Vorbemerkung (November 2023)
Der hier vorlegte Artikel wurde im Juli 2002 auf der online-Plattform www.Kalaschnikow.net und anschließend im selben Jahr in der AzD 72 veröffentlicht. Anlass war eine Debatte über den Ursprung und die Bedeutung des Antisemitismus in der Gegenwart Deutschlands. Warum veröffentlichen wir erneut einen über 20 Jahre alten Artikel zu diesem Thema?
Neben der augenfälligen Aktualität des Themas ist es ebenso der Übergang linker Gruppierungen in dieser Frage auf die Positionen der Regierung. Wie schon bei der Zuwanderungsdebatte 2015, der späteren Coronadebatte mit ihrer Forderung nach Impfpflicht und weitgehenden Freiheitseinschränkungen, so auch aktuell in der Frage der Stellung zum zionistischen Siedlerstaat beziehen Teile der Linken eine gemeinsame Grundposition mit der herrschenden Klasse. (Die entsprechenden Stellungnahmen dieser Organisationen werden in dieser AzD dokumentiert.)
Einen Ausgangspunkt für diese Entwicklung finden wir in der Debatte über den Antisemitismus vor über 20 Jahren. Damals begann die Herauslösung des Begriffs Antisemitismus aus seinem historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext und seine Verwandlung in einen Kampfbegriff zur Verteidigung der israelischen Kriegs- und Vertreibungspolitik gegen die arabische Bevölkerung. Was damals nur von einzelnen interessierten und prozionistischen Kräften verfochten wurde, ist heute vorgegebene Staatsräson. Die gesamte politische Klasse – incl. Linkspartei und AfD – verfolgt eine Politik, die öffentliche Meinung für eine strafrechtliche Verfolgung jeglicher Kritik an Israel zu gewinnen. Die Kritik am staatsgewordenen Zionismus Israels soll als Antisemitismus nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern auch polizeilich verfolgt werden. Die Demonstrationsfreiheit soll – wie schon zu Coronazeiten – weitgehend der polizeilichen Willkür oder der Entscheidung regionaler Verwaltungen ausgeliefert werden. Deshalb macht es Sinn, auf die Diskussion über Antisemitismus und Zionismus vor über zwei Jahrzehnten zurück zu blicken.
Wie der Leser sicherlich bemerkt, hat sich die gesellschaftliche Zusammensetzung dieser Republik und die politische Stimmung in den vergangenen Jahren gravierend verändert. Mit der von der Merkel-CDU, dem BDI und weiteren bürgerlichen Kräften betriebenen Zuwanderungspolitik ab Mitte des vergangenen Jahrzehnts, die dabei von der Linken entschieden unterstützt wurde (und, nebenbei bemerkt, den Aufstieg der AfD zur Volkspartei ermöglichte), hat sich das Gesicht dieser Republik deutlich verändert. Die massive Zuwanderung durch muslimisch geprägte Migranten aus Asien, dem Nahen Osten und Nordafrika hat die Kritik an der zionistischen Siedlungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der ursprünglichen arabischen Bevölkerung Palästinas und Teilen der umliegenden Staaten unweigerlich auch zu einem innenpolitischen Problem in Deutschland gemacht. Die herrschenden Kreise dieser Republik versuchen, der durch Zuwanderung auch zahlenmäßig gewachsenen Kritik an der israelischen Politik mit der Drohung der Abschiebung ausländischer und der Strafverfolgung deutscher Kritiker zu begegnen (siehe die breit gelobte Rede des Vizekanzlers).
Wahr aber ist, dass Karuscheits Satz: „Der Antisemitismus hat in der gesellschaftlichen Realität des heutigen Deutschlands keine Wurzeln mehr, weder politisch noch sozial“, der damals ein Ausgangspunkt der Debatte war, vollständig korrekt war. Er ist heute um den Zusatz zu ergänzen: Die entscheidende Quelle des immer breiter werdenden Protests gegen die israelische Politik ist nicht ein altvorderer Antisemitismus, sondern die verbrecherische Vertreibungspolitik des staatsgewordenen Zionismus in Israel.
Der hier erneut abgedruckte Artikel geht auf die ideologischen und politischen Wurzeln der zionistischen Bewegung ein und versucht herausarbeiten, dass der Staat gewordene Zionismus geradezu zwangsläufig diese Politik betreiben muss; ganz egal ob er von Ben Gurion, Golda Meir oder Begin und Netanjahu repräsentiert wird. So unterschiedlich diese Flügel des Zionismus politisch agieren, gemeinsam verfolgen sie das Programm der territorialen Ausbreitung Israels und der Entrechtung bzw. Vertreibung der arabischen Bevölkerung. Hier – und nicht in völkischen Theorien des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – ist die Ursache für jenen stetig wachsenden „Israel-bezogenen Antisemitismus“ zu finden.
Der nachfolgende Artikel wurde leicht gekürzt und an einer Stelle (XIX. Zionistischer Weltkongress) überarbeitet, da die ehedem angegebene Zitatstelle (G. Krämer, Geschichte Palästinas, 1. Auflage 2002) nicht mehr verifizierbar war.
Alfred Schöder, November 2023
Von Gespenstern und gescheiterten Theorien (Artikel von 2002)
Zur Debatte um den Antisemitismus heute
Im Forum der Onlinezeitung Kalaschnikow hat sich in den letzten Wochen eine Debatte zu Heiner Karuscheits Artikel „Kein Sturm im Wasserglas“ entwickelt. Die Zuschriften werfen ein bezeichnendes Licht auf die politische Befindlichkeit und das theoretische Rüstzeug der deutschen Linken. Um beides ist es traurig bestellt. Mit Gespenstern von gestern soll die Kritik der israelischen Siedlungspolitik verboten werden. Beginnen wir mit dem Gespenst von gestern, dem Bannfluch des „Antisemitismus“.
Der „Antisemitismus“
„Obgleich der Antisemitismus in großen Teilen der Bevölkerung Zustimmung findet und überall rechtsextreme Kräfte im Aufwind sind, wird die Gefahr des Antisemitismus schlicht bestritten“, heißt es in einer Kritik an Karuscheits Artikel. Diese Kritik teilt Max Brym in seinem Beitrag für das Diskussionsforum und in einem zusätzlichen Artikel für die Onlinezeitung mit den Worten: „Der Antisemitismus ist in Deutschland entgegen anders lautender Aussagen nach wie vor ein Massenphänomen.“
Diese „anders lautenden Aussagen“ stammen von Heiner Karuscheit, der in oben genanntem Artikel schrieb: „Der Antisemitismus hat in der gesellschaftlichen Realität des heutigen Deutschlands keine Wurzeln mehr, weder politisch noch sozial. Mit der Niederlage des Nationalsozialismus ist er politisch diskreditiert, und mit dem massiven Rückgang der ihn tragenden, kleinbürgerlichen Schichten in der Nachkriegszeit ist auch seine soziale Quelle versiegt. Was übrig bleibt, sind ideologische Relikte, die in der bürgerlichen Gesellschaft von heute keinen Nährboden mehr finden.“
Für Karuscheit hat sich der Antisemitismus in Deutschland von einer politischen Bewegung mit sozialen Wurzeln im Kleinbürgertum zu einer ideologischen Strömung in der BRD – ohne politische und soziale Grundlagen und damit auch ohne Masseneinfluss – gewandelt. Für seine Kritiker ist er dagegen weiterhin ein „Massenphänomen“, welches sich seit den 90er Jahren „aus der Mitte der Gesellschaft (wiederbelebt)“, so Max Brym. Konsequenterweise fordert Brym dann auch die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie in Deutschland gegen den „fundamentalen Angriff“ des Antisemitismus.
Hier haben wir es auf den ersten Blick mit zwei fundamental unterschiedlichen Wahrnehmungen der heutigen Realität zu tun, so unterschiedlich, dass man glauben könnte, die Beteiligten lebten in unterschiedlichen Staaten. Schaut man allerdings etwas genauer hin, so gibt es durchaus Erklärungen für diese völlig unterschiedliche Betrachtung der deutschen Wirklichkeit.
Ausgangspunkt dieser Differenzen ist die unterschiedliche inhaltliche Füllung des Begriffs Antisemitismus. „Der Begriff ‚Antisemitismus‘ wurde 1879 von Wilhelm Marr geprägt. In diesem Jahr erschien seine Hetzschrift ‚Der Sieg des Judentums über das Germanentum‘. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff ‚Semitenfeindschaft‘, diese Feindschaft richtet sich aber ausschließlich gegen Juden.“[1] Diese Interpretation entspricht auch der des Duden, der Antisemitismus als „Abneigung oder Feindschaft gegenüber Juden“ definiert.
Bedeutende Teile der heutigen Linken, allen voran ihr „antideutscher Flügel“, aber auch Karuscheits Kritiker, haben eine andere Definition des Antisemitismus-Begriffes. Diese Definition ist deutlich weiter gefasst als die bisher allgemein gültige und, wie ihre Verfechter unterstellen, ist sie auch aktueller: „Der aktuelle Antisemitismus beruft sich in weiten Teilen auf das Schriftgut der ‚Völkischen Bewegung‘ und des Nationalsozialismus. Dabei sind antisemitische Ressentiments nicht nur aus rechten Kreisen zu vernehmen. Der linke Antisemitismus benutzt dafür gerne die Vokabel ‚Antizionismus‘. Unterzieht man die Vorhaltungen einer näheren Untersuchung, so wird offenbar, dass sich die Kritik gegen alle Juden richtet und vor allem gegen das Existenzrecht der Juden in Israel.“[2]
Es gibt also einen „rechten“ Antisemitismus, der sich auf das Schriftgut der „Völkischen Bewegung“ stützt und damit der klassischen Definition des Antisemitismus als „Feindschaft gegenüber Juden“ entspricht. Damit aber nicht genug, gibt es auch einen „linken“ Antisemitismus. Dieser zeichnet sich dadurch aus, „vor allem gegen das Existenzrecht der Juden in Israel“ aufzutreten. Der linke Antisemitismus „benutzt dafür gerne die Vokabel Antizionismus“.
Durch diese vorgenommene Erweiterung des Begriffs Antisemitismus werden alle Kritiker der israelischen Siedlungspolitik in Palästina zu Antisemiten. Dem politischen Kritiker des Staates Israel und der Siedlungspolitik dieses Staates wird damit die weltanschauliche Position eines rückständigen Kleinbürgers aus dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert unterstellt, und wohlgemerkt auch ohne dass der Kritiker sie jemals geäußert hätte. Es reicht völlig, dass er die auf dem Zionismus beruhende israelische Siedlungspolitik kritisiert, um als Geistesverwandter des Nationalsozialismus erkannt und geoutet zu werden.
Diese Sprachregelung ist ein außenpolitisches Instrument des Staates Israel, der damit jegliche Kritik an seiner Existenz wie auch seiner Politik zurückweist. Sie wurde in der Möllemann-Debatte umstandslos von Herrn Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland übernommen und wird von bestimmten Teilen der Linken ebenso ungefragt akzeptiert. Der Sinn dieser Sprachregelung besteht in der Denunziation und moralischen Abqualifizierung jeglicher grundsätzlichen Kritik an dem Staat Israel und seiner Siedlungspolitik. Die Kritik an Israel darf nicht die Existenz des Staates und seiner Siedlungspolitik berühren, dann überschreitet sie die Grenze zum Antisemitismus. Das ist die neue Definition eines alten Begriffes, und es ist der aktuelle Sprachgebrauch des Begriffs Antisemitismus in der politischen Debatte der letzten Jahre.
Inzwischen hat es eine weitere Ausweitung des Antisemitismus-Begriffes gegeben. Der Übergang der US-Administration zur Kriegspolitik und zur Destabilisierung ihrer arabischen Bündnispartner hat die Politik der USA gegenüber Israel verändert. Suchten die früheren US-Administrationen einen Ausgleich zwischen ihren arabischen Verbündeten und Amerikas wichtigster Stütze im Nahen Osten, Israel, so unterstützt die Bush-Regierung zur inneren Destabilisierung ihrer verbündeten Regimes in der arabischen Welt nur noch die israelische Politik. Im Kampf gegen den „Terror“ stehen Bush und Scharon nicht nur Schulter an Schulter gegen die arabische Welt und die europäischen Kritiker der amerikanischen und israelischen Kriegspolitik. Nun wird auch jeglicher Versuch der Legitimierung des palästinensischen Widerstandes gegen die zionistische Besatzung mit dem Begriff des „Antisemitismus“ gebrandmarkt.
Bleibt es bei diesem Tempo der politischen Begriffserweiterung, ist es für jeden leicht erkennbar, dass der „Antisemitismus“ ein „Massenphänomen“ nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa wird. Allein, diese Begriffserweiterung im Schatten der amerikanischen und israelischen Kriegspolitik ist nichts anderes als der auf Dauer hilflose Versuch, die Kritiker dieser Kriegs- und Besatzungspolitik moralisch zu diskreditieren und politisch mundtot zu machen.
Der „Antisemitismus“ ist ein „ideologisches Relikt“, das in der „gesellschaftlichen Realität des heutigen Deutschlands keine Wurzeln“ mehr hat, ein Gespenst von gestern, das heute von jenen politischen Kräften beschworen wird, die eine öffentliche Kritik an der amerikanischen und israelischen Kriegspolitik in der BRD unterbinden wollen. Und dies sind nicht wenige in Deutschland. Angeführt von der Springer-Presse, von Welt und Bild, bis hin zu bahamas und konkret, reicht die Front dieser Gespensterbeschwörer, mit durchgängig unlauteren, weil kriegstreiberischen Absichten.[3] Max Brym fühlt sich nicht wohl in dieser Gesellschaft; das machen seine Artikel deutlich. Allein, er bedient sich ihrer Argumentation und wird sich der politischen Logik nicht entziehen können. Sie führt schnurstracks an die Seite der staatstragenden Kräfte und der „transatlantischen Allianz“.
Der Antizionismus
Max Brym dürfte der Kunstgriff mit der erweiterten Nutzung des Antisemitismus-Begriffes „im Magen“ gelegen haben. Dies erklärt, warum er wenige Tage nach seinem ersten Artikel einen zweiten nachlegte. Der bezeichnende Titel: „Wider die kenntnislose antizionistische Agitation“. Die Überschrift beruhigt. Die Kritik des Zionismus bleibt erlaubt, sie muss nur kenntnisreich sein. Dem ist nicht zu widersprechen.
Der Artikel hält leider nicht das Versprechen der Überschrift. In seinem „Resümee“ kommt Brym zu dem Ergebnis: „Die Diskussion über den Zionismus hat in Seminaren stattzufinden und wissenschaftlich auch die Probleme der Bewegung in ihrem historischen Rahmen zu analysieren. Keinesfalls darf eine hirn- und kenntnislose antizionistische Agitation auf der Straße hingenommen werden. Denn häufig ist dies aufgrund des Kenntnisstandes der selbsterklärten deutschen ‚Antizionisten‘ nichts anderes als Antisemitismus.“
Die Diskussion „auf der Straße“ darf „keinesfalls (…) hingenommen werden“. Sie sei „aufgrund des Kenntnisstandes der selbsterklärten deutschen ‚Antizionisten‘ nichts anderes als Antisemitismus“. So hat Max Brym in seinem Artikel einige Erläuterungen zur Geschichte des Zionismus dem Leser zur Kenntnis gebracht, um zum Schluss seiner Ausführungen zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen: der Unterbindung der öffentlichen Kritik an dem staatgewordenen Zionismus, an Israel und seiner Siedlungspolitik. Wer sich nicht daran hält, ist – wir haben es geahnt – ein Antisemit.
Max Brym versucht in seinem Aufsatz, dem Leser die Differenziertheit der ideologischen und politischen Strömungen des Zionismus näher zu bringen. Dass er in seiner Darstellung die linken, die sozialistischen, die liberalen – und wie ich sie nennen würde – philanthropisch-mystischen Strömungen stärker in den Vordergrund rückt als die politische Rechte um V. Jabotinsky – dieser Strömung widmet er ganze drei Zeilen -, mag seinem Anliegen und seinen Vorlieben geschuldet sein. Unseriös werden diese „kenntnisreichen“ Ausführungen in dem Moment, wo Brym dem „kenntnislosen“ Antizionisten vorenthält, dass eben die Strömung um Jabotinsky bereits in den dreißiger Jahren auf dem XIX. Zionistischen Weltkongress – ganz ohne Teilnahme der Jabotinsky Partei[4] – einen wesentlichen Teil seines Programms, nämlich die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina, als Ziel der zionistischen Bewegung verkündete. Ben Gurion formulierte den zionistischen Grundgedanken Jabotinskys in seinem Referat auf dem XIX. Kongress deutlich „diplomatischer“ und mit einem Schwall freundlicher Worte für die internationale Öffentlichkeit: „Denn während unser eigenes Ziel auf Palästina beschränkt ist, ist die Zukunft der arabischen Nation nicht ausschließlich an dieses Land gebunden. Die Araber Palästinas sind nur ein kleiner Teil der arabischen Nation und Palästina bildet weniger als fünf Prozent der Fläche, die von den Arabern in Syrien, Irak und Arabien besetzt ist. Es gibt genügend Raum für die Entwicklung beider Völker, ohne dass das eine, das andere zu bedrängen und begrenzen braucht.“[5] Die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus Palästina, dies war und blieb das gemeinsame Programm der vorherrschenden Gruppierungen auf der linken wie der rechten Seite der zionistischen Bewegung.
Was war an dieser politischen Strömung im Zionismus so wichtig, und was machte sie innerhalb kürzester Zeit mehrheitsfähig? Um dies zu verstehen, müssen wir zurück zu den Anfängen der zionistischen Bewegung. T. Herzl, einer der Begründer der zionistischen Bewegung, bezeichnete Palästina als „ein Land ohne Volk“, was sich deshalb für die zionistische Besiedlung eignen würde, da ja die Juden „ein Volk ohne Land“ seien.[6] Dass dies falsch war, ist auch Brym klar. Nur weigert er sich wie alle jene Strömungen des Zionismus, die er in seinem Aufsatz mit einer gewissen Sympathie vorstellt, daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen. Die Gruppierung um Jabotinsky machte diesen Schritt und gewann damit ihre Massenbasis in der zionistischen Bewegung. Hören wir Jabotinsky selbst:
„Dass die palästinensischen Araber ihre Zustimmung zur Verwirklichung des Zionismus äußern sollen, davon – solange wir dort in der Minderheit sind – kann nicht einmal die Rede sein. Ich spreche diese Überzeugung in so greller Form aus, nicht weil es mir angenehm ist, braven Menschen eine Enttäuschung zu bereiten, sondern einfach deshalb, weil sie das nicht enttäuschen wird: alle diese braven Menschen, mit Ausnahme Blindgeborener, haben längst begriffen, dass es absolut unmöglich ist, eine gütliche Zustimmung zur Umbildung Palästinas aus einem arabischen Land in ein Land mit jüdischer Mehrheit von den palästinensischen Arabern zu erlangen. Jeder Leser hat einen gewissen Begriff von der Geschichte der Kolonisation in anderen Ländern. Ich stelle den Antrag, dass er sich an alle bekannten Beispiele erinnere, er soll nach Durchsicht ihrer Liste versuchen, einen Fall ausfindig zu machen, wo eine Kolonisation mit Zustimmung der Eingeborenen vor sich ginge. (…) Es gab keinen solchen Fall.“[7]
Was Jabotinsky hier anführt, sind die Ergebnisse der europäischen Kolonisationspolitik. Überall dort, wo Europäer Siedlungskolonien in Amerika oder Afrika gründeten, führte dies zur Vertreibung oder Ausrottung der einheimischen Bevölkerung. Dies war relativ unabhängig von den guten oder schlechten Absichten der Kolonisatoren oder der jeweiligen Urbewohner. Der Ursprung der Konflikte liegt in der Tatsache, dass Grund und Boden, ebenso wie die gerade in Palästina so wichtigen Wasserrechte, „natürliche Monopole“ darstellen, also nicht beliebig vermehrbar sind. Wer siedeln will, braucht das Land und das Wasser. Friedlich ist dies nur in den Anfangsphasen eines Kolonisationsprozesses zu erlangen, solange die ansässige Bevölkerung auf Grund eines Überflusses an Land und Wasser die Okkupation oder den Verkauf hinnimmt. Mit dem Anwachsen der Besiedlung, mit der damit notwendigen Verknappung der natürlichen Ressourcen, hatte das friedliche Nebeneinander zwischen Kolonisatoren und europäischen Siedlern überall ein Ende.
Die Besiedlung Palästinas durch europäische und amerikanische Juden war nichts anderes als der Versuch, eine Siedlungskolonie auf arabischem Boden im 20. Jahrhundert zu entwickeln, zu einem Zeitpunkt also, wo – durch Weltkrieg und Oktoberrevolution bedingt – überall in Arabien und Asien die nationalen Bewegungen gegen die europäische Vorherrschaft entstanden. Jabotinsky begriff dieses Problem. Er wollte Herzls Fehleinschätzung vom „Land ohne Volk“ korrigieren, indem er die arabische Bevölkerung Palästinas zu einem „Volk ohne Land“ machte und ihr den Rest der arabischen Welt als Heimstaat empfahl.
Dass dies die Realität im zionistischen Siedlerstaat Israel wurde, liegt in der Logik der Dinge. All jene realitätsfernen sozialistischen, philanthropischen und liberalen Strömungen des Zionismus, die einer friedvollen Zusammenarbeit mit der arabischen Bevölkerung das Wort redeten, hatten dauerhaft nie die Möglichkeit, massenwirksam zu werden. Dies lag weder an der Verschlagenheit der arabischen Bevölkerung oder ihrer Führer, wie es in einigen beschönigenden prozionistischen Werken zu lesen ist, noch an der Bösartigkeit der jüdischen Siedler. Es lag in der Logik der Siedlungskolonie, die nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie die einheimische Bevölkerung unterwirft, vertreibt oder tötet. Eine andere Entwicklung hat die Geschichte bisher nicht hervorgebracht, und Israel ist keine Ausnahme.
So endet auch Max Bryms „Kurzer Lehrgang“ über die Geschichte des Zionismus weit über ein Jahrzehnt vor der Entstehung des Staates Israel. Der staatgewordene Zionismus, Israel und seine Siedlungspolitik, kurz jener Zionismus, der „auf der Straße“ das Thema ist, wird von ihm wohlweislich nicht behandelt. Die heutige Gestalt des Zionismus, der israelische Staat und seine Politik, ist Anlass und Grundlage der Kritik am Zionismus.
Theodor Herzl formulierte in seinem Werk „Der Judenstaat“, einer Schrift, in der Max Brym „nicht eine einzige rassistische Passage finde(t)“, folgendes Angebot an die europäischen Großmächte, speziell an Großbritannien: „Für Europa würden wir dort (gemeint sind die Juden in Palästina, A. S.) ein Stück des Walles gegen Asien bilden; wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“[8] Den dort angebotenen „Vorpostendienst“ hat Israel in der Tat übernommen, nur die Großmächte haben gewechselt. Heute leistet Israel den „Vorpostendienst“ – nicht für die „Kultur gegen die Barbarei“, sondern für die amerikanische Vorherrschaft in der arabischen Welt. Dort, wo sich die Ideen und politischen Programme Jabotinsky und Herzls treffen, dort liegt auch der politische Kern des Zionismus, dort findet sich auch das Wesen des Staates Israel: europäische Siedlungskolonie und ausländischer „Vorposten“ in der arabischen Welt zu sein.
Bryms Geschichte des Zionismus ist in der Tat nur für Universitätsseminare geeignet, weil sie vollständig unpolitisch ist, den Zionismus allein in seiner Periode als ideologische Strömung und bei der Formierung in politische Parteien behandelt. Dort, wo er geschichtswirksam wird und die Formierung des israelischen Staates beginnt, dort schweigt er, vermutlich aus Kenntnis. Dieser unpolitischen Geschichte des Zionismus gewinnt er aber eine politische Schlussfolgerung ab. Wer „auf der Straße“, also öffentlich, die Siedlungs- und Vertreibungspolitik Israels kritisiert, ist „Antisemit“. Damit aber sind wir zu unserem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Die „kenntnisreiche“ Einführung in die Geschichte des Zionismus diente keineswegs der theoretischen oder politischen Belehrung der „Hirn- und Kenntnislosen“, sondern, wie bereits im ersten Artikel, der moralischen und politischen Denunziation der Kritiker der israelischen Siedlungspolitik als „Antisemiten“.
Wäre es nicht an der Zeit, das Gespenst des Antisemitismus zu begraben und sich der Realität der amerikanischen, der israelischen und auch der deutschen Politik zuzuwenden? Diese heutige Politik und die sie betreibenden Kräfte sind finster genug.
Alfred Schröder, 2002
[1] Siehe zu diesen Definitionen im Internet die Seiten des IDGR (Informationsdienst gegen Rechtsextremismus) unter dem Stichwort „Antisemitismus“ oder unter Antisemitismus-Info. (Diese Seiten sind 2006 abgeschaltet worden.)
[2] Ebenda
[3] Hier wird gemeinsam der Irakkrieg propagandistisch vorbereitet und derselbe als Schutz und Verteidigung Israels verkauft.
[4] 1922 war durch ein Völkerbundmandat der Jordan als Besiedlungsgrenze der „jüdischen Heimstätte“ definiert worden. Jabotinskys Gruppierung forderte die „Revision der Jordangrenze“ sowie die Errichtung eines jüdischen Staates, nicht nur einer „jüdischen Heimstätte“ einschließlich der Vertreibung der Araber. Da der Zionistenkongress 1935 dies nicht offen und klar formulieren würde, boykottierte seine Gruppierung den Kongress.
[5] Stenographisches Protokoll des XIX. Zionistenkongresses.
[6] Dieser T. Herzl zugeschriebene Ausspruch, stammt vermutlich ursprünglich von Israel Zangwill, einem in Großbritannien geborenen und eher links einzuordnenden Schriftsteller und Zionisten. Er spiegelt geradezu klassisch das dem Zionismus zugrundeliegende Weltbild und Rechtfertigungsschema der Mehrheit aller zionistischen Strömungen wider.
[7] Vladimir Jabotinsky, Die palästinensischen Araber, in: Zionismus. Herausgeber. Julius Schoeps, München 1973, S. 278/279.
[8] Theodor Herzl, Bd. 1, S. 45.