Der Ukraine-Krieg und die Frage des Leninismus

Heiner Karuscheit

In einer Stellungnahme zur hier geübten Kritik an der Imperialismustheorie steht, dass die Ausführungen zur Frage des deutschen Imperialismus „mindestens unter Leninisten ein Erdbeben“ auslösen würden. Das mag sein – wenn man sich damit auseinandersetzen würde.1

Es fragt sich nur, was das für „Leninisten“ sind, deren politische Identität von Lenins Imperialismusschrift abhängt. Für den Autor zeichnet sich Lenins Politik wesentlich durch drei essenzielle Dinge aus:

Das ist an erster Stelle der Oktoberumsturz, in dem er das Proletariat gegen den Marxismus der II. Internationale, gegen die Buchstabengelehrtheit eines Kautskys, gegen den Ökonomismus und – nicht zu vergessen – auch gegen eigene frühere Positionen (insbesondere zur Bauernschaft) zur Eroberung der Staatsmacht führte und die Möglichkeit zum Aufbau des Sozialismus eröffnete. Seine „Oktoberpolitik“ rehabilitierte den Marxismus als Revolutionstheorie und stellt Lenin an den Beginn einer neuen Epoche – mit der Imperialismusschrift hatte und hat sie keine Beziehung.

Zum zweiten ist Lenins Position zur nationalen Frage zu nennen, d.h. die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen bis hin zum Recht auf Sezession aus dem gegebenen Staat. Gegen den großrussischen Zarismus gerichtet, diente diese Forderung zur Zerschlagung des Völkergefängnisses nicht nur der Schwächung und dem Sturz der zaristischen Staatsmacht, sondern bildete darüber hinaus den Ansatz zu einer antikolonialen Befreiungspolitik.

Zum dritten ist seine Position zum Weltkrieg wegweisend, die den Krieg von Seiten aller beteiligten Länder als reaktionär begriff und die Umwandlung des Kriegs in einen Bürgerkrieg forderte. Dagegen war in dem aktuellen Krieg noch von keinem „Leninisten“ die Forderung zu hören, die Waffen gegen die Herrschenden zu richten.

Wie ist in diesem Zusammenhang die Imperialismusschrift zu begreifen? Lenin verfasste sie im Schweizer Exil in der bleiernen Zeit des dritten Weltkriegsjahrs, als ein Ende des Kriegs nicht absehbar war, das Proletariat in allen kriegführenden Ländern ungebrochen an der Seite „seiner“ Regierung stand und die linken Revolutionäre weitgehend isoliert waren. In der Theorie noch geprägt vom ökonomischen Marxismusverständnis der II. Internationale, suchte Lenin auf diesem Boden nach einer Erklärung für das Verhalten des Proletariats und fand sie in der Monopoltheorie Hilferdings, mit deren Hilfe er die Bestechung des Proletariats durch Monopolprofite als Ursache des „Verrats“ der Arbeiterparteien herleitete.

Damit saß er zugleich dem Kapitalverständnis des sozialdemokratischen Ökonomen auf, der die maßgeblichen Bewegungsgesetze der bürgerlichen Produktionsweise nicht verstanden hatte, weshalb die Theorie vom Monopol von Anfang an jenseits der Marxschen politischen Ökonomie stand und steht.

Lenin betrachtete das Monopol als tiefste Grundlage des Imperialismus. Wenn er selber das aber so ausdrücklich gesagt hat – sollte man ihn dann nicht ernst nehmen und sich schon aus diesem Grund von seiner Theorie des Imperialismus verabschieden?

Was heißt das für die Frage des Leninismus im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg? Anders gefragt: was sind das für „Leninisten“, die sich darüber streiten, ob drei, vier oder fünf Kategorien aus dem Kriterienkatalog der Imperialismusschrift auf Russland zutreffen und die damit ihre Stellung zu dem russischen Krieg gegen die Ukraine begründen? Angefangen mit dem verstorbenen Rudi Gerns von der DKP, heute u.a. von Andreas Wehr verfochten, wird auf diesem Weg der nichtimperialistische Charakter Russlands herbeidefiniert und damit begründet, dass Putin einen fortschrittlichen Krieg gegen den imperialistischen Westen bzw. seinen ukrainischen Statthalter führen würde. Ist „Leninismus“ also die richtige Auslegung der Heiligen (Imperialismus-) Schrift durch berufene Schriftgelehrte?

Nach meinem Dafürhalten war bislang ein anderes Herangehen für den Marxismus (und nicht nur für diesen) ausschlaggebend, um den Charakter eines Kriegs zu beurteilen. Dieses Herangehen stützt sich auf den Clausewitzschen Satz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Wie sieht es damit aus?

Jenseits der nach außen in den Vordergrund gestellten Anti-Nato- und Antifaschismuspropaganda hat Putin den Überfall auf die Ukraine mit der Zurückweisung der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki begründet, die einen selbständigen ukrainischen Staat geschaffen hat. Stattdessen hat er sich explizit auf das vorrevolutionäre großrussische Zarenreich als historische Bezugsgröße berufen. Diese Aussagen über das imperiale zaristische Russland wurden von der russischen Regierung in der Zwischenzeit mehrfach bekräftigt, weshalb schwer nachvollziehbar ist, wie man als Marxist bzw. „Leninist“ einen Krieg, der mit der Infragestellung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine legitimiert wird, statt aus der Realität aus einem Kriterienkatalog der (Imperialismus-)„Schrift“ heraus beurteilen will.

Grundsätzlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wieso man einem Text, den Lenin noch unter dem Einfluss der II. Internationale geschrieben hat, einen solch zentralen Stellenwert beimisst, anstatt das Wesen des Leninismus in Theorie und Praxis der Oktoberrevolution zu sehen.

Als Alternative zu der prorussischen Position, die von Teilen der DKP oder Andreas Wehr und anderen eingenommen wird, wird eine „blockfreie Äquidistanz“ genannt. Man sollte jedoch noch einen Schritt weiter gehen und wie Alfred Schröder die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht erheben – eine Position, die sich gegen beide Kriegsgegner richtet: gegen das Putin-Regime, insoweit sie die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Ukraine verteidigt, und gleichzeitig gegen die Oligarchenherrschaft in der Ukraine, insoweit sie das Recht der Bevölkerung im Donbass verteidigt, sich aus dem ukrainischen Staatsverband zu lösen und sich Russland anzuschließen, wenn sie das will.

Ansonsten haben wir als Marxisten hier keine Vorschläge zu machen, egal in welcher wohlmeinenden Absicht. Vielmehr haben wir unsere Aufgaben im eigenen Land zu lösen, und das heißt „Austritt aus der NATO – Nato raus aus Deutschland“. Darüber hinaus gilt es, die soziale Frage zu stellen und das heißt, gegen die Sanktionen anzugehen, die von der bürgerlichen Regierung auf Kosten der Massen verhängt worden sind. Wenn die „Leninisten“ sich auf eine solche Politik verständigen würden, wäre schon viel gewonnen.