Der Ukraine-Krieg und die Frage des russischen Imperialismus

Heiner Karuscheit

Zur Tagung „Russland und sein Krieg in der Ukraine“ am Samstag, 14. Mai, hat die Marx-Engels-Stiftung als Grundlagentext u.a. wegen seiner „abwägenden Argumentation und der Vermeidung vorschneller Etikettierungen“ einen Text von Willi Gerns aus den Marxistischen Blättern von 2015 empfohlen: „Das Putinsche Russland. Machtverhältnisse und Politik“ (https://www.marx-engels-stiftung.de/files/Willi-Gerns_Putins-Russland.pdf)

Wenn man den Text das erste Mal liest, erscheint die getroffene Bewertung nachvollziehbar. Sobald man sich jedoch näher mit seinen zentralen Aussagen und politischen Schlussfolgerungen befasst, relativiert sich dieses Bild erheblich. Was ist der Grund dafür?

Kapitalismus und Imperialismus in Russland

Als erstes begründet Gerns, inwiefern Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem kapitalistischen Land geworden ist, was wahrscheinlich bei den meisten Linken unstreitig ist. Sodann wendet er sich der Frage zu, ob es auch imperialistisch ist. Zu deren Beantwortung legt er die Leninsche Imperialismustheorie zugrunde und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die „Frage, ob Russland ein imperialistisches Land ist, trotz des Vorhandenseins wesentlicher ökonomischer Merkmale dieses Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht mit einem uneingeschränkten ‚JA‘ beantworten“ lässt. Streicht man die doppelte Verneinung und übersetzt die gewundene Aussage in normales Deutsch, so beantwortet der Autor die Frage nach dem russischen Imperialismus „eingeschränkt“ mit JA. Es geht also um einen unvollkommenen, noch in der Entwicklung befindlichen Imperialismus bzw. einen Imperialismus zweiter Ordnung.

Anschließend entwickelt Gerns, dass der US-Imperialismus als „Weltpolizist“ und Verfechter einer „unipolaren“, US-geführten Weltordnung der gegenwärtige „Hauptfeind (ist), gegen den die nach Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt strebenden Kräfte heute den Hauptstoß ihres Kampfes richten müssen.“ Seine Schlussfolgerung daraus lautet: “Das Streben Russlands nach einer multipolaren Weltordnung liegt objektiv im Interesse von Frieden und gesellschaftlichem Fortschritt“ – was bedeutet, dass alle fortschrittlichen Kräfte die Politik Russlands befürworten müssen. Von der Feststellung eines unvollkommenen russischen Imperialismus sind wir so zur Aufforderung gelangt, diesen Imperialismus zu unterstützen.

Drei Anmerkungen dazu:

1. Dem Wesen der Sache nach führt Gerns seine Leser/innen dahin, sich auf die Seite des „schwächeren“ Imperialismus gegen den stärkeren zu stellen – im Namen des Fortschritts. Man soll gegen die USA für eine „multipolare“ Weltordnung eintreten, damit Russland, das sich noch in der Entwicklung zu einem „vollständigen“ Imperialismus befindet, nicht länger die zweite Geige spielt, sondern in die „multipolare“ erste Reihe aufsteigt.1

Mit derselben Argumentation traten Teile der SPD-Führung im Ersten Weltkrieg für den Krieg gegen das weltbeherrschende Großbritannien ein, weil dessen Niederlage den Fortschritt auf der ganzen Welt befördern würde. Neben der von der SPD hauptsächlich propagierten Vaterlandsverteidigung gegen den Zarismus war dies eine weitere Argumentationslinie, um die Kriegsunterstützung zu rechtfertigen.

Lenins Verdienst war demgegenüber die hartnäckig verfochtene Position, dass das Proletariat in jedem Land für die Niederlage der eigenen Bourgeoisie eintreten müsse. Er wandte sich unermüdlich gegen die Parteien der II. Internationale, die in jedem Land ihre eigene Begründung hatten, um „ihren“ Staat und ihre Bourgeoisie zu unterstützen. Gerns bringt es fertig, die Imperialismustheorie Lenins zu verteidigen – und Lenins revolutionäre Antikriegspolitik in ihr Gegenteil zu verkehren.

2. Neben dem Argument mit dem harmlosen, weil nur halben Imperialismus bringt Gerns noch eine weitere Rechtfertigung für die russische Politik, nämlich dass Russland seine legitimen Interessen gegen die Ausdehnung der Nato verteidigen müsse. Dahinter steht, dass Moskau beim Kampf um Einflusssphären in Europa z.Zt. hinten liegt und naturgemäß kein Interesse daran hat, dass die Ukraine Nato-Mitglied wird. Aber kann das ein Grund sein, den russischen Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren?

Erst recht stellt sich diese Frage, wenn man sich bemüht, die Grundlinie der russischen Außen- bzw. Geopolitik nachzuvollziehen. Die Triebkräfte dieser Geopolitik hat Putin am Vorabend des Angriffskriegs auf die Ukraine am 21.Februar 2022 in einer Rede dargelegt: https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/ Den Kern der Rede bildet eine Abrechnung mit Lenin und der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki. Die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Lenin, die zur Bildung mehrerer selbständiger (Sowjet-) Republiken führte, erklärte er zum Verbrechen an Russland, weil die Bolschewiki dadurch russisches Territorium verschenkt hätten. So rechnete Putin speziell auch die Ukraine zu „den eigenen historischen Gebieten“ und berief sich in Abgrenzung von Lenin und den Bolschewiki auf das zaristische Russland und dessen großrussisch-imperiale bzw. imperialistische Politik, um die neue großrussische Geopolitik zu legitimieren.

In der öffentlichen Debatte beruft die russische Regierung sich selbstredend nicht auf den großrussischen Zarismus, sondern stellt ihre „legitimen“ Sicherheitsinteressen in den Vordergrund. Aber ist das ein Grund, dem zu folgen?

3. Oben haben wir uns auf Lenin und dessen revolutionäre Antikriegspolitik bezogen, was für uns bedeutet, in erster Linie den Kampf im eigenen Land zu führen, gemäß dem Motto, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht.

Wenn man diese Aufgabenstellung ernst nimmt, drängt sich die Frage auf, warum in der Linken nicht die Forderung „Deutschland raus aus der Nato“ und „Nato raus aus Deutschland“ das Leitmotiv der eigenen Politik ist? Besonders auffällig war dies bei den Friedensdemonstrationen// Ostermärschen dieser Tage. Obwohl alle linken Organisationen zur Teilnehme daran aufgerufen haben, waren diese zentralen Parolen nur in Ausnamefällen sichtbar. Warum war bzw ist das so?

Schließlich noch ein ketzerischer Gedanke: um den Einsatz der Militärmaschinerie durch die Herrschenden zu erschweren, ist die Arbeiterbewegung früher auf dem Boden der allgemeinen Wehrpflicht für den Aufbau einer Milizarmee eingetreten. Warum wird in der Linken über diese Fragestellung nicht diskutiert? Warum wird unhinterfragt hingenommen, dass die Bundeswehr eine Berufsarmee aus bezahlten Söldnern ist?

1 Mit der Fortschrittlichkeit einer „multipolaren“ Ordnung verteidigt auch Andreas Wehr die russische Politik: „Der Konflikt des Westens mit Russland ist daher Teil des globalen Nord-Süd-Gegensatzes zwischen westlichem Vormachtstreben und aufstrebenden Schwellenländern, die an die Stelle der bestehenden, von den USA und der EU bestimmten Weltordnung eine multipolare setzen wollen. (…) Betrachtet man den Krieg in der Ukraine aus diesem Blickwinkel so erkennt man, dass er nur eine weitere Etappe des Ringens um eine Weltordnung darstellt, die nicht länger mehr vom Westen bestimmt ist. Analysen hingegen, die Russland und auch China imperialistische Interessen unterstellen, führen hingegen in die Irre.“ https://www.andreas-wehr.eu/russland-ein-imperialistisches-land.html