Massengesellschaft statt Klassengesellschaft – Kolja Wagners Gedanken zur Klassenanalyse

Von Petra Bach

Wie Alfred Schröder meines Erachtens zu Recht in der Einleitung zu dieser Debatte schreibt, ist ein wesentlicher Kritikpunkt an Wagner die Methodik, mit der er heute vorgeht. Wagner hat in der Vergangenheit gezeigt, unter anderem in seinen Artikeln zum Nationalsozialismus, dass er sehr wohl weiß, wie eine wissenschaftlich akzeptable Arbeit von Kommunisten, die keine hauptamtlichen Professoren sind, aussehen kann.

Ein Anhänger der Lohnabhängigenkonzeption

Kennzeichnend für Wagners neue Methodik ist auch, dass er sprachliche Mittel so suggestiv einsetzt, dass damit vorhandene Widersprüche und Probleme zudeckt werden. Immer wieder versucht er sich nach allen Seiten abzusichern, in dem er eindeutige Festlegungen vermeidet und auf der Ebene vager Andeutungen verbleibt. Hierzu ein Beispiel, das gleichzeitig einen wesentlichen Bestandteil Wagners Klassenanalyse ausspricht: „Erst wenn die Macht der Unternehmer gebrochen ist, können Betriebe und Büros von den Arbeitern und ihren Vertretern demokratisch selbst geleitet werden.“ Hier werden in einem Teilsatz gleich zweimal völlig entgegengesetzte Positionen sprachlich miteinander versöhnt, anstatt diese sauber analytisch zu trennen und auf diesem Boden eine eindeutige eigene Position zu beziehen.

Arbeiter, Angestellte, Beamte – das sind Kategorien von Beschäftigten, die üblicherweise nebst der Eigentümer in Betrieben und Büros vorzufinden sind und die mit gutem Grund in der Regel noch weiter differenziert werden. In Wagners „Betrieben“ und „Büros“ gibt es dagegen nur eine Kategorie von Beschäftigten, nämlich „Arbeiter“. Wagner zeigt sich hiermit als Anhänger einer „Lohnabhängigenkonzeption“, die die Autorin in ihrer Auseinandersetzung mit Klassenfragen als leere Abstraktion bezeichnet hat. Denn im Rahmen dieser Konzeption gehören Industriearbeiter, Friseurinnen, leitende Angestellte und beamtete Lehrer unterschiedslos zur Arbeiterklasse, da alle Lohn- oder Gehaltsempfänger sind. Allerdings spricht Wagner seine Ansicht nicht so deutlich aus, sondern suggeriert sie bloß.

Aber der selbe Teilsatz enthält noch einen weiteren sprachlichen „Trick“: Wenn die Macht der Unternehmer gebrochen sei, würden Betriebe und Büros „demokratisch (…) geleitet“. Aber von wem? Von den „Arbeitern (…) selbst“ oder von „ihren Vertretern“. Anscheinend gleichzeitig von den „Arbeitern (…) selbst“ und von „ihren Vertretern“. Wagner lässt Sympathie für basisdemokratische Vorstellungen der 70er Jahre aufblitzen, wagt sich aber nicht, solche Positionen offen zu beziehen.

Eine Minoritätenrevolution ist kein Putsch

„In der heutigen Massengesellschaft ist es eine Illusion zu glauben, man könne die Massen überrumpeln, (…)“, schreibt Wagner einige Absätze weiter. Der nicht mit dem Diskussionszusammenhang der Kommunistischen Debatte vertraute Leser kann sich sicherlich keinen Reim darauf machen, wieso Wagner auf den Gedanken kommt, irgendjemand wolle „die Massen überrumpeln“. Wer also ist hier Wagners Gegner?

Wagner spielt auf das Konzept einer „Minoritätenrevolution“ an, das von Marx und Engels in der deutschen Revolution von 1848 entwickelt wurde. Ausgehend von der Beobachtung, dass alle vorausgegangenen Revolutionen (z. B. die englische) Minoritätenrevolutionen waren, überlegten beide, ob auch das deutsche Proletariat als Minderheit, die es 1848 mit Sicherheit war, eine Revolution anführen könne, aber diesmal im Interesse der Mehrheit der Gesellschaft, also im Interesse der Majorität von Bauern, kleinen Handwerkern und Händlern. Eine solche Minderheitenrevolution stellte man sich jedoch keineswegs als autoritären Putsch vor, der Wagner offenbar als Bild vorschwebt; der Begriff der „Überrumpelung“ drückt stattdessen aus, dass die Volksmassen in diesen Revolutionen noch nicht bewusst ihre Interessen verfolgen.

Wie gesagt, das Vorbild dieser Gedanken waren die großen bürgerlichen Revolutionen Englands und Frankreichs. Kennzeichnend für diese ist, dass die Spaltung der modernen Klassen noch nicht deutlich vollzogen war und die Volksmassen sich daher hinter einem gemeinsamen politischen Programm der bürgerlichen Revolution gegen die herrschende Klasse der alten Gesellschaft versammeln ließen. Kleinbürger und Arbeiter wurden so zu Geburtshelfern einer Gesellschaftsordnung, die vor allem den Interessen der Bourgeoisie zum Durchbruch verhalf.

Nachdem die Spaltung der modernen Klassen im Verlauf des 19. Jahrhunderts überall erkennbar geworden war, distanzierte sich Engels 1895 für Europa von der Übertragung des Modells einer „Minoritätenrevolution“ auf proletarische Revolutionen und zog den Schluss, dass „ein Aufstand, mit dem alle Volksschichten sympathisieren, schwerlich wieder“ möglich sei: „(…) im Klassenkampf werden sich wohl nie alle Mittelschichten so ausschließlich ums Proletariat gruppieren, dass die um die Bourgeoisie sich scharrende Reaktionspartei dagegen fast verschwinde. Das ‚Volk‘ wird also immer geteilt erscheinen.“ (MEW 22, S. 513/514)

Ende des 19. Jahrhunderts waren außereuropäische proletarische Revolutionen noch kein denkbares Konzept. Interessant sind Engels‘ Gedanken aber gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Proletariat in den späteren osteuropäischen bzw. asiatischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in der Minderheit war. Diese Revolutionen hatten tatsächlich die Form proletarischer Minoritätenrevolutionen im Interesse bäuerlicher Mehrheiten. Das war für uns Grund genug, sich mit dem Konzept einer Minoritätenrevolution auseinander zu setzen, wie das in dem Buch „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus“ (VTK 1993) geschehen ist (siehe hier insbesondere die Seiten 50 bis 52 und 119 bis 121).

Diese Auseinandersetzung führte zu der neuen Erkenntnis: „Gescheitert sind (…) in Osteuropa und Asien alle Versuche der proletarischen Minorität und ihrer politischen Avantgarde, der Kommunistischen Partei, vom Boden einer rückwärts gewandten antikapitalistischen bäuerlichen Agrarrevolution aus den Sozialismus erfolgreich aufzubauen.“ (ebd., S. 121) Mit dieser Schlussfolgerung war ein ganz neuer Blick auf die Geschichte des Kommunismus möglich. Ein Blick übrigens, der auch Wagner anfänglich faszinierte.

Von all diesen interessanten Fragen lesen wir jedoch nichts mehr bei ihm. Stattdessen schließt Wagner unsere gemeinsame theoretische Vergangenheit mit der dürftigen Aussage ab: „In der heutigen Massengesellschaft ist es eine Illusion zu glauben, man könne die Massen überrumpeln, (…).“ Wenn diese triviale Wahrheit etwas bedeuten soll, dann kann es nur die – wiederum suggestive – Unterstellung sein, die Träger der Kommunistischen Debatte wollten hier und heute mit einem autoritären „Überrumpelungskonzept“, einem Putsch also, Revolution machen. Wer ein „instrumentelles Verhältnis zur (bürgerlichen) Demokratie“ hat, wie Wagner dies dem Marxismus vorwirft, ist schließlich zu allem fähig.

Von der Lohnabhängigenkonzeption zur klassenlosen Massengesellschaft

Bemerkenswert an Wagners Aussage und für sein klassenanalytisches Verständnis wichtiger ist allerdings die Verwendung des Begriffes „Massengesellschaft“. Bei der Verwendung eines solchen Begriffes, der direkt und völlig distanzlos der bürgerlichen Sozialwissenschaft entliehen ist, stutzt der Marxist, für den Geschichte die Geschichte konkreter Klassenauseinandersetzungen ist, unwillkürlich. Mit dem bürgerlichen Begriff der „Massengesellschaft“ verbindet sich genauso die Vorstellung einer gesichtslosen Masse wie die einer Nivellierung sozialer Unterschiede.

In Wagners Sicht existiert heute eine Massen- anstatt einer Klassengesellschaft, die nicht nur unterschiedslos „Betriebe und Büros“ umfasst, sondern – wie man aus den übrigen Ausführungen Wagners erfährt – auch das kleine Eigentum. Wagner hängt nicht nur einer „Lohnabhängigenkonzeption“ an, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kategorien der Lohnabhängigen bestreitet, sondern verneint darüber hinaus die politische Relevanz der Klassenscheidung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Klassenscheidung reduziert sich nämlich für ihn auf einen völlig abstrakt gefassten Gegensatz von Kapital und Arbeit. Entfernt man aus diesem Gegensatz das Kapital, verbleibt eine Gesellschaft ohne Klassen.

Die Autorin ist in der unangenehmen Lage, von Wagner als Kronzeugin in seiner eigenen Sache aufgerufen worden zu sein: „Petra Bach hat mit ihrer Klassenanalyse gezeigt, wie schwer es ist, in Deutschland die großen Übergänge zwischen den Klassen abzugrenzen. Bis heute haben wir keine klare Definition zur Abgrenzung der Mittelschichten vom Proletariat. Ich meine, es reicht festzustellen, dass die Gesellschaft in zwei Hauptklassen zerfällt: Die Proletarier (…) und die Kapitalisten (…). Dazwischen gibt es selbstständige Kleinunternehmer (…). Alle anderen Abstufungen (…) sind zwar wichtig, um die Gesellschaft besser zu verstehen, aber nicht dazu geeignet, den Menschen Etiketten wie reaktionär oder revolutionär zuzuteilen. (…) In Deutschland sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen eher gering.“

In der Tat haben wir keine klare theoretische Definition zur Abgrenzung der (lohnabhängigen) Mittelschichten vom Proletariat, sondern nur Anhaltspunkte. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass man sich damit nicht weiter plagen muss, sondern stattdessen mit den beiden abstrakt gefassten Hauptklassen auskommt, ist nicht ohne Chuzpe. Ich meine gezeigt zu haben, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen deutlich sind, vom alten Mittelstand ganz zu schweigen. Insbesondere habe ich immer wieder prägnante Beispiele für daraus resultierendes unterschiedliches politisches Verhalten benannt, auch wenn ich dafür niemals „Etiketten wie reaktionär oder revolutionär“ geklebt habe.

Wagner hatte in der Vergangenheit niemals Kritik daran geäußert. Warum er nun zu dem für mich verblüffenden Ergebnis kommt, die „Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen (sind, P. B.) eher gering“ wäre eine Erklärung Wert gewesen. Einige Belege hätten auch nicht geschadet. In Ermangelung solcher Erklärung vermute ich den Grund von Wagners Sinneswandel darin, dass eine klassenlose „Massengesellschaft“ der willkommene klassenanalytische Unterbau seines neuartigen Demokratieverständnisses ist. Nur wenn alle in einem Boot sitzen, wird der nebulöse Demokratismus Wagners verständlich. Fragt sich dann, warum sich Wagner überhaupt noch mit den „Abstufungen“ beschäftigen will, mit denen er einräumt, die Gesellschaft besser verstehen zu können. Was, wenn nicht soziale Unterschiede von politischer Relevanz, will er da verstehen?

Alter Mittelstand und Diktatur des Proletariats

Kommen wir nun zu Wagners Einordnung des alten Mittelstandes, also der Produktionsmittel besitzenden Teile der Mittelschichten, in die „heutige Massengesellschaft“. Mit der Bemerkung „Nur ein ‚Menschenrecht‘ wird es (im Sozialismus, P. B.) nicht geben: Den Privatbesitz an Produktionsmitteln und Grund und Boden.“ äußert Wagner sich ausnahmsweise klar und eindeutig. Einige Absätze weiter bekommt er jedoch schon Angst vor der eigenen Courage: „Würde man mit einem Schlag Bauern, Kleineigentümer und Häuslebauer enteignen, würde die neue Ordnung Millionen Feinde haben. In der Übergangsphase wird deshalb wohl eine Mischung aus Plan und Markt bestehen.“

Nun gut, es wird also in Wagners Sozialismus auch das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln und Grund und Boden geben. Der Gedanke ist ja vernünftig, die Verstaatlichung sämtlicher Produktionsmittel „mit einem Schlag“ gar nicht denkbar. Das in der „Übergangsphase“ eine Mischung aus Plan und Markt bestehen muss, ist daher eher eine Banalität, auch wenn Wagner meint, sich durch sein „wird deshalb wohl (…) bestehen“ gegen alle Eventualitäten absichern zu müssen.

Doch wo soll die Grenze zwischen Plan und Markt gezogen werden? Wo endet das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln, wo das Eigentum an Grund und Boden? Wann endet die „Übergangsphase“ und beginnt Wagners eigentlicher Sozialismus? Eine Antwort kann man bei Wagner nicht finden, da er „das Kapital“ genauso abstrakt fasst wie „die Arbeit“. Um die Frage zu beantworten, bedarf es nämlich einer konkreten Analyse der Klasse der Bourgeoisie bzw. der Produktionsmittelbesitzer in der Bundesrepublik. Und diese Klasse ist ähnlich facettenreich wie die Klasse der Lohnabhängigen.

Mit welcher Nonchalance Wagner klassenanalytische Fragen behandelt, wird daran deutlich, dass sein „Häuslebauer“ in einer Reihe mit grundbesitzenden Bauern und – möglicherweise oder auch nicht – Produktionsmittel besitzenden Kleineigentümern marschiert. Hauptsache die Enteignung geschieht nicht „mit einem Schlag“, damit dem Eigentümer in der „Übergangsphase“ sein Eigentum mit „demokratischen“ Mitteln abgeschwatzt werden kann.

Warum Wagner den „Häuslebauer“ im Verlauf der „Übergangsphase“ überhaupt um seinen nicht zu produktiven Zwecken genutzten Privatbesitz bringen will, sei dahingestellt. Wagner wirbelt ganz unterschiedliche Kategorien von Eigentum durcheinander. Selbstständige, die sich selbst ausbeuten, stehen neben mittelständischem Kapital, das zwar in der Produktion mitarbeitet, aber gleichzeitig Lohnarbeit ausbeutet. Grundbesitzer, die Bodenrente einstreichen, stehen neben Bauern, für die Grund und Boden Produktionsmittel ist. Wie verhält es sich mit den so genannten Kleinanlegern am Aktienmarkt und anderen kleinen Couponschneidern?

Die Annahme einer Übergangsphase ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, sehr wohl aber die Gestaltung dieser Phase bei Kolja Wagner. Die Notwendigkeit einer Diktatur des Proletariats auf dem Weg zum Kommunismus ergibt sich aus der Notwendigkeit der Unterdrückung jener Klassen, die kein Interesse an der Aufhebung des Privateigentums haben, gegen den Sozialismus arbeiten und schwankende Zwischenschichten zu sich herüber ziehen.

Damit hat Wagner ein propagandistisches Problem: „Die Parole der Diktatur des Proletariats halte ich propagandistisch für unklug. Die neue Gesellschaft wird nicht weniger Demokratie bringen, sondern mehr, und zwar nicht nur für die Arbeiter, sondern für alle, die bereit sind mitzuarbeiten.“ Damit ist nun alles gesagt: „Alle, die bereit sind mitzuarbeiten“. Nicht nur sämtliche Schichten der Lohnabhängigen, sondern auch sämtliche Schattierungen der bürgerlichen Klasse vom Bildungsbürgertum über den mittelständischen Unternehmer bis zum großen Kapitals arbeiten mit am Aufbau des Wagnerschen Sozialismus. Da wird jede Klassenanalyse entbehrlich, denn es entscheidet allein der gute Wille!

Auch die Einschränkung „Die Parole der Diktatur des Proletariats halte ich propagandistisch für unklug.“ gibt zu denken. Hält Wagner diese „Parole“ nur propagandistisch für unklug, ist aber in Wirklichkeit dafür? Die Frage erübrigt sich. Was sollte der Inhalt der Diktatur des Proletariats sein, wenn a) alle Lohnabhängigen zum Proletariat gehören und b) alle anderen Klassen dabei mitmachen dürfen, wenn sie „bereit sind mitzuarbeiten“. An der Kernfrage drückt Wagner sich vorbei: Wer entscheidet über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der jeweiligen „Mitarbeit“ im Sinne des Sozialismus? Wo hört die „Mitarbeit“ am Sozialismus auf und beginnt die Konterrevolution?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man unweigerlich den Boden der Realität betreten. Wagner hat sich mit dem Hinweis, es gehe ihm nicht darum „einen utopischen Detailentwurf von einer möglichen zukünftigen Gesellschaft zu zeichnen“ in eine Welt begeben, in der die heutige komplexe Realität gar nicht vorkommt und in der stattdessen abstrakte Begriffe und moralische Wertungen regieren. Wagners Welt ist eine Tabula Rasa, auf der „mit einem Schlag“ das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben werden könnte (wenn dies nicht „propagandistisch unklug“ wäre), um dann – nach dieser Stunde Null – in ein edleres Stadium der Menschheitsgeschichte einzutreten. Wagners Welt ist kein utopischer Detailentwurf, sondern ein utopischer Grobentwurf.

Damit ist der Schwarze Peter, sich die Geburtsstunde dieser Welt konkret vorstellen zu müssen, bei seinem politischen Gegner. Solche Vorstellungen wirken notwendigerweise konstruiert und schnell albern, insbesondere da die Wagnerschen Gedanken eben ziemlich weit entfernt von der Wirklichkeit sind. Aber dennoch: Man stelle sich eine Sekunde lang vor, wie der Wagnersche Sozialismus ins Leben tritt:

Ein Szenario des Wagnerschen Sozialismus

Nach einem überwältigenden Wahlsieg bringt die Partei der Kommunisten einen Antrag auf entschädigungslose Enteignung von Produktionsmitteln und Grund und Boden in den Bundestag ein, für den eine gewaltige Mehrheit von Abgeordneten stimmt. Die bürgerliche Opposition weist darauf hin, dass der Beschluss eine Änderung des Grundgesetzes erfordere. Die hierzu nötige Zweidrittelmehrheit kommt nicht zu Stande. Auch der Bundesrat, in dem die Bürgerlichen noch über die Mehrheit verfügen, verweigert sich. Unklar sind auch die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes. Welche Reichweite hat das neue Gesetz? Werden Grund und Boden nationalisiert? Sollen die enteigneten Betriebe von den Arbeitern selbst oder von ihren Vertretern geleitet werden? Wie treten die Betriebe miteinander in Austausch? Wird der Euro beibehalten? In der Zwischenzeit reicht ein Schuhfabrikant aus Burladingen im Schwäbischen beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die Kommunistische Partei ein.

Das politische Klima ist günstig für die neue Regierung. Die politische Landschaft ist von Streiks und Demonstrationen bestimmt. Überall drängen Menschen zur Selbstorganisation und bilden Komitees. Arbeiter fordern höhere Löhne, Studenten die Abschaffung der Studiengebühren, Schüler die Wahl ihrer Lehrer, Bauern die Erhöhung der Erzeugerpreise, der Verband der Zuckerproduzenten Ersatz für die eingestellten Subventionen der EU, leitende Angestellte die Senkung des Spitzensteuersatzes und der Beitragsbemessungsgrenze, Ärzte die Vergütung des Inkasso von Praxisgebühren, Arbeitslose die Schaffung tariflich entlohnter ABM, Rentner die kostenlose Krankenversicherung, Krankenschwestern verweigern die Verrichtung von Nachtdiensten, Angestellte des öffentlichen Dienstes fordern die Wiedereinführung des Weihnachtsgeldes, der ADAC die Senkung der Mineralölsteuer, der Bund für Naturschutz eine Ausweitung des Krötenschutzes, die NPD die Ausweisung ausländischer Sozialhilfeempfänger, der Islamische Rat schulischen Koranunterricht in arabischer Sprache und der Zentralrat der Juden ein Verbot der deutsch-arabischen Freundschaftsgesellschaft. Noch ist offen, welche der Forderungen mehrheitsfähig sein werden.

Der EU-Ministerrat tritt zusammen und verurteilt die gefährliche politische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Die neue deutsche Regierung wird im Ausland nicht anerkannt. Im NATO-Hauptquartier herrscht höchste Bereitschaft. Die Bundeswehrführung ist gespalten. Nur ein kleiner Teil will sich der neuen politischen Führung in Berlin unterordnen. Polizei, Bundesgrenzschutz, BND und MAD verhalten sich abwartend.

Währenddessen berichtet N-TV ununterbrochen über die gegenwärtige Lage. Die Börse ist nach einem rasanten Kursverfall zusammengebrochen und bis auf weiteres geschlossen. Massen von Kleinanlegern, die durch Aktienfonds ihre Altersvorsorge sichern wollten, sind ruiniert. Allmählich breitet sich Unruhe aus. Rentner heben ihre Ersparnisse von den Banken ab. Einzelne ausländische Unternehmen kündigen ihren Rückzug aus Deutschland an. Der Außenhandel ist beeinträchtigt. An den Tankstellen wird Benzin knapp. Immer häufiger demonstrieren Menschen gegen die Regierung und fordern die Wiederherstellung geordneter Zustände.

In dieser Situation wendet sich die neue Regierung über die staatlichen Sender an die Öffentlichkeit. Sie betont ihre Verfassungstreue und sichert die Einhaltung der im Grundgesetz garantierten Rechte zu, mit Ausnahme der Artikel 14/15, deren konkrete Neufassung noch nicht feststeht. Weiterhin kündigt die Regierung an, die Gesellschaft radikal demokratisieren und die Menschenrechte vervollkommnen zu wollen. Die Regierung erklärt, über ihr weiteres Schicksal in einer Volksabstimmung entscheiden lassen zu wollen. Dies setze jedoch eine Verfassungsänderung voraus, für die derzeit noch keine Mehrheit existiere. Alle gutwilligen Menschen im Land werden um Geduld gebeten.

Von der Wissenschaft zur Utopie

Vielleicht so oder vielleicht auch ganz anders könnte die Wagnersche Einführung des Sozialismus in der Realität aussehen. Was mir einzig sicher zu sein scheint, ist, dass Kommunisten in jeder Situation ein sehr genaues Wissen darüber besitzen müssen, entlang welcher großer Linien und auf Grund welcher Interessenlagen sich die Parteien vor, in und nach einer Umwälzung scheiden werden. Denn zweifellos wird in einem entwickelten kapitalistischen Land das „Volk“ – um es mit Engels zu sagen – „immer geteilt erscheinen“.

Unser Problem ist ja gerade die enorme Zersplitterung der Massen durch vielfach verwickelte besondere Interessenlagen, die das grundsätzliche gemeinsame Interesse der Lohnabhängigen an der Aufhebung des Privateigentum an Produktionsmitteln kaum mehr erkennen lassen. Dieser komplexen und widersprüchlichen Interessenlage eine gemeinsame Richtung zu geben, ist – wenn überhaupt – meines Erachtens nur durch ein politisches Programm möglich, mit dem die Kernschicht der Lohnabhängigen, das Proletariat, die Mehrheit der sich zunehmend proletarisierenden lohnabhängigen und selbständigen Mittelschichten um sich gruppiert.

Wagners Credo lautet anders: „Da das klassische Industrieproletariat kaum mehr ein Viertel der Gesellschaft ausmacht, kann eine proletarische Revolution nur eine Volksrevolution aller Lohnabhängigen sein. Sich schwerpunktmäßig auf die ‚Blaumänner‘ in der Industrie zu konzentrieren, heißt sich auf eine Minderheit der Gesellschaft zu orientieren.“ Dass das klassische Industrieproletariat heute eine Minderheit ist, ist zweifellos richtig. Daraus aber abzuleiten, dass „eine proletarische Revolution nur eine Volksrevolution aller Lohnabhängigen“ sein kann, ist jedoch ziemlich kühn. Mit größerem Recht kommt man zu dem Schluss, dass keine proletarische Revolution mehr möglich ist. Wagners Zuversicht ist daher verblüffend und wohl der Tatsache geschuldet, dass er es auch sonst nicht so genau nimmt mit dem Unterschied von Wunsch und Wirklichkeit.

Schwerer wiegt noch, dass Wagner grundfalsche politische Schlüsse aus der Minderheitenposition des klassischen Proletariats zieht. Während diese der Kern bleiben, um den sich unter glücklichen Umständen große Teile der politisch schwankenden Mittelschichten gruppieren lassen, streicht Wagner das Proletariat vollständig aus dem Geschichtsbuch und installiert eine Massengesellschaft, in der es keine, jedenfalls keine wirklichen Klassen mehr gibt. Nicht mehr rational fassbare Interessenlagen bestimmen dann das politische Geschehen, sondern nur noch mehr oder minder gutwillige Menschen, deren politisches Verhalten jedem wissenschaftlichen Zugang entzogen ist.

Das Herausragende an den Arbeiten von Marx und Engels war die Entwicklung des Kommunismus von der Utopie zur Wissenschaft, das Ernüchternde an den neueren Arbeiten von Kolja Wagner ist die Regression von der Wissenschaft zur Utopie. Er hat sich damit weit jenseits des Diskussionszusammenhanges der Kommunistischen Debatte begeben.

Letzte Änderung: 21.03.2016