Ideologische Geschichtsschreibung – SED und junge welt zum 17. Juni 1953

Heiner Karuscheit

Aus Anlass des 70. Jahrestags des 17.Juni 1953 hat die junge welt eine mehrteilige Artikelfolge von Leo Schwarz veröffentlicht (jw vom 17./21./28.Juni 2023). Derselbe Autor hat ein knappes Jahr zuvor unter der Überschrift „Im Widerspruch verheddert“ einen Artikel über den Sozialismusbeschluss veröffentlicht, den die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 verabschiedete und der letztlich zum Aufbegehren der Arbeiter ein Jahr später führte (jw vom 09.Juli 2022).

1. Eine weitreichende Fehlentscheidung

Welches Grundproblem zeichnet den mehrteiligen Artikel von Schwarz ebenso wie die SED-Selbstkritik nach dem 17.Juni aus? Im einen wie im anderen Fall wird der Übergang zum Sozialismus als solcher nicht in Frage gestellt, sondern es werden lediglich größere oder kleinere Fehler bei der Umsetzung dieser grundsätzlich für richtig befundenen Politik benannt.

Genau hier liegt das Problem: weder in Deutschland noch erst recht in dem kleineren Teilstaat DDR stand nach der NS-Herrschaft und dem 2. Weltkrieg der Sozialismus an. Nicht nur die 1848er Revolution war in Deutschland fehlgeschlagen, sondern dem Wesen nach auch die Novemberrevolution. 1918/19 hatte sich dank des Bündnisses der SPD-Führung mit der junkerlichen OHL an der Gesellschaftsstruktur des 1870/71 geschaffenen preußisch-deutschen Obrigkeitsstaats nichts geändert; der Gesellschaft war lediglich ein parlamentarischer Überbau übergestülpt worden, der ohne Grundlagen in der Gesellschaft nicht lebensfähig war. Das heißt, im Unterschied zu den westlichen Ländern war die – mittlerweile historisch überfällige – bürgerlich-demokratische Revolution in Deutschland zwei Mal gescheitert, und daraus ergaben sich zwei entscheidende Konsequenzen:
– Zum einen war dies ein maßgeblicher Grund dafür, dass 1933 der Nationalsozialismus in der Weimarer Republik siegen konnte;
– zum andern stand nach 1945 mit doppelter Notwendigkeit die Durchsetzung einer demokratischen Revolution in Deutschland an. Aus dieser historischen Aufgabenstellung ergab sich das Gebot der Errichtung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung, und dem entsprach als national-demokratische Aufgabe auch die Wiederherstellung der deutschen Einheit.

Demgegenüber war von Anfang an bezeichnend, dass die Konzeption eines antifaschistisch-demokratischen Staats nicht von der KPD ausgearbeitet wurde (weder im Exil noch in der Illegalität), sondern es die sowjetische Führung war (genauer gesagt, ein Flügel der sowjetischen Führung unter Einschluss Stalins), der dies nach Kriegsende der KPD nahelegte.

2. Rüstung und Politik

Der Sozialismusbeschluss der 2. Parteikonferenz der SED 1952 hat immer schon die Frage aufgeworfen, wie denn die sowjetische Führung dazu stand. Geht man dieser Frage anhand der inzwischen veröffentlichten Protokolle der internen Sitzungen bzw. Treffen zwischen der SED-Führung und der sowjetischen Staatsführung nach, stößt man auf die Tatsache, dass Stalin zu keinem Zeitpunkt eine positive Aussage zum Sozialismusaufbau in der DDR machte, geschweige denn ihn forderte. Allein dieser Fakt sollte einem zu denken geben.

Stattdessen gibt es die Aufforderung Stalins zum beschleunigten Aufbau einer eigenen Armee in der DDR. Von der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird dies als Beweis dafür gewertet, dass Stalin damit den Übergang zum Sozialismus befürwortete, und Schwarz folgt dem, obwohl man sich ja zumindest fragen sollte, wieso in einer internen Sitzung zwar der Aufbau einer Armee, aber gerade nicht der Übergang zum Sozialismus gefordert wird – und Stalin zur selben Zeit sein Wiedervereinigungsangebot unterbreitete.

Die Antwort darauf ergibt sich, sobald man aufhört, Rüstung mit Politik gleichzusetzen (was in der deutschen Linken gang und gäbe ist). Warum? Das Angebot der „Stalin-Note“ von 1952 gestand einem vereinten Deutschland (unter der Voraussetzung der Neutralität) u.a. eine eigene Armee zu. Kam die Wiedervereinigung zustande, würde das DDR-Militär, dessen Aufbau Stalin forderte, also ein Teil der neuen gesamtdeutschen Streitkräfte werden, und das bedeutet, man würde damit Einflussmöglichkeiten auf die aufzubauende Gesamtarmee besitzen. Oder anders herum gesagt: wenn man das eigene Wiedereinigungsangebot ernst meinte und ihm Realisierungschancen einräumte, war es umso näherliegend, sich vorab eigene Machtpositionen in dem vereinten Deutschland zu sichern, auch und gerade in dessen Armee.

3. „Im Widerspruch verheddert“

Ein weiterer Punkt, der typisch für die Artikel bzw. ihren Autor ist: Schwarz deutet kurz an, dass es Differenzen in der sowjetischen Führung zum Sozialismus in der DDR gab – und lässt das Thema sofort wieder fallen. Warum wohl wurde (der von Schwarz erwähnte) Berija von Chruschtschow als „Agent des Imperialismus“ attackiert, mit dem Vorwurf, er habe die DDR „verkaufen“ wollen? Denselben Vorwurf konnte man Stalin machen, aber im Unterschied zu Berija konnte man ihn nicht mehr erschießen, weil er schon tot war. Schwarz erwähnt Berija sogar, aber stellt nicht einmal die Frage, inwieweit es unterschiedliche Konzepte in der sowjetischen Führung gab und wie diese aussahen.

Die Öffnung der Archive (leider nicht aller) hat es ermöglicht, ein anderes Bild der Ereignisse zu gewinnen, als es die staatsoffizielle Version der Parteigeschichte durch SED und KPdSU vorgegeben und Schwarz nachgeredet hat. Demzufolge gab es, grob gesagt, zwei Fraktionen in Staat und Partei:
Die eine Fraktion um Stalin fürchtete, dass die Sowjetunion dem politisch-militärischen Druck durch eine Festsetzung der USA in Europa dauerhaft nicht standhalten könnte. Aufgrund der eigenen ökonomischen und politischen Lage nach dem langen und verlustreichen Krieg verfolgte diese Fraktion eine politische Lösung, die die amerikanische Position in Europa ohne Wettrüsten dauerhaft strategisch schwächen würde. Deshalb das Wiedervereinigungsangebot an Deutschland, denn damit würde der europäische Hauptpfeiler des entstehenden westlichen Militärbündnisses wegfallen – und damit wäre nicht nur die Sowjetunion entlastet worden, sondern hätte die internationale Nachkriegsordnung, die in Grundzügen bis heute existiert, ein grundlegend anderes Gesicht bekommen.
Die andere Fraktion (in der sich Chruschtschow durchsetzen konnte) hatte eine diametral andere Einschätzung der Kräfteverhältnisse: sie hielt den Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus für prinzipiell überlegen und plädierte für den (wenige Jahre später von Chruschtschow verkündeten) „Wettbewerb der Systeme“ incl. eines Wettrüstens; beides würde man aufgrund der natürlichen Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems und der dadurch bedingten Entfesselung der Produktivkräfte zweifelsfrei für sich entscheiden.

In diese nicht öffentlich, aber hinter den Kulissen umso heftiger ausgetragenen Fraktionskämpfe reiht sich der Umgang mit der DDR ein: die einen wollten durch die Handhabung der „deutschen Frage“ die Sowjetunion und das sozialistische Lager entlasten, die anderen sahen im Aufbau des Sozialismus in der DDR einen weiteren Sieg über den Kapitalismus. Insoweit dokumentierte die Ermordung Berijas den Sieg der „linken“ Chruschtschow-Fraktion über ihre Gegner, die als „Kapitulanten“ bzw. „Agenten des Imperialismus“ denunziert und entmachtet wurden.

Würde Leo Schwarz den Namen Berija nicht einfach nur erwähnen, sondern die Hintergründe für dessen Untergang untersuchen, käme er vielleicht zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Aber er ist lieber bei seinem ideologischen Weltbild geblieben, anstatt die Fakten und mittlerweile vorhandenen dokumentarischen Belege zu recherchieren (das Buch „Sozialismus ohne Basis“, Berlin 2022, stützt sich großenteils auf diese Nachweise). „Im Widerspruch verheddert“ – mit dieser Überschrift des Artikels über den Sozialismusbeschluss im Juli 1952 könnte man die gesamten Ausführungen des Autors betiteln.

4. Offene Realisierungschancen

Damit zu der Frage nach den Realisierungschancen der Stalin-Note.
Natürlich hatten weder die USA noch der Adenauer-Flügel der Bourgeoisie ein Interesse an der Neutralität eines vereinten Deutschlands. Aber Adenauer saß zu der Zeit noch längst nicht fest im Sattel, und es gab in allen politischen Lagern, auch in seiner eigenen Partei, starke Kräfte, die sich dafür aussprachen, das Moskauer Angebot ernsthaft zu prüfen. Was hätten die USA denn unternehmen sollen, wenn eine deutsche Regierung mit einer Mehrheit des Bundestags sich für die Annahme des Stalin-Angebots ausgesprochen hätte?

Wie das Ganze deshalb weitergegangen wäre, weiß man nicht. Eines allerdings weiß man: Der Sozialismusbeschluss der SED richtete sich direkt gegen das Wiedervereinigungsangebot, denn mit einer sozialistischen DDR konnte es keine Wiedervereinigung geben. Das wurde von allen Beteiligten so gesehen und diente den Anhängern der Westbindung in der BRD prompt dazu, die Stalin-Note als nicht ernst zu nehmendes Propagandamanöver abzutun. Erst recht entzog der 17.Juni 1953 (zur Erleichterung Adenauers und der USA) allen Kräften, die gegen die militärische und politische Westbindung Deutschlands waren, den Boden unter den Füßen.

Ein besonderes, für Ulbricht und die SED typisches ideologisches Manöver war noch, dass zusammen mit dem Sozialismusbeschluss gleichzeitig die Weiterführung des Kampfs um die Einheit Deutschlands gefordert wurde, obwohl jeder denkende Mensch wusste, dass der Sozialismus in der DDR und die Einheit Deutschlands einander ausschlossen – die Menschen wurden also auch noch für dumm verkauft.

5. Ein historisch verfehlter Obrigkeitssozialismus

Als letztes zurück zum 17. Juni 1953 bzw. den Ausführungen von Schwarz dazu. Hier finden wir eine wortreiche Relativierung und Schönfärberei der Ereignisse, die in den Fußstapfen der SED unter Negierung der seriösen Geschichtsforschung zu dem Ergebnis kommt, dass es im Juni eigentlich gar keinen Aufstand gab, getreu dem Morgensternschen Motto ‚Weil … nicht sein kann, was nicht sein darf‘.

Besonders aufschlussreich ist wiederum die klassenpolitische Seite dieses Vorgehens. Jenseits des Geschehens in Ostberlin, wo es leichtfällt, neben den aufbegehrenden Arbeitern Störer aus Westberlin ausfindig zu machen, waren es insbesondere die Arbeiter aus den ostdeutschen Industrierevieren, die vor 1933 Hochburgen der revolutionären Arbeiterbewegung gewesen waren, die gegen die SED aufbegehrten. Das weiß man inzwischen aus den SED- bzw. Stasi-Archiven, und ebenso wusste dies seinerzeit das SED-Politbüro anhand der Berichte der eigenen verbliebenen Anhänger.

Im Gegensatz zu dem jw-Autor war der Parteiführung also bewusst, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse den ihr aufoktroyierten Sozialismus ablehnte. Umso elender ist es, wenn man sich heute nach Öffnung der Archive bemüßigt fühlt, den historisch verfehlten, kleinbürgerlich verlogenen Obrigkeitssozialismus der SED immer noch reinzuwaschen und zu legitimieren.

Leider ist die in der jw veröffentlichte Artikelfolge nur allzu charakteristisch für all jene linken Ideologen, die nach dem epochalen Scheitern des Sozialismus 1989/91 schnell mit dem Begriff des „Frühsozialismus“ zur Hand waren, um den Untergang zu erklären, aber seither nicht eine !!! Untersuchung fertiggebracht haben, wie die Ursachen für dieses Scheitern in der Nachkriegszeit nach dem 2.Weltkrieg zustande gekommen sind.

H.K., 28.Juni 2023