Anmerkungen zu Stalins Weg zum Sozialismus und Heiner Karuscheits „barbarisch-bäuerlichem“ Proletariat

Von Kolja Wagner

Als ich vor Jahren das Buch „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus“ von Alfred Schröder und Heiner Karuscheit las, öffnete sich mir ein neuer Zugang zum Marxismus. Nicht die „Wahrheit über Josef Stalin“ oder ideologische Moralapostelei stand in diesem Buch, sondern eine Bewertung der Entwicklung der Sowjetunion auf dem Boden einer materialistischen Analyse der Klassenverhältnisse. Zum Schlüssel der Entwicklung erklärten Schröder/Karuscheit die Agrarverhältnisse. Die Bauern der russischen Zentralgebiete waren Umverteilungsbauern auf Grundlage des gemeinschaftlichen Bodens der Dorfgemeinde.

Heiner sieht in Stalin den „Organisator des russischen Weges zum Sozialismus“, der aufbauend auf dieser Tradition mit der Kollektivierung die Voraussetzung für die rasante Industrialisierung schuf. Durch die Industrialisierung der 30er Jahre strömten Millionen Bauern in die Städte und es entstand ein neues Proletariat. Durch die soziale Öffnung von Partei, Staat und Armee wurde aus dem Arbeiter- ein Arbeiter- und Bauernstaat. So bekam die Sowjetunion einen anderen Charakter und wurde stärker vom neuen „bäuerlich-barbarischen Proletariat“ geprägt.

Gegen die These des Buches, dass die Dorfgemeinde im Zarenreich nicht unterging und durch die Oktoberrevolution 1917 gestärkt wurde, habe ich nichts einzuwenden. In jedem vernünftigen bürgerlichen Buch über Russland steht das seit den 70er Jahren auch geschrieben. Wogegen ich mich hier wende, sind die teilweise unbelegten Ableitungen aus diesen Klassenverhältnissen durch Heiner, sowie seine zynische Verharmlosung der Verbrechen der KPdSU, die angeblich von dem „barbarisch-bäuerlichen“ Proletariat herrührten. Ich meine, die Politik Stalins ab 1928 war der wesentliche Grund für das Scheitern des Sozialismus in der UdSSR.

An dieser Stelle möchte ich mich auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und den Terror der 30er Jahre konzentrieren. In den letzten Jahren gibt es zu dieser Epoche Berge an Literatur, von denen ich nur einige Bücher lesen konnte.

Kollektivierung: Ein Krieg gegen die Bauernschaft

Die Darstellung der Kollektivierung (1929 bis 1934) von Heiner ist durch die neuere Geschichtsschreibung widerlegt. Der Kerngedanke von Heiners Überlegungen war, dass Stalin die Deportation und Vernichtung der „reicheren Bauern“ (Kulaken) und Überführung der bäuerlichen Einzelwirtschaft in die Kolchose auf der russischen Dorfgemeinschaft aufbauen konnte. „Gegenüber den Teilen der Bauernschaft, die sich wie im Westen Europas auf das Privateigentum an Grund und Boden stützten, insbesondere gegenüber der Ukraine, bedeutete die Kollektivierung den Bürgerkrieg. Im ausschlaggebenden Zentralrussland dagegen waren die altrussischen Landumverteilungsbauern relativ einfach für die Kollektivierung zu gewinnen. Sie erhielten die gemeinsame Verfügung über Zugvieh, Pferde und Gerätschaften der „Dorfreichen“. Als dann noch die ersten Traktoren eintrafen, war der Kolchos gesichert.“ (Karuscheit, 1999, S. 12) „Der Widerstand gegen die Kollektivierung wurde bis zuletzt nur von den Kulaken der Obscina-Dörfer sowie von der Einzelbauernwirtschaft in Sibirien und hauptsächlich in der Ukraine getragen.“ (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 201) Selbst wenn dem so wäre, warum führte dann der angeblich so geniale Klassenpolitiker Stalin in der Ukraine und Russland die gleiche Politik durch? Hätten nicht unterschiedliche Klassenverhältnisse und Bauern eine unterschiedliche Politik in den beiden Sowjetrepubliken erfordert?

Bei beiden Zitaten handelt es sich um Ableitungen von Heiner, die auch in seinem Buch durch nichts belegt werden. Durch neue Dokumente ist heute deutlich, dass es sowohl in den russischen Kerngebieten als auch an den Rändern des Reiches massiven Widerstand von großen Teilen der Bauernschaft gegen die Einführung der Kolchosen gab. Die Zahl der Bauernunruhen stieg von 709 (1928) auf 1.307 (1929) und schließlich 13.754 im Jahr 1930. Davon fielen 8.164 auf das russische Gebiet (Beyrau, 2001, S. 118). In den zentralen Schwarzerde-Gebieten kam es zu 1.373 Massenunruhen (Viola, 1996, S. 138). Die OGPU registrierte 1929 und 1930 über 22.000 terroristische Akte, davon 1.100 Morde (ebenda, S. 238).

Die meistens lokalen Bauernproteste richteten sich in der Mehrheit gegen die Kollektivierung, zu 17 Prozent gegen die „Entkulakisierung“ und zu 11 Prozent gegen antireligiöse Maßnahmen, die mit der Kollektivierung einher gingen (Beyrau, 2001, S. 118). Ein geheimes Memorandum vom ZK vom 2. April 1930 sprach von Massenaufständen der Bauern in den zentralen Schwarzerde-Gebieten, Ukraine, Kasachstan, Sibirien und der Region um Moskau. Wenn die Parteilinie weiter nicht beachtet werde, würde ein großer Teil der niederen Kader von den Bauern abgeschlachtet werden, so das ZK (Viola, 1996, S. 110). In den Statistiken, die Viola veröffentlicht hat, steht bei gewaltsamem Widerstand der Bauern, wie Mord an Sowjetfunktionären, zwar die Ukraine an der Spitze. Aber die zentralrussischen Schwarzerde-Gebiete nehmen auch einen bedeutenden Teil ein (Viola, 1996, S. 110).

Über die soziale Zusammensetzung des Widerstandes gibt es anscheinend nur wenig Quellen. In der Region Leningrad setzte sich der Widerstand gegen die Kollektive zu ca. 29 Prozent aus Kulaken, zu 51 Prozent aus mittleren und armen Bauern, zu 7 Prozent aus dem Klerus und zu 5 Prozent aus lokalen Sowjetfunktionären zusammen. Auch in einem Bericht der OGPU hieß es, dass ein mehr oder minder großer Teil der armen und mittleren Bauern den Widerstand unterstützen würde (Viola, 1996, S. 143).

Bei den Protesten nahmen die Bauersfrauen eine zentrale Rolle ein. Oft wurden die Kolchosen unter dubiosen religiösen Parolen bekämpft. Viola stellt den Bürgerkrieg der Kollektivierung als Krieg zwischen der städtischen und bäuerlichen Kultur dar (Viola, 1996, S. 44). Auch religiöse, familiäre und kulturelle Gewohnheiten griffen die auf das Land entsandten Arbeiter an und die Bauern verteidigten sie, auch gewaltsam.

Der Kampf um das Getreide

Stalin leitete im Dezember 1929 mit seinem Artikel zur Liquidierung der Kulaken als Klasse die Offensive zur Deportation von Millionen Bauern ein. Für Heiner war die zentrale Frage der Auseinandersetzung zwischen Staat und Bauernschaft die Eigentumsordnung des Kolchos. Nachdem Stalins Artikel „Vor Erfolgen vom Schwinden befallen“ von März 1930 den Bauern private Parzellen zubilligte und sich gegen die Vergesellschaft von Geflügel und Wohnhäusern wandte, sei ein tragbarer Kompromiss mit der russischen Bauernschaft (Mittelbauern und Dorfarmut) gefunden wurden.

Nach dem Artikel nahmen die Unruhen sogar noch zu (Viola, 1996, S. 136). Vielleicht auch deshalb, weil die neue Linie noch nicht umgesetzt wurde. Bis Juli 1930 traten 30 Prozent der Dorfbevölkerung wieder aus den Kolchosen aus (Medvedev, S. 81). Nach der Sicherung der Ernte startete die Partei die zweite Kollektivierungsoffensive, die die große Mehrheit der Bauern zu Kolchosenmitgliedern werden ließ.

Die Frage der Eigentumsordnung des Kolchos war zwar wichtig, aber der Widerstand der Bauern regte sich vor allem gegen die Getreidejagd mit terroristischen Methoden der städtischen Brigaden. Das Marktaufkommen des Getreides vervierfachte sich fast, nachdem die Brigaden den angeblichen „Kornstreik“ der Kulaken gebrochen hatten.

So leisteten die Gegenden gegen die Kollektivierung Widerstand, die einen größeren Überschuss an Getreide produzierten – unabhängig von der Ausprägung der Dorfgemeinde. Im Uralgebiet und Regionen zwischen Moskau und Leningrad, die nicht zu den Schwarzerde-Gegenden gehörten, produzierten die Bauern wenig Überschuss und es gab nur wenige Kulaken. Dort gab es kaum Widerstand (Medevdev, S. 86). Auch in Belarussland hatte sich noch keine investitionsorientierte Wirtschaftsweise herausgebildet. Da das Gebiet kein Getreideexporteur war, stellte Moskau keine unrealistischen Kennziffern für die Pflichtablieferung auf. Deshalb gab es dort keine Hungersnot im Ausmaß der Ukraine (Siebert, 1998, S. 372).

Heiner schrieb über die Hungersnot: „Im Winter/Frühjahr 1932/33 gab es in verschiedenen Gebieten der Sowjetunion eine Hungersnot, im Wesentlichen dort, wo das Privateigentum verbreitet war, vor allem in der Ukraine.“ (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 194) Auch die Hungersnot war nicht in erster Linie Folge von Eigentumsverhältnissen, sondern durch die staatliche Getreidejagd verursacht.

Sicher wurde die Ukraine mit ihren auf dem Boden des Privateigentums stehenden Bauern am schlimmsten getroffen. Nach den Daten der sowjetischen Volkszählung verringerte sich die Zahl der Ukrainer zwischen 1926 und 1936 um etwa 3 Millionen, sprich 10 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der Russen um 27 Prozent (Kappeler, 1994, S. 201). Die Schätzung der Hungertoten der Ukraine, des Wolga- und Uralgebietes sowie Kasachstans bewegen sich zwischen vier und zehn Millionen (Beyrau, 2001, S. 120f.). Auch in den fruchtbaren Schwarzerde-Gebieten wütete 1931/32 der Hunger (Kappeler, 1994, S. 202). Fitzpatrick schreibt, dass die unproduktiveren Nicht-Schwarzerde-Gebiete im Norden und Westen einen weniger harten Kampf um das Getreide auszufechten hatten und daher auch nicht von der Hungersnot getroffen wurden (Fitzpatrick, 1994, S. 72).

Ob der Hunger nun von der Parteiführung bewusst als Waffe zur Unterwerfung der Bauern eingesetzt wurde oder nicht, sei ein Mal dahin gestellt. Wie schon im Bürgerkrieg 1918 bis 1920 führte der Frontalangriff des Staates auf die Getreideproduzenten zu einer Hungersnot.

Auch Stalin äußerte sich indirekt zur Hungersnot. Im Februar 1933 erklärte er Stoßarbeitern der Kolchosen, dass die Schwierigkeiten der Kollektivbauern, verglichen mit den Entbehrungen der Arbeiter im Bürgerkrieg, ein „Kinderspiel“ seien, über das es sich nicht einmal ernstlich zu sprechen lohnt (SW, 1950, Band 13, S. 218 f).

Barbarei und „bäuerliches Proletariat“

Das Industrialisierungsmodell Stalins beinhaltete im Wesentlichen die „Ausbeutung“ der Bauernschaft durch die zwangsweise Aneignung des bäuerlichen Mehrproduktes durch den Staat zu niedrigen Getreidepreisen. Ein solches Modell konnte nur von einem repressiven Staat gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden. Durch Konsumdrosselung, Senkung der Reallöhne und Militarisierung der Arbeit seit Mitte der 30er Jahre wurde auch die Arbeiterklasse zur Quelle der „sozialistischen Akkumulation“.

Heiner schrieb, dass der Staat stark sein musste, „weil die Gesellschaft im Umbruch und die Gesellschaftsstruktur ungesichert war, die Arbeit zwangsweise organisiert werden musste und schließlich das Mehrprodukt der Bauern nur auf dem Boden außerökonomischer Gewalt erlangt werden konnte.“ (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 235)

Die „barbarischen“ Züge des Staates in den 30er Jahren führte Heiner aber nicht auf diesen Zustand zurück, sondern auf die Veränderung der Klassenverhältnisse und der Partei. Da in den 30er Jahren ca. 12 Millionen Bauern in die Städte strömten, bekam die Arbeiterklasse einen neuen Charakter. „Bedingt durch die bäuerliche Abkunft des neuen Massenproletariats und die Hereinnahme der Bauern in den Staat nahm die Diktatur des Proletariats bäuerlich-barbarische Züge an.“(Schröder/Karuscheit, 1993, S. 285)

Stalin und sein Terror seien letztendlich nur Widerspiegelungen der gesellschaftlichen Verhältnisse. „Die Personen, die die sowjetische Politik historisch bestimmten, verkörperten individuell die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte, an deren Spitze sie standen. Lenin repräsentierte die vergleichsweise kultivierte städtische Arbeiterklasse der Oktoberrevolution (…) Stalin repräsentierte die bäuerlich-barbarische Arbeiterklasse der Industrialisierung, die in aufopfernden Produktionsschlachten den Weg aus der Barbarei eröffnete“. (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 286 f.)

Auch die Morde von Jack the Ripper oder die Symphonien Beethovens waren Widerspiegelungen gesellschaftlicher Verhältnisse. Erklärt wird mit diesem Verweis aber gar nichts. Das wirtschaftlich und kulturell entwickeltere Deutschland war unter dem Nationalsozialismus noch zu viel größeren Verbrechen in der Lage, als das rückständigere Russland. Mit dem bäuerlich-kleinbürgerlichen Charakter der nationalsozialistischen Massenbewegung kann man den Holocaust nicht vollständig erklären, da meistens Intellektuelle die Planung und Organisation der Vernichtung übernahmen.

Lenin und Stalin verkörperten beide eine Schicht von Berufsrevolutionären, die schon seit Jahrzehnten dieser Beschäftigung nachgingen. Beide sahen sich als Vollstrecker der geschichtlichen Mission des Proletariats, konnten sich aber auch gegen die „real existierenden“ Arbeiter stellen, wenn sie meinten, deren Forderungen entsprächen nicht den Interessen der Bewegung. Aus welchem Grund soll sich Stalin als Repräsentant des neuen Proletariats der 30er Jahre verstanden haben? Für ihn galten die nicht lupenreinen Proletarier als politisch unzuverlässig und mussten durch die harte Hand des Staates erst ein Mal zu Industriearbeitern umgemodelt werden. Was hat Stalin getan, um die Lage der neuen Arbeiter zu verbessern?

David Hoffman hat in seiner Studie über die neuen Arbeiter im Moskau der 30er Jahre gezeigt, dass es sich bei ihnen keinesfalls um eine „gesichtslose Masse“ handelte. Um in der Stadt überleben zu können, riefen die Bauern ihre eigenen Selbsthilfeorganisationen ins Leben, die bei Arbeits- und Wohnungssuche halfen. Außerdem organisierten sie traditionelle dörfliche und religiöse Feste und behielten einen großen Teil der dörflichen Kultur bei (Hoffmann, 1994, S. 218). Viele Neuankömmlinge vom Dorf wohnten in den Außenbezirken Moskaus in Holzhütten und Sammelunterkünften. Außerhalb der Arbeit führten sie ein ähnliches Leben wie auf dem Dorf. Der Staat besaß überhaupt nicht die Ressourcen, den Hunderttausenden neuen Arbeitern Weiterbildung und kulturelle Umerziehung zu gewährleisten. Als Unterprivilegierte standen die bäuerlichen Arbeiter eher außerhalb des Systems. Von der Sowjetpropaganda fühlten sie sich nur wenig angesprochen. „Those workers who were promoted into positions of authority and privilege (the „Brezhnev generation“) acquired a stake in the soviet system and a belief that it represented their interests; but for the vast majority of newly urbanized workers, the myths and ideals of Soviet ideology held little currency. The low-status jobs, incessant exhortations to fulfill the plan, incomprehensible cultural education, overcrowded barracks, and low living standard that made up their world did not correspond to official promises of a workers’ utopia.“ (Hoffmann, 1994, S. 217)

Heiners These, dass die Ankunft dieser Massen im Staat dem System die „barbarischen“ Züge gegeben hätte, kann man durch sein eigenes Buch widerlegen.

Der größte Terror, den das Regime veranstaltete, war die so genannte „Vernichtung der Kulaken als Klasse“. Millionen wurden deportiert, Hunderttausende erschossen. Als Kulak oder Kulakenhelfer konnte jeder Bauer abgestempelt werden, der sich gegen Getreiderequirierung oder Kollektivierung stellte. Diese Gewalt richtete sich gegen die Bauern, von denen auch Millionen vor den Folgen der Kollektivierung in die Städte flohen (Viola, 1996, S. 99). Viele Bauern „entkulakisierten“ sich auch selbst, indem sie ihren Besitz verließen, bevor sie der Staat dazu zwingen konnte. Der Anteil der Kolchosbauern in der Partei sank sogar von 18 Prozent (1933) auf 9 Prozent (1936) (Beyrau, 2001, S. 130). Auch diese Zahl verdeutlicht den Konflikt zwischen Bauern und Partei.

Vielleicht hält Heiner diese Politik nicht für „barbarisch“, weil sie ja ausgeführt wurde, bevor das neue Proletariat Zugang zu Staat und Partei hatte.

Es war Stalin, der die „Große Säuberung“ 1934 nach dem Mord an Kirow einleitete und zwar bevor die soziale Öffnung der Partei erfolgte. Heiner wies selbst darauf hin, dass es 1935/36 eine Aufnahmesperre gab, die erst im November 1936 wieder aufgehoben wurde, als die „Säuberung“ ihren ersten Höhepunkt überschritten hatte (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 230). Erst der 18. Parteitag 1939 hob alle sozialen Einschränkungen für die Aufnahme in die Partei auf. So stieg die Zahl der Bauern in der Partei von 11 Prozent (1938) auf 30 Prozent (1941). Wie viele Arbeiter, die gerade vom Dorf kamen, nach der Aufnahmesperre in die Partei aufgenommen wurden, ist mir unbekannt. Dass sie in so kurzer Zeit in leitende Positionen aufstiegen, halte ich für unwahrscheinlich.

Die ganze „Säuberung“ wurde von oben eingeleitet und im Unterschied zur chinesischen Kulturrevolution (1966 bis 1976) nicht von aufgebrachten Massen durchgeführt, sondern vom staatlichen Repressionsapparat, vor allem vom Geheimdienst. Der „barbarische“ Terror der „Großen Säuberung“ hatte herzlich wenig mit dem „barbarischen Bauern-Proletariat“ zu tun.

Selbst wenn viele neue Arbeiter Parteimitglieder wurden, hatten sie keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Parteitage, die nur noch Inszenierungen der Macht waren. Auch wenn die neue Sowjetverfassung von 1936 fast allen Bürgern das Wahlrecht gab, so existierten keine demokratischen Wahlen.

Laut Heiner machte sich der Eintritt der Bauern und neuen Arbeiter ins politische Leben auch 1936 im konservativeren Familiengesetz und den Verboten von Abtreibung und Homosexualität deutlich (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 224). Dann müssen die neuen Arbeiter, die damit voll beschäftigt waren, in den Städten zu überleben, wohl von außen auf die Partei einen solchen Druck ausgeübt haben, dass der Staat, der in der Lage war, ihre Arbeit mit Zwang zu organisieren, nachgeben musste.

Stalin „trieb die Entwicklung zum Sozialismus voran – und konnte dies nur mit den Mitteln tun, die die „real existierende Klasse“ ihm vorgab.“ (Schröder/Karuscheit, 1993, S. 287) Gulag, GPU-Terror und Schauprozesse – das sollen die neuen Arbeiter Stalin vorgegeben haben?

Sicher wurde auch die KPdSU und die Sowjetunion von den russischen Traditionen, wie Personenkult, fehlender Rechtsstaat und mangelndes Demokratieverständnis usw. geprägt. Der Leser der Romane von Gorki, Dostojewski oder Gogol bekommt vom russischen Dorf und der Kleinstadt schon einen sehr barbarischen Eindruck. Mit Trunksucht, Aberglauben, Kulturlosigkeit, Inzest oder Prügeleien des russischen Muschiks kann man aber den organisierten Massenmord durch einen modernen Staatsapparat an der sowjetischen Elite, Intelligenz und widerspenstigen Bauern nicht erklären.

Die „Große Säuberung“ auf Befehl von oben

Gewalt gegen „Kulaken“ durch die Dorfarmut mag noch Ausdruck von spontanem „Volkszorn“ gewesen sein. Die „Große Säuberung“ wurde aber auf Befehl von oben unter direkter Regie des Politbüros durchgeführt. Hier sollen nur einige Beispiele angeführt werden: Mit dem Befehl 00447 des Politbüros von Juli 1937 wurden für alle Regionen des Landes Planziffern für Liquidierungen zugewiesen (Wehner, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. August 1997). Nach diesen Ziffern mussten die Regionen ihre Jagd auf die „Volksfeinde“ veranstalten. Nach diesem Plan sollten 259.450 Menschen verhaftet werden.

Schon in den Schauprozessen Ende der 20er Jahre kümmerte sich Stalin persönlich darum, welche Geständnisse von den Angeklagten zu erreichen seien (ebenda). Insgesamt sind heute 383 Listen bekannt, die Stalin 1937/38 in den Händen hielt. Sie verzeichneten 44.000 Funktionäre aus Partei, Staat und Wirtschaft, von denen 39.000 zur Erschießung bestimmt waren (ebenda). Viele dieser Listen wurden von Stalin oder anderen Politbüromitglieder persönlich unterschrieben.

Besonders interessant ist es auch, dass nicht nur die sowjetische Elite hohe Opfer zu beklagen hatte. Mit dem Beschluss des Politbüros vom 2. Juli 1937 wurden in der so genannten Kulaken-Operation 670.000 Menschen verhaftet und mehr als 400.000 erschossen (ebenda). Viele „Kulaken“ waren ohne Erlaubnis in die Städte gezogen oder in ihre Heimat zurückgekehrt. So schreibt Wehner, dass die Bauern Ende 1937 schon die Mehrheit in den NKWD-Gefängnissen stellten. Man warf ihnen vor, Sabotage zu betreiben. Diese Zahlen zeigen auch, wie wenig die kollektive Agrarordnung gesichert war, selbst nach dem Artel-Kompromiss, der den Bauern kleine Privatparzellen zubilligte.

Ich meine, die „barbarischen“ Züge des politischen Systems der Sowjetunion hingen mit dem Akkumulationsmodell zusammen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft führte in den Bürgerkrieg und konnte nur mit Terror und „Kulakenvernichtung“ durchgeführt werden. Nur mit staatlicher Gewalt konnte den Bauern das Getreide zu solch‘ niedrigem Preis abgenommen werden. So hatte die sowjetische Wirtschaft der Stalin-Zeit Züge eines Kriegskommunismus.

Den Massenmord an der sowjetischen Elite in Staat, Partei und Armee kann man damit wohl nicht ausreichend erklären. So ist die Frage nach dem Grund der „Großen Säuberung“, die von Stalin und dem Politbüro eingeleitet wurde, noch nicht beantwortet.

Das Argument der Kriegsvorbereitung ist zweifelhaft, da durch die „Säuberung“ Staat und Armee eher geschwächt wurden. Die deportierten Minderheiten und Nationalitäten sollten wahrscheinlich weitab von dem erwarteten Frontverlauf gebracht werden, damit sie die Invasoren nicht unterstützen konnten. Auch die These, den Terror als „Säuberung“ der sowjetischen Erde von allem, was nicht in das Bild des neuen Sowjetmenschen passte zu verstehen, greift zu kurz. Viele Opfer waren ja gerade Kommunisten, die genau in dieses Idealbild passten.

Stalin als Lackmus-Test für die richtige Gesinnung?

Heiner verharmloste nicht den Terror der KPdSU und schob ihn dem „barbarisch-bäuerlichem Proletariat“ zu, sondern erklärte die Stalinfrage noch zum Lackmus-Test für die richtige kommunistische Gesinnung. (Kommunistische Presse?) Stalins großer Fehler sei die mangelnde theoretische Fundierung seiner Praxis gewesen. Marxisten, die Stalins Weg zum „Sozialismus“ ablehnen, sind also entweder Opportunisten oder Linksradikale. In dieser Hinsicht steht Heiner in der alten ML-Tradition.

Die ML-Bewegung leugnete den „barbarischen Charakter“ und die Verbrechen der KPdSU in den 30er Jahren. Heiner meint, es war schon schlimm, aber Schuld daran waren die Klassenverhältnisse und das „barbarische Bauernproletariat“. Stalin vollstreckte als genialer Klassenpolitiker scheinbar die grausamen, aber unvermeidlichen Notwendigkeiten der Geschichte, um in Russland den Sozialismus aufzubauen.

Da ich an keinen geschichtlichen Determinismus glaube, hätte die Geschichte der Sowjetunion auch anders verlaufen können – auch auf dem Boden der gleichen Klassenverhältnisse. Heiners Thesen sind zum Teil unbelegte oder sogar falsche Ableitungen aus Fakten der bürgerlichen Wissenschaft. Aber abgesehen von dem Streit um die Fakten sollte man eines nicht übersehen: Wir haben einen unterschiedlichen Zugang, Geschichte marxistisch zu bewerten und zu analysieren.

Den Teich trocken legen, um die Fische zu fangen

Meine Gedanken zum Scheitern des russischen Sozialismus möchte ich hier nur kurz umreißen. Ich meine, gescheitert ist es, den Sozialismus gegen die Bauernschaft aufzubauen. Zwar gelang es, in einem Bürgerkrieg die „Kulaken“ zu vernichten und die Kolchosen durchzusetzen. Doch nach dieser traumatischen Erfahrung standen viele Bauern den Kolchosen ablehnend gegenüber und besaßen bei den niedrigen Getreidepreisen kaum Arbeitsanreize. Sie verausgabten sich lieber auf den privaten Parzellen. Gegen Bummelei und Schlendrian halfen weder die Moralpredigten der Partei noch die Kampagnen zur Stärkung der Arbeitsmoral. Der Staat war weder in der Lage, die Arbeit der Bauern effektiv zu überwachen, noch ein wirkliches Leistungssystem durchzusetzen. In diesem Sinne war die Kollektivierung ein Papyrus-Sieg. Von der Abschlachtung von Millionen Tieren erholte sich die sowjetische Viehwirtschaft erst nach Jahrzehnten.

Mit dem System der schweren „Ausbeutung“ der Bauernschaft konnte zwar die Schwerindustrialisierung einen gewissen Zeitraum finanziert werden. Auf Dauer war dieses System für die Modernisierung Russlands ungeeignet. Mit der Kollektivierung wurde das ländliche Handwerk und Kleingewerbe zerstört. Durch die Armut der Bauern hatte die Leichtindustrie keinen großen nationalen Markt.

Mao Zedong kritisierte die sowjetische Agrarpolitik wiederholt und schrieb 1956 in der Schrift „Die zehn großen Beziehungen“: „Die Sowjetunion hat mit ihren Maßnahmen die Bauern zu sehr geschröpft. Mit ihrer so genannten Getreideablieferungspflicht und anderen Maßnahmen wird den Bauern zu viel weggenommen und zu wenig dafür bezahlt. Auf diese Weise Geldmittel zu akkumulieren, hat die Begeisterung der Bauern für die Produktion sehr gedämpft. Du willst, dass die Henne mehr Eier legt, willst sie aber nicht füttern (…) Angesichts der schweren Fehler der Sowjetunion in dieser Frage müssen wir noch sorgfältiger sein und die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bauern gut regeln.“ (Mao Zedong, 1977, S.68) Leider zog Mao aus dieser richtigen Erkenntnis keine entscheidenden Schlüsse für die Praxis und verursachte mit seinem Frontalangriff auf die Getreideproduzenten 1958 bis 1960 noch eine größere Hungersnot als Stalin.

Auch die Arbeiter waren nach den Opfern des 2.Weltkrieges nicht mehr bereit, Militarisierung der Arbeit und Reallohnsenkungen hinzunehmen. Nur die Stoßarbeiter und die Traktoristen der staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) seien noch bereit gewesen, das stalinsche Programm der Entbehrungen mitzutragen, so lautet eine von Heiners Ableitungen, die auch durch nichts belegt ist. Die materiellen Zugeständnisse an die Arbeiterklasse durch Chruschtschow betrachte ich als nachträgliche soziale Fundierung der rasanten Urbanisierung der 30er Jahre. Die neuen Arbeiter konnten schließlich nicht ewig in Massenunterkünften und Baracken der Vororte wohnen. Nach Stalins Tod reformierten seine Nachfolger das ökonomische System nicht grundlegend, obwohl die Bauernschaft von der Melkkuh zum Stein am Hals des Staates wurde.

Stalin und die KPdSU versuchten mit Hilfe der Staatsmacht, die sowjetische Gesellschaft in die Moderne zu prügeln. Nach der Kollektivierung, „Großen Säuberung“ und 2. Weltkrieg lag die Gesellschaft so erschöpft am Boden, dass sie so schnell nicht mehr aufstehen sollte. Eine brachiale Industrialisierung in kurzer Zeit war gelungen, der Aufbau des Sozialismus auf lange Sicht gescheitert.

Literatur

  • Beyrau, Dietrich: Petrograd, 25. Oktober 1917 – Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001.
  • Fitzpatrick, Sheila: Stalin’s Peasants, New York 1994.
  • Hoffmann, David: Peasant Metropolis – Social Identities in Moscow 1929 – 1941, London 1994.
  • Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994.
  • Karuscheit, Heiner/Schröder, Alfred: Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus – Aufsätze über die Klassenverhältnisse an den Wendepunkten der russisch-sowjetischen Geschichte, Gelsenkirchen 1993.
  • Karuscheit, Heiner: Die Schlüsselkrise der 50er Jahre der Sowjetunion, in: AzD 67, 1999.
  • Mao Zedong: Band „V“, 1977.
  • Medvedev, Zhores A.: Soviet Agriculture, London 1987.
  • Siebert, Diana: Bäuerliche Alltagsstrategien in der Belarussischen SSR (1921 – 1941), Stuttgart 1998.
  • Stalin, Josef: Gesammelte Werke, Berlin 1950 (zitiert als SW).
  • Viola, Lynne: Peasant Rebels under Stalin, New York 1996.
  • Wehner, Markus: Bauernpolitik im proletarischen Staat, Köln 1998.
  • Wehner, Markus: Der Große Terror, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. August 1997.
Letzte Änderung: 21.03.2016