Der Ukrainekrieg, die russische Kompradorenbourgeoisie und ein neuer deutscher Ostlandritt – über eine originelle Theoriebildung

 

Vor einiger Zeit hat Richard Corell von der Kommunistischen Organisation bzw. der Kommunistischen Arbeiterzeitung ein Interview zum Ukraine-Krieg gegeben, das in Teilen der Linken immer noch als richtungsweisend gilt. https://kommunistische.org/kongress/interview-die-unterschiede-muessen-herausgearbeitet-werden/

Was ist darin über den Krieg sowie über die Rolle Russlands und Deutschlands zu lesen?

Zum einen erfahren wir, dass in Russland „eine kleine Clique, die hinter Putin steht, den Staatsapparat kontrolliert“. Diese Clique kann aber „nicht einfach herrschen, wie sie will“, weil Russland sich in Wirklichkeit in einem „Transformationsprozess“ befindet, in dem eine „Kompradorenbourgeoisie“ und eine „nationale Bourgeoisie“ um die Macht ringen.

Wir haben also Corell zufolge eine Putin-Clique, die zwar den Staatsapparat kontrolliert, aber den Staat nicht beherrscht, weil die eigentliche Macht von anderen Kräften beansprucht wird. Die Regierung Putin ist demgemäß nur eine Behelfslösung oder Übergangslösung mit beschränkter Macht, während zwei konkurrierende Blöcke die eigentliche Macht in der Hand haben und gleichzeitig um die Alleinverfügung darum kämpfen. Das ist eine interessante Theorie, die noch interessanter dadurch wird, dass einer dieser Machtblöcke laut Corell von der russischen „Kompradorenbourgeoisie“ gebildet wird.

Nach bisheriger marxistischer Auffassung handelt es sich bei einer Kompradorenbourgeoisie um eine Bourgeoisie, die von einer ausländischen (imperialistischen) Macht abhängig ist und in deren Auftrag handelt. Mit dieser Auffassung korrespondiert, dass Russland in dem Interview als „Halbkolonie“ charakterisiert wird. Dieser Interpretation zufolge ist die Russische Föderation also ein halbkolonial abhängiger Staat, in dem eine Kompradorenbourgeoisie in Konkurrenz zu einem anderen, „nationalen“ Teil der Bourgeoisie an der Schwelle zur ganzen Macht steht.

Leider erfahren wir nicht, wer denn der ausländische Oberherr dieser russischen Kompradorenbourgeoisie ist. Sind das die USA? Oder ist das Deutschland, das Russland bereits zur Hälfte unterjocht hat? Und in welchem Verhältnis steht die „Putin-Clique“ zu den beiden entscheidenden Machtblöcken? Auch das erfahren wir nicht (an anderer Stelle schreibt Corell, dass die nationale Bourgeoisie in Russland an der Macht ist – das ist eine weitere originelle Wendung des Interviews).

Stattdessen folgt eine besondere Überraschung, denn: „geht es im Transformationsprozess nach der russischen Kompradorenbourgeoisie, dann soll sich Russland zu einer imperialistischen Großmacht entwickeln“. Das heißt, die heutige, großenteils von auswärtigen Imperialisten beherrschte Halbkolonie Russland soll morgen schon eine imperialistische Großmacht unter der Herrschaft der Kompradorenbourgeoisie sein – eine wahrlich kühne Perspektive!

Und was heißt das in diesem Fall für den Ukraine-Krieg? Wird der Krieg unter der Herrschaft der Kompradorenbourgeoisie dann auf russischer Seite zu einem imperialistischen Krieg – was der Interviewte bisher für die Regierung Putin mit Händen und Füßen von sich weist?

Aber noch ist es nicht so weit. Noch kämpft ja die nationale Bourgeoisie gegen die Kompradorenbourgeoisie um die Oberhand, und für diesen Fall hat Corell eine gänzlich andere Perspektive parat. Er vertritt nämlich allen Ernstes, dass der Kampf gegen die imperialistische Nato-Aggression, den Russland (bzw. die russische Nationalbourgeoisie) zur Zeit führt, den Charakter einer volksdemokratischen Revolution hat. Hierbei muss jedoch die Arbeiterklasse die Führung über die nationale Bourgeoisie übernehmen, denn „die Führung in einer volksdemokratischen Revolution kann nur die Arbeiterklasse übernehmen.“

Auf diesem Weg kann sodann „als ein Übergang zur Diktatur des Proletariats eine Volksdemokratie wie es in China der Fall war“, errichtet werden. Und weil diese Aussicht so grandios ist, bekräftigt Corell sie noch einmal ausdrücklich: es geht um „eine neue Demokratie, die die Unabhängigkeit Russlands verteidigt und sich daraus der Weg zum Sozialismus öffnet.“

In der gesellschaftlichen Realität ist uns allerdings noch kein Beweis für diese neusozialistische Perspektive Russlands 100 Jahre nach der Oktoberrevolution begegnet. Kann es sein, dass diese Perspektive nur in der Fantasie des Autors existiert?

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Was Deutschland anbelangt, geht es hier laut Corell einfach nur imperialistisch zu: „Der deutsche Imperialismus kann endlich aufrüsten“, weiß er, denn es geht um „die nächste Welle des deutschen Ostland-Ritts, der gerade eingeläutet wird.“ Deshalb war auch „die militärische Power durch das 100 Mrd.-Sondervermögen … bereits vor dem Krieg in der Ukraine geplant.“

Der Realitätsgehalt dieser Sätze entspricht in etwa dem Realitätsgehalt der behaupteten Sozialismusperspektive in Russland. Real hat der Ukraine-Krieg das bis dahin existierende außen- und militärpolitische Konzept der deutschen Bourgeoisie vollständig zertrümmert. Dieses bestand kurz gesagt darin, Deutschland einerseits durch ein Bündnis mit Frankreich, andererseits durch eine „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland langsam aus der Hegemonie der USA zu lösen; man wollte sich also daraus herausschleichen, ohne einen offenen Konflikt mit der Nato-Vormacht zu riskieren.

Ein elementarer Bestandteil dieser Strategie war der Verzicht auf militärische Stärke – nicht aus Pazifismus oder Menschenfreundlichkeit, sondern weil es galt und gilt, nach den Erfahrungen zweier Weltkriege die jederzeit drohende Gegenmachtbildung in Europa zu verhindern und stattdessen die eigene ökonomische Stärke zu nutzen, um mithilfe der EU die Vorherrschaft über Europa im Bündnis mit Frankreich zu sichern.

Durch den Ukraine-Krieg, der offiziell Russland als Gegner hat, sich aber unter der Hand genauso gegen Berlin richtet, ist es den USA nunmehr gelungen, Deutschland gegen Russland in Stellung zu bringen, die EU zu spalten und die deutschen Ablösungsbestrebungen zunichte zu machen – ob nur vorübergehend oder auf Dauer, wird sich zeigen. Die bis dahin von Deutschland verfolgte und sowohl von den Unionsparteien wie von der SPD und der FDP getragene Außen- und Militärstrategie ist durch diesen Krieg am Ende; der von Kanzler Scholz geprägte Begriff der „Zeitenwende“ bringt dieses Faktum zum Ausdruck.

Als Antwort auf die gründlich veränderte außenpolitische Lage hat die deutsche Bourgeoisie bis heute noch kein neues Konzept entwickeln können. Im Gegenteil besteht ein weiterer Erfolg der US-Politik darin, dass infolge des Ukrainekriegs verschiedene Fraktionen der Bourgeoisie gegeneinander in Stellung gebracht worden sind: gerade erst hat das Hauen und Stechen um die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine offenbart, welche tiefen Risse durch die politische Klasse gehen.

Wie ein neues sicherheitspolitisches Konzept aussehen wird, können wir nicht wissen; augenscheinlich weiß es die bürgerliche Klasse selber noch nicht. Aber statt das Scheitern der bisherigen Sicherheitsstrategie und damit die aktuelle Niederlage der Bourgeoisie näher zu untersuchen, um Klarheit über ihre künftigen Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen, tut Corell nichts dergleichen, sondern behauptet aus blauem Himmel heraus einen schon lange bestehenden Aufrüstungsplan dieser Bourgeoisie und schwadroniert von der „nächsten Welle des deutschen Ostland-Ritts“.

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Da die anderen Teile des Interviews von ähnlicher Qualität sind wie die hier behandelten Punkte, ersparen wir es uns, weiter darauf einzugehen. Das ganze Interview stellt ein krudes Gemisch aus wirren Theorien und linken Phrasen dar, eine peinliche Diskreditierung des Kommunismus.

Heiner Karuscheit, 27. Januar 2023