Die deutsche Bourgeoisie – eine Klasse von trauriger Gestalt

Heiner Karuscheit

Der Ukraine-Krieg hat nicht nur kontroverse Forderungen hervorgebracht, wie auf den Krieg zu reagieren ist, sondern mindestens ebenso kontroverse Auffassungen von der Politik der deutschen Bourgeoisie. Während die einen das Verhalten der Regierung als „Vasallentum“ gegenüber den USA betrachten, haben andere das „Wiedererwachen des deutschen Imperialismus“ (zum wievielten Male?) und einen neuen „Ostlandritt“ ausgemacht.

Demgegenüber wurde hier vertreten, dass der Ukraine-Krieg das bisherige außen- und militärpolitische Konzept der deutschen Bourgeoisie vollständig zertrümmert hat und eine neue Sicherheitsstrategie nicht existiert (Der Ukraine-Krieg und die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie = https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2346). Diese Position hat in unserem Leserkreis nicht nur Zustimmung hervorgerufen. So geht ein Kritiker davon aus, dass der Krieg eine achtjährige Vorgeschichte hatte, die „auch von der BRD und Frankreich auf eine militärische Auseinandersetzung mit Russland hin forciert wurde“, mit dem Ergebnis, dass Deutschland sich „mit Vehemenz auf diesen Krieg wirft“, was bis hin zur „Installation einer Kriegsregierung“ geht.

Ausgangspunkt dieser Kritik ist offenbar ein Interview der Ex-Kanzlerin Merkel vom Dezember letzten Jahres zu den Abkommen Minsk I und II (von 2014 und 2015), aus dem der Kritiker die Schlussfolgerung einer achtjährigen Vorbereitung auf den Krieg gezogen hat. Um das Interview einzuordnen (hinten dazu mehr) und eine Antwort auf die Kritik zu geben, soll hier versucht werden, die deutsche Ukraine- und Russlandpolitik in die Stellung, die Interessen und die Handlungsspielräume der deutschen Bourgeoisie einzuordnen.

Das bedeutet, vorab ein realistisches Bild von der Natur dieser Bourgeoisie sowie der europäischen Mächtekonstellation zu gewinnen, und dazu muss man von drei historisch-politischen Grundtatsachen ausgehen, nämlich
erstens: diese Bourgeoisie ist erst im Gefolge des Zweiten Weltkriegs an die Macht gelangt;
zweitens: sie hat dies nicht aus eigener Kraft geschafft, sondern wurde von den USA dorthin gesetzt;
drittens: infolge des Nicht-Besitzes von Atomwaffen sind ihre Handlungsmöglichkeiten militärisch und politisch eingeschränkt.

Die erste Grundtatsache: der Charakter der deutschen Bourgeoisie

Um die Einschätzung der Bourgeoisie auf einen kurzen Nenner zu bringen: Seit diese Bourgeoisie in der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 ein Bündnis mit der preußischen Militärmonarchie einging, um den sozialen Forderungen der Massen entgegen zu treten, hat sie die politische Vormacht anderen Kräften überlassen: dem ostelbischen Junkertum und – nach dem Zwischenspiel der mehrheitlich von ihr bekämpften Weimarer Republik – im Dritten Reich den Nationalsozialisten.[1]

An die Macht gekommen ist sie erst im Gefolge der Weltkriegsniederlage von 1945 im westlichen Teil Deutschlands. Allerdings ließen die USA nicht die bis dahin maßgebliche schwerindustrielle Fraktion der Bourgeoise an die Herrschaft, sondern setzten mit Adenauer an der Spitze einen anderen Flügel dorthin, der bis dahin in der katholischen Zentrumspartei organisiert gewesen war. Im gleichen Atemzug wurde die Schwerindustrie durch die 1951 gegründete Montanunion sowie die von Ludwig Erhard vorangetriebene Kartellgesetzgebung wirtschaftspolitisch entmachtet.[2]

D.h. der 2.WK bewirkte zusammen mit der totalen Niederlage Deutschlands einen tiefen Bruch, aus dem ein anderer Staat hervorging, das Junkertum aus der Geschichte verschwand und das bürgerliche Lager eine andere Gestalt erhielt. Eine Folge des Bruchs war etwa, dass anstelle des bis dahin vom preußischen Militäradel kommandierten Heers die 1956 gegründete Bundeswehr zur ersten bürgerlichen Armee in Deutschland wurde. Auf dem Boden der Imperialismustheorie und einer angeblichen Dauerherrschaft der Monopolbourgeoisie lässt sich die klassenpolitische Tragweite dieses 1945 erfolgten Bruchs und somit auch die anschließende Geschichte der BRD nicht begreifen.

Die zweite Grundtatsache: die Rolle der USA

Die zweite Grundtatsache betrifft das Verhältnis zu den USA: Im Ersten Weltkrieg noch fehlgeschlagen, ist es den Vereinigten Staaten durch den Zweiten Weltkrieg gelungen, an ihrer atlantischen Gegenküste Fuß zu fassen und die Vorherrschaft über (West-) Europa zu erringen.

Da man es in Europa nicht mit abhängigen Kompradorenbourgeoisien zu tun hatte und hat, können die USA ihre Vorherrschaft nur als Schutzmacht gegen die Bedrohung durch einen auswärtigen Feind aufrechterhalten – eine Rolle, die früher die Sowjetunion innehatte und jetzt Russland. Dem dient die 1949 als Militärpakt gegründete Nato, der Deutschland in Europa als wichtigstes Mitglied und Hauptstützpunkt des US-Militärs angehört.

Zur Aufrechterhaltung seiner militärisch begründeten Vorherrschaft gehört der Natur der Sache nach, dass Washington darauf angewiesen ist, dass die Spannungen gegenüber Russland bestehen bleiben bzw. neue Spannungen entstehen.
Umgekehrt gilt, dass Deutschland sich desto weiter von den USA lösen und seine eigene Hegemonie über Europa ausbauen kann, je entspannter das Verhältnis zu Russland ist.

Die dritte Grundtatsache: Keine Atomwaffen

Die dritte Grundtatsache betrifft den militärischen Status Deutschlands, hier die Frage von Atomwaffen.

In den 50er/60er Jahren des letzten Jahrhunderts versuchten Adenauer und Strauß, im Zuge der Wiederbewaffnung Westdeutschlands in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen, mussten jedoch angesichts einer Einheitsfront der westlichen Verbündeten darauf verzichten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, so dass Deutschland (ähnlich wie Japan) im Gegensatz zu anderen Großmächten wie Frankreich oder Großbritannien aller Voraussicht nach auch künftig keine Atomwaffen besitzen wird.

Wenn der Begriff des „Imperialismus“ einen Sinn haben soll, muss er auch militärisch begründet sein. Doch eine wahrnehmbare Auseinandersetzung über die Bedeutung der fehlenden Atomwaffen hat es in der Linken bis heute nicht gegeben. Dabei hat diese Tatsache elementare Konsequenzen für die militärischen und politischen Handlungsmöglichkeiten der deutschen Bourgeoisie: um in den Beziehungen zu der Nuklearmacht Russland nicht erpressbar zu sein, muss sie sich an eine westliche Atommacht anlehnen, und dafür kommen nach Lage der Dinge nur die USA oder Frankreich in Betracht. Im Rahmen der Nato hat die politische Klasse Deutschlands bisher das atomare Schutzversprechen der USA in Anspruch genommen und ist nicht auf wiederholte Angebote Frankreichs eingegangen, Deutschland unter den Schirm der „force de frappe“ zu nehmen.

Entspannungspolitik zur Erweiterung des Handlungsspielraums

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ging die damalige sozialliberale Regierungskoalition daran, den deutschen Handlungsspielraum durch eine (anfangs heftig umstrittene) neue „Ostpolitik“ zu erweitern, indem sie die DDR sowie die Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannte und die Beziehung zur Sowjetunion entspannte und ausbaute. Möglich war dies gegen den Widerstand Washingtons, weil die USA zu dieser Zeit im Vietnamkrieg feststeckten und durch ihre Niederlage geschwächt wurden. Deshalb konnte der Wechsel zur Entspannungspolitik auch gegen die „atlantische“ Fraktion in der Bourgeoisie durchgesetzt werden.

Nach 1990 führte die politische Klasse eine Diskussion darüber, ob das gewachsene Gewicht des wiedervereinten Deutschlands nicht eine Neuausrichtung der Außen- und Militärpolitik nach sich ziehen müsste. Geführt unter den Stichworten „Machtstaat“ versus „Handelsstaat“ war das einhellige Ergebnis, dass eine „Machtstaat-Politik“ Deutschland in zwei verlorene Kriege geführt hätte. Dagegen hätte die Politik als „Zivilmacht“, verbunden mit dem Verzicht auf militärische Stärke, es vermocht, die Stellung Deutschlands in Europa in hohem Maße zu stärken.[3]

Auf diesem Weg ging die Entspannungspolitik jetzt noch einen Schritt weiter und machte sich daran, mit Russland eine sog. „Sicherheitspartnerschaft“ zu etablieren, um das „gemeinsame Haus Europa“ zu gestalten. Mittlerweile stand ein solcher Ausbau der „Ostpolitik“ im Konsens der gesamten Bourgeoisie, so dass er über alle politischen Lager hinweg von sämtlichen deutschen Kanzlern betrieben wurde, von Kohl über Schröder und Merkel bis zu Scholz. Nur eine Minderheit von „Atlantikern“ in allen Parteien sperrte sich dagegen und kritisierte die wachsende Distanz zu den USA.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Entwicklung, als die Regierung Schröder sich 2003 gemeinsam mit Frankreich (das sog. „alte Europa“) gegen den Irak-Krieg der USA wendete und die USA nicht in der Lage waren, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen, weil sie durch ihre Verstrickung am Golf genauso geschwächt waren wie seinerzeit bei der Etablierung der Entspannungspolitik durch den Vietnamkrieg.

Die Minsk-Abkommen 2014 und 2015

Damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: was ist vor diesem Hintergrund von der Aussage zu halten, dass Deutschland seit acht Jahren gemeinsam mit Frankreich eine militärische Auseinandersetzung mit Russland vorbereitet haben soll – was bedeuten würde, dass es 2014/15 einen grundlegenden Wandel seiner Außen- und Militärpolitik vollzogen hätte?

Diese Aussage bezieht sich offensichtlich auf ein Interview, das die Ex-Kanzlerin Merkel Anfang Dezember 2022 der Wochenzeitung „ZEIT“ gegeben hat (ZEIT 51/2022). Darin führte sie aus, die unter ihrer Beteiligung abgeschlossenen Minsker Abkommen seien der Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben: „Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“

Doch was besagt diese Feststellung? Sie besagt nicht mehr, als dass Frankreich und Deutschland, die das Abkommen mit Russland und der Ukraine verhandelten, kein Interesse hatten und haben, dass die Ukraine in die Hände Russlands fällt. Daraus zu schlussfolgern, dass sie einen Krieg gegen Russland wollten, trifft weder den Inhalt der Aussage noch erst recht die Interessenlage der beiden Länder.

Auf deutscher wie französischer Seite war das politische Ziel der Abkommen, trotz der russischen Annexion der Krim im selben Jahr 2014 die europäisch-russischen Beziehungen nicht zu beschädigen und keine neuen Spannungen in Europa aufkommen zu lassen. Deshalb sahen die Minsk-Abkommen von 2014 und 2015 vor, die bewaffneten Konflikte um die von Separatisten im Donbass gegründeten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk friedlich zu lösen, wozu über einen Waffenstillstand und den Rückzug aller schweren Waffen hinaus die Gewährung eines Sonderstatus für die Separatistengebiete gehörte, der Selbstverwaltungsrechte und die sprachliche Selbstbestimmung einschloss.

Das „Normandie-Format“ – ohne die USA

Allerdings hatten Deutschland und Frankreich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Jenseits des Inhalts war die entscheidende Schwachstelle der Minsk-Abkommen nämlich, dass sie in dem sog. „Normandie-Format“ abgeschlossen wurden, in dem Russland, Frankreich, Deutschland und die Ukraine miteinander verhandelten – und die USA ausgeschlossen waren.

Seit ihrer Festsetzung auf dem alten Kontinent hatten die Vereinigten Staaten in allen europäischen Angelegenheiten mitentschieden. Obwohl eine außereuropäische Macht, beanspruchten sie wie selbstverständlich einen Platz in der 1973 gegründeten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die Anfang der 1990er Jahre eine wichtige Rolle bei der Neugestaltung der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur spielte und 1995 in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umgewandelt wurde.

Wenn jetzt mit Russland, Frankreich und Deutschland die maßgeblichen europäischen Kontinentalmächte es unternahmen, einen bewaffneten Konflikt auf dem Kontinent unter sich zu lösen, ohne die USA zu beteiligen, mussten in Washington alle Alarmglocken schrillen. Wollte man nicht Gefahr laufen, die Herrschaft über den alten Kontinent zu verlieren, musste man reagieren, und das bedeutete, dass man das Minsk-Abkommen zum Scheitern bringen musste.

Zu diesem Zweck konnte man sich nach dem „Maidan“-Umsturz von 2013/14 auf die nationalistischen Kräfte sowohl innerhalb als auch außerhalb der ukrainischen Regierung stützen, die nicht bereit waren, das Selbstbestimmungsrecht der russischen Mehrheitsbevölkerung im Donbass anzuerkennen, nicht einmal in der vorgesehenen beschränkten Form.

Die Sabotage des Minsk-Prozesses

Während Paris und Berlin also ihren Einfluss auf die Ukraine geltend machten, um den Minsk-Prozess zu einem friedlichen Ende zu bringen, belieferte Washington gemeinsam mit London die bewaffneten Gegner des Minsk-Abkommens wie etwa das ultranationalistisch-reaktionäre Asow-Bataillon mit Waffen und führte militärische Ausbildungsmissionen durch. Der vereinbarte dauerhafte Waffenstillstand im Donbass als Grundvoraussetzung zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen kam nie zustande.

Bereits vor der Sabotage der Minsk-Abkommen war das andere Mittel, um die Spannungen in Europa zu erhöhen, die Aufnahme der Ukraine in die Nato, was für Russland ein rotes Tuch war.[4] Der Bukarester Nato-Gipfel von 2008 gab der Ukraine allerdings nur eine grundsätzliche Beitrittsperspektive, weil Frankreich und Deutschland gemeinsam die von den USA und Großbritannien vorgeschlagene nähere Terminierung verhinderten. Bei der Gelegenheit warnte Angela Merkel davor, Russland nicht unnötig zu reizen und eine Destabilisierung Osteuropas zu riskieren.

Aus Anlass der russischen Besetzung der Krim 2014 verstärkten die USA dann den Druck auf die europäischen Nato-Staaten, die Rüstung zu verstärken. Neben Sanktionen gegen Russland sollten sie insbesondere ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, wozu u.a. die Verpflichtung bekräftigt wurde, wenigstens 2% des jeweiligen Bruttosozialprodukts für die Rüstung auszugeben. Indessen tat die deutsche Regierung nichts, um die theoretisch übernommene Verpflichtung im Staatshaushalt umzusetzen, sondern bekräftigte, dass Stabilität nicht primär eine militärische, sondern eine politische Aufgabe sei. Vor allem weigerte sie sich, die Beziehungen zu Russland einzufrieren, wie die USA das verlangten, sondern wandte sich gegen eine Isolierung Moskaus, indem sie wie ein Mantra wiederholte, dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland hergestellt werden könne.

Das Ringen um Northstream 2

Das heimliche Ringen zwischen Berlin und Washington gipfelte in der Aus-einandersetzung um die Ostsee-Gaspipeline Northstream 2, die von Russland und Deutschland gemeinsam finanziert und politisch als Klammer für die beiderseitigen Beziehungen und Symbol der friedlichen Zusammenarbeit gewürdigt wurde.

Bereits die 2012 in Betrieb gegangene Pipeline NorthStream 1 hatte in Washington heftige Kritik hervorgerufen. Sekundiert von Polen und den baltischen Staaten (sowie in Deutschland von den „Grünen“), machte die US-Administration jetzt deutlich, dass sie Northstream 2 auf keinen Fall akzeptieren würde. Um den bereits begonnenen Bau zu unterbinden, verhängte sie Sanktionen gegen die am Pipelinebau beteiligten Firmen, die jedoch die Fertigstellung lediglich verzögern und nicht verhindern konnten, weil sie durch die Bundesregierung postwendend ausgehebelt wurden.

Daraufhin verkündete der US-Präsident Biden öffentlich, dass sein Land im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine dafür sorgen würde, dass die Pipeline nicht in Betrieb gehen würde. Die Ankündigung stellte einen offenen Affront gegen einen verbündeten, souveränen Staat dar, ohne dass die Bundesregierung darauf reagierte.

Eine reaktionäre russische Staatsdoktrin

Die fortgesetzte angelsächsische Provokationspolitik gegen Russland und die europäisch-russischen Beziehungen führte schließlich dank der Reaktion der Putin-Regierung zum Erfolg.

Die Moskauer Oligarchenclique folgte mittlerweile einer Staatsdoktrin, die sich auf das vorrevolutionäre, von Lenin als Völkergefängnis charakterisierte Großrussland des Zarismus berief, die Nationalitätenpolitik der Oktober-revolution verurteilte und der Ukraine nicht nur das Recht auf einen Nato-Beitritt, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht absprach und sie zum Bestandteil des historischen Russlands erklärte.[5] Unter Infragestellung der Eigenstaatlichkeit der Ukraine ließ Putin so seine Truppen im Februar 2022 in den Nachbarstaat einmarschieren, deklariert als „Spezialoperation“ zur „Befreiung vom Faschismus“.

Doch weder die reguläre, von Korruption zerfressene Armee noch die Söldnertruppen der „Gruppe Wagner“ oder tschetschenische Stammesverbände waren in der Lage, die „Spezialoperation“ wie geplant zum Sieg zu führen, dh. das Land rasch zu unterwerfen und eine Marionettenregierung einzusetzen. Stattdessen verschaffte der ukrainische Widerstand den USA die Gelegenheit, außer der eigenen militärischen Unterstützung einen Strom von Waffen durch die europäischen Natomitglieder an das angegriffene Land liefern zu lassen. Auf diese Weise konnte und kann Washington so, gestützt auf das ukrainische Militär, Krieg gegen Russland führen, ohne eigene Truppen einsetzen zu müssen.

Ein Triumph der USA

Einem Bonmot zufolge bemerkte der französische Diplomat Talleyrand einmal über einen Krieg, dieser sei schlimmer als ein Verbrechen – er sei eine Dummheit. Mit dem Angriff auf die Ukraine hat die Putin-Regierung im wesentlichen das Gegenteil des von ihr Gewollten erreicht:
– Anstelle eines raschen Siegs ist ein Abnutzungskrieg getreten, der Russland umso mehr schwächt, je länger er dauert;
– statt die Ukraine ins großrussische Mutterland zurück zu holen, ist der antirussische ukrainische Nationalismus gestärkt worden;
– statt die Nato von den Grenzen Russlands fernzuhalten, führt diese jetzt mit Hilfe der Ukraine Krieg gegen Russland und treten Finnland und Schweden der Nato bei, was eine schwere strategische Niederlage für Russland bedeutet.

Umgekehrt konnte die us-amerikanische Politik kaum erfolgreicher sein, denn Russland ist als international konkurrierende Macht zurückgefallen, und das Ende der deutsch-französischen Kooperation mit Russland hat die US-Hegemonie über Europa wieder gefestigt. Deshalb können die USA sich nunmehr als neuerlich gestärkte Führungsmacht „des Westens“[6] auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren, um die von ihnen definierte „regelbasierte internationale Ordnung“ durchzusetzen.

Zur Krönung ihres Triumphs setzte die US-Administration schließlich am 26. September 2022 noch Bidens Ankündigung um und ließ die Northstream-Pipeline sprengen, um ein Energiebündnis zwischen Russland und Deutschland für alle Zukunft zu verhindern.

Ein Fiasko für die deutsche Bourgeoisie

Für die deutsche politische Klasse bedeutete der russische Einmarsch in die Ukraine ein komplettes Fiasko. Der Versuch, sich durch eine Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ mit Russland aus der Abhängigkeit von den USA zu lösen, war auf einen Schlag erledigt; Deutschland wurde wieder in die Arme Washingtons und unter dessen atomaren Schutzschirm zurückgetrieben. Eine der ersten Maßnahmen der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ war die bis dahin umstrittene Entscheidung, F 35-Kampfflugzeuge als Träger der in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen anzuschaffen.

Gleichzeitig ist Europa gespalten. Polen, Norwegen und die baltischen Länder agieren als engste Verbündete Washingtons gegen Frankreich und Deutschland, und insbesondere Polen unternimmt alles, um sich den USA als dritte Macht zwischen Russland und Deutschland anzudienen.

Eine neue außen- und militärpolitische Strategie der Regierung ist bisher auch nicht im Ansatz zu erkennen. Eine selbstbewusste nationale Bourgeoisie würde die Kriegs- und Spaltungspolitik Washingtons zum Anlass nehmen, um das Bündnis mit den USA und die Nato-Mitgliedschaft aufzukündigen. Doch diese Bourgeoisie ist eine Klasse von trauriger Gestalt; sie war zeit ihrer gesamten Existenz noch nie zu einer geschichtlichen Tat fähig. Die Regierung hat nicht einmal eine Kommission zur offiziellen Untersuchung der Sprengung von Northstream 2 eingesetzt, aus Sorge, öffentlich Stellung nehmen zu müssen, wenn die Untersuchung enthüllt, dass die Drahtzieher des Anschlags in Washington sitzen.

Umso absurder ist es, wenn Vertreter einer kommunistischen Bewegung über einen immerwährenden deutschen Imperialismus schwadronieren und sich nicht entblöden, vor einem neuen „Ostlandritt“ zu warnen.

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Am 25. Februar d.J. fand in Berlin eine große Kundgebung gegen den Ukraine-Krieg statt, zu der Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht aufgerufen hatten. Das von ihnen verfasste „Manifest für den Frieden“ wendet sich auf dem Boden des Pazifismus gegen beide kriegführenden Seiten; es verurteilt den russischen Überfall ebenso wie die Waffenlieferungen an die Ukraine und fordert einen sofortigen Friedensschluss. Wenn daraus eine dauerhafte Massenbewegung hervorgehen würde, könnte eine antiimperialistisch-revolutionäre Linke dort die Positionen hineintragen, die sich aus den Ursachen und dem Charakter des Kriegs ergeben:

Deutschland raus aus der Nato – Nato raus aus Deutschland!

Keine Unterstützung Russlands und der Kriegsukraine!

Keine Sanktionen gegen Russland auf dem Rücken der Massen!

Frieden auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen!

  1. April 2023

[1] In der Zeitschrift „Aufsätze zur Diskussion“ sind die hier angerissenen historischen Fragen über viele Jahre hinweg untersucht worden; zuletzt sind dazu zwei Buchveröffentlichungen erschienen: “Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg“ sowie „Die verlorene Demokratie – Der Krieg und die Republik von Weimar“ (VSA-Verlag: Hamburg 2014 und 2017).
Ein Ergebnis der Beschäftigung mit dem Thema war u.a. die Erkenntnis, dass die Imperialismustheorie ungeeignet ist, um die Brüche in der deutschen Geschichte zu erklären.

[2] Eine ähnlich zentrale Stellung wie seinerzeit die Schwerindustrie hat heute die Automobilindustrie, die in hohem Maße für den Export produziert und deren wichtigster ausländischer Absatzmarkt China ist. Deshalb fragt sich, wie die Bourgeoisie dauerhaft damit umgehen wird, dass die Vereinigten Staaten inzwischen China zum Hauptfeind der von ihnen definierten „regelbasierten internationalen Ordnung“ erklärt haben.

[3] Der Ukraine-Krieg und die Militärpolitik der deutschen Bourgeoisie = https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2346

[4] Der 2017 ins Amt gekommene US-Präsident Trump vertrat zur Nato eigene Positionen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

[5] Dazu die grundsätzliche Analyse von Ditte Gerns: „Eine Klassenfrage – Die Bolschewiki und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ = https://www.jungewelt.de/artikel/442254.marxismus-leninismus-eine-klassenfrage.html. Siehe auch A.Schröder: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und seine Kritiker; in: Azd 95/2022 = https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2359

[6] Bei näherer Betrachtung entpuppt sich „der Westen“ im Sinne eines einheitlich handelnden politischen Blocks als eine Chimäre, ausgemacht und gepflegt von der russischen Propaganda, die mit diesem Begriff davon abzulenken versucht, dass es das Putinsche Russland selber war, das durch seinen Überfall auf die Ukraine die führenden europäischen Kontinentalmächte auf die Seite der USA getrieben hat.