Imperialismus-Kritik nach dem Steinbruchverfahren

Die Fortsetzung einer verfehlten Debatte

 

Alfred Schröder

Ausgangspunkt aller Debatten der letzten Monate über den „Imperialismus“ war der aktuelle Krieg in der Ukraine und wie er zu bewerten sei. Diese Bewertung bildet die Grundlage für die Politik der Kommunisten. Wir haben dazu wiederholt klar Position bezogen, u. A. mit den Forderungen: „Deutschland raus aus der NATO – Nato raus aus Deutschland“ sowie der Forderung „Frieden auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen“. Da dieser Krieg ein reaktionärer und imperialistischer Krieg von allen beteiligten Parteien ist, stehen wir auf dem Boden des revolutionären Defaitismus und treten für die Niederlage der kriegsführenden Oligarchen in der Ukraine und Russland ein.

Zu diesen eindeutigen Positionen gibt es m.W. bisher keine einzige Kritik in der linken Debatte, obwohl es große Unklarheiten über die richtigen Forderungen innerhalb der Friedensbewegung gibt, wie gerade der Ostermarsch dieses Jahr erschreckend deutlich gemacht hat. Statt über die politische Ausrichtung, diskutieren die wenigen verblieben Kommunisten lieber über die richtige Auslegung der „Schrift“ und ihre möglichen Anwendungen zur Interpretation der Wirklichkeit. Dies betrachte ich als völlig verfehlt und auch persönlich deprimierend. Deshalb vorweg etwas Methodisches.

Methodisches

In meinem letzten Artikel („Eine verfehlte Debatte“ = https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2644) war die Grundaussage, wie unsinnig es ist, die Wirklichkeit aus Zitaten der Klassiker zu interpretieren; wie verfehlt es ist, den besagten „Werkzeugkasten“ (Corell, KAZ/DKP) zu nutzen, um die aktuelle Politik zu legitimieren. Ein solches Verfahren verdeutlicht nur, dass man in der Wirklichkeit keine ausreichend belastbaren Tatsachen und Argumente für die eigene, darum zumeist fehlerhafte Position gefunden hat. Dann müssen die Klassikerzitate herhalten, um eine wirklichkeitsferne Politik zu begründen. Die Exegese von Klassikertexten ist keine Verfahrensweise für die Anwendung der revolutionären Theorie des Marxismus auf die gesellschaftliche Realität, sondern eine nicht umsonst religiös und sektenhaft anmutende Diskreditierung derselben.

Das jüngste Beispiel dafür liefert der Genosse H. aus Hannover. In dem Beitrag über „Eine verfehlte Debatte“ hatte ich auf eine Aussage Lenins aus dessen Kritik an der Juniusbroschüre Luxemburgs aufmerksam gemacht, worin Lenin sich gegen die schablonenhafte Verwendung des Begriffs „Imperialismus“ aussprach und verschiedene historische Kriege als „imperialistisch“ charakterisierte. Dem setzt H. ein Zitat aus Lenins Imperialismusschrift entgegen, worin es heißt: „Kolonialpolitik und Imperialismus hat es auch vor dem jüngsten Stadium des Kapitalismus und sogar vor dem Kapitalismus gegeben. Das auf Sklaverei beruhende Rom trieb Kolonialpolitik und war imperialistisch. Aber ‚allgemeine‘ Betrachtungen über den Imperialismus, die den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen vergessen oder in den Hintergrund schieben, arten unvermeidlich in leere Banalitäten oder Flunkereien aus, wie etwa der Vergleich des ‚größeren Rom mit dem größeren Britannien.‘ Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals“ (Lenin, Bd. 22, S. 264)

Das ist genau das klassische Verfahren des „Werkzeugkastenprinzips“, früher hieß dies „Steinbruchverfahren“. Es gefällt dem Genossen nicht, dass Karuscheit und ich den Ukrainekrieg aus dem Vormachtstreben der USA in Europa und der großrussisch-imperialen Reaktion Russlands darauf hergeleitet haben und nicht aus dem Finanzkapital sowie der ökonomischen Imperialismustheorie der II. Internationale in ihrer Leninschen Ausprägung. Aber das möchte er so nicht offen kritisieren. Warum? Weil dies offensichtlich machen würde, dass der Genosse eigentlich eine Argumentation wünscht, die die aktuellen Ereignisse aus – oder wenigstens in Übereinstimmung mit – den Zeilen der „Schrift“ interpretieren würde.

Stattdessen fordert er zum „Nachdenken“ über ein Lenin-Zitat auf, das auf die Unterschiede zwischen der Kolonialpolitik des römischen Reiches, der kapitalistischen Kolonialpolitik und jener im Zeitalter des Imperialismus verweist. Nur zu diesen Themen haben weder der Genosse Karuscheit noch ich publiziert, noch haben diese Aussagen irgendetwas mit dem konkreten Ukrainekrieg und seinen Ursachen zu schaffen. Und über den Imperialismus im ‚Allgemeinen‘ haben wir uns ebenso wenig geäußert, stattdessen über die konkreten politischen Ereignisse, die den Ukrainekrieg hervorgebracht haben.

Der Ukrainekrieg – ohne Monopole, Finanzkapital und Kolonialpolitik

In „Eine verfehlte Debatte“ schrieb ich: „Der Ukrainekrieg lässt sich mit imperialistischer Politik, wie wir sie seit wenigsten zweitausend Jahre kennen, ganz ohne eine ökonomische Imperialismustheorie erklären. Zwei Großmächte oder Bündnisse führen Krieg miteinander auf dem Territorium eines anderen Staates, wie z.B. im 30jährigen Krieg das Haus Habsburg gegen Frankreich in Deutschland mit deutschen und spanischen Truppen, während das katholische Frankreich die protestantischen deutschen Fürsten und das ebenso protestantische Schweden finanzierte, um das Reich und die Habsburger Monarchie zu schwächen. Oder nehmen wir den gerade erwähnten Siebenjährigen Krieg zwischen England und Frankreich, in dem England Preußen finanzierte, um Frankreich einige Besitzungen in der Karibik, Nordamerika und in Indien abzunehmen usw.
Und genau einen solchen Krieg sehen wir in der Ukraine. Die US-geführte NATO finanziert die Aufrüstung der Ukraine, wohlwissend, dass Russland diese NATO-Ausdehnung nicht hinnehmen wird. Da Russland – bedingt durch die eigene oligarchisch geprägte Herrschaft – darauf nicht nationalrevolutionär (Selbstbestimmungsrecht der Völker), sondern nur nationalistisch reaktionär reagieren konnte, kam es zum jetzigen Ukraine-Krieg. Ausgefochten wird er auf ukrainischem Territorium mit dem massiven Einsatz von Söldnerverbänden und Vertrags- und Zeitsoldaten. Und dies von beiden Seiten. …
Dieser Krieg ist die Fortsetzung der Politik der US-geführten NATO einerseits und Russlands anderseits. Er bedarf zu seiner Erklärung keiner „ökonomischen Imperialismustheorie“. Sie dient einzig dazu, mit theoretischen Konstrukten, die sich völlig zu Unrecht auf Lenin berufen, die russische Aggression zu legitimieren.“ (Siehe: „Eine verfehlte Debatte“.)

Will der Genosse H. dies, d.h. will er die russische Aggression legitimieren, dann sollte er das sagen und nicht zu einem nicht näher bestimmten Nachdenken über einige Zeilen des Lenintextes auffordern. Das in dem Kontext obiger Argumentation von mir angeführte Leninzitat verweist nur darauf, dass auch dem russischen Revolutionär bekannt war, dass der Imperialismus als politisches Phänomen deutlich älter ist als die ökonomische Imperialismustheorie der II. Internationale. Deshalb spricht Lenin – gerade in seiner Imperialismusschrift – wiederholt vom „kapitalistischen Imperialismus“, um auf diesen Tatbestand hinzuweisen.

Um die Argumentation noch etwas klarer zu fassen: Karuscheit und ich haben den Charakter des aktuellen Krieges nicht aus der „Schrift“ abgeleitet, sondern aus den Widersprüchen zwischen den Großmächten und ihrem Versuch, diese Widersprüche durch einen imperialistischen Krieg zu lösen, der nach dem Willen der USA ganz nebenbei auch noch die deutsch-französische Vorherrschaft über die EU beseitigen soll. Wer diesen Ansatz für falsch hält, mag ihn kritisieren – und wird in uns interessierte Diskutanten finden – aber bitte anhand von Tatsachen und nicht von Lenin-Zitaten.

Der endlos „sterbende Kapitalismus“ der ökonomischen Imperialismustheorie

Der Genosse H. hat Lenin und seiner in der Linken so beliebten Imperialismusschrift einen „Bärendienst“ erwiesen, indem er gerade die oben zitierte Textstelle aus dem „Werkzeugkasten“ ans Licht geholt hat. Das Anliegen des Genossen liegt auf der Hand. Er möchte darauf hinweisen, dass der Imperialismus und seine jeweilige Kolonialpolitik nur dann richtig zu beurteilen sei, wenn man „den radikalen Unterschied zwischen den ökonomischen Gesellschaftsformationen“ – so das Lenin Zitat – herausarbeitet. Und Lenin geht davon aus, dass die Großmächte sich seit der Jahrhundertwende im Zeitalter des Imperialismus befinden, den er in seiner Schrift folgendermaßen definierte:

„Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole.“ (LW 22, S. 302) Und weiter: „Wir haben gesehen, dass der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol … bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsform. …“ (S. 304) „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus, oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.“ (S. 307)

Nun stirbt dieser ökonomisch hergeleitete Imperialismus schon deutlich länger als wir leben. Und doch erfreut er sich mit den Überfällen auf Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Syrien, Ukraine etc. – um nur die letzten Jahrzehnte anzuführen – ungebrochener Vitalität. Wäre es deshalb nicht an der Zeit, mit dieser ökonomistischen Verengung der Imperialismustheorie zu brechen, die ja augenscheinlich durch die Entwicklung der vergangenen hundert Jahre widerlegt wurde? Während der Imperialismus als politische Triebkraft der Großmächte fortexistiert, ist die ökonomische Imperialismustheorie der II. Internationale (und dazu gehört auch die Leninsche Spielart dieser Theorie) sowohl theoretisch widerlegt als auch politisch gescheitert.

Dazu die eine oder andere mit Fakten belegte Kritik aus der bürgerlichen Forschung zum Zusammenhang von Imperialismus, Kolonialismus (und seinen Formen) sowie dem vom „Finanzkapital“ betriebenen Kapitalexport. Ich werde hier weitgehend unkommentiert mit einigen Zitaten einen kurzen Einblick in den Stand der Forschung zu diesem Thema geben. Man muss diese Kritik nicht teilen, aber in der Sache sollte man dann in der Lage sein, die angeführten Argumente widerlegen zu können.

Zur Ehrenrettung von Hobson, Hilferding und Lenin sei vorweg darauf hingewiesen, dass den genannten Autoren die deutlich nach ihren Veröffentlichungen zusammengetragenen Daten nicht bekannt waren. Für die heutigen Verfechter der ökonomischen Imperialismustheorie ist diese Entschuldigung natürlich nicht mehr gegeben.

Monopolkapitalismus, Finanzkapital und Kolonien

„Bei der Verifizierung dieser These vom Zusammenhang zwischen Kapitalexport und Imperialismus anhand der historischen Tatsachen erweist sich ihre Schlüssigkeit sowohl aus chronologischen wie auch aus geographischen Gründen rasch als brüchig. Der russische, italienische und japanische Imperialismus lassen sich durch die Notwendigkeit von Kapitalexport überhaupt nicht erklären, denn diese Länder hatten keinerlei überflüssiges Kapital zu exportieren, sondern mussten es vielmehr aus den westeuropäischen Ländern importieren. Die Bildung von Finanzkapital datiert Lenin auf die Zeit nach 1900; die deutschen Kolonien wurden aber fast ausschließlich in den beiden Jahrzehnten vor 1900 erworben.“ (und nicht nur die deutschen; A.S.)
„Im Falle Frankreichs und Englands kann von der Herausbildung eines Monopolkapitalismus in nennenswertem Umfang nicht die Rede sein. Alle drei Länder investierten ihr Auslandskapital, wie wir heute ziemlich genau wissen, nur zu einem Bruchteil in den eigenen Kolonien, zum ganz überwiegenden Teil in nichtkolonialen Gebieten: Deutschland in Österreich und der Türkei; Frankreich in der Türkei, auf dem Balkan, der Pyrenäen-Halbinsel und vor allem in Russland; England in seinen älteren Dominions, in den USA, in Argentinien und in China.
Der Anteil der deutschen Investitionen in den deutschen Kolonien an den gesamten Auslandsinvestitionen Deutschlands liegt, … für den Zeitraum bis 1914 bei 3,8 Prozent; Frankreich exportierte 1900 5,3 Prozent seines Auslandskapitals in seine Kolonien, 1914 8,8 Prozent; England platzierte 1913 47 Prozent seiner Auslandsinvestitionen im Empire, aber mit Einschluss der Dominions, die den Hauptteil absorbierten.“ (Winfried Baumgart: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890-1914, 4. Auflage 1982, S. 36)

„Auch was die weiteren ökonomischen Argumente angeht, die vor allem von den Führern der damaligen Kolonialbewegung und -agitation für den Erwerb von überseeischen Territorien ins Feld geführt wurden, dass die Kolonien nämlich Rohstoffquellen und Absatzmärkte seien“ (siehe dazu auch Lenin, Bd. 22, S. 264-265; A.S.) „oder in Zukunft zu solchen sich entwickeln würden, so erweisen sie sich bei ihrer Gegenüberstellung mit den Tatsachen in fast allen Fällen als propagandistische Verbrämung, als nachträgliche Rechtfertigung, als Zukunftsträume oder als Selbsttäuschung. … Für die deutsche Schwerindustrie waren die Schutzgebiete in Afrika ‚Kolonialreiche, die im Monde liegen‘; der Kohleindustrielle Emil Kirdorf wollte die deutsche Afrikapolitik auch nicht mit ‚einer Tonne Kohle‘ stützen. …
Der Anteil des Kolonialhandels am Gesamtaußenhandel fiel bei den drei Ländern Deutschland, England und Frankreich stets recht bescheiden aus, von den anderen Mächten ganz zu schweigen. In Deutschland hat er bis zum Weltkrieg nie den lächerlichen Satz von 0,5 Prozent überschritten …“ Winfried Baumgart: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890-1914, 4. Auflage 1982, S. 36-37)

„Was den Prozess der Finanzkapitalausbildung angeht, so ist er wieder nur auf Deutschland einigermaßen zutreffend. In Frankreich kam es gerade nicht zur Fusion von Industrie- und Bankkapital. Das Industriekapital hielt sich unabhängig von den Großbanken und wurde von der Industrie zu Eigeninvestitionen, kaum zum Export eingesetzt.“ (Winfried Baumgart: Der Imperialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880-1914. Wiesbaden 1975, S. 78)

„In Frankreich gingen Warenausfuhr und Kapitalausfuhr eigene Wege. So war Russland vor dem Kriege der größte Schuldner Frankreichs, aber nur sein zehntbester Handelspartner. Auf dem Balkan wurde das von Frankreich bereitgestellte Kapital zum Waffenkauf in Deutschland verwendet. Lenin scheint fälschlich gerade Frankreich als bestes Beispiel für die Verknüpfung von Kapitalanleihen und Handelsgeschäften anzusehen, wenn er sagt: ‚Der Kapitalexport wird (für Frankreich) zu einem Mittel, den Warenexport zu fördern.‘ (siehe LW Bd. 22, S. 248; A.S.) Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Auch in England ist es zu einer Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital nicht gekommen. Auch hier benutzte die Industrie ihr Kapital zur Re-Investition …“ (Winfried Baumgart: Der Imperialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880-1914. Wiesbaden 1975, S. 78-79)

Soweit die heute bekannten Fakten zur ökonomischen Imperialismustheorie. Sie ist nicht nur praktisch-politisch gescheitert – durch die Fortexistenz eines quicklebendigen Imperialismus der Großmächte, obwohl derselbe laut dieser Theorie seit über 100 Jahren auf dem Sterbebett liegt und mit dem Tode ringt. Ebenso ist sie theoretisch durch eine gründliche Untersuchung der ökonomischen und politischen Fakten von der bürgerlichen Kritik widerlegt worden.

Exegese und eine Frage an den Genossen H.

Zum Schluss einige Anmerkungen zum besagten Lenin-Zitat, das der Genosse H. gerne gründlicher durchdacht hätte. Dort heißt es: „Selbst die kapitalistische Kolonialpolitik der früheren Stadien des Kapitalismus unterscheidet sich wesentlich von der Kolonialpolitik des Finanzkapitals“. (Lenin, LW 22, S. 264) Da der Genosse uns keine weiteren Hinweise gibt, was uns das sagen soll, macht es Sinn, einen Blick auf die Kolonialpolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu werfen, um zu verstehen, was Lenin mit diesen Sätzen gemeint haben könnte.

Einige Seiten vor obigem Zitat schreibt Lenin selbst zu diesem Thema: „In seinem Werk über den Imperialismus hebt Hobson die Periode von 1884 – 1900 als Periode verstärkter ‚Expansion‘ der wichtigsten europäischen Staaten hervor. Seiner Berechnung nach erwarb England während dieser Zeit 3,7 Millionen Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 57 Mill.; Frankreich 3,6 Mill. Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 36,5 Mill.; Deutschland 1 Mill. Quadratmeilen mit 14,7 Mill.; Belgien 900.000 Quadratmeilen mit 30 Mill. Und Portugal 800.000 Quadratmeilen mit 9 Mill Einwohnern. Die Jagd aller kapitalistischen Staaten nach Kolonien gegen Ende der 19. Jahrhunderts und besonders seit den achtziger Jahren ist eine allbekannte Tatsache in der Geschichte der Diplomatie und der Außenpolitik.“ (LW 22, S. 260)

War die Kolonialpolitik vor den 80er Jahren des 19. Jahrhundert geprägt von Handelsstützpunkten und Siedlungskolonien, begann zu diesem Zeitpunkt die territoriale Aufteilung und Besetzung der Länder Afrikas und Polynesiens. Hierzu Lenin: „Wir haben bereits gesehen, dass die Periode der höchsten Entwicklung des vormonopolistischen Kapitalismus mit vorwiegend freier Konkurrenz, in die sechziger und siebziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts fällt. Jetzt sehen wir, dass gerade nach dieser Periode ein ungeheurer Aufschwung der kolonialen Eroberungen beginnt …“ (Ebenda)

Und zur Abrundung dieser Darstellung auch noch eine bürgerliche Quelle: „Während … noch Mitte der achtziger Jahre von der Konsolidierung des bestehenden Empires (gesprochen wurde), hatte die weltpolitische Entwicklung dieses Programm und damit den Begriff des ‚true‘ imperialism bereits ausgehöhlt: ‚Das Zeitalter des Imperialismus‘ hatte begonnen. Die fast ausschließlich äußeren, politischen und sozialen Faktoren, die es zunächst bestimmen, wirken sich begriffsgeschichtlich erst sehr viel später aus. … Frankreich kompensierte seine Verluste in Europa (1870/71) durch eine erhebliche Ausdehnung seines Kolonialbesitzes. Es annektierte 1881 Tunis, 1883-85 Annam und Tongking, 1885 Madagaskar, 1893 Laos. Damit war der Wettlauf nach den noch „freien“ Teilen der Erde entfesselt, an dem sich das Deutsche Reich nach anfänglichem Zögern beteiligte: 1884 Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun, im Pazifik Kaiser-Wilhelm-Land und Bismarck-Archipel; 1885 Deutsch-Ostafrika, 1898 Kiautschou, 1899 die Marianen-, Karolinen- und Palau-Inseln.
Nun ging auch England wieder zu einer zielbewussten Annexionspolitik über: Nachdem es schon 1882 Ägypten besetzt hatte, sicherte es sich 1884 Britisch-Neuguinea, Somaliland, einen Teil von Nigeria und durch Rhodes Initiative Betschuanaland, 1889/90 das Maschona- und Matabelland (die drei letztgenannten Gebiete seit 1895 als ‚Rhodesia‘ zusammengefasst, zu dem 1898 noch das Barotseland geschlagen wurde). England (wie auch Deutschland) wurde durch private, nicht durch staatliche Initiative in diesen Wettlauf engagiert; wenn auch, nachdem er einmal in Gang war, der Staat mehr und mehr die Leitung der Expansion übernahm.“ (Hans Werner Kettenbach: Lenins Theorie des Imperialismus, Köln 1965, S. 62 – 63)

Die Schlussfolgerung, die wir aus diesen Quellen ziehen können, ist eindeutig: Die Kolonialpolitik des Kapitalismus endete in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Danach begann bei Lenin die Kolonialpolitik des „Imperialismus“ und des „Finanzkapitals“, in der bürgerlichen Geschichtsschreibung das „Zeitalters des Imperialismus“. Ausgangspunkt ist in beiden Fällen eine tatsächliche Veränderung in der Kolonialpolitik der Großmächte, die die territoriale Besitzergreifung Afrikas und Ozeaniens beinhaltet.

Nun steht aber in der „Schrift“ wörtlich: „Das 20. Jahrhundert ist also der Wendepunkt vom alten zum neuen Kapitalismus, von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zur Herrschaft des Finanzkapitals.“ (LW 22, S. 229) Wie erklärt der Genosse H. diese erstaunliche Differenz? Die Kolonialpolitik ändert sich bei den Großmächten – sowohl nach Lenin als auch in der Wirklichkeit – ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Das „Finanzkapital“ und der „kapitalistische Imperialismus“, die vermeintliche Ursache dieser neuen Kolonialpolitik in der ökonomischen Imperialismustheorie bei Lenin, entstehen aber erst 20 Jahre später, nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die These, dass es das Finanzkapital war, welches diese Veränderung bewirkt habe, steht im offensichtlichen Widerspruch zu Lenins Argumentation, die das Finanzkapital erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen lässt. Seine Theorie kann die Änderung der Kolonialpolitik ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts nicht erklären. Dieses Problem ist dem Genossen H. bei seinem Nachdenken über das von ihm herausgesuchte Lenin-Zitat gar nicht aufgefallen.

 

Hinweis zum Nachdenken

Da es mir nicht um Textexegese, sondern um Erkenntnisgewinn geht, möchte ich zum Abschluss einige Hinweise geben, wie das „Zeitalter des Imperialismus“ aus den Widersprüchen zwischen den Klassen in den damaligen imperialen Großmächten erklärt werden kann. Dazu stelle ich hier einen bisher unveröffentlichten Text aus dem Jahr 2006 vor. Damals fand, organisiert von der AzD-Redaktion, ein Imperialismus-Seminar statt (mit Bericht in der AzD Nr. 76) wo ich zum Thema Imperialismustheorie referierte. Mein Referat von damals liegt heute nur noch als schriftliche Zitatensammlung zum Thema und nicht mehr als vollständige Text-Datei vor. Das Fazit meines damaligen Referates – so wie es mir noch vorliegt – stelle ich an den Schluss dieses Textes. Die Sätze sind nicht vollständig ausformuliert (da Referat), die inhaltlichen Positionen aber deutlich erkennbar. Sie spiegeln nicht mehr im Einzelnen meine heutigen Auffassungen zum Thema wider, zeigen aber die Richtung an, in der ich weiterhin eine Erklärung für das „Zeitalter des Imperialismus“ zu finden meine.
Vielleicht ist das ein Ansatz zum „Nachdenken“ – nicht über ein einzelnes Leninzitat, sondern über die tatsächliche Geschichte.

„Thesen zum Imperialismus“ – 2006 – Fazit des Referates

    1. Sowohl in der marxistischen Theorie und Politik (zur marxistischen Unklarheit siehe die entsprechenden Kautsky-Zitate), als auch in der bürgerlichen Wissenschaft und Politik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts keine einheitliche Definition dessen, was denn Imperialismus sei.
      Inflationärer Gebrauch des Begriffes „Imperialismus“ – ohne dass eine einheitliche Füllung des Begriffs gegeben war. Bedeutsam aber, dass „die Überzeugung, dass die nationale Wirtschaft kolonialer Dependancen bedürfe, bald Allgemeingut der bürgerlichen Schichten aller Industrienationen (wurde) und keineswegs nur als Resultat interessenpolitischer Agitation der jeweils betroffenen Unternehmensgruppen gelten kann). Allein, es ist charakteristisch, dass die Auffassungen fast nirgends einer wirklichen Überprüfung unterworfen wurden“ (Mommsen). Gebrauch wie heute der Begriff Globalisierung – als Kampfparole bestimmter sozialer Gruppen?
      Unklarheiten über diesen Begriff auch bei Marxisten (siehe Kautskys Schilderung). Vereinheitlichung dann ab 1917 mit Lenins Schrift, die aber völlig andere Absicht hat: dabei „handelt es sich primär um eine polemische Kampfschrift von nur begrenzt theoretischem Niveau, die sich insbesondere gegen die sozialchauvinistischen Tendenzen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie richtete, darüber hinaus aber auf ihre Weise die Frage zu beantworten suchte, weshalb die Revolution in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Gesellschaften ausgeblieben sei.“ (Mommsen) M.E. Versuch der ökonomischen Begründung für den „Verrat“ der SD und der ihr folgenden Arbeiterschichten.
    1. Jede direkt ökonomistische Imperialismustheorie (Finanzkapital Handelskapital, Industriekapital oder diverse Bündnisse derselben) muss verworfen werden. Motive wie gesellschaftliche Umsetzbarkeit sind nicht nachweisbar. Keine Rohstoffabhängigkeit, noch nach Anlagemöglichkeiten suchendes Kapital als Triebkraft für koloniale Annexion nachweisbar. Sicherung des Absatzmarktes für England wird von Hobsbawm behauptet, aber auch hier vielfach ins informelle Empire.
    1. Das Phänomen des „Imperialismus“ muss für die drei Hauptprotagonisten – England, Deutschland, Frankreich – jeweils konkret untersucht Eventuell ist eine Betrachtung der Sonderfälle USA und Japan nötig. Das deutsche Kaiserreich betreibt keine „imperiale“ oder „imperialistische“ Politik. Wehler bemerkt zurecht, dass für das deutsche Kaiserreich beispielsweise von „Bismarcks Kolonialpolitik“ bis 1890 und anschließend von „Flotten- und Weltpolitik“ gesprochen wird. Möglicherweise in England – dem Ausgangspunkt der Imperialismus-Idee – der Inhalt des Imperialismusbegriffs etwas klarer: Angliederung bzw. Verschmelzung ausländischer (überseeischer) Territorien an das Mutterland, um den Bedeutungsverlust Englands gegenüber den Kolonialmächten zu kompensieren (bedingt durch Eisenbahn gegen Schifffahrt). Dies aber nie beherrschender Inhalt der englischen Politik, sondern letztlich nur die Sicherung Indiens.
    1. Welche Gemeinsamkeiten weisen bei allen Unterschieden die entsprechenden Staaten auf:
      1. Abwendung vom Liberalismus in der Wirtschaftspolitik und Hinwendung zum Interventionsstaat, mit Protektionismus (Deutschland, Frankreich?) Wachsende Rolle des Staates im politischen und wirtschaftlichen Geschehen. Hier stellt sich die Frage warum? Wächst dieses Bedürfnis hauptseitig aus der Produktion oder hauptseitig aus den anwachsenden gesellschaftlichen Widersprüchen?
      2. Hereindrängen der Massen in die Politik, Ausdehnung oder verstärkte Ausnutzung des Wahlrechts. („politischer Massenmarkt“)
      3. Anwachsen der sozialistischen Strömungen in der Industriearbeiterschaft und außerhalb Deutschlands auch im Kleinbürgertum.
      4. Dies legt nahe, in der Ideologie des Imperialismus (insbesondere da er sich politisch mit Nationalismus und Kolonialismus vermengt), ein Instrument zur Einbindung der Mittelschichten und besser gestellten Teilen der Arbeiterklasse in die Hegemonie der herrschenden Schichten (Grundbesitz und Schwerindustrie) zu sehen. Diese Ideologie ist allerdings für die entscheidenden Fragen der Außenpolitik ohne Bedeutung, sie ist ein Instrument der Innenpolitik, das auf die Außenpolitik zurückwirkt, sie aber nicht bestimmt. …“

Zum Schluss meines Referates folgende Feststellung zum Kaiserreich:
„In Deutschland speziell ist der Imperialismus historisch ein Kampfbegriff von Teilen der Bourgeoisie und des intellektuellen Kleinbürgertums (Max Weber, Naumann etc.) zur „Modernisierung“ der Gesellschaft in ihrem Sinne: Machtgewinn im Staate ohne Entmachtung der Junker, ohne Erkämpfung des Parlamentarismus, ohne Demokratisierung der Gesellschaft, also gegen die sich entwickelnde Arbeiterschaft. Der „Imperialismus“ und die Flottenpolitik ist ihr Panier zur Erschleichung der Macht ohne eigenständiges gesellschaftspolitisches Programm und ohne Klassenkampf. Der Marxismus der II. Internationale hat ihre Phrasen gefressen und nichts begriffen.“

April 2023