Vorbemerkung
In dem im April 1917 verfassten Vorwort zu seiner Schrift über den Imperialismus bemerkte Lenin, er sei mit Rücksicht auf die zaristische Zensur genötigt gewesen sich „strengstens auf die ausschließlich theoretische – insbesondere die ökonomische – Analyse zu beschränken.1 Die „notwendigsten Ergänzungen“ versuchte er 1920 im Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe zu geben: eine Umarbeitung des ganzen Textes hielt er für unzweckmäßig, da die Hauptaufgabe des Buches nach wie vor dieselbe sei: „zu zeigen, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Vorabend des ersten imperialistischen Weltkriegs, das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselwirkungen war“2. Mit diesem Ziel verband er 1917 die Hoffnung, seine Schrift werde dazu beitragen, „sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im Geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus“3.
Der Beschränkung auf die ökonomische Seite des Imperialismus folgt auch der vorliegende Artikel, deren Behandlung darüber hinaus auf die ersten beiden der fünf Merkmale eingegrenzt wird, welche Lenin als grundlegend für die Charakterisierung des Imperialismus ansah. Diese fünf Merkmale werden in der Imperialismus Schrift folgendermaßen formuliert: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses <Finanzkapitals>; 3. der Kapitalexport, im Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“4 Die letzten drei Merkmale liefern den Zugang zur Einschätzung der imperialistischen Politik und des ersten Weltkriegs. Mit ihnen wird die internationale Aktivität des Finanzkapitals und der Monopole beschrieben, die sich in verschiedenen Formen der Expansion, der Aufteilung und Neuaufteilung der Welt (Kapitalexport, Kampf um Märkte und Rohstoffquellen, schließlich Kampf um Wirtschaftsgebiete und Territorien überhaupt) äußert. Der damit umrissene Zusammenhang zwischen der Entstehung des Finanzkapitals und dem Imperialismus als dessen charakteristischer Politik soll an dieser Stelle nicht näher untersucht werden. Lenin folgt darin J.A. Hobson5, dessen Buch über den Imperialismus er mit besonderer Aufmerksamkeit verwertet6 – ohne jedoch die theoretische Basis der ökonomischen Auffassungen des englischen Publizisten, die Erklärung des Kapitalüberflusses aus der beschränkten Konsumptionsfähigkeit der Bevölkerung, zum Ausgangspunkt seiner eigenen Überlegungen zu machen.
Die Auseinandersetzung mit den ersten beiden Merkmalen der Imperialismus-Definition Lenins hat nicht nur deshalb ein eigenes Gewicht, weil sie Voraussetzung für die Behandlung der übrigen daraus abgeleiteten Merkmale ist; mit der Behauptung, dass um die Jahrhundertwende ein neues ökonomisches Stadium begonnen hat, das bereits in einem bestimmten Gegensatz zum Kapitalismus steht und als Übergangsstadium zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation zu begreifen ist, werden grundsätzliche Probleme der Ökonomie angesprochen, die über die historische Erklärung der zum ersten Weltkrieg führenden Politik hinaus tiefgreifende Bedeutung haben. Dabei muss zunächst die Fragestellung selber genauer umrissen werden. Wenn Lenin den Imperialismus als Monopolkapitalismus bezeichnet, so kann es nicht unmittelbar um die Frage gehen, ob es in den Jahrzehnten bis zum ersten Weltkrieg zur Herausbildung von Monopolen, Kartellen, Trusts usw. gekommen ist oder nicht. Es handelt sich zum einen darum festzustellen, wodurch sich nach Lenins Auffassung das neue ökonomische Stadium vom alten Kapitalismus qualitativ unterscheidet, und zu fragen, ob die tiefgreifenden theoretischen Folgerungen, die Lenin zieht, – auch unter der Voraussetzung der Existenz von Monopolen – berechtigt sind. Zum anderen ist der theoretische Gehalt des Begriffs der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital (des „Finanzkapitals“) festzustellen und zu kritisieren. In beiden Punkten wird zudem versucht, anhand wesentlicher, von Lenin herangezogener Quellen zu überprüfen, ob mit einem Stadium des Monopolkapitalismus bzw. einer Epoche des Finanzkapitals die ökonomische Realität zutreffend erfasst ist. Dabei soll kein abschließendes Ergebnis vorgestellt werden, sondern eine Richtung angezeigt werden, in der weitere Untersuchungen folgen müssen.
1 W. I. Lenin, Werke Band 22, Berlin 1974 (im folgenden LW 22) S. 191
2 S. 193
3 S. 192
4 S. 270 f.
5 John A. Hobson, Der Imperialismus, London 1902
6 LW 22, S. 191