Buchrezension: Der Kommunismus – Geschichte, Erbe und Zukunft; PapyRossa-Verlag 2024
Domenico Losurdo (1941-2018) studierte Philosophie und Geschichte in Urbino/Italien und Tübingen/Deutschland; er lebte und arbeitete in der Provinz Pesaro und Urbino, verheiratet mit der deutschen Psychologin Erdmute Brielmayer (die viele seiner Bücher ins Deutsche übersetzte). Er war, gemeinsam mit Hans Heinz Holz, der Herausgeber der Zeitschrift ‚Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie‘, Präsident der ‚Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken‘, Mitglied der ‚Kommunistischen Partei Italiens‘. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Urbino und veröffentlichte zahlreiche Bücher – z.B. über Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche, Heidegger, Gramsci, Stalin sowie zeitgeschichtliche Themen.
Dieses posthum erschienene Losurdo-Buch bildet, laut dem italienischen Herausgeber und Losurdo-Schüler Giorgio Grimaldi, ein Diptychon, womit, wie Grimaldi in seiner Einleitung schreibt, „nun der Gesamtrahmen, der mit dem Westlichen Marxismus eröffnet wurde, vervollständigt“ wird.
Der deutsche Titel ist irreführend, er suggeriert: hier werde eine neue kommunistische Theorie vorgelegt. Das ist überhaupt nicht der Fall, und entspricht gar nicht Losurdos Intention. Der von ihm selbst verfaßte Originaltitel lautet treffender: ‚Die kommunistische Frage‘.
Die kommunistische Frage
Ist der Kommunismus überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? Losurdo sieht sich einige antikommunistische Argumente genauer an.
Der Kommunismus sei ein Totalitarismus, der, wie nachfolgend der Faschismus, jede liberal-demokratische Gesellschaft bedrohe. Abgesehen von der absurden Gleichung Kommunismus=Faschismus, die, wie Losurdo sagt, Kolonialismus und Antikolonialismus austauschbar machen (218), ist, wie er belegt, bereits der zaristische Polizeistaat ein Totalitarismus, was zu dem unerwarteten Ergebnis führt: man muß „nicht von der Oktoberrevolution ausgehen, sondern von dem durch sie gestürzten alten Regime.“ (42)
Der Kommunismus beruhe auf einer unrealistischen und zum Scheitern verurteilten Utopie. Losurdo weist darauf hin, daß in vergangenen Zeiten vieles als unveränderlicher Status Quo betrachtet wurde und oft jeder Gedanke an Veränderung als Utopie. So konnte sich etwa der amerikanische Präsident Thomas Jefferson, selber ein Eigentümer von Sklaven, eine Abschaffung der Sklaverei bestenfalls in ferner Zukunft vorstellen, aber „auf diese Maßnahme hätte die Deportation der ehemaligen Sklaven nach Afrika folgen müssen. Undenkbar war ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Schwarzen und Weißen. Es hätte sonst eine verwegene Missachtung der Natur und der natürlichen Unterschiede bedeutet“ (56f.) In diesen wie in anderen Fällen – und egal, ob die jeweilige Änderung, z.B. politische Rechte für Frauen oder was auch immer, als „fantastische Utopie“ oder „abstoßende Dystopie“ angesehen wird – verwandelte sich immer angeblich Unrealistisches zur gültigen Realität.
Der Kommunismus setze ebenso wie der Kapitalismus auf ein – ökologisch katastrophales -unbegrenztes ökonomisches Wachstum. Losurdo zitiert den französischen Soziologen Alain Caillé, der das ‚Manifest der Kommunistischen Partei‘ umdichtete: „Ein Gespenst geht um in der Welt, das ihres nahen Endes“ (76) – um die Welt zu retten, müssen Produktion und Konsum verringert werden (Degrowth / degrowth.info/de/degrowth-de) – und der ‚Das konvivialistische Manifest‘ initiierte (con-vivere = zusammenleben / www.diekonvivialisten.de); kein Aufruf zum Klassenkampf, vielmehr eine populistische Moralpredigt. Losurdo entgegnet: Mit derartiger ‚Postwachstumsökonomie‘ sei es unmöglich, Menschen aus bitterster Armut zu befreien (wie es z.B. China tat). Und verweist darauf, daß Marx in seiner ‚Kritik des Gothaer Programms‘ den Zusammenhang Mensch-Natur gerade betont: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte … als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (MEW 19, S. 15)
Liberalsozialismus und Kommunismus
Das Mißverständnis des Liberalsozialismus liegt laut Losurdo darin begründet, daß er „glaubte, die angebliche Taubheit des Kommunismus für das Ideal der Freiheit auszugleichen, indem er eine Synthese zwischen Liberalismus und Sozialismus vorschlug und den ersten (apologetisch) mit der Sache der Freiheit identifizierte und den zweiten (reduktionistisch) mit der Sache der sozialen Gerechtigkeit.“ (116) Soziale Gerechtigkeit heißt Gleichheit, doch mit dem Versuch einer harmonischen Verbindung verschwinden die dialektischen Widersprüche, genauer gesagt: die Wahrnehmung derselben. Der bürgerliche Begriff der Freiheit, den in den Augen Losurdus Liberalismus wie Liberalsozialismus meinen, basiert auf Freiheitsberaubung anderer, im klassischen Sinne der Sklaven, der Knechte – wollen die Unterdrückten und Beraubten ebenfalls Freiheit, gibt es einen Konflikt der Freiheiten.
Jünger von Fourier und Saint Simon planten die Gründung sozialistischer Gemeinschaften in Algerien, auf jenem Land, daß den Arabern in einem völkermörderischen Krieg (1830-1847) geraubt wurde; die französische Herrschaft wurde nicht infrage gestellt. Sie beabsichtigten also „von kolonialen Eroberungen zu profitieren, um sich von Proletariern zu Eigentümern zu entwickeln, aber zu Eigentümern, die das den Arabern entrissene Land kollektiv besitzen.“ (98) Losurdo bezeichnet das als „Herrenvolk-Sozialismus“. Ein aktuelleres Beispiel sind die zionistischen Kibbuzim, mit denen Israel weiterhin Land in Palästina besiedelt – sozialistische Eigentumsformen in einer jüdischen Kolchose auf Ländereien, „die einem Kolonialvolk geraubt wurden, das dadurch zur Deportation oder Marginalisierung verurteilt wurde.“ (100)
Der sogenannte Liberalsozialismus ändert nicht die Herrschaftsverhältnisse, sondern arrangiert sich mit ihnen, Kommunisten dagegen erklären: „daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ (‚Manifest der Kommunistischen Partei‘, MEW 4, S. 493) Kommunisten haben somit in kolonialen Raub-Herrschaften Partei zu ergreifen für die Unterdrückten und Beraubten – heute z.B. sollen sie nicht die zionistisch-kolonialistische Siedlungspolitik Israels verteidigen, mit ihren liberalsozialistischen Kibbuzim, sondern die Sache der okkupierten Palästinenser.
Populismus
Zwar komme, schreibt Losurdo, der liberalen Tradition das Verdienst zu, Bedürfnisse und Wünsche unterdrückter Klassen zum Ausdruck gebracht zu haben, doch konnten sich deren Anhänger nicht immer von der Enge und den Grenzen befreien, wie sie Mangel und Elend zueigen ist, Bedingungen also, die priviligierten politischen Liberalen fremd sind. Zum daraus entstehenden Moralsystem des Populismus zitiert er eine Stelle aus ‚Der Wohlstand der Nationen‘ von Adam Smith als Zeugnis:
„In jedem entwickelten Land, in jedem Staatswesen, in dem sich ein Standesunterschied einmal ausgeprägt hat, gab es zur gleichen Zeit stets zwei verschiedene Moralsysteme. Das eine mag man das nüchterne oder strenge, das andere das freie oder, so man will, das lockere System nennen. Das niedere Volk bewundert und verehrt durchweg den Glauben des ersten, während die sogenannten Leute von Rang die Lehren des zweiten schätzen und übernehmen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden gegensätzlichen Ordnungen oder Systemen scheint in dem Grad der Mißbilligung zu liegen, mit der wir eigentlich die Untugenden des Leichtsinns brandmarken sollten, Verfehlungen, die gerne aus großem Wohlstand und aus einem Übermaß an Ausgelassenheit und Laune entstehen. Im freien oder lockeren Moralsystem werden Luxus, leichtsinnige und gar ausschweifende Fröhlichkeit, Vergnügungssucht, bis zu einem gewissen Grade Unmäßigkeit und Verletzung der Keuschheit, wenigstens bei einem der beiden Geschlechter, sofern alles nicht mit grober Unanständigkeit verbunden ist oder zu Falschheit oder Ungerechtigkeit führt, in der Regel recht nachsichtig behandelt, und man entschuldigt sie leichter Hand oder verzeiht sie gänzlich. Im strengen Moralsystem dagegen werden diese Übersteigerungen mit größter Abscheu und Unwillen verurteilt. Die Laster des Leichtsinns sind für das einfache Volk stets verderblich, und oft genügen schon Unbesonnenheit und Zerstreuung einer einzigen Woche, um einen armen Arbeiter auf immer zugrunde zu richten und ihn in eine solch verzweifelte Lage zu bringen, daß er ganz entsetzliche Verbrechen begeht. Die Klügeren und Vernünftigeren im gewöhnlichen Volk haben stets höchsten Abscheu und Widerwillen gegenüber solchen Ausschweifungen, weil sie einfach ihre Erfahrung lehrt, daß sie Leute ihres Standes unmittelbar ins Verderben stürzen. Demgegenüber werden Unregelmäßigkeit und Ausschweifung einen Mann der Oberschicht nicht immer ruinieren, selbst wenn sie jahrelang andauern, und die Leute besserer Herkunft sind daher durchaus geneigt, es für einen Vorzug ihres größeren Vermögens und für ein Vorrecht ihres Ranges zu halten, daß sie sich einen gewissen Grad an Ausschweifung ohne Vorwurf und Tadel erlauben können. Angehörigen ihres Standes gegenüber mißbilligen sie daher solche Ausschweifungen kaum oder tadeln sie entweder nur leicht oder gar nicht.“ (Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, 5. Buch, 1. Kapitel, 3. Abschnitt)
Losurdo merkt dazu an, daß in den untergeordneten Klassen das strenge Moralsystem dazu neigt, sich in ein Ideal zu verwandeln: „das Opfer und der Verzicht auf Luxusgüter und sexuelle Befriedigung werden am Ende zu unverzichtbaren Werten verklärt, der Mangel und die Mühe stellen sich als Ort moralischer Vollkommenheit dar, von der per definitionem die Privilegierten ausgeschlossen sind, und damit jene, die den Überfluss und die Bequemlichkeit genießen können. … Traditionell haben die Verurteilung der gesellschaftlichen Polarisierung und eine Stellungnahme zugunsten der Armen Motive bemüht, die dem Populismus entnommen sind, welcher als Synonym der Verklärung der strengen Moral begriffen werden kann.“ (153)
Populismus und Messianismus
Losurdo schreibt: „Häufig ist Populismus mit Messianismus verbunden. Die subalternen Klassen, die seit undenklichen Zeiten Ausbeutung und Unterdrückung erfahren und die beobachten konnten, wie sich soziale Klassen und politische Schichten an der Macht abwechselten, die zwar untereinander verschieden waren, aber geeint in dem Willen, das Herrschaftsverhältnis aufrechtzuerhalten, haben die Neigung, sich die Emanzipation als eine vollkommene Negation vorzustellen, die nicht nur Ausbeutung und Unterdrückung, sondern sämtlichen möglichen Instrumenten von Ausbeutung und Unterdrückung ein für allemal ein Ende bereitet.“ (168) Beispielhaft zitiert er aus einem Bebelbuch von 1879:
„Mit dem Staat verschwinden seine Repräsentanten: Minister, Parlamente, stehendes Heer, Polizei und Gendarmen, Gerichte, Rechts- und Staatsanwälte, Gefängnisbeamte, die Steuer- und Zollverwaltung, mit einem Wort: der ganze politische Apparat. Kasernen und sonstige Militärbauten, Justiz- und Verwaltungspaläste, Gefängnisse usw. harren jetzt einer besseren Bestimmung. Zehntausende von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen werden Makulatur, sie besitzen nur noch historischen Wert. Die großen und doch so kleinlichen parlamentarischen Kämpfe, bei denen die Männer der Zunge sich einbilden, durch ihre Reden die Welt zu beherrschen und zu lenken, sind verschwunden, sie haben Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen Platz gemacht, die sich mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der Höhe der notwendigen Vorräte, der Einführung und Verwendung zweckentsprechender Neuerungen in der Kunst, dem Bildungswesen, dem Verkehrswesen, dem Produktionsprozeß usw. in Industrie und Landwirtschaft zu befassen haben. Das sind alles praktische, sichtbare und greifbare Dinge, denen jeder objektiv gegenübersteht, weil für ihn kein der Gesellschaft feindliches persönliches Interesse vorhanden ist. Keiner hat ein anderes Interesse als die Allgemeinheit, das darin besteht, alles aufs beste, zweckmäßigste und vorteilhafteste einzurichten und herzustellen. … Die Diebe sind verschwunden, weil das Privateigentum verschwunden ist und jeder in der neuen Gesellschaft leicht und bequem seine Bedürfnisse durch Arbeit befriedigen kann. … Mord? Weshalb? Keiner kann am anderen sich bereichern, auch der Mord aus Haß oder Rache hängt direkt oder indirekt mit dem Sozialzustand der Gesellschaft zusammen. Meineid, Urkundenfälschung, Betrug, Erbschleicherei, betrügerischer Bankrott? Das Privateigentum fehlt, an dem und gegen das diese Verbrechen begangen werden konnten. Brandstiftung? Wer soll daran Freude oder Befriedigung suchen, da die Gesellschaft ihm jede Möglichkeit zum Hasse nimmt. … So werden alle Fundamente der heutigen „Ordnung“ zur Mythe. Die Eltern erzählen später den Kindern davon wie aus alten märchenhaften Zeiten. Und die Erzählungen von den Hetzereien und Verfolgungen, womit man einst die Männer der neuen Ideen überschüttete, werden ihnen genauso klingen, als wenn wir von Ketzer- und Hexenverbrennungen hören. Alle die Namen der „großen“ Männer, die mit ihren Verfolgungen gegen die neuen Ideen sich hervortaten und dafür von ihren beschränkten Zeitgenossen mit Beifall überschüttet wurden, sind vergessen und stoßen höchstens dem Geschichtsforscher auf, wenn er in alten Werken blättert. Leider leben wir noch nicht in den glücklichen Zeiten, in welchen die Menschheit frei atmen darf.“ (August Bebel: Die Frau und der Sozialismus / Dreiundzwanzigstes Kapitel: Aufhebung des Staates, Berlin 1954, S. 531ff.)
Aber Bebel bleibt beileibe nicht der Einzige, der so denkt. Im Mai 1917 begrüßt Ernst Bloch emphatisch die russische Revolution, in der Erstfassung seines Buches ‚Geist der Utopie‘ (nomen est omen!): „Aber nun ist die russische Revolution losgebrochen. … nun entstand der Arbeiter- und Soldatenrat, fern und fremd aller Privatwirtschaft … das Nein, das Veto, das Zerreißen der Geldwirtschaft, der alles Böseste im Menschen preiskrönenden Kaufmannsmoral – schon im bloßen Und des Arbeiter- und Soldatenrats, dieses sonst stets erwartbar gewesenen Gegensatzes aller früheren Revolutionen, ein Umbruch der Macht zur Liebe.“ (Ernst Bloch, Werkausgabe Band 16, Frankfurt a.M. 1985, S. 297f.) Und Domenico Losurdo merkt an: „Zumindest in diesem Fall beruft er sich ausdrücklich auf die Tradition des jüdischen Messianismus“ (170)
Ein neueres Beispiel ist noch hinzuzufügen, das Buch ‚Empire‘ von Hardt&Negri endet mit den Worten: „In Opposition zum aufkommenden Kapitalismus verweigerte sich Franz von Assisi jeglicher instrumentellen Disziplin, und der Abtötung des Fleisches (in Armut und in der konstuierten Ordnung) setzte er ein glückliches Leben entgegen, das alles Sein und die gesamte Natur, die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne, die Vögel auf dem Felde, die armen und ausgebeuteten Menschen zusammenschloss gegen den Willen der Macht und die Korruption. In der Postmoderne befinden wir uns wieder in der gleichen Situation wie Franz von Assisi, und wir setzen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen. Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können – weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein.“ (Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, Frankfurt a.M. 2003, S. 420) Auch hier, sagt Losurdo, wird eine kommunistische Gesellschaft beschworen, ohne jeglichen Konflikt und Widerspruch in den menschlichen Beziehungen, ja sogar in der Welt der Tiere. „Es ist die Apokatastase [Wiederherstellung], die restitutio omnium [Wiederherstellung von allen], die Wiederherstellung und die Wiederaussöhnung aller Geschöpfe, von denen die Apostelgeschichte spricht (3,21)“, ein Bereuen und Umdenken wird gefordert (Metanoia). „Wenn bei Bebel die Männer und Frauen ein für allemal von den Gefühlen des „Hasses“ und der „Rache“ befreit waren, bei Bloch von der „alles Böseste im Menschen preiskrönenden Kaufmannsmoral“, so befreien sich nun nicht nicht nur die Männer und Frauen, sondern die gesamte Schöpfung, „die Tiere, Schwester Mond, Bruder Sonne, die Vögel auf dem Felde, die armen und ausgebeuteten Menschen“, alle zusammen vom „Willen zur Macht“, von der „Korruption“, vom „Elend der Macht“, um „in Liebe, Einfachheit und Unschuld“ zu leben: die Apokatastasis erstrahlt hier im vollem Glanz.“ (170f.)
Kommunismus – ein Kapitel der Religionsgeschichte?
Ein typischer Vertreter solcher Auffassung ist der Philosoph Karl Löwith: „Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie. Was eine wissenschaftliche Entdeckung zu sein scheint … ist vom ersten bis zum letzten Satz von einem eschatologischen Glauben erfüllt, der seinerseits die ganze Wucht und Reichweite aller Einzelfeststellungen bedingt.“ (Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen [1953], Stuttgart 2004, S. 54) Wie oft der Fall, war hier der Wunsch der Vater des Gedankens [Shakespeare: Heinrich IV, Teil 2, 4. Akt/4. Szene] bzw. es ist „ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“, wie es Marx im berühmten Vorwort ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘ formuliert (MEW 13, S. 9); aus anderer Gesinnung bzw. Parteinahme schreibt Engels umgekehrt über die Bauernkriege: „Unter dem Reich Gottes verstand Münzer aber nichts anderes als einen Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen.“ (MEW 7, S. 354) So diagnostiziert Losurdo bei den „Exegeten“ (wie er sie spöttisch nennt) vom Schlage eines Löwith eine weiterhin unterschwellig vorhandene religiöse Gläubigkeit als bestimmenden Faktor der Interpretation bzw. Verwerfung eines falschen Glaubens. „Wenn für Engels das Streben nach dem Reich Gottes nichts anderes war als der Ausdruck vager kommunistischer Forderungen bestimmter sozialer Schichten, so drücken für die Exegeten die sozialistischen und kommunistischen Losungen, von denen wir hier reden, nichts anderes aus als das traditionelle religiöse Streben nach dem Himmelreich in oberflächlich laisierter Form.“ (173)
Doch hält Losurdo seinerseits ein ‚Absterben des Staates‘ für unglaubwürdig und eine Propagierung dieser These für Kirchenpolitik. „In der Sowjetunion ist die Partei, die an der Macht war, bis zum Vorabend des Zusammenbruchs, fortgefahren, gebetsmühlenartig und mit einer Glaubwürdigkeit, die gegen Null ging, den Katechismus der Abschaffung des Staates, der Nation, der Religion usw. zu predigen.“ (177) Er meint, Engels Argumentation zur ‚Notwendigkeit einer Autorität‘ bringe „die These von der Abschaffung des Staates ins Wanken“, doch beachtet er nicht, daß Engels an dieser Stelle wohlweislich zwischen Autorität und Staat sowie zwischen allmählichen Verschwinden und plötzlicher Abschaffung unterscheidet (vergl. Friedrich Engels: Von der Autorität / MEW 18, S. 305ff.).
Rebellen und Dissidenten
Es geht um die scheinbaren Rebellen und Dissidenten, die Losurdo hier als Gegenbild zu den wirklichen Revolutionären definiert.
Der Rebell ist „in erster Linie darauf bedacht, seine Überlegenheit in Bezug auf jeden politischen Inhalt zu behaupten. Indem er sich so verhält, bekennt er sich zum Antidogmatismus; in Wirklichkeit wird der gefürchtete und ordinäre Dogmatismus des Objekts durch einen offensichtlichen und koketten Dogmatismus des Subjekts ersetzt.“, doch in seiner Polemik, beispielsweise gegen den Neoliberalismus, scheut er „den Vorwurf oder den Verdacht, einen Kompromiss mit der Staatsmacht einzugehen, und erweist sich daher als unfähig, einen ideologisch und unmittelbar politisch konsequenten Kampf gegen den Abbau des Sozialstaates zu führen.“ (210) Es ist jener, der nur schöne Reden halten kann, aber vor wirklichen Taten zurückschreckt. Er kann sich jederzeit in einen braven Staatsbürger verwandeln, wenn er nicht schon einer ist. Losurdo zitiert in diesem Zusammenhang eine Notiz von Hegel aus den Berliner Schriften: „Der Mut besteht heute nicht mehr darin, die Regierungen anzugreifen, sondern sie zu verteidigen.“ (213) – das klingt, auf unser Heute bezogen, amüsant, doch muß man dabei wissen, daß Hegel, der Staatsverteidiger Nummer 1, das ohne eine Spur von Ironie sagt.
Der Dissident: „Bei Bedarf stellt ihn die herrschende Ideologie als unerschrockenen Kämpfer dar, der jede Befleckung mit der Macht vermeidet und der obendrein nicht zögert, sie herauszufordern; es wird hingegen die Tatsache verschwiegen, dass der ‚Dissident‘ eine Staatsmacht ins Visier nehmen kann – und aufgehetzt wird, dies zu tun -, die ihrerseits ‚dissident‘ gegenüber einer weitaus mächtigeren und beunruhigenderen weltweiten Macht ist.“ (216) Aktuelles Paradebeispiel dazu ist die Ukraine, jene dissidenten Proteste, „die, beginnend mit der paramilitärischen Besetzung des Maidan in Kiew im Februar 2014, zu jenem regime change in der Ukraine führen, erwünscht und gefördert von den USA und der Europäischen Union, die auch physisch mit Politikern ersten Ranges vor Ort sind, welche einerseits die rechtmäßige Regierung einschüchtern und ihr mit schweren politischen und wirtschaftlichen Sanktionen drohen und andererseits die Randalierer ermutigen und aufhetzen.“ (221f.)
Die direkte Kriegssituation in der Ukraine hat Losurdo nicht mehr miterlebt, aber sein Standpunkt sollte klar sein in Anbetracht seines Urteils zum regime change 2014: „Es handelt sich um Bewegungen, die auf der Straße stark präsent und auch im Parlament gut vertreten sind, deren „Wurzeln jedoch bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreichen, als sich ukrainische Nationalisten und [deutsche] Nazis auf der gemeinsamen Grundlage von Antikommunismus und Antisemitismus trafen“; eine Zusammenarbeit, die zu „Massakern“ und der Aufstellung einer „SS-Division“ führte, der bis heute gehuldigt wird ([Bernardo] Valli 2014 [in „einer angesehenen italienischen Tageszeitung“]). Dank des regime changes oder auch Staatsstreichs, der von der Europäischen Union (wie auch von den USA) unterstützt, ja gefördert wurde, konnte diese eindeutig neonazistische Bewegung zu einer wichtigen Kraft in der neuen Regierung werden.“ (38)
Schlußfolgerung
Wie immer man zu Losurdos politischen Perspektiven stehen mag, seine gedanklichen Exkursionen sind allemal eine anregende und diskussionswürdige Lektüre. Zweifellos will er ernsthaft und ehrlich eine Wiederbelebung der kommunistischen Bewegung. Er kritisiert primär die Verbürgerlichung von mehr oder weniger bekannten aktuellen, teilweise kommunistischen Intellektuellen; es fällt nicht schwer, hierzu spezifische deutsche Beispiele zu assoziieren. Prinzipiell wird bei Losurdo der revolutionäre Klassenkampf auf die elementare Formel heruntergebrochen: die bestehende Gesellschaftsordnung umzustürzen. Ist ein revolutionärer Umsturz nicht in Sicht, gilt es für Kommunisten: sich wenigstens in soziale Kämpfe einzumischen, gegen kriegerische Eroberungspläne aufzutreten. In antikolonialen Widerstandskämpfen sieht Losurdo revolutionäres Potential, sei es in Palästina oder in afrikanischen Staaten, erfolgreich und vorbildhaft in China.
Seine Ausführungen zu China sind nur marginal (es wird vermutet, er plante noch ein eigenes Buch dazu), aber optimistisch, er scheint China für befähigt zu halten, die Leerstelle nach dem Zusammenbruch der Zweiten Welt (der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt) auszufüllen, um der Ersten Welt (Kapitalistischer Westen/Nato) im Interesse der ehemaligen Dritten Welt (der blockfreien Staaten) Paroli zu bieten.
Das Wichtigste ist ihm wohl, nicht verträumt stehenzubleiben, sondern gegenwärtige Möglichkeiten revolutionären Kampfes zu erkennen und sich dafür einzusetzen. Falls nicht vorher ein bereits vor der Tür stehender Dritter Weltkrieg, von der aggressiven USA-Politik verursacht, die bestehende Weltordnung in Schutt und Asche legt (was immerhin, zumindest theoretisch, ebenfalls einen sozialistischen Neuanfang ermöglichen könnte). Sein Fazit lautet:
„Die Kommunisten sind aufgerufen, eine Wahrheit anzuerkennen, so schmerzhaft sie auch sein mag: Auch das Ideal des Kommunismus kann sich als Mittel der Flucht, ja als Religion der Flucht darstellen. Hinsichtlich der strahlenden Zukunft bzw. des Paradieses der Gläubigen scheinen die konkreten Kämpfe, die von Zeit zu Zeit durch die objektiven Entwicklungen des Klassenkampfes und die einzelnen Etappen des Emanzipationsprozesses aufgezwungen werden, integraler Bestandteil eines Tales der Tränen, gänzlich ohne Wert, zu sein. … Vernachlässigt man die „wirklichen Kämpfe“ oder, um es mit dem Manifest der Kommunistischen Partei zu sagen, einer „unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“, verwandelt sich der Kämpfer und Theoretiker der Revolution schließlich in einen „Weltverbesserer“ (ebd., 4, S. 474f.). … Wie begrenzt und kleinlich erscheinen die heutigen Kämpfe im Vergleich zur so beschworenen leuchtenden Zukunft doch! In dieser Hinsicht ist der Kommunismus ein Mittel zur Flucht aus der Realität, wie jede andere Religion auch. / Gerade um dieser Gefahr zu begegnen, gibt uns die Deutsche Ideologie, in der es eine emphatische Vision der kommunistischen Zukunft gibt, gleichzeitig eine ganz andere Definition des Kommunismus: Es ist nicht „ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (ebd., 3, S. 35). Es wäre verheerend, wenn die erhabene Schönheit der kommunistischen Zukunft die Aufmerksamkeit von den sich in der Gegenwart aufdrängenden Kämpfen ablenken würde.“ (238ff.)
Anmerkung: Bezüglich Druckfehler-Korrektur ist das PapyRossa-Verlagslektorat noch verbesserungsfähig. Das „Dyptichon“ auf Seite 12 ist dabei noch harmlos, kitzliger ist z.B. ein Fehler auf Seite 43: „Nach dem Kriegsausbruch wurde die Kritik an dieser Herrschaftsform ein wesentliches Element der ideologischen Vorbereitung der Oktoberrevolution. Unmittelbar vor dem Krieg prangerte Lenin in Staat und Revolution die verhängnisvollen Folgen des Krieges für die politische Ordnung an“ – ‚Staat und Revolution‘ wurde bekanntlich nicht vor, sondern während des Ersten Weltkriegs geschrieben, auch kann schwerlich, jedenfalls nicht konkret, über die Folgen eines Krieges gesprochen werden, der noch gar nicht stattfindet. Richtig muß es hier heißen: „Unmittelbar vor der Revolution [1917] prangerte Lenin usw.“.
Peter Miso – Juli 2024