Alfred Schröder

Hundert Jahre russische Februarrevolution

Zur bürgerlichen und marxistischen Publizistik

  • Bürgerliche Presse: SPIEGEL, GEO-EPOCHE, ZEITGeschichte
  • Die Februarrevolution in der linken Publizistik: von den Marxistischen Blättern bis zur Zeitschrift Marxistische Erneuerung

 

Die Anzahl der Publikationen zum 100. Jahrestag der russischen Revolutionen des Jahres 1917 ist bis dato (Mai 2017) bescheiden geblieben. Zwar ist es noch etwas hin bis zum Jahrestag der Oktoberrevolution, so dass es voreilig wäre, ein abschließendes Urteil zu Umfang und Inhalt der Veröffentlichungen zu treffen. Aber bereits jetzt ist unübersehbar, dass die bürgerliche Publizistik sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit der Geschichte ihrer Klasse beschäftigen wird, zu deren Formierung und ideologischer Legitimierung der Beginn der Reformation vor 500 Jahren einen mächtigen Anstoß gab. Die Feiern und Veröffentlichungen zum sog. Luther-Jahr und dem Beginn der Reformation werden, dazu bedarf es keiner hellseherischen Gaben, auch im Oktober und November dieses Jahres den 100. Jahrestag der Revolutionen der Arbeiter und Bauern von 1917 in allen Medien deutlich übertrumpfen.1 Dies entspricht sowohl dem Zustand der Arbeiterbewegung als auch der Relevanz des Marxismus in der BRD. Die Bourgeoisie ist an der Macht und feiert ihre Geschichte.

Wenn wir unsere Darstellung mit der bürgerlichen Publizistik zum 100. Jahrestages des Revolutionsjahres beginnen, müssen wir notgedrungen den selbst gesetzten Rahmen der Februarrevolution überschreiten, da diese nur im Zusammenhang mit den nachfolgenden Ereignissen behandelt wird. Sie schafft sozusagen die Voraussetzung, die Bühne, auf der nach bürgerlicher Darstellung ein „Fanatiker der Macht“ der Weltgeschichte eine neue Richtung gab.

Drei Publikationen der bürgerlichen Presse mit einer gewissen Breitenwirkung sind zu erwähnen. Zwei davon behandeln die Februarrevolution in Russland so gut wie gar nicht und reduzieren die Oktoberrevolution auf einen bolschewistischen Putsch. Auf Grund ihrer Breitenwirkung wollen wir sie trotzdem kurz vorstellen, insbesondere da sie ein Bild der heutigen Auseinandersetzung mit dem Marxismus und den russischen Revolutionen liefern.2

Bürgerliche Presse: SPIEGEL, GEO-EPOCHE, ZEITGeschichte

Der SPIEGEL brachte in seiner Reihe Geschichte ein Sonderheft zur Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert heraus. 3 Nur der erste Abschnitt dieser Sondernummer behandelt die Vorgeschichte der russischen Revolution, das Jahr 1917 und den Bürgerkrieg. Zusammen mit vielen abgedruckten Plakaten füllt das Thema knapp 20 Seiten, dementsprechend kurz sind die Ausführungen zum Revolutionsjahr 1917. Es ist ein Text mehr feuilletonistischer Art, ohne jeden Erkenntnisgewinn und voller Ungenauigkeiten. Hier zwei durchaus symptomatische Textbeispiele:

„Endlich stimmt das ZK dem bewaffneten Aufstand zu. Und Lenin legt das Datum fest.“(S. 22) Frei erfundene Dramatik. Im ZK-Beschluss gab es keinen Termin für den Aufstand und Lenin konnte ihn auch später nicht festlegen, da der Aufstand vom Militärrevolutionären Komitee des Sowjets und nicht von der bolschewistischen Partei geleitet wurde. Richtig ist, dass er auch nach dem Beschluss wiederholt auf seine zeitnahe Umsetzung insistieren musste bis hin zum Vorabend des Aufstandes, da es in der bolschewistischen Partei ernsthafte Widerstände gegen die Machtergreifung gab.

Oder ein anderes Beispiel: „Das Bodendekret … war vor allem ein politischer Trick, um die Bauern, die mehrheitlich mit den Sozialrevolutionären sympathisierten, auf die Seite der Bolschewiki zu ziehen.“ (Ebenda) In Wahrheit war es so, dass die Sozialrevolutionäre, die im Oktober/November 1917 bereits seit sechs Monaten in der Provisorischen Regierung saßen und dort fast durchgängig das Landwirtschaftsministerium besetzt hatten, die Sympathien der Bauernschaft verloren, weil sie den „Trick“ nicht kannten, den Bauern das Land zu geben.4 Wen dergleichen erhellende Geschichtsschreibung interessiert – das Heft ist noch erhältlich.

Die zweite Veröffentlichung mit Breitenwirkung ist eine Ausgabe von GEO EPOCHE5, sogar mit einer beiliegenden DVD erwerbbar, die den bezeichnenden Titel trägt „Lenin – Fanatiker der Macht“6 und bereits im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Dem DVD-Titel recht nahekommend ist auch die Darstellung der politischen Ereignisse im genannten Heft. Die Oktoberrevolution wird auf einen Putsch reduziert.7 Der Führer der bolschewistischen Partei wird, der Lenin-Biographie von Robert Service8 folgend (dessen Buch als Leseempfehlung vorgestellt wird), als rachsüchtiger Machtfanatiker dargestellt („Lenin wollte – ohne dies ausdrücklich zu sagen – ein paar alte Rechnungen begleichen. Er wollte Rache, und die noch lebenden Mitglieder seiner Familie – sowie andere Menschen in seiner Partei – wollten dasselbe“9). Dementsprechend wird Geschichte plakativ auf die großen Männer, die sie machen, verkürzt.10 Und von diesen war Lenin nicht nur der „Radikalste der Radikalen“, sondern auch der entschlossenste, machtbesessenste, rücksichtloseste und so weiter und so fort, gegenüber den unentschlossenen, zaudernden und zögernden Kontrahenten wie Miljukow (politischer Kopf der Kadetten) oder Kerenski (Trudowik, rechter Flügel der Sozialrevolutionäre). Bei solch einer Geschichtsschreibung dienen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die materiellen Interessen und ihre politischen Ausdrucksformen nur der Untermalung und Ausgestaltung der Geschehnisse, die von den Männern im Rampenlicht bestimmt werden.

Insgesamt ist die Ausgabe von GEO EPOCHE optisch anspruchsvoller und informativer als das SPIEGEL-Sonderheft, kostet aber auch stolze 17,50 Euro (mit DVD). Dafür erhält man neben einer Fülle historischer Fotos in den entscheidenden Kapiteln zum Revolutionsgeschehen einen literarisch aufbereiteten moralisierenden Antikommunismus, wie er besonders in den Abschnitten des Krimi-Literaten Cay Rademacher hervorsticht, der auch vor grober Geschichtsklitterung nicht zurückschreckt.11

Hier ein Beispiel von vielen, die zitierbar wären: „Es ist, wenn man so will, Lenins dritter Putsch: Nachdem er bereits die Provisorische Regierung besiegt und die Sowjets unter Kontrolle der Bolschewiki gebracht hat, beseitigt er nun alle Dissidenten in seiner eigenen Partei.“ (GEO EPOCHE, S. 102) Anlass zu obigem Zitat ist der Austritt Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger aus dem Zentralkomitee der Bolschewiki (November 1917), nachdem sie dort keine Mehrheit für eine Koalition mit den Menschewiken und Sozialrevolutionären nach dem Sieg der Oktoberrevolution erreichen konnten.12 Mit ihrem Austritt aus dem ZK wollten sie die Mehrheit des ZK unter Druck setzen, die Regierung um Vertreter aller Sowjetparteien sowie Vertreter der Petrograder Stadtduma zu erweitern.13 Dieser freiwillige Austritt zur politischen Erpressung der Partei verwandelt sich unter der Feder Rademachers in die Beseitigung aller Dissidenten aus der Partei und zum dritten Leninschen Putsch innerhalb weniger Tage.

Um die Worte Cay Rademachers zu nutzen: „wenn man so will“, kann man den freiwilligen Austritt der oben Genannten aus dem ZK als Leninschen Putsch bezeichnen, kann man den freiwilligen Auszug der Menschewiki und Sozialrevolutionäre aus dem Sowjetkongress kurz zuvor ebenso als Leninschen Putsch bezeichnen. Nur, man muss es schon wollen: Lenin zu dämonisieren, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen, die Klassenkräfte zu ignorieren und die politischen Positionen der handelnden Parteien wegfallen zu lassen.

Das bietet uns ein Großteil der bürgerlichen Publizistik als Geschichtsschreibung für das breitere Publikum zum Revolutionsjubiläum. Und, was noch viel entscheidender ist, dies kann man dem Publikum bieten, weil es keine marxistische Kritik gibt, die diesen Darstellungen entgegentritt, die selbst halbwegs auf der Höhe des gegebenen Forschungstandes argumentieren, korrigieren, oder den moralisierenden und unhistorischen Unsinn entlarven kann.14

ZEITGeschichte

Von grundsätzlich anderer Art ist die Veröffentlichung der ZEIT in ihrer historischen Reihe ZEITGeschichte. Der Titel „1917 – Revolution in Russland, Kriegseintritt der USA: Ein Jahr das die Welt verändert“ benennt die zentrale inhaltliche Aussage der Publikation: Durch die russische Revolution und den amerikanischen Kriegseintritt mit einem antikolonialen Friedensprogramm wird dieses Jahr zu einem geschichtlichen Wendepunkt, der entscheidend für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert wird. In einer Reihe von Aufsätzen behandeln bekannte und teils renommierte Historiker die zentralen Ereignisse des Jahres mit ihrer jeweiligen Vorgeschichte und den Nachwirkungen. Fast alle Beiträge sind lesenswert und teilweise kontrovers, spiegeln den Stand der bürgerlichen Forschung wieder und geben dem Leser einen tieferen Einblick in das damalige politische und gesellschaftliche Geschehen. Bei einem Preis von 6,90 Euro fällt es leicht, hier eine Kaufempfehlung auszusprechen.

Für unser Thema von besonderem Interesse sind zwei Artikel. Manfred Hildermeier behandelt Lenin als „Genie des Augenblicks“. Obwohl am Ende des Heftes bei den Literaturhinweisen wieder der in bürgerlichen Publikationen nicht fehlen dürfende Robert Service mit seiner Lenin-Biographie angeführt wird, finden wir bei Hildermeier eine eigene, kurz gefasste politische Biographie Lenins. Bei der Beschreibung der Februarrevolution15 wiederholt Hildermeier seine bereits 198916 entwickelte Position von den „Frontgeneralen“ als „entscheidende(m) Faktor“ für den Sieg der Revolution.17 Ihre Abwendung vom Zarismus hätte die Revolution gesichert. Diese in der bürgerlichen Geschichtsschreibung verbreitete Sichtweise geht an den Tatsachen vorbei. Der – wie wir noch sehen werden – entscheidende Faktor für den Sieg war die Verbrüderung der bäuerlichen Regimenter mit den streikenden und demonstrierenden Arbeitern. Dies geschah ohne und in vielen Fällen gegen die kommandierenden Offiziere. Die zaristische Generalität war nach dem Sieg der Revolution mit einigem Zögern bereit, dem herrschenden Zaren Nikolaus II. die Abdankung nahezulegen, aber nur, um zusammen mit den führenden Köpfen der Bourgeoisie einen anderen, geeigneteren Romanow auf den Thron zu heben. Der aber war nicht zu finden.

Die Theorie von der entscheidenden Rolle der Generalität für den Sieg der Revolution dient einzig dazu, der russischen Bourgeoisie eine politische Bedeutung und militärische Macht zuzuschreiben, die sie in keinem Moment des Jahres 1917 besaß.18

Der zweite für uns interessante Artikel ist von Leonid Luks („Das kurze Jahr der Freiheit“). Er stellt unumwunden fest: „Tatsächlich blieb die Provisorische Regierung in allem was sie tat, vom Petrograder Sowjet abhängig. Sie benötigte seine Unterstützung … Unter dem Druck des Petrograder Sowjets verkündete die Provisorische Regierung am 03. März ein Manifest“, in dem sie ihr Regierungsprogramm darlegte. (S. 38) Hier wird das tatsächliche Verhältnis von Sowjet und Provisorischer Regierung auf den Punkt gebracht. Die bürgerliche Regierung und später die Koalitionsregierung waren vom Sowjet abhängig, bei dem die tatsächliche Macht (das Kommando über die Gewehrläufe) lag. Dies findet man selten und schon gar nicht bei der Linken so klar ausgedrückt. Insgesamt – bis auf seinen Schluss19 – ist der Artikel informativ und bietet dem Leser einige Anregungen zur Neubewertung der damaligen Ereignisse.

Die Februarrevolution in der linken Publizistik

Von den Marxistischen Blättern bis zur Zeitschrift
Marxistische Erneuerung

„Die Februarrevolution hatte ‚kein Glück‘ in der sowjetischen Geschichtsschreibung“, schrieb vor über 40 Jahren der Historiker David Anin bei seiner ausführlichen Besprechung der Februarrevolution. 20 Man kann ergänzen, auch bei der marxistischen Geschichtsschreibung außerhalb der Sowjetunion blieb die Behandlung der Februarrevolution „oft im Schatten … des Oktobers“21, ohne eine eigenständige Kontur zu gewinnen. Die Veröffentlichungen in der linken Presse bestätigen diese Feststellungen.

Einzig die MARXISTISCHEN BLÄTTER (Nr. 3/2017) bringen mit dem eben zitierten Aufsatz von Professor Hautmann einen eigenständigen Artikel zur Februarrevolution. Bedauerlicherweise enthält sich der Autor jedes über die offizielle marxistische Orthodoxie hinausgehenden Gedankens. So liefert er eine durchaus detaillierte, aber jede Auseinandersetzung mit strittigen Fragen vermeidende Schilderung der Ereignisse. Hier eine bei weitem nicht vollständige Auflistung der interessanten, aber von Hautmann unzureichend oder gar nicht behandelten Problemstellungen der Februarrevolution:

Warum wurden die sozialistischen Parteien von dieser Revolution so überrascht, während die bürgerlichen Kräfte sie bereits seit Monaten zu vereiteln suchten? 22
Warum wurden bei der Bildung der Provisorischen Regierung in den Verhandlungen zwischen dem Duma-Komitee und dem Sowjet alle entscheidenden Fragen (Stellung zum Krieg, Staatsform, Agrarreform), entweder gar nicht verhandelt oder bewusst offengelassen?

Die Doppelherrschaft wird bei Hautmann, wie durchgängig in der marxistischen Geschichtsschreibung (aber auch der bürgerlichen), für den Zeitraum bis Juli 1917 unterstellt, ohne sie mit mehr als der Existenz zweier sich gegenüberstehenden Körperschaften, dem Sowjet und der Provisorischer Regierung, zu belegen. Die Frage, wer real im Besitz der Macht war, wird nicht untersucht.

Die marginale Rolle der Bolschewiki in den Sowjets der ersten Revolutionsmonate wird durch die kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats der Hauptstadt erklärt23, ein Ansatz der sowjetischen Geschichtsschreibung, über den sich Anin bereits vor 40 Jahren mit Recht lustig machte.24
Die Bauernschaft wird behandelt, ohne die Dorfgemeinschaft zu erwähnen, die das Wesen der russischen Bauernschaft prägte.
Die Aprilthesen Lenins werden kursorisch vorgestellt, ohne die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen, die noch bis nach dem Oktober 1917 andauerten, auch nur anzureißen, obwohl sie die Partei mehrfach zu zerreißen drohten.

Die Kadettenpartei wird zur vorherrschenden Vertretung der russischen „Großbourgeoisie“ gemacht, obwohl ihre wirkliche Basis der liberale Landadel und die Vertreter der „freien Berufe“ in den Städten war, und diese Großbourgeoisie wird für die ganzen acht Monate bis Oktober 1917 an der politischen Macht verortet,25 obwohl die politischen Führer dieser Bourgeoisie die Regierung bereits im April auf Druck der Massen und des Sowjets verlassen mussten.26

Hautmann wiederholt in seinem Artikel alle bekannten Positionen der sowjetischen Orthodoxie, ohne eine einzige davon in Frage zu stellen. Er meidet jede Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung und entwickelt keinerlei eigenständige theoretische oder politische Position. Jahrzehnte nach der Öffnung der russischen Archive für die wissenschaftliche Forschung gibt es nicht einen Versuch zur Neubewertung der russischen Revolutionen. Wenn dies der lebendige Geist des kritischen und revolutionären Marxismus sein soll, dann ist in einer Leichenhalle mehr Leben zu finden als im Umfeld der DKP.

Und dabei ist der theoretisch so unbewegliche Hautmann noch das Beste, was die Linke in diesem Jahr zum Thema produziert hat. Die ARBEITERSTIMME (Nr. 195) druckt gleich einen 30 Jahre alten Artikel zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution nach, um zu dokumentieren, dass es zum Thema nichts Neues zu sagen gibt.27 Garniert wird dieser Artikel mit einer Rezension der Kerenski-Memoiren,28 die den Eindruck hinterlässt, dass der Rezensent sie bestenfalls durchgeblättert, aber nicht gelesen hat. Interessante Ausführungen Kerenskis zu den konterrevolutionären Umsturzplänen des Zaren (Kapitel 11) werden weder dargestellt noch hinterfragt, die Darstellung der Februarrevolution (Kapitel 13) bei Kerenski auf den Satz reduziert, dass Kerenski die Sitzung des Sowjets selten besuchte. Eine moralisierende und völlig unpolitische Rezension eines durchaus politischen Buches, angereichert mit fehlerhaften Behauptungen.29

Die ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG hat in ihrer Nummer Z. 109 vom März dieses Jahres die Diskussion zum russischen Revolutionsjahr 1917 mit zwei Artikeln von Frank Deppe und Stefan Bollinger begonnen, die jeweils in Kurzform den Inhalt ihrer für dieses Jahr geplanten Buchveröffentlichungen vorstellen.30

Deppe versucht, gestützt auf eine Untersuchung der amerikanischen Soziologin Theda Skocpol zu den drei großen Revolutionen seit 1789 (gemeint sind die französische, die russische und die chinesische Revolution) zu neuen Erkenntnissen über die russische Revolution zu gelangen. Hier ist es zu einer ernsthaften Beurteilung dieses Ansatzes zu früh, da die Veröffentlichung in Buchform noch aussteht. Es ist zu hoffen, dass der Erkenntnisgewinn über die Passagen, die uns der Artikel liefert, hinausgeht.31

Stefan Bollingers eher feuilletonistisch angelegter Artikel lässt den Leser etwas ratlos zurück. Auch nach mehrmaligen Lesen bleibt die Frage: Was wollte uns der Autor auf den 14 Seiten seines Aufsatzes mitteilen, was ist sein zentrales Anliegen, welchen neuen Gedanken haben wir in dem Artikel gesucht und nicht gefunden? Warten wir ab, ob das angekündigte Buch mehr Klarheit verschaffen kann.

Allerdings erfahren wir etwas Neues zur Februarrevolution. Gleich auf der ersten Seite des Artikels formuliert Bollinger in mehrdeutig interpretierbaren Schachtelsätzen, dass die Unruhen im Frühjahr 1917, deren Ursachen „die ’neuen‘ politischen Akteure nicht verstanden“, in deren „Ergebnis (aber) eine ‚Palastrevolution‘ der bürgerlichen Duma-Parteien (im Einklang mit den Entente-Verbündeten) möglich wurde, eine Bewegung (war), die von den Massen mit riesigen demokratischen und Anti-Kriegs-Erwartungen aufgeladen wurde.“ Diese sprachlichen Verrenkungen schaffen wenig Klarheit über die tatsächlichen Ereignisse, verdecken aber zwei wesentliche Tatsachen.

Erstens gab es sehr wohl entwickelte Pläne zu einer Palastrevolution ganz ohne Anführungszeichen, wie sie der von Bollinger zitierte englische Premier Lloyd George in seinem Kriegstagebuch beschreibt.32 Ziel dieser Palastrevolution war keineswegs der Sturz des Zarismus, sondern einzig die Beseitigung des aktuellen Zaren plus Zarin und seine Ersetzung durch ein anderes Mitglied des Romanow-Clans.

Und zum zweiten kam die Provisorische Regierung eben nicht durch eine Palastrevolution zustande, wie Lloyd George richtig feststellt: „An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats …“ Das bedeutet, dass die erste Provisorische Regierung ihr Mandat von der siegreichen Revolution erhielt und ihr politisches Programm letztendlich vom Sowjet diktiert wurde. Nur für Stefan Bollinger stellt sich dieser Vorgang völlig anders dar: „All dies ändert nichts an der Tatsache, dass es konservativ-reaktionäre Kreise waren, die in der Revolution zunächst die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“33

Wie es wirklich war (und dass „die ’neuen‘ politischen Akteure“ sehr wohl die Ursachen der Volkserhebung verstanden), soll versucht werden, in dieser Nummer der AzD nachzuzeichnen. Ins Zentrum der Darstellung rücken wir einen Augenzeugen der Februarrevolution, der sowohl bei der Gründung des Petrograder Sowjets als auch bei den Verhandlungen zur Bildung der ersten Provisorischen Regierung beteiligt war und diese Ereignisse in tagebuchähnlicher Form veröffentlichte: Nikolai Nikolajetisch Himmer, bekannter unter seinem publizistischen Namen Nikolai Suchanow. Die gekürzte deutsche Übersetzung seines „Tagebuch der russischen Revolution“ erschien 1967 im Piper Verlag München und ist heute auch antiquarisch nur schwierig erhältlich.34

Wer war Suchanow 1917? Er war ein parteiloser linker Menschewik, der auf den Boden der Zimmerwalder Erklärung stand35 und in Gorkis legaler Zeitung Letopis publizierte. Lenin beschreibt ihn folgendermaßen: „Wenn wir von dem Publizisten (…) N. Suchanow sprechen, werden sicherlich alle damit einverstanden sein, dass er nicht der schlechteste, sondern einer der besten Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie ist. Er hat eine aufrichtige Neigung zum Internationalismus, die er in den schwersten Zeiten, mitten im Wüten der zaristischen Reaktion und des Chauvinismus bewiesen hat. Er hat Kenntnisse, und ihm ist das Bestreben eigen, sich über ernste Fragen ein selbständiges Urteil zu bilden, was er durch seine lange Entwicklung von der sozialrevolutionären Ideologie in Richtung zum revolutionären Marxismus bewiesen hat.“36

Da Suchanows Tagebuch der russischen Revolution mit dem ersten Tag der Februarrevolution beginnt, ist es sinnvoll, dem Leser vorweg eine Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Situation in Russland im Winter 1916/1917 zu geben. Diese Darstellung wird dem bereits erwähnten und gerade im VSA-Verlag erschienen Buch „Das Revolutionsjahr 1917 – Bolschewiki, Bauern und die proletarische Revolution“ entnommen37 und soll es dem Leser ermöglichen, die politischen Akteure und Parteien, die Suchanow in seinem Text erwähnt, einzuordnen. Dass die Autoren dabei zu einer anderen Interpretation der Klassenkräfte und der Vorgeschichte der Februarrevolution gelangen, als die gängige marxistische Geschichtsschreibung bisher, schafft für den Leser vielleicht einen Anreiz, sich mit der Neuinterpretation des gesamten Revolutionsjahrs 1917, die in diesem Buch vorgenommen wird, auseinanderzusetzen.

1 Am 30. Oktober 5017 soll Luther seine 95 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg befestigt haben. Der Vorgang selbst ist nicht eindeutig belegt.

2 Eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Weltanschauung und revolutionärer Theorie findet nicht statt, stattdessen wird die Person Lenins ins Zentrum gerückt und dämonisiert.

3 Russland – Vom Zarenreich zur Weltmacht.

4 Dass sie den „Trick“ auch im Januar 1918 auf der Konstituierenden Versammlung noch immer nicht kannten, obwohl Lenin ihn ja im Oktober 1917 vorgeführt hatte, sollte zu denken geben. Der „Trick“ funktionierte nämlich nur, wenn man bereit war, mit der Bourgeoisie zu brechen. Dazu war die Mehrheit der sozialrevolutionären Abgeordneten auch im Januar 1918 nicht bereit. Man wollte in der Agrarfrage noch immer einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aushandeln.
Dazu Trotzki treffend:
„Das Programm der Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie wollten den Sozialismus auf der Basis der kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung des Bodens der Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sich die Partei in Koalitionen. Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich nicht nur die Gutsbesitzer, sondern auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel der Banken investiert. Da sie planten, in der Konstituierenden Versammlung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln, aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik nicht an den Boden heranzulassen.“ (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, Fischer Verlag, S. 526) Es war also weniger ein „Trick“ als vielmehr die banale pekuniäre Frage nach der Entschädigung der Landeigentümer, um das Bündnis mit der Bourgeoisie nicht zu beschädigen.

5 GEO-EPOCHE: Die russische Revolution. Hier wird in acht Kapiteln die Geschichte der handelnden Hauptakteure vom Ende des Zarismus bis Stalins Aufstieg abgehandelt.

6 Eine Ko-Produktion von Arte und ZDF. Die Produktion war bereits im Fernsehen zu sehen und wird uns sicher noch das eine oder andere Mal bis zum Jahresende gezeigt werden.

7 Das entsprechende Kapitel hat den Titel: „Der rote Putsch“.

8 Robert Service: Lenin. Eine Biographie; München 2002. Das Werk ist akribisch in allen Belanglosigkeiten und weitgehend substanzlos bei der Behandlung politischer Fragen. Wen es interessiert zu erfahren, wer aus dem Leninschen Umfeld die besten Hühnergerichte bereiten konnte (S. 365), oder welchen nirgendwo näher bezifferten Anteil an der Oktoberrevolution Frau Luise Kammerer, Frau eines Züricher Schusters hatte (S. 315-316), wird bei R. Service auf seine Kosten kommen, muss dafür aber 68 Euro zahlen.

9 Robert Service, ebenda S. 352. Das gibt natürlich eine schlüssige Erklärung für die Oktoberrevolution.

10 Die entsprechenden Kapitel stellen Stolypin, Miljukow und Lenin vor (Kapitelüberschrift: Der Radikalste der Radikalen).

11 Rademacher schreibt im DuMont-Verlag Urlaubskrimis, die in der Provence spielen und unterhaltsamer zu lesen sind als seine Ausflüge in die Geschichte. Der antikommunistische, moralisierende Grundtenor ist auch den Herausgebern des GEO-Heftes nicht entgangen, die unter den Text von Rademacher die Bemerkung setzen: „Angesichts der Gewalt der Bolschewiki bedauert es der Autor nicht wirklich, dass die meisten führenden Revolutionäre später Josef Stalin zum Opfer fielen.“ Wir würden es auch nicht bedauern, wenn der Autor künftig auf eine Umschreibung der Geschichte verzichten würde.

12 Ziel des Austritts war es, „die Freiheit zu gewinnen, den Massen unsere Ansichten darzulegen … und sie aufzurufen, unsere Forderung nach einer sofortigen Einigung über eine Regierung aus allen Sowjetparteien zu unterstützen. Offenbar hofften Kamenew und seine Mitstreiter, dass sie mit ihrem Rücktritt Unterstützung in der Partei mobilisieren könnten.“ Siehe Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht, Essen 2010, S. 55. Rademacher gibt Rabinowitch als Leseempfehlung am Kapitelende an, eine Empfehlung, der wir uns nur anschließen können. Nur kommt Rabinowitch zu durchaus anderen Schlussfolgerung als unser Krimiautor bei seinem Ausflug in den Bereich der moralisierenden Historik.

13 Worum ging es inhaltlich und weshalb lohnt es sich, darauf näher einzugehen? Sozialrevolutionäre und Menschewiki versuchten vermittels der Eisenbahnergewerkschaft, die Bolschewiki zur Fortsetzung der Koalitions-Regierung mit der Bourgeoisie zu bewegen. Ihre populäre Forderung – auf die der Kamenew-Flügel in den Verhandlungen einging – war die einer sozialistischen Sowjetregierung ohne Lenin und Trotzki. Dieser Vorgang wird in fast jeder bürgerlichen Lenin-Biographie angeführt, als Beleg des kompromisslosen Machtstrebens Lenins, der nur zum Zwecke des eigenen Machterhalts der populären Forderung nach einer gemeinsamen Regierung aller Sowjetparteien eine Absage erteilt.

So populär die Forderung nach einer Regierung der Sowjetparteien bei der Arbeiterschaft im Winter 1917 war, so klar wurden aber auch schon damals die politischen Grenzen einer solchen Koalition definiert. Eine „Delegation Tausender Arbeiter der Putilow-Werke“ überbrachte den Verhandelnden zur Regierungsbildung eine Resolution. In diese Resolution „bekräftigte (man), dass die Bildung einer rein sozialistischen Regierung von entscheidender Bedeutung sei, doch müsse sie das Programm des Sowjetkongresses übernehmen, wie es in den Dekreten über Land, Frieden, Arbeiterkontrolle und die sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung enthalten sei. Sie müsse sich die Notwendigkeit eines erbarmungslosen Kampfes gegen die Konterrevolution zu eigen machen, den zweiten Sowjetkongress … als einzige legitime Quelle politischer Macht anerkennen …und allen Organisationen, die nicht im Sowjet vertreten waren, die Beteiligung am ZEK verwehren.“(Rabinowitch, ebenda)

Damit war die „sozialistische Sowjetregierung“ politisch unmöglich, was Lenin und Trotzki vollkommen klar war. Auf diesem Boden waren nur die linken Sozialrevolutionäre bereit, sich an der Regierung zu beteiligen. Alle anderen Sowjetparteien suchten weiterhin den Schulterschluss mit Teilen der Bourgeoisie, in welcher Verkleidung auch immer (z. B. Vertreter der Stadtduma etc.) Der Versuch Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger, die Oktoberrevolution nach rechts zu korrigieren, traf auf den entschiedenen Widerstand der proletarischen Massen der Hauptstadt. Andererseits waren Sozialrevolutionäre und Menschewiki in ihrer Mehrheit ebenso wenig bereit, sich von der Bourgeoisie zu lösen und die Beschlüsse des 2.Sowjetkongresses als Grundlage einer künftigen Regierungspolitik anzuerkennen. Im besten Fall kann man diesen Vorstoß Kamenews als politisch naiv und wirklichkeitsfremd bezeichnen, im negativsten Fall als Versuch der Liquidierung der Errungenschaften der Oktoberrevolution.

14 Den uns bisher bekannten linken Publikationen zum Thema ist augenfällig eines gemeinsam: Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Forschungstand zu den russischen Revolutionen fehlt ebenso wie eine Kritik an der Popularisierung dieser Positionen, wie sie beispielsweise im genannten GEOEPOCHE-Heft oder der diesem Heft beiliegenden Fernsehproduktion stattfindet.

15 ZEITGeschichte, S. 28

16 Hildermeier: Russische Revolutionen 1905-1921; Frankfurt/M. 1989, S. 146f

17 Zur Auseinandersetzung mit dieser Auffassung siehe Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, S. 42

18 Im weiteren Verlauf von Hildermeiers Artikel treffen wir auf zwei uns bereits bekannte Theorien der bürgerlichen Geschichtsschreibung: Die Oktoberrevolution als „Staatsstreich“ der Bolschewiki und sozialistische Allparteienregierung, die nach dem Oktober „in der Logik des Geschehens gelegen hätte“. Zu dieser Logik siehe Fußnote 13.

19 Luks erklärt das Scheitern der „Demokratie“ aus der „Konfrontation mit einer totalitären Partei“, die die neuen Freiheiten ausnützt, um die Demokratie zu stürzen. Diesen Ansatz dehnt er dann auch auf die faschistische Machtergreifung in Italien und die nationalsozialistische in Deutschland aus. Hier triumphiert die Ideologie (Totalitarismustheorie) über die Beschäftigung mit den historischen Tatsachen. Auf dieser allgemeinen und abstrakten Ebene kann man Luks These mit der Frage konfrontieren, ob die „Demokratie“ nicht vielleicht daran scheiterte, dass sie die politischen und sozialen Interessen der Arbeiter und Kleinbürger in den genannten Ländern missachtet hat?
Konkret für Russland führt dazu Luks
Berufskollege Klaus Latzel im selben ZEITGeschichte Heft aus: „Die Provisorische Regierung … wollte nicht sehen, dass es die Gewalt des Krieges und die soziale Not im Reich waren, die große Teile der Bevölkerung zur Verzweiflung oder in den Aufstand trieben. Insofern war die Oktoberrevolution nicht nur ein Militärputsch oder ein Staatsstreich. … Um die Oktoberrevolution zu verstehen, muss man das Unvermögen der russischen Demokraten in den Blick nehmen, mit den dringenden Problemen des Landes fertig zu werden, die sich nach der Februarrevolution stellten.“ (S. 82)

20 David Anin: Die russische Revolution von 1917 in Berichten ihrer Akteure; München 1976, S. 22. Anin verwendet den Begriff „Die russische Revolution“, weil es für ihn nur eine Revolution, die Februarrevolution, gegeben hat. Im Gegensatz zur Februarrevolution, „war der Oktober eine Geheimverschwörung“ (ebenda S. 65). Dies ist, wie wir auf den vorherigen Seiten gesehen haben, eine bis heute gängige bürgerliche Interpretation der Ereignisse. Anins Publikation zur Februarrevolution ist informativ und trotz ihres Alters weiterhin empfehlenswert. Bedauerlicherweise ist sie nur noch antiquarisch zu erwerben.

21 Hans Hautmann, Marxistische Blätter, Nr. 3/2017, S. 82

22 Siehe dazu Anin, S. 49

23 „Die Mehrheit in den Sowjets stellten die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki. Das erklärte sich durch die Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterschaft während des Krieges, die die soziale Inhomogenität verstärkten. Ein nicht geringer Teil der zur Armee einberufenen Stammarbeiter wurde durch Handwerker, Ladenbesitzer und Angehörige der Dorfbevölkerung ersetzt.“ (Hautmann, S. 91) Wohlgemerkt, es ist von jener Arbeiterschaft die Rede, die gerade nach mehrtägigen Straßenkämpfen das Überlaufen der bäuerlichen Regimenter der Hauptstadt erzwungen hatte und wenige Wochen später, im April, die politischen Köpfe der Kadetten und Oktobristen zum Rücktritt aus der Regierung zwingen wird.

24 Anin, S. 52-53. Trotzkis Erklärung dieses unübersehbaren Tatbestandes hat zweifellos mehr Charme als die „kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats“. Für ihn organisierten die Bolschewiki die Revolution auf der Straße, während die anderen sozialistischen Kräfte in Hinterzimmern den Sowjet zusammenschusterten. Der Charme macht die Erklärung aber nicht politisch richtiger. Es mangelte den Bolschewiki im Februar und März 1917 an organisatorischer Präsenz und an politischer Bedeutung. Dazu waren sie noch von Agenten der zaristischen Geheimpolizei durchsetzt.

25 „Durch die Februarrevolution wurde die russische Großbourgeoisie für acht Monate zur herrschenden Klasse. Ihrer politischen Einstellung nach war sie oktobristisch-kadettisch. Der oktobristische, reaktionäre Flügel vertrat primitiv-räuberische Methoden der kapitalistischen Ausbeutung, während die Kadetten die ökonomisch progressiveren Schichten der Bourgeoisie verkörperten, die die neuesten ‚europäischen‘ Ausbeutungsformen ausnützten. Diese Fraktion hatte innerhalb der russischen Kapitalistenklasse in der Kriegszeit die Dominanz inne.“ (Hautmann, S. 84) Mit dieser „ökonomistischen“ Unterscheidung trifft man die politischen Unterschiede dieser Parteien sicherlich nicht, enthebt sich aber der Aufgabe zu erklären, weshalb diese Parteien sich im Jahr 1915 zum „progressiven Block“ zusammenfanden.

26 Gemeint sind Gutschkow (Oktobrist und Verteidigungsminister) und Miljukow (Kadett und Außenminister)

27 Der Inhalt des Artikels beschäftigt sich mehr mit dem Scheitern der Sowjetunion als mit den russischen Revolutionen von 1917.

28Alexander Kerenski: Die Kerenski Memoiren, Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Hamburg 1989

29 So behauptet der Rezensent auf S. 18 der Arbeiterstimme, dass Kerenski „im Grunde (seines) Herzen Monarchist (war).“ Beleg dafür: Kerenski habe als 13jähriger bei der Nachricht vom Tode des vorherigen Zaren geweint.

30 Frank Deppe: 1917 – 2017, Revolution und Gegenrevolution, VSA-Verlag 2017; Stefan Bollinger: Revolution gegen den Krieg, Skizzen zu Geschichte und Aktualität der Russischen Revolutionen 1917-1922 (Arbeitstitel), Eulenspiegel Verlagsgruppe 2017

31 Den genannten Revolutionen soll gemeinsam gewesen sein, „dass – in allen Fällen – die revolutionäre Krise heranreifte, weil die agrarischen Strukturen auf eine autokratische und protobürokratische Staatsorganisation prallten.“ (Z 109, S. 13). Da die agrarischen Strukturen in den drei Ländern ebenso unterschiedlich waren wie die dort handelnden Klassen oder der jeweilige Staatsapparat, ist der Vergleich von Frau Skocpol sehr gewagt und der Erkenntnisgewinn möglicherweise doch so begrenzt wie das angeführte Zitat.

32 „Die Tatsachen, die seit der Revolution ans Licht gekommen sind, klären eine Situation, die seinerzeit recht undurchsichtig war. Die Gerüchte, die überall herumschwirrten und den wohlbehüteten Mitgliedern der interalliierten Delegation zu Ohren kamen, wurzelten in dem Erdreich einer zweifellos vorhandenen Verschwörung. Die Heerführer hatten bereits faktisch beschlossen, den Zaren abzusetzen. Sämtliche Generale sollten beteiligt gewesen sein. Der Stabschef General Alexejew war sicherlich in die Verschwörung verwickelt; Russki, Iwanow und Brussilow sympathisierten mit ihr. Als dem letzteren die Frage der Absetzung des Zaren vorgelegt wurde, soll er gesagt haben: ‚Wenn ich zwischen dem Zaren und meinem Vaterlande zu wählen habe, werde ich für das letztere entscheiden.‘ Die Stimmung der Offiziere äußerte sich deutlich genug in den überschwänglichen Demonstrationen, als die Nachricht von der Ermordung Rasputins eintraf. Ein weiterer Beweis für die Verschwörertätigkeit der Heerführer ist der Umstand, dass die in Petrograd stationierten Regimenter aus jungen Rekruten bestanden, die soeben aus den Fabriken kamen und vor Unzufriedenheit schäumten, geführt von Offizieren, deren Zahl nicht ausreichte, und die zu einem großen Teil eben erst aus den Spitälern entlassen worden waren, krank, verwundet, zusammengebrochen. …
Sie (gemeint sind die Generäle, A.S.) waren entschlossen, Nikolaus den II loszuwerden. Es ist kennzeichnend, dass, als die Nachricht von dem Ausbruch der Unruhen in Petrograd das Oberste Hauptquartier erreichte und der Zar sofort in die Hauptstadt zurückkehren wollte, um das Kommando zu übernehmen, er in Pskow durch General Russki aufgehalten wurde. Die Explosion erfolgte vorzeitig – zufolge eines unerwarteten Ausbruches unter dem elenden stehenden Heer der Menschenschlangen, die ihre Not nicht mehr ertragen konnten -, bevor die militärische Zündschnur zum Abbrennen fertig war. Die Explosion sprengte den Zarismus in die Luft, zerschmetterte aber gleichzeitig das gutorganisierte Komplott der Generale. Das Feuer, das zu früh ausbrach, konnte durch die Brandstifter nicht mehr kontrolliert werden. An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats, dessen Verlauf kein Präzedenzfall regeln konnte, außer der der Französischen Revolution.
Die Beweismaterialien, auf die ich die hier angeführten Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ursachen der Revolution stütze, entstammen fast ausschließlich offiziellen Berichten, die sich in meinem Besitz befinden.“ (David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg, Kriegsmemoiren Bd. 2, Berlin 1934, S. 308-309)

33 Z 109, S. 33

34 Der Text des Schutzumschlages des Piper Verlages macht aus Suchanow einen parteilosen Sozialisten, der „der Regierung des Zaren (angehört)“ hätte. Eine Absurdität, die dem Lektorat keine Ehre macht.

35 Im September 1915 trafen sich in Zimmerwald (Schweiz) linke Vertreter der europäischen Sozialisten und verabschiedeten mehrheitlich eine Resolution für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Dies war die erste gemeinsame öffentliche Stellungnahme von Sozialisten und Sozialdemokraten der kriegführenden Länder gegen die vorherrschende Politik des Sozialpatriotismus. Als Friedenslosung war diese Formel allerdings unzulänglich, da sie die sog. revolutionäre Vaterlandsverteidigung, das heißt die weitere Fortführung des Krieges, zuließ.

36 LW Bd. 25, S. 297

37 Alfred Schröder/Heiner Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, Hamburg 2017