Landvolk, Blut und Boden
Die Geschichtsschreibung hat sich ausführlich mit dem Aufstieg der NSDAP in Deutschland befaßt. Viele Autoren neigen dazu, schwerpunktmäßig Hitlers persönliche Karriere und damit seine Beziehungen zu den Eliten der Republik und die Politik hinter den Kulissen zu beleuchten. Gerade die Historiker der DDR stellten den Siegeszug der NSDAP als geplante Inszenierung des Kapitals aus dem Hinterzimmer dar. Vergessen sollte man aber nicht, daß die NSDAP auf legalem Weg an die Macht kam. Eine Machtübertragung war in einem parlamentarischen System nur mit Unterstützung der Massen möglich. Wie gelang es aber der NSDAP, Millionen Deutsche für ihr Programm zu gewinnen und zur wählerstärksten Partei zu werden?
Der Wandel der NSDAP von einer kleinen Sekte zur Massenpartei bei den Septemberwahlen 1930 erfolgte relativ schlagartig, aber regional sehr unterschiedlich. Von 2,6 % bei den Wahlen 1928 folgte der riesige Zuwachs auf 18,3 % zwei Jahre später. Die Grundlage für den Erfolg bildete im wesentlichen die Gewinnung der nord- und westdeutschen Klein- und Mittelbauern sowie von Teilen des städtischen Kleinbürgertums.
Die Agrarkrise, die schließlich die Existenz der Bauernschaft bedrohte, war der Grund für ihre Radikalisierung nach rechts. Das bäuerliche Einkommen ging 1929 sogar um 40 % zurück und schon vor der großen Krise wurden von 1924 bis 1928 800.000 ha zwangsversteigert. [1] Die SA und andere Parteieinheiten schickte die Führung schwerpunktmäßig zur Agitation auf das Land. [2] Der Erfolg blieb nicht aus. Vom Land aus trat die NSDAP ihren Siegeszug an. Bei den besagten Wahlen 1930 erhielt die Partei auf dem Land 23 % mehr Stimmen als im Reichsdurchschnitt. 1932 waren es sogar 28 %. [3] Der Schwerpunkt des Erfolges lag nördlich des Mains. In Preußen hatte der von den Junkern geführte Reichslandbund und die DNVP 1930 den alten Mittelstand noch fest in der Hand. Auch in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg sahen diese Schichten noch in der Bayerischen Volkspartei oder im Zentrum ihre Vertretung. Nur in Franken mit seiner ärmeren Landbevölkerung konnten die Nazis Erfolge verbuchen. [4] Anders sah es in den protestantischen Regionen Norddeutschlands aus, die besonders von der Agrarkrise betroffen waren. „In Schleswig-Holstein und in einigen Gegenden Niedersachsens vermochte sie sich seit 1929 auf dem flachen Land eine monopolartige Stellung aufzubauen, so daß alsbald in dörflichen und in großen Teilen der kleinstädtischen Kommunalverwaltungen die Vertreter der NSDAP über erdrückende Mehrheiten verfügten.“ [5]
Die Eroberung der Landvolkbewegung Schleswig-Holsteins durch die Nationalsozialisten soll hier als exemplarisches Beispiel gelten: Schleswig-Holstein war sehr landwirtschaftlich geprägt und die Klein- und Mittelbauern stellten die Mehrheit der Bauernschaft. Ursprünglich tendierten diese Bauern keinesfalls nach rechts. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) genoß große Unterstützung nach der Novemberrevolution. In den ländlichen Gemeinden erhielt sie 1919 25,8 % der Stimmen. [6] Auch die SPD schnitt durch die Unterstützung der Städte und Landarbeiter bei den Wahlen gut ab. Das Bild änderte sich mit der Agrarkrise, der die Bauernschaft hier ohne jede staatlichen Subventionen ausgeliefert war. In Folge dessen formierte sich spontan und ohne parteilichen Einfluß die Landvolkbewegung. Unter dem Symbol der schwarzen Fahne mit silbernem Pflug und rotem Schwert mobilisierte der „Bauernführer“ Claus Heim über Hunderttausend Bauern zu Demonstrationen. Es folgten Bombenanschläge auf Finanzämter und Verwaltungsgebäude, sowie ein Steuerboykott, den viele unterstützten. Die Landvolkbewegung forderte z. B. „Nahrungsmittelfreiheit vom Ausland“, sofortige Übernahme aller Schuldzinsen durch das Reich, Zinssenkungen und höhere Agrarzölle und Preise. [7]
Zuerst stand die Parteiführung der NSDAP dieser Bewegung feindlich gegenüber. Eine parteiamtliche Veröffentlichung drohte allen Parteimitgliedern den Ausschluß an, die Verbindungen zur Landvolkbewegung unterhielten. [8] Walter Darré, Blut- und Boden-Fanatiker der NSDAP, leitete 1930 die Wende ein. Die Forderungen des „Landvolks“ übernahm man einfach und die Partei konzentrierte die Agitation auf die Hauptunruhegebiete. [9] Die NSDAP eroberte in Folge ein Dorf nach dem anderen und drang sogar in die sozialdemokratische Landarbeiterschaft ein. Im September 1930 erhielt die NSDAP in Schleswig-Holstein 27 % und lag hier 9 % über dem Reichsdurchschnitt. 1932 bekam die Partei mit 52 % die absolute Mehrheit und steigerte sich 1933 noch auf 53,9 %.
Bei den Parteimitgliedern spiegelte sich der ländliche Schwerpunkt wieder. Von den Mitgliedern, die der Partei von 1925 bis 1929 beitraten, wohnten 42,6 % auf dem Land, 28,4 % in Klein- und 28,9 % in Großstädten. [10] Die NSDAP blieb bis zur Machtübernahme im wesentlichen eine Partei der Bauernschaft und des städtischen Mittelstandes. Die Anziehungskraft auf die Arbeiterklasse war anfänglich sehr gering. „Vor dem politischen Durchbruch der NSDAP am 14. September 1930 gab es in der NSDAP 33.944 Arbeiter und 3586 Freiberufler, aber 52.044 Angehörige des alten und neuen Mittelstandes (Handwerker, kleine Gewerbetreibende, Angestellte). Rechnet man Bauern und Beamte hinzu, steigt dessen Zahl auf 79.240 oder 61,0 % – gegenüber 26,3 % Arbeitern und 2,8 % freien Berufen (…) Berücksichtigt man noch die vor 1930 in der NSDAP aktiven politischen Leiter (Funktionäre), nahm der Mittelstand 73,0 % ein, gegenüber 18,5 % Arbeitern und 2,3 % freiberuflich Tätigen.“ [11]
Mit der Agrarkrise 1928 verschärfte sich auch der Gegensatz zwischen den Kleinbauern und den Großgrundbesitzern. Die staatlichen Subventionen in Form der Osthilfe kamen dem von Großbetrieben geprägten Preußen zu Gute, während die anderen Gegenden leer ausgingen. Der „Agrarpolitische Apparat“ der NSDAP unter Leitung von Walter Darré begann diesen Unmut aufzugreifen und unterwanderte die Bauernverbände. Schon 1931 übernahmen die Nazis den von den Junkern geführten Reichslandbund, der dann 1932 eine Wahlempfehlung für Hitler anstatt für Hindenburg zum Reichspräsidenten ausgab.
Die regionalen Hochburgen der Partei veränderten sich in der ersten Zeit nach der Machtübertragung nicht. Im März 1933 gelang es der NSDAP nur in ländlichen Gebieten, die absolute Mehrheit zu bekommen. Die städtische Arbeiterschaft blieb ihren Parteien treu, während die meisten Katholiken noch Zentrum wählten. Zum Beispiel im katholischen Eichsfeld kam die NSDAP nur auf 24 %. Wie war dieser Hang der Kleinunternehmer und Bauern zum Nationalsozialismus zu erklären?
Blut und Boden – die nationalsozialistische Programmatik
Die nationalsozialistische Programmatik richtete sich gegen die Erscheinungen der modernen Industriegesellschaft. Die Industrialisierung hatte die Verringerung des Kleinbürgertums in Stadt und Land eingeleitet. Gerade die Wirtschaftskrisen trafen die Kleinunternehmer hart. Die Bauern, Handwerker und Kleinhändler litten zum einem unter dem Klassenkampf des industriellen Proletariats. Auf Grund ihrer geringen wirtschaftlichen Spielräume setzten sie den Lohn- und Arbeitszeitforderungen der Arbeiterbewegung Widerstand entgegen. Bei einer sozialistischen Machtübernahme fürchteten sie ihre Enteignung. Der Antimarxismus bildete ein wichtiges Element der nationalsozialistischen Propaganda.
Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich für das Kleinbürgertum durch die mächtige Konkurrenz der Warenhäuser und Großkonzerne. Wie die Kleinbauern gerieten auch die Handwerker oft in Abhängigkeit zu ihren Schuldnern, den Banken. Somit richtete sich die nationalsozialistische Bewegung sowohl gegen die organisierte Arbeiterbewegung als auch gegen den Liberalismus des Großkapitals. Mit beiden Erscheinungen der Moderne verbanden die Nazis das Judentum.
Hitler wollte nicht durch die Verstaatlichung der Großindustrie und Banken den Mittelstand retten, sondern das Rad der Geschichte zurückdrehen. Durch einen Krieg zur „Schaffung von neuem Lebensraum“ im Osten sollte sich die Bedeutung der modernen Industrie im Verhältnis zur Landwirtschaft verringern und Bauernschaft und Mittelstand die Grundlage der Wirtschaft bilden. Durch diesen Siedlungskrieg sollte die „Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation“ geschaffen werden. Hitler entwarf eine reaktionäre Agrarutopie: „Viele unserer heutigen Leiden sind nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Land- und Stadtvolk. Ein fester Stock kleinerer und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen… Industrie und Handel treten von ihrer ungesunden führenden Stellung zurück und gliedern sich in den allgemeinen Rahmen einer nationalen Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft ein. Beide sind nicht mehr Grundlage der Ernährung der Nation, sondern ein Hilfsmittel derselben.“ [12] Dieses Konzept hatte auch eine rassenpolitische Komponente. Nur durch die „Verwurzelung in Blut und Boden“ sahen die Nazis die Reinheit der arischen Rasse gesichert, da die Großstädte in ihren Augen den Hort allen Übels darstellten.
Auch wenn solche reaktionären Mittelstandsutopien in Deutschland der 20er Jahre verankert waren, so reichten sie doch nicht aus, die Massen zu gewinnen. Nur durch ein Anknüpfen an ihre konkreten sozialen Interessen konnten die Nazis Millionen in ihren Bann ziehen. Das Programm von 1920 spielte dabei eine geringe Rolle. Zur Agrarfrage forderte das 25-Punkte-Programm eine den „nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke, Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation“. [13] Hitler revidierte diesen Punkt 1927. Die unentgeltliche Enteignung richte sich „in erster Linie gegen die jüdischen Grundspekulationsgesellschaften“. [14] Die Nazis hatten, wie gesagt, ja auch gar nicht vor, die sozialen Probleme über die Eigentumsfrage zu lösen.
Das eigentliche Agrarprogramm war die „Parteiamtliche Kundgebung über die Stellung der NSDAP zum Landvolk und zur Landwirtschaft“ von 1930 und stellte konkrete Forderungen auf. Die Bedeutung der Bauernschaft als „Hauptträger völkischer Erbgesundheit, den Jungbrunnen des Volkes und Rückgrat der Wehrkraft“ unterstrich man erneut. [15] Bei der Eigentumsfrage legte man sich nicht genau fest: „Bezüglich der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe kann es keine schematische Regelung geben. (…) Daneben erfüllt auch der Großbetrieb seine besondere Notwendigkeit und ist im gesunden Verhältnis zum Mittel- und Kleinbetrieb berechtigt.“ [16] Statt der Bodenreform wurde, wie in „Mein Kampf“, zur Lösung der Agrarfrage die Siedlung im Osten vorgeschlagen. „Ernährungs- und Siedlungsraum im großen für das wachsende deutsche Volk zu schaffen, ist Aufgabe der deutschen Außenpolitik.“ [17] Als konkrete Forderung wurde ein Verbot der Verpfändung an private Kreditgeber verlangt. Den landwirtschaftlichen Kreditverkehr sollte an deren Stelle der Staat regeln. Das Programm knüpfte auch an die alten Forderungen nach einem Ahnenrecht an, die der Bauerntümler und Nationalist Ernst Moritz Arndt schon im 19. Jahrhundert aufstellte. [18] „Das Erbrecht an Grund und Boden ist durch ein Ahnenerbrecht so zu regeln, daß eine Zersplitterung des Landbesitzes und eine Schuldenbelastung des Betriebes vermieden wird.“ [19] Nur ein Sohn sollte als Erbe in Frage kommen. Außerdem forderte man staatlichen Schutz gegenüber dem Großhandel: „Der Staat hat durch seine Wirtschaftspolitik dafür zu sorgen, daß die landwirtschaftliche Erzeugung sich wieder lohnt. Die Preisgestaltung für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse muß der börsenmäßigen Spekulation entzogen und die Ausbeutung der Landwirte durch den Großhandel unterbunden werden.“ [20] Diese Forderungen waren in der Bauernschaft populär. Sie liefen im Kern auf einen Punkt hinaus: Wider allen Gesetzmäßigkeiten der industriellen Entwicklung die Kleinproduktion in möglichst großem Umfang am Leben zu erhalten. Das Programm der Nazis stellte also ein reaktionäres Bauernschutzprogramm dar. An die Macht gelangt, führten sie ihre Forderungen von 1930 fast buchstabengetreu durch.
Neben tagespolitischen Forderungen entwickelte Walter Darré schon früh die Blut- und Bodenkonzeption. Aus der Bauernschaft wollte er die neue Führungselite Deutschlands bilden. In seinem Buch 1930 „Neuadel aus Blut und Boden“ richtete er sich gegen die alte Elite, die versagt habe und rassisch „verseucht“ wäre. Die antijunkerliche Stoßrichtung Darrés wurde deutlich. „Soviel ist sicher: Adel in dem Sinn, wie ihn die Zeit des kaiserlichen Deutschlands vor 1918 kannte, wird im Dritten Reich keinen Platz finden.“ [21] Der neue Adel sollte aus einer rassischen und politischen Auslese der Bauernschaft entstehen. Auch Hitler verfaßte in „Mein Kampf“ ähnliche Thesen. [22] Mit der Gründung der SS als Eliteorganisation des „Dritten Reiches“ sollte später dieses Projekt in Angriff genommen werden.
Die SA und NSBO
Das deutsche Handwerk war in der Weimarer Republik noch fest in vorindustrielle Strukturen eingebunden. Die Zwangsinnungen dominierten, der freie Markt war noch weit entfernt. Noch 1926 gehörten 4 von 5 Innungsmitgliedern der Zwangsinnung an. [23] Eine politische Interessenvertretung suchte der städtische Mittelstand vom Beginn der Weimarer Republik vergeblich. Der „Stinnes-Legien-Pakt“, die Zusammenarbeit der Schwerindustrie und des ADGB, hatte den Spielraum für eine mittelstandsfreundliche Politik enorm eingeschränkt. Mit dem „Mittelstandsprotektionismus“ des Kaiserreiches war nun Schluß. Auf der Suche nach Rettung wanderte die Mehrheit des Mittelstandes immer weiter nach rechts. Von der DDP zur DVP und schließlich zur DNVP ging die Wählerwanderung, doch keine dieser Parteien konnte diese Massen lange binden. Die Arbeiterparteien, SPD und KPD, schenkten dem Kleinbürgertum keine große Aufmerksamkeit und hatten deshalb programmatisch nichts zu bieten.
In der Wirtschaftskrise drohte diesen Schichten die „Proletarisierung“. Tausende von ihnen mußten ihren Betrieb aufgeben. Auch hier erhoben die Nazis ein Programm zum Schutz der Kleinproduktion gegen die Großen und die Arbeiterbewegung und konnten die politisch „heimatlosen“ Massen gewinnen. Dieses kleinbürgerliche Programm konstruierte den Gegensatz zwischen „schaffendem und raffendem Kapital“. Unter dem ersten verstand man die „fleißig arbeitenden“ Eigentümer der Produktion, während unter den zweiten Begriff die Unternehmer aus dem Spekulations- und Finanzsektor fielen. Das Privateigentum als solches stand damit nicht zur Disposition.
Die beiden nationalsozialistischen Organisationen „Kampfbund gegen Warenhäuser und Konsumvereine“ und „Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand“ machten Front gegen die angeblich jüdischen Großketten und die Arbeiterparteien. Für Mitglieder erließ die NSDAP sogar ein Verbot, in Warenhäusern zu kaufen.
Die SA entwickelte sich zum Sturmtrupp des Kleinbürgertums. Sie war ein „Zusammenschluß von vorwiegend Jugendlichen und jüngeren Männern, die zum geringeren Teil aus der Arbeiterschaft stammten und zum größeren Teil der Proletarisierung zusteuernde Angehörige der Mittelschichten waren“. [24] Die Stärke der „Sturmabteilung“ schnellte von 118.982 Mann im April 1931 auf 445.000 im Sommer des nächsten Jahres. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme waren es schon 700.000. [25] Interessant war dabei die Tatsache, daß nur ein Viertel der SA-Mitglieder auch die Mitgliedschaft in der NSDAP innehatten. [26] In immer mehr Städten eroberte die braune Massenarmee mit brutaler Gewalt die Hegemonie über die Straße und verdrängte die politischen Gegner von der Bildfläche.
Erst einige Jahre nach der Machtübernahme gelang es der NSDAP, die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse zu erobern. Gerade die Industriearbeiterschaft folgte zum Ende der 20er Jahre noch ihren Parteien, der SPD und KPD. Beide Arbeiterparteien standen den Nazis feindlich gegenüber und sahen sie als Prügeltruppe des Kapitals. Um diesen Zustand zu überwinden, gründete die Parteiführung die Nationalsozialistische Betriebsorganisation (NSBO). Ursprünglich sollte die NSBO nur als agitatorischer Stoßtrupp auftreten, sich aber nicht an Streiks beteiligen. In der Praxis stellte sich dieser Vorsatz als unhaltbar heraus. Wie die anderen Gewerkschaften nahm Anfang der 30er Jahre auch die NSBO an Arbeitskämpfen teil. So nutzte z. B. Goebbels beim Berliner Verkehrsarbeiter-Streik 1932 geschickt das Einknicken der sozialdemokratischen Gewerkschaftsführung aus und ließ die NSBO gemeinsam mit den Kommunisten weiter streiken, um sich als wahrer Vertreter der Interessen der Arbeiterklasse aufspielen zu können. Auch in der Propaganda gab sich die NSBO radikal. Neben den üblichen Forderungen nach höheren Löhnen verlangte sie die Verstaatlichung der Grundstoffindustrien und Gewinnbeteiligungen der Arbeiter in den Betrieben. [27]
Bei den männlichen Arbeitern aus der Großindustrie stieß man mit dieser Propaganda zunächst auf wenig Gegenliebe. Die radikalen antikapitalistischen Parolen standen im Widerspruch zur Parteipolitik und erschienen vielen unglaubwürdig. Auch die Parole des „nationalen Sozialismus“ fruchtete zunächst nicht besonders. Die Betriebsratswahlen führten der NSDAP ihre mangelnde Verankerung in den Großbetrieben wiederholt vor Augen. „1930 wurde nicht ein einziger Nationalsozialist gewählt, und noch 1931 waren es nur 710 von 138.000 Betriebsräten (…).“ [28] Die meisten Anhänger in der Arbeiterklasse gewannen die Nazis in den Schichten, in denen die Arbeiterbewegung keinen großen Anhang hatte. Die Partei rekrutierte ihre Anhänger vor allem aus Arbeitern vom Land, aus Kleinstädten und Heimarbeitern, die von den gewerkschaftlichen Organisationen nicht erfaßt waren, also aus den Schichten der Arbeiterklasse ohne Anbindung an die moderne Großindustrie. [29]
Gegen Ende der Weimarer Republik geriet auch die traditionelle Anhängerschaft der beiden Arbeiterparteien in Bewegung. Die ständig wechselnden Notstandskabinette machten das klägliche Scheitern der Republik auch den Anhängern der SPD deutlich. Die anhaltende Arbeitslosigkeit und Verelendung förderte die Radikalisierung. Viele Sozialdemokraten liefen zur KPD über. Die SPD bekam bei den Novemberwahlen 1932 nur noch 3,5 % der Stimmen mehr als die Kommunisten. Die Radikalisierung und Abwendung von der tragenden Kraft der Republik nutzte auch den Nazis. Im Zuge der Machtübernahme kam die NSBO Ende 1933 auf 300.000 Mitglieder. Der Anfang bei der Gewinnung der deutschen Arbeiter war damit gemacht.