Karl-Heinz Goll 03. November 2023
Dieser Text ist die Ergänzung und Weiterführung eines Artikels vom Mai 2023, damals verfasst noch vor dem Erscheinen der „Nationalen Sicherheitsstrategie“. Aktuelle Entwicklungen, wie der neue Krieg um Israel/Palästina werden hiermit berücksichtigt. In einer Zeit wachsender Unsicherheiten, in der sich Ereignisse überschlagen, kann manch aktuelle Ergänzung schnell überholt und eine nächste Version fällig sein. Nichts desto trotz – hier dieser neue aktualisierte Versuch:
1. Einleitung
Mitte Juni 2023 war es endlich so weit: „Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes haben wir eine Nationale Sicherheitsstrategie für die Bundesrepublik Deutschland erarbeitet“, meinte stolz Kanzler Scholz, als das Papier nach mehr als halbjährlicher Verzögerung präsentiert wurde [1].
Um die Federführung hatten besonders das Außenministerium mit dem Kanzleramt gerangelt, weitere Ministerien und die Bundesländer waren involviert. Kennzeichnend für die konforme Medienwelt ist, dass zu den inhaltlichen Gründen der zur Verzögerung führenden Kontroversen weitestgehend Schweigen herrscht.
Das Außenministerium unter Baerbock – wie das gesamte grüne Spitzenpersonal – verfolgen eng im Sinne einer Einflussagentur des US-Neokonservatismus mit einer doppel-moralischen „werte- und regelbasierten“ Rhetorik, gar einer „feministischen Außenpolitik“ eine aggressive Linie besonders gegen Russland und China – die Welt belehrend, selbstschädigend, d.h. bedingungslos gleichgestimmt mit den USA – ohne Rücksicht auf europäische oder deutsche (imperialistische) Eigeninteressen.
Das Kanzleramt, zwar ebenfalls der deutschen Vasallen-Treue gegenüber den USA und der NATO „verpflichtet“, musste offenbar in diesem Rahmen mehr den deutschen Eigeninteressen und den innereuropäischen Konkurrenten wie internationalen Partnern Rechnung tragen. Hierbei sollen entgegen der Einseitigkeit des Außenministeriums etwas mehr Hintertüren offen bleiben in Richtung der „multipolaren“ (genauer: multi-imperialistischen) Welt der BRICS-Staaten (selbstredend ohne R und mit weniger C) wie deren Neumitglieder und Kandidaten, die sich um einen Abschied von der USWeltherrschaft, um eine „De-Dollarisierung“ durch verstärkte Nutzung nationaler Währungen im Handel und bei internationalen Finanztransaktionen bemühen.
Zudem müssen widersprüchliche Bestrebungen europäischer Mächte in Balance gehalten werden, speziell derjenigen Frankreichs, das von einer eigenständigen europäischen Macht „auf Augenhöhe“ mit den USA unter französischer Führung träumt.
Die Ampelregierung steht nicht erst seit der Zeitenwende 1.0 vor einem wahrhaft gordischen Knoten an Strategie-Fragen und Problemen. „Deutschlands sicherheitspolitisches Umfeld ist im Umbruch“, heißt es, unter „neuen, komplexen Bedrohungslagen“ auf allen nur denkbaren Gebieten. Kurz: die Welt bedroht Deutschland allumfassend und dagegen will die neue Sicherheitsstrategie „zum ersten Mal in der Geschichte“ die passenden allumfassenden Rezepte auf gerade mal 73 Seiten bieten [1].
2. Zeitenwenden
2.1 Zeitenwende 1.0: Der Ukraine-Krieg
Alles übertönen die Geschütze des Ukraine-Krieges seit 2022, der längst schon vorher angezündelt wurde. Dieser Krieg ist ein verbrecherischer, imperialistischer Krieg von beiden Seiten um Einflusssphären. Kanzler Scholz verkündete eine „Zeitenwende“, von der an die deutsche Sicherheit nicht mehr „mit“ Russland, sondern nur noch „gegen Russland“ möglich sei. „Das heutige Russland sei auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“ und „WIR (Europa) kämpfen einen Krieg gegen Russland“ meinte die um peinliche Worte selten verlegene Außenministerin Baerbock. Unterwürfig folgt die deutsche Superkoalition aus Ampel+CDU/CSU selbstschädigend der US-amerikanischen Geostrategie im Rahmen der NATO. Das deutsche Geschäftsmodell – basierend auf „dem besten Niedriglohnsektor Europas“ (G.Schröder) und auf billiger Energie aus Russland – ist schwer beschädigt. „Deutschland schrumpft“ 2023 als einziges Industrieland, wobei eine zyklische Rezession (noch) gar nicht ansteht. Man spricht schon vom „Gespenst der Deindustrialisierung“ Deutschlands..
Es ging den USA darum, engere Beziehungen der EU, besonders Deutschlands mit Russland weitgehend zu unterbinden, weil sie diese Kombination schon lange als eine hochgefährliche strategische Konkurrenz gefürchtet hatten. Die EU und Deutschland werden durch die Kappung aller Wirtschaftsbeziehungen mit Russland empfindlich geschwächt und in noch stärkere Abhängigkeit von den USA versetzt.
Im Herbst 2023 zeichnet sich kein „Sieg“ der ukrainischen Offensive im mörderischen Gemetzel an der über 1000 km langen Frontlinie ab, wo Russland – weit entfernt von den ursprünglichen Zielen der „Spezialoperation“ – ebenfalls nicht vorankommt und nur noch auf die Erschöpfung der ukrainischen Kräfte zu warten scheint. Während in einigen westlichen Staaten sich unterschiedliche Anzeichen einer nachlassenden Unterstützung der Ukraine bemerkbar machen, ist die deutsche Medienwelt geradezu von einer Eskalationshysterie erfüllt. Gegen die „Zögerlichkeit“ des Kanzlers kommen nahezu ausschließlich kriegstreiberische „Experten“ zu Wort sowie Politiker vom Schlage Roderich Kiesewetter (CDU), Hofreiter (Grüne), Roth (SPD) oder Strack-Zimmermann (FDP), denen keine Waffengattung und kein Anheizen des Gemetzels für den offensichtlich illusorischen „Endsieg“ der Ukraine genug sind.
2.2 Zeitenwende 2.0: Krieg um Palästina
Der lange und präzise geplante, von extremer Märtyrer-Wut und mörderischer Grausamkeit geprägte Ausfall der islamistischen Hamas aus dem Gaza-Streifen forderte nach israelischen Angaben über 1400 Tote, viele Verletzte und über 200 entführte Geiseln. Die Überrumpelung Israels wirkte wie ein unfassbar-monströser Selbstmord-Anschlag mit dem in Kauf genommenen Opferkollektiv der über 2 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens .
Es explodierte der absolute Antagonismus zwischen dem Anspruch der Hamas auf einen „vollständig souveränen … Staat mit Jerusalem als Hauptstadt nach den Linien vom 4. Juni 1967“ [24] und der ethno-nationalistischen, siedlerkolonialistischen Entrechtung der Palästinenser und der fortschreitenden ethnischen Säuberung der Westbank durch den Staat Israel, verbunden mit der jahrelangen Abriegelung, Strangulierung und periodischen Bombardierung des Gaza-Streifens.
Auf diesen Hamas-Ausbruch aus dem unerträglichen Elend des Freiluftgefängnisses Gaza sowie auf den Raketenhagel auf den Süden Israels hat die israelische Regierung mit einem Rachefeldzug reagiert, mit einer Totalblockade, einer ungeheuerlichen Bombardierung und Verheerung Gazas mit einem tausendfachen Massenmord und einer wahren humanitären Katastrophe.
Dazu sagte Olaf Scholz auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 26.10.23 vor Fernsehkameras:
„Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel.“
→ Dieser Kanzler ist offenbar – und zwar stellvertretend für die ganze politische Klasse Deutschlands – jeglicher Nah-Ost-Realität entrückt.
Der Hamas-Schlag hat eine höchst brisante internationale Lage mit einem Krieg ausgelöst, der von Israel und Palästina auf den Libanon, Syrien, Iran und seine Nachbarn übergreifen könnte – bei einer übermächtigen US-Drohkulisse eines wahren Armageddon durch das Auffahren einer Kriegsarmada und riesigen Konvois von Transportflugzeugen mit Bomben, Raketen und Luftabwehrsystemen. Hinzu kommt die israelische „Samson-Option“ eines Atomwaffeneinsatzes als Drohung massiver Vergeltung. Das hält – bislang (Anfang Nov. 23) jedenfalls – beispielsweise die libanesische Hisbollah vom Einsatz ihres gewaltigen Raketenpotenzials gegen Israel ab. Ebenso verhält sich der Iran defensiv.
Sie lassen offenbar eher „die Zeit arbeiten“, in der Israels Verheerung von Gaza die islamische Welt in Aufruhr versetzt und die gesamte pro-amerikanisch/israelische Beziehungsstruktur der Region und darüber hinaus im Begriff ist, gesprengt zu werden.
Selbst wenn es gelingt, die im Raum stehende Konfrontation zwischen Israel und dem US-geführten Westen einerseits, größten Teilen der arabischen und islamischen Welt andererseits irgendwie „einzuhegen“, dürfte die Kriegseskalation eine weitere Zeitenwende eingeläutet haben, die letzten Endes nicht nur den Abstieg des US-Imperialismus beschleunigen dürfte.
Eine Zeitenwende 2.0 nämlich auch für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.
Deutschlands absolute „uneingeschränkte Solidarität“ mit Israel und somit dessen gnadenlos-mörderischen Rachefeldzug gegen Gaza beleuchtet grell die jahrzehntelange Ignoranz deutscher Regierungen gegenüber der inakzeptablen Realität. Die zur deutschen „Staatsräson“ erklärte Partnerschaft bedeutet praktisch die Unterstützung, ja die deutsche Mitverantwortung bei der siedlerkolonialistischen Okkupation palästinensischer Gebiete, der Apartheid- bzw. Ghetto-Politik des Staates Israel sowie der rabiaten Abriegelung, periodischen Bombardierung und Verelendung des Gaza-Streifens. Es entblößt die völlige Einseitigkeit und Doppelmoral der deutschen Politik nicht nur vor der arabischen und islamischen Welt, sondern weitergehend auch der Staatenwelt des „globalen Südens“ (und auch gegenüber einer größeren Zahl von Menschen in Deutschland selbst, wo jegliche Kritik am Zionismus und an der israelischen Politik inzwischen offiziell mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.)
Die blinde offizielle Parteinahme für das zionistische Israel wird begründet mit dem singulären deutschen Staatsverbrechen des Holocaust. Doch dagegen muss die Maxime von Heinz Galinski, dem einstigen Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland gelten: „„Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen“. Das muss auch für das Deutschland nach Auschwitz gelten. Auch die deutsche Politik müsste daher den religiös-nationalistischen Zionismus ablehnen und die Forderung nach einem gemeinsamen säkularen Staat Israel/Palästina unterstützen, in der alle Bewohner, gleich ob Palästinenser oder Israelis, ob Juden, Christen, Moslems usw. gleichberechtigt leben. – s. dazu auch [2]:
Eine „2-Staaten-Lösung“ ist angesichts der materiellen Realität eines mit über 600.000 überwiegend fanatisch-zionistischen, bewaffneten, von der Armee geschützten Siedlern in der Westbank und OstJerusalems durchsetzten Territoriums völlig obsolet. Mit Rest-Palästina, bestehend aus kläglichen, praktisch abgeriegelten, isolierten Inseln unter Verwaltung der sogenannten palästinensischen „Autonomie“-Behörde ist keinerlei Staat mehr zu machen. Die Forderung nach einer 2-Staaten-Lösung ist mittlerweile nichts als eine Nebelwand insbesondere des Westens, hinter der das Projekt der ethnischen Säuberung eines zionistischen Groß-Israel immer weiter vorangetrieben wird.
Die deutsche bedingungslose „Staatsräson“ wiederum konterkariert auch die deutschen Bemühungen um „Diversifizierung“ von internationalen Beziehungen seit der Ukraine-Zeitenwende. Laut Scholz wollte man „einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden …die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen breiter und robuster aufstellen … neue Lieferanten und Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in Mittel- und Südamerika … erschließen“[3]. Das dürfte nach dieser Zeitenwende 2.0 fortan schwieriger werden und den Zielen der neuen „nationalen Sicherheitsstrategie“ zusätzlich entgegenstehen.
Der offene Streit der EU-Außenminister auf ihrer Tagung am 23.10.23 und der mit einer fadenscheinigen Abschlusserklärung kaschierte Dissens der Brüsseler Konferenz der Staatschefs am 26.10.23 um die Frage eines humanitären Waffenstillstandes in Gaza hat die Zerrissenheit des Bündnisses gezeigt. Israel wird sich nicht im geringsten von irgendwelchen EU-Erklärungen beeinflussen lassen. All das wiederum blamiert gründlich die frommen Wünsche der deutschen Sicherheitsstrategie bezüglich einer „geopolitisch handlungsfähigen“ EU. Die Ablehnung eines auch von der UNO geforderten Waffenstillstandes besonders durch Deutschland (Scholz-Zitat s.o.) widerspricht allen „fundamentalen Werten, …der Menschenrechte und des Völkerrechts“, wie sie z.B. Außenministerin Baerbock in ihrem Vorwort zur Nationalen Sicherheitsstrategie heuchlerisch beschworen hat.
(Ob und inwieweit Baerbock international noch ernst genommen wird (beispielsweise bei dem ergebnislosen „Friedensgipfel“ in Kairo vom 21.10.23 ) muss gefragt werden. s. dazu: [4])
3. Problemfelder der „neuen komplexen Bedrohungslagen“
Der „erweiterte Sicherheitsbegriff“, die „integrierte Sicherheitsstrategie“ des Ampel-Papiers umfasst neben der als „nicht verteidigungsfähig“ diagnostizierten Bundeswehr und den (europäischen, amerikanischen, auch israelischen …) militärisch-industriellen (Korruptions-)Komplexen die innere Sicherheit, die Cyber-Sicherheit, sichere Handelswege und Rohstoffversorgung, Infrastruktur, Wirtschafts-, Finanz-, Energie- und Gesundheitspolitik, die „Entwicklungszusammenarbeit“, die Folgen des Klimawandels – kurz: alles nur irgendwie Denkbare. Dazu gibt es nach Meinung einschlägiger „Sicherheitsexperten“ weder eine „gemeinsame Lage“, keine Strukturen dafür und keine „Strategiefähigkeit“. Einen solchen Eindruck vermittelte z.B. die „Phönix-Runde“ vom 29.03.23 [5].
4. Militaristische Europa-Weltmachtträume und ihre Schranken
„Berlin muss dafür sorgen, dass Europa handlungsfähig wird“ und: eine „deutsche Führungsrolle in der EU“ hat schon vor Jahren Wolfgang Ischinger verlangt, einst Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und Sprachrohr des sich hemmungslos weiter aufblasenden deutschen Militarismus [6]. 2013 wurde unter Leitung der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ und des „German Marshall Fund“ von einer Kommission mit rund 50 Mitgliedern des sicherheitspolitischen Establishments das Dokument „Neue Macht – Neue Verantwortung“ veröffentlicht [7].
Es sollte eine „neue Definition deutscher Staatsziele“ sein:
„Im Kern wurde dabei das folgende Interessensbündel formuliert, das sich fortan als prägend für die gesamte sicherheitspolitische Debatte erweisen solle: Erstens strebt Deutschland eine Weltmachtposition an, ist aber auch bereit, hierfür größere militärische Beiträge zum „Schutz“ von Kernstrukturen der (westlichen) Weltwirtschaftsordnung („regelbasierte Ordnung“) beizusteuern; hierfür ist es zweitens zwingend auf die Europäische Union als Kraftverstärker angewiesen, in der Deutschland ebenfalls eine Führungsposition beansprucht; drittens wird dem Bündnis mit den USA weiter klar der Vorzug gegenüber anderen denkbaren Konstellationen gegeben, aber nur bei einer Aufwertung des eigenen Einflusses; und viertens können all diese Führungsansprüche und Ambitionen nur auf Grundlage einer hochgerüsteten Armee mitsamt einer starken heimischen (und teils europäisierten) Rüstungsindustrie erreicht werden.“ (siehe auch [8]).
In der Bundestagsdebatte zum 100-Mrd.- Schuldenprogramm wurde gefordert, die Bundeswehr zur „am besten ausgerüsteten Armee in Europa (zu) machen“, … „weil das der Bedeutung Deutschlands, unserer Verantwortung in Europa entspricht“. Solches dürfte bei den restlichen EU- und NATO-Partnern etwas mehr als Stirnrunzeln erregt haben. War doch deren ganze Nachkriegspolitik davon geprägt, Deutschland einzuhegen und nie wieder zu einer dominierenden Militärmacht werden zu lassen.
Ganz unverhohlen wird der Anspruch auf eine eigene militärische Weltmachtstellung propagiert, allerdings – das gehört zur DNA der BRD, genauso wie zum Katechismus der Überkoalition aus Ampel+CDU/CSU – im Rahmen der „europäischen Säule der NATO“, also untergeordnet den USA mit deren atomaren „Schutzschirm“ per „nukleare Teilhabe“.
(Diese nukleare Teilhabe - verbunden mit dem Kauf von 35 Flugzeugen des Typs „F-35A“ der Fa. Lockheed Martin für ca. 10 Mrd. € - ist genauer betrachtet eher eine militärisch sinnlose Unterwürfigkeitsgeste gegenüber den USA, die im Ernstfall kaum die umständlichen Entscheidungswege (Freigabe durch die USA und Entscheidung der Bundesregierung) abwarten würden. Außerdem sind die vorgesehenen Kampfbomber stark durch eine Luftabwehr gefährdet. Die USA besitzen Systeme, wie atomar bestückte U-Boote, mit denen sie - ohne „lange zu fackeln“ und die Bundesregierung zu fragen – viel schneller, als mit der „Teilhabe“ agieren können.)
Mit der „Zeitenwende“ postuliert man in Kreisen der Superkoalition aus Ampel+CDU/CSU eine neue „Wehrhaftigkeit“. Dies bedeutet näher betrachtet vor allem den Rüstungswahn der herrschenden Klasse in transatlantischer Nibelungentreue, einen astronomischen Geldsegen für die militärisch-industriellen Komplexe. Die neue „Wehrhaftigkeit“ bedeutet die Persistenz einer legal-korrupten, durch parlamentarischen Lobbyismus abgesicherten Symbiose von aufgeblähter Militärbürokratie und Rüstungsindustrie. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wird mit einer nahezu gleichgeschalteten Medienmacht versucht, die Bevölkerung vor den Karren des Militarismus und des Rüstungswahns zu spannen.
5. Friendly fire und America first-XXL
Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden bisherige Fundamente der deutschen „Sicherheit“ brüchig.
Die Sprengung der Nordstream-Pipelines, das dröhnende Schweigen der NATO-Partner bzw. die abenteuerlichen Desinformationen zu dieser Aggression „unter Freunden“ sagen genug. Das heterogene Europa, besonders das transatlantisch-US-abhängige Deutschland sind außerstande, Widerstand nicht einmal gegen diese Auswüchse der US-Dominanz zu leisten.
Ein spezieller „Freundschafts“-Beweis traf 2021 besonders Frankreich und damit auch Europas Militärindustrie: ein Vertrag zwischen Frankreich und Australien sah die Lieferung von 12 atomar getriebenen U-Booten im Wert von 56 Milliarden € vor. Der Vertrag wurde auf Betreiben der USA abrupt gekündigt. Durch ein neues Abkommen mit Großbritannien und den USA erhält Australien nun USTechnologie zum Bau von 8 atomgetriebenen U-Booten – das bedeutet „America first“ XXL. Frankreich zog aus Protest seine Botschafter aus Washington und Canberra ab. (siehe z.B [9]).
Es gibt vereinzelt weitsichtige Sicherheitsexperten, die ähnlich nachdenken, wie seinerzeit Angela Merkel im Hinblick auf Donald Trump: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei“. Erstrecht mit der Zeitenwende ist die strategische Abhängigkeit der uneinigen Staaten Europas von den USA allerdings so „verlässlich“, dass sie auf unabsehbare Zeit nicht mehr verlassen werden kann – es sei denn die Bevölkerung wagt den Aufstand.
6. Europäische und globale Widersprüche
Die visionäre Hybris von einer geeinten EU-Weltmacht auch noch unter deutscher „Führungsverantwortung“ wird von diversen Hindernissen und inneren Konflikten heillos durchkreuzt. Der offene Streit der EU-Außenminister und Staatschefs Ende November 2023 angesichts des GazaKrieges und um die weitere Unterstützung der Ukraine unterstreicht die partielle Handlungsunfähigkeit und Brüchigkeit des Bündnisses.
Die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ kann all die Kalamitäten nur mit einer hohen Kunst der verbalen Vernebelung, der belletristischen Schönschreiberei ignorieren, wie sie schon 2016 unter Ursula v.d Leyen mit dem „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ ([10] zelebriert wurde.
Die nachfolgend sicher unvollständig aufgelisteten Probleme sorgen dafür, dass die EU der heterogenen Nationalstaaten mit Sicherheit Tummel-Feld interner gegensätzlicher Interessen und externer Einflüsse bleibt. Die deutsche „Führungsrolle“ entspricht viel eher einer von widersprüchlichen Einflüssen hin- und her getriebenen subalternen Macht ohne „Strategiefähigkeit“– ganz egal, ob in die Bundeswehr 100 oder 300 Milliarden Sonderschulden „investiert“ werden. Eine militärische Weltmacht EU unter deutscher Führung und „auf Augenhöhe“ mit USA oder China gehört weitestgehend ins Reich der Wunschträume.
6.1 Zur „unverbrüchlichen Verbundenheit“ mit den USA innerhalb der NATO wurde oben schon das Wesentliche festgestellt: Wirtschaftskrieg, „friendly fire“ und „Amerika first“-XXL.
Die USA üben im Zuge ihrer Roll-back-Politik gegenüber der Sowjetunion schon lange und verstärkt mit der NATO-Erweiterung, der Kriegs- und Sanktionspolitik gegen Russland mächtig Einfluss aus insbesondere auf die östlichen „Frontstaaten“ Polen, im Baltikum, über Rumänien bis zum Balkan, wo sie ihre Militärpräsenz ausgebaut haben und weiter ausbauen, gestützt auf die historisch gewachsenen nationalistisch-antirussischen Mentalitäten der Eliten und großer Teile der Bevölkerung. Die wurzeln auch in den Erfahrungen der Menschen in der stagnierenden Mangelwirtschaft in den Ländern des Warschauer Paktes vor dem Hintergrund der westlichen Konsumparadiese und deren relativen Freiheiten. Die USA haben so vielfältige spalterische Hebel zur Hand, mit denen sie auf die heterogenen europäischen Nationalstaaten einwirken. Sie haben sozusagen den Nasenring des Stiers an der Leine, auf dem Europa reitet.
6.2 Eine meist mit der Sänger Höflichkeit retuschierte Sollbruchstelle Europäischer Einheit ist der Widerspruch einerseits zwischen der französischen Vision einer „strategische Autonomie“ von den USA und andererseits der deutschen Unterwürfigkeit gegenüber den USA im Rahmen der NATO. Frankreich erstrebt einen autonomen europäischen Imperialismus unter französischer Führung u.a. mit dem Ziel, das (bröckelnde) frankophone Imperium im Mittelmeerraum, in Afrika und darüber hinaus zu sichern und auszubauen. Trotz seiner 2009 beschlossenen Rückkehr in die NATO-Vollmitgliedschaft bleibt Frankreich auf einer relativen Distanz zum Bündnis. Die alleinige Verfügungsgewalt über seine Atomstreitmacht, die „Force de Frappe“, galt seit de Gaulle als Staatsräson in Frankreich, das bis heute seine Atomwaffen alleine befehligen will.
„In Frankreich wurde sehr wohl vernommen, dass Kanzler Olaf Scholz stolz verkündete, durch das Bundeswehr-Sondervermögen werde Deutschland bald über die „größte konventionelle Armee“ in Europa verfügen. In Paris wird eine generelle Verschiebung des Kräfteverhältnisses befürchtet … Deutschlands strategische Neupositionierung und sein Wunsch, die Führung in der europäischen Verteidigung zu übernehmen, belasten das Verhältnis zwischen Paris und Berlin schwer. … Viel Geld soll insbesondere dem Bereich zugutekommen, der vor allem anderen die französische Dominanz in der EU sichern hilft: Es soll vor allem höhere Ausgaben für die Atomwaffen Frankreichs geben. … Die Vielzahl an Konflikten sorgte auch dafür, dass das eigentlich für Oktober 2022 terminierte Treffen des deutsch-französischen Ministerrates mehrfach verschoben wurde. Schlussendlich traf man sich dann, wie eingangs erwähnt, im Zuge der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 22. Januar 2023. Die dabei verabschiedete Deutsch-französische Erklärung ist reich an Pathos und salbungsvollen Worten …“. [11]
Anfang April 2023 haben die Äußerungen und Vereinbarungen Macrons anlässlich seines China-Besuchs helle Empörung in transatlantischen Kreisen von CDU-Röttgen über die Spitzengrünen mit dem EuropaSchwergewicht Reinhard Bütikofer bis zu CSU-Manfred Weber ausgelöst. Weil er eine unabhängigere Rolle Europas gegenüber den USA und China fordert, sei Macron „von allen guten Geistern verlassen“ meinte Röttgen.
Auch jüngste Kehrtwenden Macrons u.a. von seiner Diagnose „NATO-Hirntod“ zum die NATO „wiederbelebenden Elektroschock“ durch den Ukraine-Krieg haben nichts an seiner Vision von Europa als einer autonomen geopolitischen Weltmacht geändert. Genauso Macrons Wende von seiner ursprünglichen Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hin zur Forderung nach deren Beitrittsperspektive und von Waffenlieferungen für den ukrainischen „Endsieg“.
Trotzdem besteht weiterhin die letztendliche Unvereinbarkeit französischer mit den deutschen (und anderen) strategischen Zielen. Der Gegensatz zwischen „strategischer Autonomie“ (F) und US-Abhängigkeit (D) bedeutet eine prinzipielle Bruchlinie, mit einem Patt verschleppt, zwischen zwei letztlich nach wie vor imperialistischen Konkurrenten. Beiden – Frankreich und Deutschland ist klar, dass sie alleine und ohne die restliche EU (notfalls nur mit „Kerneuropa“ oder den „Willigen“) ihre divergierenden Ziele nicht erreichen können. Das deutsch-französische „Tandem“ ähnelt so zwei Ertrinkenden, die – sich aneinander klammernd – sich jeweils für gegensätzliche Ziele über Wasser zu halten versuchen.
Die grundsätzlichen Differenzen zeigten sich auch bei der deutsch-französischen Kabinettsklausur Anfang Oktober 2023 in Hamburg: „Schlagzeilen machen regelmäßig mehrere deutsch-französische Rüstungsprojekte, die strategische Bedeutung für die „strategische Autonomie“ der EU hätten, aber kaum von der Stelle kommen oder gar scheitern.“ … Offene Worte zum aktuellen Zustand der deutsch-französischen Beziehungen hat kürzlich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck gefunden: „Die deutsch-französische Freundschaft ist in Wahrheit eine Polarität, die man so deuten muss, dass wir uns eigentlich in nichts einig sind“ [12].
6.3 Großbritannien nach dem Brexit hatte die Rolle eines besonderen Scharfmachers im Ukraine-Krieg im Rahmen seiner „special relationship“ mit den USA übernommen. Signifikant dafür war der Blitzbesuch Boris Johnsons in Kiew im April 2022, wo er gegen eine mögliche Verhandlungslösung intervenierte. Tatsächlich gab es bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland Ende März 2022 in Istanbul zunächst Annäherungen. So machte die Ukraine beispielsweise das Angebot, gegen Sicherheitsgarantien einen neutralen Status zu akzeptieren. Laut einem Bericht der „Financial Times“ gab es sogar einen Entwurf für ein Waffenstillstandsabkommen. Das wurde sicher auch im Auftrag der USA vereitelt. Es gibt Anzeichen, dass Großbritannien engere Beziehungen z.B. zu Polen als Gegengewicht gegen Brüssel und Deutschland sucht.
6.4 Hinzu kommen diverse Konflikte innerhalb der EU, etwa mit Polen und Ungarn in Sachen „Rechtsstaatlichkeit“, bei denen Kuhhändel auch in sicherheitspolitischen Fragen nicht ausgeschlossen sind, Differenzen etwa mit Ungarn oder Bulgarien hinsichtlich der Russland-Sanktionen werden mühsam überkleistert. Auch wenn in Polen durch eine neue Regierung des liberal-konservativen Donald Tusk der Rechtsstaat-Konflikt entschärft wird, bleibt das Land ein Eckpfeiler des US-Einflusses auf Europa. Tusk gilt als Aspirant der „Pax Amerikana“. [13].
6.5 China und die „Neue Seidenstraße“
„Der außenpolitische Aufstieg Chinas und der Konfrontationskurs der USA bringen die EU in eine Zwickmühle. … Wird sie eine eigenständige Rolle in der neuen, multipolaren Weltordnung finden? Bisher sieht es nicht gut aus. Wie viele China-Politiken hat die Europäische Union? Diese Frage löst in Brüssel immer wieder Heiterkeit aus – denn es ist nie gelungen, die 27 EU-Staaten auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen. Jeder sucht seinen eigenen Vorteil, niemand denkt an Europa.“ [14]
Die Beziehungen zu China sind ein Streitpunkt zwischen Teilen der EU und den USA, innerhalb der EU und genauso in der deutschen Politik. Wie tief die Streitpositionen reichen, konnte man z.B. nach einem China-Besuch Macrons (s.o) erkennen, wo er den USA die Gefolgschaft bei der Eskalation der TaiwanFrage verweigerte und damit bei eingeschworenen Transatlantikern helle Empörung auslöste.
Das kapitalistische China ist zum imperialistischen Hauptkonkurrenten der USA aufgestiegen. Die deutsche Politik steht dabei unter mächtigem Druck seitens der USA und innenpolitisch seitens der Transatlantiker, insbesondere der US-hörigen Grünen. Die Ampelregierung hat am 13.07.2023 ein „Strategiepapier“ zu China beschlossen, das die Vorstellungen US-amerikanischer Think-Tanks und neokonservativer transatlantischer Netzwerke ziemlich getreu nachbetet.
Wobei widerstrebende Kreise aus Politik und Industrie gegenüber China eine „Mittelposition“ einnehmen wollen zwischen einer starken Abhängigkeit der Im- und Exportwirtschaft und dem Bestreben nach Diversität und Reduzierung dieser Abhängigkeit. Einerseits wird vor einer „einseitigen, riskanten Abhängigkeit“ von China gewarnt, eine solche von den USA wird nicht erwähnt.
Die Neue Seidenstraße soll die Wirtschaftsräume Asien, Europa und Afrika verbinden. Dadurch wollen sich chinesische Unternehmen Aufträge sichern und neue Märkte für chinesische Produkte erschließen. Seit 2013 baut China deshalb ein Handels- und Infrastruktur-Netzwerk auf unter anderem mit Straßen, Bahnlinien, Häfen, Pipelines und Glasfaserleitungen. Mittlerweile beteiligen sich ca. 100 Länder weltweit. Das Land will rund eine Billion Dollar in das Projekt investieren. (s. Wikipedia – Neue Seidenstraße).
Das kapitalistische China wächst, überbietet allmählich das westliche Produktions- und Konsummodell und überzieht die Welt mit einer alles andere als nachhaltigen Warenflut, womit der Globus unter irrsinnigem Resourcen-Raubbau weiter überfordert und vermüllt wird. Man muss nur beispielsweise die Automobilproduktion betrachten, mit der der „Westen“ gerade überholt, um nicht zu sagen überrollt wird.
Der Globus ist für die kapitalistische Produktionsweise – und damit auch für die chinesische – inzwischen längst zu klein. Der „Erdüberlastungstag“, an dem der jährliche Verbrauch die bestehenden Ressourcen übersteigt, lag 2023 global bei Ende Juli. Sich zuspitzende Konkurrenz um Wachstum, Rohstoffe, Absatzmärkte, Kapitalanlage- und Einflussgebiete, entsprechende Konflikte und Kriege sind unvermeidlich. Das muss an anderer Stelle grundsätzlich kritisiert werden.
Z.B. Portugal und Griechenland:
Portugal: Angesichts steigender Investitionen Chinas bedrohte 2020 die US-Regierung Portugal mit Sanktionen. Das Land sei ein „Schlachtfeld“ und müsse sich zwischen den USA und China entscheiden, so der US-Botschafter. Lissabon reagierte selbstbewusst. [15]
Griechenland: Seit der Finanzkrise hat China in Griechenland hunderte Millionen Euro investiert, vor allem in den Hafen von Piräus. Peking sieht das Land als europäischen Anker für seine Neue Seidenstraße.
6.6 „Sorgenkind“ Türkei
Das NATO-Mitglied Türkei bereitet der Sicherheitspolitik ein ganzes Bündel von Problemen, das die Deklamationen von „gemeinsamen Werten“ der NATO und ihrer „regelbasierten Weltordnung“ vollkommen Lügen straft. Die periodischen Angriffskriege gegen syrische und irakische Kurdenregionen, das autokratische, demokratie- und rechtsstaats-feindliche Regime im Inneren, die Waffendeals mit Russland, die Konfrontation mit Griechenland oder der erpresserische Kuhhandel in der Flüchtlingsfrage – das sind nur einige der Probleme. Zuletzt kam noch die offene (zumindest propagandistische) Parteinahme Erdogans für die Hamas hinzu.
7. Sicherheits“strategie“ von U. von der Leyen bis Boris Pistorius
7.1 Ursula von der Leyen
Unter ihr wurde im Juli 2016 ein „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ veröffentlicht [10] – in Folge des oben genannten Dokuments „“Neue Macht – Neue Verantwortung“. Hier soll und muss dieses 140 Seiten lange Weißbuch nicht detailliert referiert und kritisiert werden, denn die Resultate nach 6 Jahren widersprechen radikal den euphemistischen Phrasen dieses Dokuments.
Das Weißbuch wimmelt geradezu von guten Vorsätzen: alles nur irgendwie Denkbare sollte „… weiterentwickelt, optimiert, gestärkt, gesichert, vernetzt und auf eine breitere Basis gestellt werden, gefördert und weiter verbessert, umfassender ausgerichtet und harmonisiert, vorangetrieben, stärker betont, ganzheitlich betrachtet, ausgebaut, verzahnt, aufeinander abgestimmt, besser und wirkungsvoller nutzbar gemacht, gezielter und effizienter eingesetzt …“ werden.
6 Jahre später war die Bundeswehr trotz alledem wunderbarerweise nach den Feststellungen des geballten Rüstungslobbyismus „nicht verteidigungsfähig“. Der Heeresinspekteur Alfons Mais stellte fest: „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
(Neben dem „faktischen Komplettversagen“ (Focus) in der sogenannten Berater-Affaire, die die Steuerzahler einen 3-stelligen Millionenbetrag kostete, war eine der Glanzleistungen in der Amtszeit U.v.d.Leyens die Kosten-Verzehnfachung der von Betrug, Untreue und Korruption umwitterten Renovierung des Segelschulschiffes „Gorch Fock“.)
7.2 Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK)
V.d.Leyens Nachfolgerin hielt im November 2019 eine „Grundsatzrede zur Sicherheitspolitik“ [16] Sie plädierte wieder dafür, Deutschland im „globalen, machtpolitischen Konkurrenzkampf als großen Player in NATO und EU fit zu machen“, Deutschland müsse mehr „Verantwortung“ übernehmen, die Kultur der militärischen Zurückhaltung begraben als „Gestaltungsmacht“ – allerdings in klarer transatlantischer Verbundenheit mit den USA im Sinne eines starken „europäischen Arms der NATO“. Damit erteilte sie den Vorstellungen nach einer „strategischen Autonomie“, die von Frankreich gehegt werden, eine Absage. Dagegen begab sich Macron „auf Konfrontationskurs mit Deutschland“ [17]. Er hielt AKK´s Ansicht „für eine Fehlinterpretation der Geschichte“.
7.3 Christine Lambrecht
Unter der nächsten Nachfolgerin hat sich nach Aussage der SPD- Wehrbeauftragten Eva Högl, auch nichts geändert. Sie kritisiert unter anderem das Beschaffungswesen als „behäbig„. 2022 sei bei der Bundeswehr „noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen“. Es fehle „an allem, persönliche Ausrüstung, kleinerem Gerät, Nachtsichtgeräte, Funkgeräte, aber auch das große Gerät„; „Zu viele Kasernen sind in einem erbärmlichen Zustand“. „Die 100 Milliarden Euro allein werden nicht ausreichen, sämtliche Fehlbestände auszugleichen“, sagte sie. Dafür brauche es nach Experten-Schätzungen wohl „insgesamt 300 Milliarden Euro„. [18]
7.4 SPD-Parteichef Lars Klingbeil.
Klingbeil ist Mitglied im rechten „Seeheimer Kreis“ der SPD, Mitglied in den Rüstungs-Lobbyvereinen „Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik“ und dem „Förderkreis Deutsches Heer“. Auch mit dem Lobbyverein „Gesellschaft für Sicherheitspolitik“ pflegt er Kontakte. [19]
In der SPD gewinnen Militaristen, allen voran Klingbeil, weiter die Oberhand. Als Beweis hierfür kann das Ende Januar 2023 erschienene Papier »Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch« gelten. (siehe: [20]) Die Verteidigung der »regelbasierten Ordnung« erfordere, heißt es darin, eine »militärische Führungsrolle« Deutschlands in der Welt, gestützt auf ein »geopolitisch selbstbewusstes Europa«, um in der »Systemrivalität« mit China und insbesondere Russland bestehen zu können – und selbstredend müssten derlei Ambitionen dann auch mit den entsprechenden finanziellen Ressourcen unterfüttert werden. Die Autoren des Papiers greifen damit nahezu inhaltsgleich eine Programmatik auf, die bereits vor mehr als zehn Jahren im Projekt »Neue Macht – Neue Verantwortung« entworfen wurde. Ziel ist es, deutsche Großmachtphantasien wahr werden zu lassen.
O-Ton Klingbeil: „… diese neue Führungsolle als Führungsmacht wird Deutschland harte Entscheidungen abverlangen – finanzielle auch politische … wir brauchen eine völlig neue sicherheitspolitische Debatte in Deutschland … Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“ Natürlich im „engen Schulterschluss mit den USA, dem Vereinigten Königreich, Australien, Japan und anderen“ [21].
7.5 Kriegsminister Boris Pistorius
Man muss ihn Kriegsminister nennen. In einem Interview von ZDF-“Berlin direkt“ am 29.10.23 tönte er unverblümt „Wir müssen kriegstüchtig werden … wir müssen wehrhaft sein …“ und fordert einen „Mentalitätswechsel“ der Gesellschaft in Vorbereitung auf die „Gefahr eines Krieges in Europa“, womit er den Ukraine-Krieg nicht gemeint haben kann, denn der läuft bereits. Pistorius ist Exponent einer Filterblase bzw. „Echokammer“ aus Militärs, militaristischen Politikern, Think-Tanks und Stiftungen, Rüstungskonzernen, deren Profiteuren und Propagandisten, die die Gesellschaft auf Krieg vorzubereiten versuchen und damit die wesentlichen Medien immer mehr dominieren. Als wären 2 Weltkriege nicht genug.
Pistorius geriert sich quasi als Titan, der endlich „aufräumt“, sein Ministerium „auf Vordermann“ bringt, für Effizienz und „sinnvolle“ Verwendung des weiter anschwellenden Rüstungshaushalts sorgt. Er hat dem (korrupt)-bürokratischen Beschaffungswesen genauso wie dem einer Hydra gleichen Organigramm der Bundeswehr den Kampf angesagt. Entgegen dieser Pose ist er aber „strukturell“ eingebunden in die genannte legal-korrupte Symbiose der taylorschen Militärbürokratie zugunsten der militärisch-industriellen Komplexe und der vom (parlamentarischen) Rüstungslobbyismus geleiteten Regierungspolitik. Selbst wenn er wollte, er könnte nicht wirklich – ein Sisyphos hatte es leichter.
Bescheiden gibt er sich aktuell mit einer zusätzlichen 10-Mrd-Gabe aus dem noch offenen Bundeshaushalt 2024 zufrieden, während er gleichzeitig das 2%-Ziel propagiert. Gemessen am aktuellen BIP müsste der Rüstungshaushalt – zusätzlich zum 100-Milliarden „Sondervermögen“ – damit von derzeit rund 50 Mrd. € auf 77 Milliarden € steigen. Das wäre eine Steigerung um 27 Milliarden – mehr als der Bildungsund Forschungshaushalt von 20 Milliarden, mehr als für Wirtschafts- und Klimaschutz von 11 Milliarden. Die sozialdemokratische Wehrbeauftragte fordert gar ein zusätzliches „Sondervermögen“ von 200 Milliarden. Rüstungsaktien gehen durch die Decke.
(Boris Pistorius jettet auch als Rüstungs-Handlungsreisender umher, „zeigt Flagge“ im Indopazifik und macht Geschäfte z.B. im Juni 2023 mit Indien über ein „Milliardenprojekt zum Bau und Kauf von 6 U-Booten, das bald die Auftragsbücher von Thyssen-Krupp-Marine-Systems aufbessert“ [22]. Ausgerechnet mit Indien, mit einem nationalistischen Hindu-Regime, einem „aufkeimenden Faschismus“ [23]. Wenn das südasiatische Pulverfass anzuheizen ist, darf Deutschland nicht beiseite stehen. Deutsche „Flagge zeigen“ im südasiatischen Meer dürfte die dort agierenden Supermächte aber eher an den sich Kühlung fächelnden Elefanten erinnern, dem einevMaus mit der Bemerkung ans Bein pinkelt: „gell, da schlackerst Du mit den Ohren“.)
Die Hochrüstung kann nach den Plänen des FDP-Finanzministers nur durch Kürzungen vor allem im Sozialbereich kompensiert werden. Weiter wachsende soziale Ungleichheit und Armut sind die Folgen.
Der Kriegsminister beschwört eine „neue Wehrhaftigkeit“. Aber nach wie vor hat die Bundeswehr Schwierigkeiten, ausreichend Rekruten für Ihre „Sollstärke“ anzuwerben bei einer hohen Abbrecherquote. „… die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber (hat sich) im Jahr 2022 mit einem Minus von 11 Prozent erheblich verringert … bei den Zeitsoldatinnen und Zeitsoldaten, die vom Januar bis Mai ihren Dienst … begannen, haben 27% innerhalb der ersten 6 Monate Probezeit ihren Dienst quittiert, im Heer waren es sogar fast 33%.“ [18] (Wehrbericht Eva Högl 2022.)
8. Fazit: Rüstungswahn, Größenwahn
Für das Papier zur „Neuen Nationalen Sicherheitsstrategie“ blieb nur die hohe Kunst der verbalen Vernebelung, der belletristischen Schönschreiberei, der Wunschträume und unhaltbar großspurigen Ambitionen, mit denen der gewaltige Komplex an Problemen, Herausforderungen und Kalamitäten nur kaschiert bzw. „verdrängt“ werden konnte.
Deutschlands Herrschende können mit der Logik der kapitalistischen Welt unmöglich eine Alternative zum grassierenden Rüstungswahn finden. Im Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang, für den der Globus immer kleiner wird, seinem Resourcen-Raubbau, seinen immer gigantischeren Warenfluten und wachsenden Abfallbergen, in der die Rivalitäten der diversen Mächte um Absatzmärkte, Rohstoffquellen, Anlagefelder und Einflusssphären mit ständig gesteigertem Wettrüsten und Krieg als ultima Ratio sich weiter zuspitzen.
Das Ziel, Deutschland als „europäische Führungsmacht“, als „Anlehnpartner“ durch Hochrüstung im globalen, machtpolitischen Konkurrenzkampf zum großen Player zu machen, bedeutet vor dem Hintergrund der realen Möglichkeiten und durchkreuzenden Hindernisse – Größenwahn.
Denn wo Deutschland als Unterauftragnehmer der USA scheinbar paradoxerweise einem Wirtschaftskrieg, einem „friendly fire“ seitens diesem „engsten Verbündeten“ ausgesetzt ist, bedingen die sonstigen Verstrickungen in die zahlreichen Widersprüche und Konkurrenzverhältnisse eine wahre Strategie-Unfähigkeit, geradezu einen Masochismus eines ratlos hin- und her getriebenen angeknacksten Wirtschaftsriesen und Strategie-Zwerges. Würden die Herrschenden nach imperialistischer Logik Ernst machen und würde Deutschland entgegen der hohlen Großmachtphantasien im „globalen machtpolitischen Konkurrenzkampf“ als „Gestaltungsmacht“ ernst genommen und einen wirklichen Platz an der Sonne als großer Führungs-Player in NATO und EU einnehmen können, würde das nur durch noch heftigere, vielseitige Gegenreaktionen und verschärfte Widerstände gefährlich durchkreuzt werden.
Das alles in allem heißt mit Sicherheit alles andere als „Sicherheit“
Quellen:
[1] Deutscher Bundestag 20. Wahlperiode, Drucksache 20/7220 – Nationale-Sicherheitsstrategie
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Evelyn_Hecht-Galinski
[3] Scholz-Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17.02.23
[4] https://www.n-tv.de/politik/politik_person_der_woche/Baerbocks-Aussenpolitik-mit-dem-Zeigefinger-funktioniert-nicht-article24469375.html
[5] https://www.zdf.de/phoenix/phoenix-runde/phoenix-nationale-sicherheit—wie-sind-wir-aufgestellt-100.html
[6] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8402/
[7] https://www.swp-berlin.org/publications/products/projekt_papiere/DeutAussenSicherhpol_SWP_GMF_2013.pdf
[8] https://www.imi-online.de/2023/04/19/sozialdemokratische-zeitenwende/
[9] https://www.tagesschau.de/ausland/ozeanien/australien-usa-u-boote-101.html
[10] Die Bundesregierung, „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“, Berlin, 13. Juli 2016
[11] Eric Bonse in „Makroskop“
[12] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9367
[13] Zeitschrift „Hintergrund“ Nr. 11/12 23: „Der polnische Prometheus“
[14] Eric Bonse, „Makroskop“ vom 30.03.23
[15] https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/506904/Wegen-China-Connection-US-Regierung-droht-Portugal-mit-Sanktionen
[16] https://www.imi-online.de/2019/11/08/grundsatzrede-zur-sicherheitspolitik-erneuter-alleingang-oder-muenchner-konsens-2-0/
[17] Darmstädter Echo vom 17.11.20
[18] Wehrbericht 2022: https://www.dbwv.de/aktuelle-themen/blickpunkt/beitrag/wehrbericht-2022-vorgestellt-es-hat-sich-erschreckend-wenig-getan
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Lars_Klingbeil#Verteidigungspolitik
[20] https://www.imi-online.de/2023/04/19/sozialdemokratische-zeitenwende/
[21] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Reden/20220621_Rede_LK_FES.pdf
[22] Darmstädter Echo vom 09.06.23
[23] https://www.deutschlandfunk.de/indien-warnungen-vor-aufkeimendem-faschismus-100.html
[24] Charta der Hamas von 2017 anstelle der Gründungscharta von 1988. https://www.middleeasteye.net/news/hamas-2017-document-full