trumps: die Zeit der Unipolarität mit einem einzigen Machtzentrum in der Welt sei vorbei, die USA müssten sich auf die Realitäten einer multipolaren Weltordnung einstellen.[1] Ursächlich für diesen grundlegenden Kurswechsel zur „Multipolarität“ ist die Überforderung der eigenen Kräfte, denn die Vereinigten Staaten haben nicht mehr die Stärke, ihre langjährige globale Vorherrschaft aufrechtzuerhalten.
Ökonomisch erleben sie seit Jahrzehnten einen Niedergang der Industrie, der sie schon vor langem zu einem „Koloss auf tönernen Füßen“ gemacht hat, wie es in den AzD 76/2007 hieß. Nur die Herrschaft über die Finanzmärkte, bedingt durch die Stellung des Dollars als Weltleitwährung, hat es ihnen ermöglicht, die vor allem militärischen Kosten der Vorherrschaft bis heute durch Schuldenaufnahme zu finanzieren. Mittlerweile hat sich die Staatsverschuldung auf 36 Billionen US-Dollar summiert,[2] mit dem Resultat, dass die jährlichen Zinsen dafür höher sind als die Ausgaben für das Militär.
Gleichzeitig haben sich auch die globalen Machtgewichte verschoben, weg von Europa und hin nach Asien und zum Indopazifik. Während Russland für die USA keine entscheidende Herausforderung darstellt, ist ihnen in China sowohl wirtschaftlich als auch machtpolitisch ein ernsthafter Rivale erwachsen bzw. auf dem Weg dahin, es zu werden.
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- Herabstufung Europas im Zeichen der Neuordnung der Welt
Bereits in seiner ersten Präsidentschaft hatte Trump versucht, einen grundlegenden Kurswechsel vorzunehmen, um auf die globalen Machtverschiebungen zu reagieren und den Wiederaufstieg der USA in die Wege zu leiten („Make America Great Again“ – MAGA). Damals war er noch gescheitert, doch bedingt wohl auch durch Verschiebungen innerhalb der US-Bourgeoisie, ist er mittlerweile in der Lage, sein Programm umzusetzen.
Geostrategisch ziehen die USA sich also aus ihrer bisherigen Vormachtstellung zurück, da deren Aufrechterhaltung zu kostspielig geworden ist. „Die Vereinigten Staaten sind dabei, ihre eigene Weltordnung zu demontieren …, weil die Existenz als hegemoniale Macht nicht mehr lange aufrechtzuerhalten wäre. Die Last wiegt zu schwer.“[3] Damit löst sich nicht nur die bislang von den USA bestimmte „regelbasierte Weltordnung“ auf. Im gleichen Atemzug geht der sog. „kollektive Westen“ seinem Ende entgegen, denn die von Trump angekündigte Rückzugsbewegung betrifft in erster Linie Europa.
Zwei Mal sind die USA in einen europäischen Krieg eingestiegen und haben ihn dadurch zum Weltkrieg gemacht, um die Hegemonie über Europa zu erringen. Nach dem zweiten Weltkrieg ist ihnen dies im Zeichen der Gegnerschaft gegen die Sowjetunion mit Hilfe der Nato auch gelungen, und im Zeichen der Gegnerschaft gegen Russland haben sie diese Vorherrschaft mit Hilfe des Ukraine-Kriegs erst vor kurzem noch einmal gesichert.
Doch mit der neuen Präsidentschaft Trump hat Europa seinen bisherigen Stellenwert für die USA verloren, und mit dem alten Kontinent zusammen ist auch der Stellenwert der Nato geschrumpft. Auf dem Boden einer künftigen „multipolaren“ Politik Washingtons spielen Europa und die Nato keine prinzipiell andere Rolle mehr als das Verhältnis zu Russland.
Ein Schicksalsschlag für die deutsche Bourgeoisie
Für die deutsche Bourgeoisie bedeutet der eingeleitete Kurswechsel einen Schicksalsschlag, dessen Folgen sich gerade erst anfangen bemerkbar zu machen.
Im Windschatten der USA konnte (West-) Deutschland nach dem verlorenen Krieg nicht nur seinen ökonomischen Wiederaufstieg vollziehen. Außenpolitisch wurde es unter der Hegemonie der USA ein Teil des sog. „Westens“, militärisch eingebunden in den nordatlantischen Militärpakt, so dass die Bourgeoisie die Mitgliedschaft in der Nato sogar zur „Staatsräson“ der Republik erklärte. Wenn die US-amerikanische Vormacht sich aus dem Nato-Bündnis zurückzieht, geht der bürgerlichen Klasse also das bislang selbstverständliche außen- und sicherheitspolitische Fundament des Staats verloren.
Der Bruch trifft über die Außenpolitik hinaus das Wesen der bürgerlichen Klasse, wie sie sich nach 1945 unter der Aufsicht der USA herausgebildet hat.
Nachdem die damalige Bourgeoisie 1848/49 gemeinsame Sache mit dem preußischen Militärstaat gegen die bürgerliche Revolution gemacht hatte, war sie nicht in der Lage gewesen, die Herrschaft im Staat zu übernehmen: im Kaiserreich war sie Juniorpartner des Junkertums gewesen, hatte in der Weimarer Republik die parlamentarische Demokratie bekämpft und im Dritten Reich als Handlanger des Nationalsozialismus fungiert. Erst die totale Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands 1945 ebnete ihr den Weg zur Übernahme der Staatsmacht an der Hand Washingtons in der neu gegründeten Bundesrepublik.
Jedoch brachte Washington nicht den historisch maßgeblichen, mit der Schwerindustrie verwobenen und aus dem Nationalliberalismus stammenden Kern der nationalen Bourgeoisie an die Macht, sondern mit Adenauer an der Spitze einen Minderheitsflügel aus der katholischen Zentrumsbewegung. Sowohl die Distanz zur Nation als auch die Verbindung mit den USA wurde auf diese Weise sozusagen eingeschrieben in das politische Erbgut der sich seinerzeit neu formierenden Bourgeoisie.[4]
In Distanz zur Nation – für das westliche Bündnis
Zu den ersten historischen Taten dieser Bourgeoisie gehörte die Mitwirkung an der deutschen Spaltung in antagonistischer Übereinstimmung mit Ulbricht und der SED. Während Ulbricht die DDR erhalten wollte, um dort auf Biegen und Brechen den Sozialismus einzuführen, wollte Adenauer den sowjetischen Einfluss auf ein einheitliches Deutschland (mit einer mehrheitlich protestantischen Wählerschaft) verhindern. Also sabotierten beide Seiten gemeinsam den Stalin-Plan von 1952, der eine bürgerliche Gesellschaftsordnung und die Neutralität des vereinten Deutschlands vorsah.
Als die Sowjetunion ihrem Ende entgegenging, eröffnete der Sturz der SED-Herrschaft durch aufbegehrende Arbeitermassen im Jahr 1989 erneut die Möglichkeit zur Wiederherstellung des Nationalstaats, der von einer Mehrheit der bürgerlichen Klasse bereits abgeschrieben worden war.
Eine selbstbewusste nationale Bourgeoisie hätte die Gelegenheit ergriffen, um mit dem Friedensvertrag die Neutralität des vereinten Deutschlands durchzusetzen und durch den Austritt aus der Nato die Vormundschaft der USA abzuschütteln, so dass mit fast vierzigjähriger Verspätung die Lösung der deutschen Frage zustande gekommen wäre, die Stalin 1952 vorgeschlagen hatte. Aber eine solche Bourgeoisie gab es nicht. Der schließlich abgeschlossene Friedensvertrag (Zwei-plus-Vier-Vertrag) schrieb mit der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen und dem Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen nicht nur die Ergebnisse des 2.Weltkriegs fest. Sein Zustandekommen war verknüpft mit der fortdauernden Mitgliedschaft des jetzt vereinten Deutschlands in der Nato.
Das Ende eines zaghaften Emanzipationsversuchs
Nach der Wende von 1989/91 unternahm die Bourgeoisie einen Versuch, den eigenen außenpolitischen Handlungsspielraum in Anknüpfung an die frühere Entspannungspolitik durch eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland zu vergrößern. Im Zentrum dieser Politik stand die „Energiepartnerschaft“ zwischen beiden Ländern mit der Nord-Stream-Gaspipeline als tragender Achse. Von den Regierungen Schröder und Merkel gleichermaßen betrieben, trug die große Mehrheit der Bourgeoisie diese Politik mit.
Auf deren Boden nahm die damalige Regierung Merkel auch die Annexion der Krim durch Russland 2014 de facto hin und unterlief die Aufrüstungsbeschlüsse, welche die Nato als Reaktion darauf fasste. Im selben Atemzug bemühte sie sich gemeinsam mit Frankreich im sog. „Normandie-Format“ (Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine) um eine diplomatische Beilegung der Konflikte im Donbass zwischen Russland und der Ukraine – ohne die USA.
Die USA ihrerseits betrachteten die Annäherung der führenden EU-Mächte an Russland als Gefahr für ihre Vorherrschaft in Europa, weshalb sie im Gegenzug die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gegen den Widerstand Frankreichs und Deutschlands vorantrieben. Gleichzeitig verkündete der US-Präsident Biden öffentlich, dass er die Inbetriebnahme von Nord-Stream 2 nicht dulden würde – ein diplomatischer Affront, der von den Vertretern des „deutschen Imperialismus“ mit Kanzler Scholz an der Spitze ohne Protest hingenommen wurde.
Als die russische Führung dann am 22. Februar 2022 eine imperialistische Antwort auf die Provokationspolitik der USA gab und ihre Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ, hatte die US-Administration ihr Ziel erreicht. Der von der Nuklearmacht Russland begonnene Krieg beendete die Entspannungspolitik zwischen der (Mehrheit der) EU und Russland abrupt und ließ die deutsche Bourgeoisie umgehend wieder unter die Fittiche der USA und ihrer atomaren Schutzgarantie flüchten.
Eine schwere Niederlage
Für die Bourgeoisie bedeutete der Ukraine-Krieg eine schwere Niederlage, denn ihre zaghaften Emanzipationsversuche mithilfe einer „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland wurden dadurch zum Scheitern gebracht. Die Reaktion darauf war die am 27. Februar 2022 von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“: die beschleunigte Erfüllung der Aufrüstungsbeschlüsse der Nato durch ein „Sondervermögen“ von 100 Mrd Euro sollte die Gefolgschaftstreue gegenüber dem Washingtoner Schutzherrn unter Beweis stellen, und gemeinsam mit der EU und der US-Regierung beschloss man die entschiedene Unterstützung der Ukraine.
Um die Niederlage der deutschen Bourgeoisie zu komplettieren, setzten die USA außerdem im September 2022 die von Biden gemachte Ankündigung um und ließen die Northstream-Leitung sprengen, um so auch für die Zukunft eine auf Gaslieferungen gestützte Wiederaufnahme der Beziehungen zu Russland zu verhindern. Die deutsche Regierung nahm den Anschlag ergeben hin und machte bis heute keine ernsthaften Anstrengungen, um dessen Urheber ausfindig zu machen.
Ebenso nimmt die bürgerliche Klasse hin, dass das von den USA verkaufte LNG-Gas weitaus teurer ist als das russische Pipelinegas, was zu einer entsprechenden Verteuerung der Energiekosten für die industrielle Produktion ebenso wie für die Bevölkerung geführt hat und weiter führt.
Nur für die Mehrheit der Linken war die Welt mit der „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers wieder in Ordnung. Dank des beschlossenen Rüstungsprogramms konnte man die Wiederauferstehung des deutschen Imperialismus und Militarismus (die wievielte?) anprangern und bei Strafe der Lächerlichkeit über einen neuen „Ostlandritt“ des deutschen Kapitals schwadronieren.
„Balance of power“ anstelle Vorherrschaftspolitik durch die USA
Nachdem die Bourgeoisie gerade erst einen Salto rückwärts unter die Fittiche der amerikanischen Schutzmacht gemacht hatte, war die erneute Präsidentschaftskandidatur Trumps 2024 daher für sie ein Horrorszenario, hatte dieser doch in seiner ersten Präsidentschaft die Nato in Frage gestellt. Deshalb trommelten die bürgerlichen Medien ein Jahr lang ohne Unterlass gegen Trump – vorgeblich in Sorge um die amerikanische Demokratie – , vor allem aber in Sorge um den Fortbestand der Nato, deren Unerlässlichkeit man gerade erst wieder bekräftigt hatte. Assistiert wurden sie dabei von einer Linken, die sich im „Kampf gegen rechts“, d.h. gegen Trump, von niemandem übertreffen lassen wollte.
Bekanntlich war der Einsatz vergeblich, denn Trump gewann die Wahl nicht nur unangefochten, diesmal war – und ist – er im Gegensatz zur ersten Präsidentschaft auch in der Lage, wesentliche Teile seiner Politik umzusetzen. Außenpolitisch begann er gleich nach der Regierungsübernahme mit dem Ukraine-Krieg. Er kündigte an, dass die Amerikaner ihre militärische Unterstützung der Ukraine beenden würden, dies sei Aufgabe der Europäer. Darüber hinaus würden die USA ihr Engagement in Europa und in der Nato zurückfahren.
Gleichzeitig ging er auf Russland zu – ohne Beteiligung der Ukraine oder Europas –, um mit Putin einen Frieden sowie den Ausbau der amerikanisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen zu verhandeln. Das Vorgehen Trumps ohne Rücksicht auf bisherige Beziehungen dokumentiert den grundlegenden Wandel, der sich gegenwärtig im Verhältnis zwischen Washington, Europa und Moskau vollzieht: „Zu Recht muss die transatlantisch gepolte Elite des alten Kontinents fürchten, dass sich die USA und Russland über ihre Köpfe hinweg einigen werden.“[5]
Welche Strategie Trump dabei verfolgt, wird offenbar, wenn man davon ausgeht, dass die USA kein Interesse daran haben (können), dass Russland die Lücke füllt, die ihr Rückzug aus Europa öffnet. Das bedeutet: wenn sie verhindern wollen, dass Moskau die Hegemonie über den alten Kontinent gewinnt, müssen sie anstelle der bisherigen, zu kostspielig gewordenen Vorherrschaftspolitik zu einer Gleichgewichtspolitik übergehen, wie Großbritannien sie lange Zeit gegenüber Kontinentaleuropa betrieben hat. Sie müssen also Sorge dafür tragen, dass Europa und Russland gegeneinander in Stellung gebracht und austariert werden, was gemäß der Logik des Gleichgewichtsdenkens heißt, dass Europa aufrüsten muss, bis es die aktuelle militärische Überlegenheit Russlands ausgeglichen hat.
Begrenzung des Engagements in Europa
Daraus resultiert die Forderung an die Europäer, künftig 5% des jährlichen Bruttosozialprodukts in die eigene Aufrüstung zu stecken, damit eine „balance of power“ erreicht wird. Bis dahin gilt es, zumindest eine reduzierte amerikanische Truppenpräsenz beizubehalten (deren Kosten als „Schutzgeld“ von den Europäern übernommen werden sollen).
Für die Nato folgt daraus, dass die Trump-Regierung wohl keinen vollständigen Rückzug aus der Nato, geschweige denn deren Auflösung vorhat. Das bisherige Engagement (evtl. inklusive der Führungsrolle) wird zurückgefahren, aber grundsätzlich wird die Nato (zumindest vorerst) als Organisation erhalten bleiben, damit Washington weiterhin Einfluss auf die europäischen Angelegenheiten ausüben kann.
Auf dem Boden dieser Strategie offenbart sich auch die Logik der US-Politik gegenüber der Ukraine: während Trump sich selber aus dem Krieg zurückzieht und als Friedensstifter auftritt, befürwortet er gleichzeitig, dass die Europäer den ukrainischen Staat weiterhin unterstützen, damit dieser den Krieg mit Russland fortführen kann. Die offensichtliche Folge daraus ist, dass sich der Graben zwischen Europa und Russland vertieft und die Gefahr einer künftigen Annäherung verringert wird.
Das persönliche Auftreten Trumps mag irritierend sein. Die von ihm eingeleitete Politik gibt eine durchdachte politische Antwort auf die ökonomische und globalstrategische Überforderung der USA.
Ein fortlaufendes Desaster für Berlin
Die bürgerliche Klasse in Deutschland erlebte auf diese Weise binnen weniger Jahre ein doppeltes Desaster. Zuerst setzten die USA der deutsch-russischen Beziehung mithilfe des Ukrainekriegs ein Ende und beseitigten so den gewachsenen außenpolitischen Handlungsspielraum Berlins. Kaum hatte die Regierung Scholz indessen ihren Treueschwur gegenüber den USA und der Nato erneuert, fing Trump als neuer US-Präsident selber ein Techtelmechtel mit dem Erzfeind der Nato in Moskau an und wertete im gleichen Atemzug die Nato und die eigenen Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten ab.
Wie die solchermaßen gleich zweifach düpierte Bourgeoisie darauf reagiert, zeigt ihr Umgang mit dem Ukrainekrieg. Weil Washington die militärische Unterstützung der Ukraine einstellt, springen Deutschland und andere europäische Länder in die Lücke und setzen sich für die Fortsetzung des Kriegs ein. Da das ukrainische Militär aber dafür auch auf Waffen aus US-Produktion angewiesen ist, finanzieren die Europäer, vorweg Deutschland, den Waffenkauf in den USA – und das, während die US-Regierung gleichzeitig mit Russland einen Frieden verhandelt.
Dabei kann die Militärhilfe der Europäer die Niederlage der Ukraine bestenfalls hinauszögern, aber nicht verhindern. Sehenden Auges geht man so auf eine Niederlage zu, die nicht nur die Machtlosigkeit der Europäer, sondern auch die Unfähigkeit ihrer führenden Politiker dokumentieren wird.
Kein anderes Bild ergeben die jüngsten Rüstungsbeschlüsse, die mit Ausgaben in Höhe von 5% des jährlichen BIPs die Bundeswehr zur stärksten konventionellen Armee in Europa machen sollen (was sie während des kalten Kriegs schon einmal war). Nur – woher sollen die Soldaten für die Bedienung einer vergrößerten Kriegsmaschinerie kommen? Schon jetzt umfasst die Bundeswehr lediglich 180.000 Mann, hat Schwierigkeiten, die der Nato zugesagte Litauen-Brigade auf Kampfstärke zu bringen, und weiß erst recht nicht, wie sie ihre Sollstärke von 200.000 erreichen soll. Gleichzeitig traut man sich nicht, die Wehrpflicht zu aktivieren, denn das würde bedeuten, in Zeiten des Niedergangs von Staat und Gesellschaft das Wagnis eines Massenheers aus den Reihen des Volkes einzugehen.
Eine jämmerliche Klasse
Aber welche Perspektive bietet sich der bürgerlichen Klasse? Wie reagiert sie auf die Tatsache, dass der Republik das außen- und sicherheitspolitische Fundament abhanden kommt und die auf die Nato gegründete „Staatsräson“ sich auflöst?
Zur ersten Regierungserklärung des neuen Kanzlers Friedrich Merz hieß es in der Frankfurter Allgemeinen vom 22.Mai 2025: „Aber grundsätzliche Ausführungen dazu, wie sich die transatlantischen Beziehungen entwickeln sollen, fehlten in seiner Rede. Dabei ist das die Frage des Jahrhunderts – für Deutschland, aber auch für ganz Europa.“
Das Schweigen des Atlantikers Merz zu der „Frage des Jahrhunderts“ hat seine Gründe. Obwohl die immer brüchiger werdende Basis der „unipolaren“ US-Politik seit langem bekannt ist und Trump bereits in seiner ersten Präsidentschaft die Nato in Frage gestellt hat, hat die Bourgeoisie sich geweigert, Alternativen einer künftigen Außen- und Sicherheitspolitik zu erwägen. Symptomatisch dafür ist der „think-tank“ der Regierung, die “Stiftung Wissenschaft und Politik“ (swp), die zu diesen Fragen in den vergangenen Jahren nicht einen Text publiziert hat.[6]
Nunmehr hat die Regierung in aller Hektik neue Aufrüstungsbeschlüsse gefasst. Da Waffen jedoch noch nie ein Ersatz für Politik waren, darf man gespannt sein, welche politischen Antworten diese Bourgeoisie finden wird.[7]
Im Prinzip gäbe diese Lage einer marxistischen Linken die Gelegenheit, über die historisch-politische Armseligkeit der bürgerlichen Klasse aufzuklären und ideologisch den Boden für ihren künftigen Sturz zu bereiten. Leider ist die real existierende Linke davon meilenweit entfernt – sie ist nicht mehr als ein Spiegelbild dieser Bourgeoisie.
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- Die politische Selbstaufgabe der Linken und Kommunisten
Nach mehr als drei Jahren Krieg in der Ukraine ist das Debakel jener Kräfte in Deutschland unübersehbar geworden, die sich selbst als links oder kommunistisch bezeichnen. Von uns (AzD / Kommunistische Debatte)[8] wurde bereits kurz nach Kriegsbeginn die These aufgestellt, dass die genannten Kräfte nicht in der Lage seien, eine klare und eigenständige – von den Herrschenden in der BRD unabhängige – Position zum Kriegsgeschehen in der Ukraine zu beziehen. Diese Prognose hat sich inzwischen vollumfänglich bestätigt. Die Folge dieses theoretischen und politischen Scheiterns war, dass man letztlich bei den zentralen Forderungen zum Ende des Ukraine-Kriegs auf die Seite der Nato-Kriegstreiber übergegangen ist. Ausgangspunkt der politischen Irrtümer war ein fehlerhaftes Verständnis vom Charakter des Krieges.
Unsere Position zum Krieg war eindeutig: „Nach Auffassung der AzD-Redaktion handelt es sich auf beiden Seiten um einen reaktionären Krieg, den Russland als Eroberungskrieg unter Berufung auf die Grenzen des großrussischen Zarenreichs führt, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine in Frage stellt und die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki zurückweist. Umgekehrt dirigieren die USA den Krieg der Ukraine mit Hilfe der NATO mit dem Ziel, Russland zu schwächen und eine weitere Annäherung zwischen der EU und Russland zu unterbinden, um ihre Vorherrschaft über Europa zu festigen. Das heißt, es gibt in diesem Krieg keine fortschrittliche Seite, sondern man muss – wie Liebknecht und Lenin im 1. Weltkrieg – für eine Niederlage beider Seiten und den Sturz der jeweiligen Regierungen eintreten.“[9] Diese Position haben wir in den folgenden Veröffentlichungen weiter ausgearbeitet, aber in den Grundzügen unverändert beibehalten.
Dagegen versuchten die kommunistischen Organisationen hartnäckig, die Politik der USA oder Deutschlands aus der Leninschen Imperialismustheorie herzuleiten und die politische Wirklichkeit in das Prokrustesbett einer gescheiterten Theorie zu pressen und haben sich damit den Zugang zum Verständnis des politischen Geschehens selbst verschlossen. Sie sehen weder die Kontinuität noch die Brüche in der amerikanischen oder der deutschen Politik und insofern sie diese – nach drei Kriegsjahren – deutlicher hervortretenden politischen Veränderungen im Verhältnis der europäischen Staaten zu den USA bemerken, können sie sie nicht erklären.
Das Ansinnen, die Politik der führenden imperialen Mächte direkt aus der Ökonomie dieser Staaten und nicht aus den politischen, geostrategischen und militärischen Interessen der herrschenden Gesellschaftsklassen und ihrer jeweiligen Geschichte herzuleiten, verstärkte unausweichlich die Tendenz zum politischen Sektierertum und in der politischen Praxis wurde damit aber auch der Übergang auf die Positionen der Herrschenden geebnet, da es an einem eigenständigen Fundament zur Interpretation des Geschehens fehlt.
Der unverstandene Kurswechsel der USA
Etwas anders die Kommentare der seriöseren bürgerlichen Quellen. Der Leitkommentar der NZZ vom 31.05.2025 arbeitet die Kontinuität und die Brüche in der US-Politik mit wenigen Worten heraus: „Zugleich hält sich Washington für den Verlierer der Globalisierung. Diese wird für die Deindustrialisierung und einen horrenden Schuldenberg verantwortlich gemacht. Dank der Sonderstellung des Dollars konnte Amerika die Importe bequem auf Kredit finanzieren. Inzwischen geben die USA mehr für Zinszahlungen aus als für Verteidigung. Zudem bröckelt die industrielle Basis, um etwa die US-Marine mit Kriegsschiffen ausrüsten zu können. Auch hier ist offensichtlich, dass Washington nicht ewig tatenlos zuschauen kann. Indem Amerika diese Probleme angeht, ändert es sich. Trump reagierte in der ersten Amtszeit mit Protektionismus. Diesen führte Biden fort, um von Trump reloaded noch übertroffen zu werden. … Trumps Schocktherapie ist ein Zeichen der Schwäche.“
Diese Schwäche ist der entscheidende Grund für den Kurswechsel der USA im Ukraine-Krieg. Die neue US-Administration kann und will den von ihrer Vorgänger-Regierung angefachten Krieg um Einflusssphären in Europa nicht weiter finanzieren. Stattdessen dürfen nun die führenden europäischen Staaten die „Lasten“ dieses Konfliktes alleine tragen und sich zugleich mit ihrer Sanktionspolitik gegen die russische Föderation weiterhin ökonomisch ausbluten und politisch zersplittern, wenn sie diesen Krieg fortsetzen wollen. Die Versuche dieser „Koalition der Willigen“,[10] dies zu tun, geben einen Hinweis auf die Schwäche der „Viererbande“[11] und ihrer vermeintlichen Gefolgschaft in der EU. Ohne die immer wieder geforderte Unterstützung durch die USA sieht sich diese „Koalition“ kaum in der Lage, weitere Niederlagen und Rückzüge der Ukraine an der Front zu verhindern, bzw. den von ihr geforderten Waffenstillstand militärisch abzusichern und auszunutzen. Selbst dafür wird die Rückendeckung der USA gefordert.
Darum ist ihre gemeinsame aktuelle Forderung: „Sofortiger Waffenstillstand“ von mindestens 30 Tagen (wenn es geht sogar 60 Tage), ohne dass auch nur Umrisse einer Friedensregelung vorhanden sind. So wird die Forderung eines längeren Waffenstillstandes in der politischen Praxis zu einem Versuch, die an der Front schwächelnde Ukraine weiter im Krieg zu halten. Die „Koalition der Willigen“ ist darum eine Koalition der Kriegswilligen auf Kosten der Ukraine und der europäischen Bevölkerung.
Ihre Hauptforderung: “Sofortiger Waffenstillstand“, nicht um den Krieg zu beenden, wie suggeriert wird, sondern um eine Atempause für weitere Waffenlieferungen und Mobilisierungen von Truppen zu gewinnen, die der Ukraine eine weitere, vielleicht diesmal erfolgreichere Fortsetzung des eigentlich verlorenen Krieges nach Ablauf des Waffenstillstandes ermöglichen soll. Die wesentlichen Merkmale dieser Koalition sind pathetische Propaganda-Aktionen und hehre Postulate (gerechter Frieden/ Völkerrecht), bei gleichzeitiger politischer und militärischer Impotenz, um ihre Interessen in der Ukraine aus eigener Kraft umzusetzen.
Die „Linke“ im Gefolge des europäischen Kriegskurses
Und hier kommen die Linke und die Friedensbewegung ins Spiel, die sich diesen Forderungen anschließen, ohne zu bemerken, dass dies die Forderungen und Wünsche der westeuropäischen Imperialisten sind, die diesen Krieg unbedingt fortführen wollen. Dieses Programm wird von der „Koalition der Kriegs-Willigen“ als „Friedensprogramm“ verkauft, um die unruhiger werdende eigene Bevölkerung zu beruhigen und die Friedensbewegung für das Kriegsprogramm zu gewinnen. Und dies hat Erfolg. So fordert die DKP: „Deshalb ist es für den Frieden notwendig: Sofortiger Stopp des Krieges und Waffenstillstand in der Ukraine.“[12] Und etwas ausführlicher die Linkspartei: „Wir verurteilen diesen völkerrechtswidrigen Krieg und stehen an der Seite der Menschen in der Ukraine, die ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Russland muss die Truppen aus der Ukraine zurückziehen. Wir setzen uns für mehr humanitäre Hilfe ebenso wie diplomatische Initiativen für einen Waffenstillstand und einen gerechten Frieden ein.“[13]
Das Wesen des Konflikts (imperialistischer Krieg) wird ignoriert. Stattdessen wird der Krieg auf den Begriff „völkerrechtswidrig“ reduziert, um damit den Weg zur Unterstützung der westeuropäischen Kriegstreiber zu ebnen. Aus der „Völkerrechtswidrigkeit“ wird das „Recht auf Selbstverteidigung“ hergeleitet und sich selbst positioniert man „an der Seite der Menschen in der Ukraine“, womit der Übergang auf die Seite der NATO kaschiert und ohne schlechtes Gewissen vollzogen werden kann. Was das „Völkerrecht“ ist und was die berechtigte „Selbstverteidigung“ beinhaltet, wird nach NATO-Maßstäben definiert. Es galt und gilt nicht für das ehemalige Jugoslawien, für den Irak, für Afghanistan oder den Jemen etc., also für die ehemaligen oder heutigen Gegner der westlichen Allianz.
Die Nutzung des Begriffs des „völkerrechtswidrigen Krieges“ – wobei man hofft, dass sowohl der Überfall auf Jugoslawien, Afghanistan, Irak – um nur einige Beispiele der führenden NATO-Kriege in den letzten Jahrzehnten zu nennen, inzwischen vergessen wurde – ist der Versuch einer schäbigen und wenig glaubhaften Maskierung für den politischen Übergang in das Lager der NATO, einer offenen Parteinahme für ihre Kriegsziele. So „verkleidet“ kann man dann problemlos die Forderung der Ukraine und der kriegswilligen NATO-Mitglieder übernehmen: „Russland muss die Truppen aus der Ukraine zurückziehen.“
Ein „gerechter Friede“?
Was aber ist mit einem „gerechte(n) Frieden“, der hier so vehement gefordert wird, gemeint? Der positiv besetzte Begriff („gerechter Friede“) wird genutzt, um den tatsächlichen Inhalt zu verschleiern: Die Erreichung der (europäischen) NATO-Kriegsziele. So erklärt die Linkspartei: „Ein Friede kann nur ein gerechter Friede sein, wir fordern den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Am Ende eines Friedensprozesses müssen belastbare Sicherheitsgarantien für die Ukraine stehen.“[14]
Also zuerst ein „Waffenstillstand“ und dann Verhandlungen für einen „gerechte(n) Frieden“. Diese Forderungen entsprechen genau dem, was die „Koalition der Willingen“ von Russland fordert. Für dieses Programm darf die Bevölkerung in der europäischen Union Milliarden Euro an die ukrainischen Oligarchen und europäisch/amerikanischen Waffenproduzenten zahlen. Diese Forderungen als „Friedenskämpfer“ zu verfechten, bedeutet, dass man einen vollständigen Übergang an die Seite der eigenen Bourgeoisie bei der Unterstützung eines imperialistischen Krieges vollzogen hat.
Was ist ein „gerechter Frieden“?
Bereits im ersten Kriegsjahr haben wir in der AzD (Nr. 95) eine klare Position zu den bis heute aktuellen Themen von „Waffenstillstand“ und einem möglichen Friedensschluss bezogen. „In dem aktuellen politisch-militärischen Umfeld des Ukraine-Krieges ist nicht die Losung nach einem „sofortige(n) Waffenstillstand und Rückzug aller russischen Truppen“ aufzustellen, sondern ein Friedenschluss auf dem Boden der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen“ zu fordern. Nur im Kontext dieser Zielsetzung macht ein Waffenstillstand Sinn und kann einen Weg zum Frieden ebnen.“
Und warum stellten wir bereits kurz nach Kriegsbeginn die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht ins Zentrum? Warum benannten wir sie als entscheidenden Punkt für einen gerechten Frieden im Ukraine-Krieg? Warum nicht die bis heute immer wiederholten Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand oder nach Grenzverschiebungen/Einflusssphären? Die Gründe für diese Ausrichtung liegen im Charakter des Krieges, der von beiden Seiten ein ungerechter, imperialer Krieg war und bis heute geblieben ist.
„Diese Forderung (Selbstbestimmungsrecht) richtet sich gegen beide Kriegsparteien. Von Russland verlangt sie die Anerkennung der Ukraine als selbstständiger Nation mit dem Recht auf einen eigenständigen Staat. Von der Ukraine verlangt sie die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der russischen Bevölkerung im Donbass und auf der Krim bis hin zur Lostrennung von der Ukraine und Anschluss an Russland.“[15]
Die Forderung nach dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde und wird in der Friedensbewegung aber kaum diskutiert, geschweige denn von der Linken oder den Kommunisten in die Friedensbewegung hineingetragen. Wenn diese Forderung aufgeworfen wurde, dann nur, um sie als „überholt“ oder als „Leninsche Marotte“ (in Anlehnung an R. Luxemburgs Kritik) zu diffamieren.[16] Obwohl es doch unübersehbar ist, dass Grundlage eines demokratischen Friedens das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker sein muss. Denn nur ein demokratischer Frieden kann ein „gerechter Frieden“ sein, der von den beteiligten Staaten und ihrer Bevölkerung dauerhaft akzeptiert wird.
„Ein Rückzug aller russischen Truppen ohne Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen liefert die Ostukraine und die Krim, ganz unabhängig von dem Willen der dortigen Bevölkerung und ohne Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung, dem westlichen Militärbündnis und seinen ukrainischen Handlangern aus. Zu dieser – von den Autoren vermutlich nicht gewollten – Position gelangt man in der politischen Praxis, wenn man die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen ignoriert, sie für eine überholte, der Vergangenheit und politischen Notlagen geschuldeten Marotte Lenins hält, die heute keinerlei Bedeutung mehr besitzt.“[17]
Der Hauptfeind steht im eigenen Land
Zu welch eigentümlichen und vollständig widersprüchlichen politischen Positionen man gelangen kann, wenn man die politische Wirklichkeit nicht aus den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen herleiten kann, sondern es aus den Schriften der „Klassiker“ versucht, demonstriert die MLPD. Ausgehend von der Leninschen Imperialismustheorie will sie zugleich fester Bestandteil der von der Linken, DKP/VVN und Pazifisten dominierten Friedensbewegung sein. Diese Friedensbewegung hat – wie oben dargestellt – die zentralen Positionen der kriegswilligen NATO-Mitglieder als Friedensprogramm übernommen. Sie fordert „sofortigen Waffenstillstand“, „Abzug aller russischen Truppen“ und einen „gerechten Frieden“, der – wenn möglich – mit weiteren NATO-Forderungen ausgefüllt werden kann. So beginnt die Broschüre zum Ukraine-Krieg, geschrieben von den politischen Führungspersönlichkeiten der Partei, mit der richtigen Feststellung: „Es ist ein von beiden Seiten ungerechter Krieg zwischen dem neuimperialistischen Russland und der kapitalistischen Ukraine. Angestachelt und hochgerüstet von der NATO mit den USA an der Spitze, handelt die Ukraine stellvertretend für dieses imperialistische Militärbündnis.“[18]
Diese Feststellung ist im Wesentlichen[19] richtig. Nur was für Schlussfolgerungen zieht die MLPD aus der Feststellung, dass dieser Krieg von beiden Seiten ein ungerechter, imperialistischer Krieg ist? Sie fordert am Schluss der oben zitierten Broschüre u.a. die: „Sofortige Beendigung der Aggression Russlands und Abzug aller russischen Truppen! Russische Reparationen für alle Kriegsschäden …“[20] Also Forderungen, wie sie von den kriegswilligen NATO-Politikern als wünschenswerte Kriegsziele aufgestellt werden. Damit begibt man sich – wie der Rest der Linken – mit seinen Forderungen auf die Seite der eigenen Bourgeoisie und ihrer Verbündeten.
Wir haben bereits im ersten Kriegsjahr aus der Feststellung des beidseitig imperialistischen Charakters des Krieges eine völlig andere Schlussfolgerung gezogen: „Die Unterstützung einer der kriegsführenden Parteien ist, wie vor über 100 Jahren auch heute, sowohl in den NATO-Staaten wie in der Ukraine oder in Russland, eine Parole der chauvinistischen Kriegstreiber. Der gegebene Ukraine-Krieg ist auf keiner Seite ein ‚gerechter Krieg‘, als Kommunist kann man nur für die Niederlage aller Beteiligten eintreten. Die Leninsche Position während des I. Weltkriegs ist auch für die heutige Situation die einzig vertretbare: ‚Die moderne Demokratie wird nur in dem Falle sich selbst treu bleiben, wenn sie sich keiner einzigen imperialistischen Bourgeoisie anschließt, wenn sie sagt, dass ‚beide das größere Übel‘ sind, wenn sie in jedem Land die Niederlage der imperialistischen Bourgeoisie herbeiwünscht.‘ Und an anderer Stelle: ‚Die Verfechter des Sieges der eigenen Regierung im gegenwärtigen Krieg und die Anhänger der Losung ‚Weder Sieg noch Niederlage‘ stehen gleicherweise auf dem Standpunkt des Sozialchauvinismus. Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nichts anderes als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen …‘“[21]
Unsere Position war also seit 2022 bestimmt vom Leninschen Ansatz eines „revolutionären Defaitismus“ gegenüber allen Kriegsbeteiligten. Als deutsche Kommunisten haben wir unsere politischen Forderungen so formuliert, dass sie sich gegen die eigene Bourgeoise richteten – und nicht gegen die russische.[22] Forderungen also, die auf die Niederlage der NATO-Koalition und der deutschen Bourgeoisie im Ukraine-Krieg zielten:
„Austritt aus der NATO, NATO raus aus Deutschland!
Ende aller Wirtschaftssanktionen gegen Russland und sofortige Öffnung von Nordstream.
Keine weiteren Waffenlieferungen an die Kriegsparteien.
Frieden auf dem Boden der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen, bis hin zum Recht auf Lostrennung, sowohl durch Russland als auch durch die Ukraine.“[23]
Diese Forderungen sind auch nach drei Jahren Krieg und den aktuellen politischen Umgruppierungen in der NATO weiterhin richtig.
[1] https://www.megynkelly.com/2025/01/30/marco-rubio-talks-panama-canal-greenland-ukraine-more-in-exclusive-interview/
[2] Etwas über die Hälfte der staatlichen Schuldenpapiere (knapp 20 Billionen) werden von Privatgläubigern in den USA gehalten; Japan besitzt Schuldtitel in Höhe von 1,1 Billionen, China und Großbritannien jeweils etwa 770 Milliarden. Andere Länder folgen mit großem Abstand, darunter Deutschland mit knapp 100 Milliarden Dollar.
[3] Gastkommentar von Adamovich und Hummler: „Donald Trumps große Exit-Strategie“ in der NZZ vom 10.06.2025, S.13
[4] Im Verständnis der Linken gibt es den elementaren klassenpolitischen Bruch von 1945 bis heute nicht. Die damaligen Marxisten, die Kommunisten an der Spitze, waren mit ihren Einschätzungen gefangen im Korsett einer Imperialismustheorie, mit der Lenin den 1. Weltkrieg statt aus den Klassenkämpfen der damaligen Zeit aus der Ökonomie (eines sterbenden Monopolkapitalismus) erklärt hatte – siehe die Kritik daran in dieser AzD-Ausgabe; die Faschismustheorie der Komintern setzte dieses Verständnis fort. Auf dieser ideologischen Basis war weder der Unterschied der Bundesrepublik zu den vorangegangenen Staatsformen noch der besondere Charakter der neu formierten Bourgeoisie zu begreifen. Das Resultat war ein immerwährender Imperialismus und Militarismus, womit man meinte, die bürgerliche Herrschaft begreifen zu können.
[5] Peter Gärtner: Steht ein neues Jalta in Aussicht? In: Marxistische Blätter 2/2025, S.11. Der nur 2 Seiten umfassende Beitrag ist einer der wenigen auf marxistischer Seite, der mit der Trumpschen Kehrtwende das Ende des „kollektiven Westens“ thematisiert.
[6] Erst jetzt hat die swp zum ersten Mal einen Beitrag zum Thema veröffentlicht, u.z. am 15.5. 2025 von Heribert Dieter über „Die unterschätzten Risiken in der US‑Ökonomie“; https://www.swp-berlin.org/publikation/die-unterschaetzten-risiken-in-der-us-oekonomie
[7] Das soeben erschienene Manifest zur „Friedenssicherung in Europa“ von Mützenich, Stegner und anderen führenden SPD-Mitgliedern ist das erste öffentlich gewordene Positionspapier zu dieser Frage.
[8] Siehe dazu AzD 95 vom Oktober 2022
[9] AzD Nr. 95, Vorbemerkung der Redaktion
[10] Ein vieldeutig interpretierbarer Begriff, wobei offenbleibt, wer denn alles „willig“ und wozu willig ist. Schon die Berufung auf den Begriff, der an die US-Koalition im Irak-Krieg anknüpft, verdeutlicht den reaktionären Inhalt der Verbrüderung.
[11] Deutschland, Frankreich, Polen und GB
[12] https://hamburg.dkp.de/erklaerung-der-dkp-hamburg-zum-krieg-in-der-ukraine
[13] https://www.die-linke.de/themen/frieden/ukraine-krieg/
[14] Ebenda
[15] AzD 95, S. 6
[16] Diese Position verficht Andreas Wehr. Mit seinen Positionen – die eigentlich nur eine propagandistische deutsche Aufarbeitung einer Putin-Rede zur Kriegslegitimierung waren – wurde sich ausführlich in der AzD 95 (S. 8-20) auseinandergesetzt.
[17] AzD 95, S. 6
[18] Stefan Engel, Gabi Fechtner, Monika Gärtner-Engel: „Der Ukrainekrieg und die offene Krise des imperialistischen Weltsystems“, Essen Juni 2022, S. 5.
[19] Deshalb nur „im Wesentlichen“ richtig, weil die Entdeckung des „Neuimperialismus“ anstelle des gewöhnlichen Imperialismus ähnlich problematisch ist, wie die oligarchisch geprägte Ukraine auf ihre kapitalistische Wirtschaftsstruktur zu reduzieren.
[20] Stefan Engel, Gabi Fechtner, Monika Gärtner-Engel, aaO, S. 71
[21] AzD 95, S. 8
[22] Die ist bekanntlich nicht der „Hauptfeind im eigenen Land“
[23] AzD 96, S. 7