Ein falsch verstandener Lenin

„Mal ganz davon abgesehen, dass Lenin persönlich sich mit seiner berühmten brüsken Direktheit verbeten hätte, von Leuten gefeiert zu werden, die ihn zum Professor für Globalökonomie ernennen wollen – … die vor der heiklen Geschichte mit den Klasseninteressen in die Wertlehre fliehen, … oder vor der ganzen Revolutionsproblematik in eine erschöpfende Untersuchung der internationalen Kreditbeziehungen – wer dergleichen tut, … versteht keinen Satz, den Lenin geschrieben hat. … Lenin (hätte) sich lieber komplett geirrt, als nichts ausgerichtet zu haben. Das ist der Unterschied ums Ganze.“[1]

 

Alfred Schröder

 

Ukrainekrieg und Imperialismustheorie

 1. Einige politische Bemerkungen vorweg

Es ist inzwischen mehr als ein Jahr her, dass Russland die Ukraine mit offen imperialer Begründung angriff. Putins Rechtfertigungen für diesen Krieg – ausführlich in meinem letzten Artikel zu diesem Thema zitiert – sind eindeutig und ganz im Geist der Romanow-Zaren formuliert. (https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2359) Kurz gefasst: Die Ukraine ist eine Schöpfung Lenins und der Bolschewiki und damit eigentlich keine eigenständige Nation, sondern ein im Westen liegender Teil der russischen Nation, der zum Mutterland zurückgeführt werden muss, um die Fehler Lenins zu korrigieren. Putin formulierte dies in seiner Rede folgendermaßen: „Seit jeher nannten sich die Bewohner der südöstlichen, historischen altrussischen Lande Russen und Orthodoxe. So war es vor dem 17. Jahrhundert, als sich ein Teil dieser Gebiete wieder mit dem Russländischen Staat vereinte, und so blieb es danach.“ Für Putin wie für die Romanow-Zaren waren die Ukrainer danach schon immer Russen, obwohl sie in der wirklichen Geschichte erst im 17. Jahrhundert durch kriegerische Eroberung ins Zarenreich „eingegliedert“ wurden.

Und diese Aussage war kein Einzelfall. Auch zum Baltikum äußerte sich Putin eindeutig: Danach war auch das Baltikum lt. Putin im Nordischen Krieg durch Peter nur „zurückerobert“ worden und gehörte schon immer zu Russland. Auf Russia Today wird er mit den Worten zitiert: „Der Zar gründete die Stadt St. Petersburg im Jahre 1703, nach der Eroberung des Gebietes während des Großen Nordischen Krieges. ‚Er nahm nichts weg, er nahm etwas zurück‘, sagte Putin und spielte damit auf einen Präzedenzfall für die aktuelle Krise in der Ukraine an.“ (https://test.rtde.tech/kurzclips/video/140783-putin-inspiriert-von-erfolgen-peters/)
Und auf Russia Today findet sich am 22.09.2022 ein Artikel zur russischen Flagge mit ebensolchem historischem Bezug: „Die weiß-blau-rote Flagge bleibt in erster Linie ein Symbol der langen und vielleicht berühmtesten Ära in der russischen Geschichte – der Zeit der imperialen Zaren. … Welches Schicksal auch immer Russland noch widerfahren mag, es wäre schwer vorstellbar, dies unter einer anderen Flagge erleben zu müssen.“ (https://test.rtde.world/russland/148651-jesus-byzanz-und-slawisches-erbe/)

Andererseits geschah dieser russische Überfall nicht anlasslos und „aus heiterem Himmel“, sondern war Wochen zuvor von den USA angekündigt worden, die ein vitales Interesse an diesem Überfall hatten und weiterhin haben. Und für diese Ankündigung bedurfte es keiner prophetischen Gaben Washingtons oder herausragender Leistungen seiner „Dienste“. Schließlich waren die politischen Weichen zu diesem Konflikt von den USA seit 2014 gestellt worden. Die Ukraine wurde seit diesem Zeitpunkt von Teilen der NATO systematisch aufgerüstet und durch die USA wurde ihr sogar eine mögliche zukünftige Mitgliedschaft im NATO-Bündnis in Aussicht gestellt, dies gegen die erklärten Stellungnahmen Frankreichs und Deutschlands.

Die deutsche Bourgeoisie ohne Plan und Perspektive

Im selben Jahr hatte der damalige BRD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, heute Bundespräsident, in einer Rede auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel die Vision geäußert, dass „Deutschland Europa anführen, Russland europäisieren und die USA multilateralisieren“ solle.“ Diesen Traum der deutschen Bourgeoisie hat die USA – speziell mit ihrer Ukraine Politik – systematisch torpediert.

Putins Überfall auf die Ukraine brachte die USA in die vorteilhafte Position, nicht nur Russland in der Ukraine ausbluten zu lassen, sondern ebenso die NATO wieder fester unter amerikanische Vorherrschaft zu pressen und die europäische Union, allen voran Deutschland, ökonomisch und politisch entscheidend zu schwächen. Wenn Deutschland die EU beieinander halten wollte – die Voraussetzung einer deutschen „Führungsrolle“ in der EU -, dann musste es auf Nordstream 2 und seine besonderen Beziehungen zu Russland verzichten, musste es dem Kurs der osteuropäischen Vasallenstaaten der USA in der EU und der NATO folgen und statt günstigem russischem Gas deutlich teureres, über den Atlantik zu transportierendes Flüssiggas kaufen,[2] sowie weitreichende Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen. Damit wurde dem Geschäftsmodell der deutschen Bourgeoisie zur ökonomischen Vorherrschaft in der EU die Grundlage entzogen und zugleich die Rolle der osteuropäischen Verbündeten der USA in der EU aufgewertet. Damit nicht genug, versprach die Regierung der BRD, zig Milliarden in amerikanische und israelische Waffensysteme zu investieren, die unvermeidlich die weitere Abhängigkeit von den USA auch militärisch festschreiben.

Während die Ukraine durch den Krieg verwüstet wird, wird Westeuropa durch die erzwungenen Wirtschaftssanktionen gegen Russland ökonomisch ausgeblutet und politisch kastriert. Von der EU als eigenständiger politischer Kraft, die ihre eigenen ökonomischen und politischen Interessen auch gegen die USA vertreten kann, bleibt nur so viel übrig, wie es die amerikanischen Dependancen in Warschau oder im Baltikum zulassen. Die Rettung des europäischen Zusammenhalts und die daraus abgeleitete „Führungsrolle der BRD“ in Europa lässt sich die deutsche Bourgeoisie bisher einiges kosten, bis hin zur sozialen Stabilität der Republik.

Eine solche Entwicklung ist keineswegs im Interesse der deutschen Bourgeoisie und steht der Regierungskonzeption einer ökonomisch begründeten politischen Vorherrschaft in der EU diametral entgegen. Trotzdem ist bislang eine neue politische Orientierung nicht zu erkennen. Die Herrschenden in der BRD sind rat- und konzeptlos. Die Zerstrittenheit der politischen Parteien und der Regierung in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine spiegelt das Fehlen einer neuen Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der Bourgeoisie wider, nachdem der Ukrainekrieg der alten, oben skizzierten Politik die Geschäftsgrundlage entzogen hat. Und mit der Grünen Partei, als entschiedene transatlantische Kriegspartei, neben den langjährigen „Atlantikern“ in den anderen bürgerlichen Parteien, sind kaum parlamentarische Mehrheitsverhältnisse für eine eigenständige Außenpolitik der deutschen Bourgeoisie vorstellbar.

Umso deutlicher gilt es, der orientierungslos gewordenen deutschen Bourgeoisie das klare Programm aller demokratischen und fortschrittlichen Kräfte entgegenzusetzen:

–  Austritt aus der NATO, NATO raus aus Deutschland!
– Ende aller Wirtschaftssanktionen gegen Russland und sofortige Öffnung von Nordstream 2.[3]
–  Keine weiteren Waffenlieferungen an die Kriegsparteien.
– Frieden auf dem Boden der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen, bis hin zum Recht auf Lostrennung, sowohl durch Russland als auch durch die Ukraine.

Statt revolutionärem Defätismus – Kampf für eine multipolare Welt

Und die Linke?[4] Anstatt von der offenkundigen politischen Tatsache auszugehen, dass dieser Krieg von beiden beteiligten Seiten ein ungerechter, verbrecherischer Krieg um politische Einflusssphären in Europa ist, mit allen seinen ökonomischen und militärischen Implikationen – daran hat Putin ebenso wenig Zweifel gelassen wie die USA geführte NATO mit ihren fortgesetzten „Osterweiterungen“ –, debattiert die Linke darüber, ob nicht eine Seite der Kriegsparteien weniger „imperialistisch“ als die andere Seite sei; ob nicht der Sieg der russischen Seite vorteilhafter für eine neue multipolare Weltordnung wäre, ob man nicht den schwächeren „Imperialismus“ gegen den stärkeren unterstützen müsste etc. Diese Debatten erinnern fatal an die „Helden“ der II. Internationale, die mit ähnlichen „Argumenten“ ihren Übergang auf die Positionen einer der beiden Kriegsbündnisse rechtfertigten. Ist ein Sieg des Wilhelminischen Deutschland nicht besser für die künftige Entwicklung der Menschheit und der Arbeiterbewegung im Besonderen, als ein Sieg des autokratischen russischen Zarismus? Oder gilt es doch umgekehrt für den Triumpf der parlamentarischen Demokratien Englands oder Frankreichs gegen den preußischen Militarismus einzutreten? Dies waren die Debatten der Helden der II. Internationale mit eifrigen und fehlerhaften Rückgriffen auf die Positionen von Marx und Engels aus der Zeit des 19. Jahrhunderts und der nationalen Einigungskriege in Europa.

Demgegenüber standen damals Lenin und Liebknecht mit der Position des „revolutionären Defätismus“, die auf die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Kriegstreiber zielte. „Die Unterstützung, Ausweitung und Vertiefung jeder Volksbewegung für die Beendigung des Krieges ist Pflicht der Sozialisten. Tatsächlich aber erfüllen diese Pflicht nur jene Sozialisten, die – wie Liebknecht – von der Rednertribüne der Parlamente die Soldaten auffordern, die Waffen niederzulegen, die die Revolution und die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg für den Sozialismus propagieren.“[5] Revolutionärer Defaitismus, Bürgerkrieg statt imperialer Raubkrieg, proletarische Revolution statt Pazifismus und Sozialchauvinismus; das ist der „wahre Lenin“, den es zum Ukraine-Krieg zu zitieren gilt. Und um auf das Eingangszitat von D. Dath zurückzukommen: „Das ist der Unterschied ums Ganze.“

Die heilige Fünffaltigkeit der Leninschen Imperialismustheorie

Stattdessen diskutieren Teile der Linken, welche der fünf Leninschen Imperialismus-Kriterien auf Russland Anwendung finden können, weil nur dann dieser Krieg von beiden Seiten ein imperialistischer Krieg sei. Patrik Köbele, Parteivorsitzender der DKP: „Es besteht unter uns Einigkeit, dass die Russische Föderation ein kapitalistisches Land ist. (…) Diskussionen gibt es unter uns, ob sich die Russische Föderation bereits im imperialistischen Stadium der Entwicklung des Kapitalismus befindet.
Ihr wisst, dass Lenin fünf Merkmale für die Charakterisierung des Imperialismus benennt, von denen drei sich auf die Entwicklung der nationalen Ökonomie und zwei auf die Entwicklung internationaler Verhältnisse beziehen. Wenn wir die ersten drei Merkmale auf Russland anwenden, dann ist das erste – ‚Konzentration der Produktion und des Kapitals und Bildung von Monopolen, von denen jeweils einige wenige ganze Industriezweige beherrschen‘ – in Russland sicherlich gegeben. Es spricht viel dafür, dass das zweite – ‚die Verschmelzung der Monopole in der Industrie und im Bankwesen zum Finanzkapital‘ – ebenfalls gegeben ist. (…) Das dritte Charakteristikum, dass ‚der Kapitalexport gegenüber dem Warenexport vorrangige Bedeutung gewinnt‘, scheint mir in Russland nicht erfüllt zu sein. Die Kapitalabflüsse aus Russland gehen zu großen Teilen in Steuerparadiese wie Zypern, die Schweiz oder Luxemburg. Diese dienen nicht dazu, sich direkt in andere Kapitalien einzukaufen, wie es aus meiner Sicht beim von Lenin genannten Kapitalexport gemeint ist. Eines von drei Kriterien ist meines Erachtens nicht erfüllt. Ich neige deshalb zur Position, dass es sich bei Russland um ein kapitalistisches Land handelt, welches das imperialistische Stadium noch nicht erreicht hat.“[6]

Hier haben wir ein Musterbeispiel dafür, wie man das Hantieren mit der Theorie des Marxismus in eine der Religion entlehnte „Auslegung der Schrift“ verwandelt. Ausgangspunkt der eigenen „Untersuchung“ ist die „Schrift“ und ihre als sakrosankt unterstellten Ausführungen. Anhand der Schrift und der dort getroffenen Aussagen wird dann die Wirklichkeit so interpretiert, wie es politisch wünschenswert ist. Bei der DKP und weiteren Teilen der Linken besteht diese Interpretation in der Ignorierung des großrussischen Chauvinismus, wie ihn die Putin-Administration formuliert und außenpolitisch umsetzt. Stattdessen wird der russische Überfall in dieser Bearbeitung zu einem Ringen für eine neue „multipolare Weltordnung“ und die Aggression ist letztlich dem Kampf um diese neue Weltordnung geschuldet.[7] Und für diese „Herleitung“ wird die Leninsche Imperialismustheorie mit ihrer „Fünffaltigkeit“ der Grundlagen des Imperialismus genutzt. Das hat der vehemente Kritiker des großrussischen Chauvinismus – der Lenin Zeit seines Lebens war – wirklich nicht verdient.

Darüber hinaus ist kaum zu übersehen, mit welch „wissenschaftlich exakten“ Formulierungen diese Interpretation der Wirklichkeit von Köbele realisiert wird: „Es spricht viel dafür“, oder „Ich neige deshalb zur Position“, oder „scheint mir in Russland nicht erfüllt zu sein“. Deutlicher kann man seine politische und theoretische Hilflosigkeit kaum artikulieren.

Das Selbstbestimmungsrecht als demokratische Friedenslosung

Statt Schriftdeutungen und sophistischer Wortklaubereien zurück zu den Tatsachen. Russland hat die Ukraine überfallen, weil es nicht bereit war, eine weitere Ausdehnung der amerikanischen Einflusssphäre zu dulden. Da die russische Politik diese Ausweitung nicht auf demokratische oder revolutionäre Weise mit der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen verhindern konnte und wollte – eine für den Mehrvölkerstaat Ukraine sehr gefährliche Forderung -, blieb nur der imperiale Krieg zur Zerschlagung der Ukraine. Statt Förderung der demokratischen Entwicklung in der Ukraine zur Zerschlagung der US-orientierten Oligarchen-Herrschaft schuf der russische Einmarsch eine Verfestigung dieser Herrschaft durch eine Nato-finanzierte Militärdiktatur, die oligarchisch geprägt und nur notdürftig parlamentarisch verbrämt ist; statt Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung für alle Nationalitäten in der Ukraine förderte er den Nationalismus und Chauvinismus der Ukrainer ebenso wie in Russland, da man den Ukrainern dieses Recht absprach.

Illustriert wird die Sprengkraft einer demokratischen und revolutionären Politik in der Beilage der Marxistischen Blätter Nr. 4/2022. In einem Interview mit dem griechischen Professor Dimitrios Patelis berichtet dieser von der Stimmung im Donbass und der Politik der russischen Bourgeoisie: „Noch dazu konnte ich bei meinem Besuch im Donbass 2015 mit eigenen Augen sehen, wie – gelinde gesagt – unaufrichtig sich diese russische Bourgeoisie samt ihrem politischen Personal im Kreml gegenüber der Bevölkerung in den beiden Volksrepubliken verhalten hat, als diese über Jahre hinweg gegenüber der Kiewer Junta aufbegehrte und sich der militanten und mörderischen Aktionen gegen russischsprachige Mitbürger zu erwehren versuchte. Als die fortschrittlichsten Kräfte unter den Volksmilizen im Donbass schon tatsächlich einige erstaunliche Siege gegen die Nazi-Bataillone und Teile der damals noch ziemlich desorientierten ukrainischen Armee in Mariupol und Debalzewe errungen hatten, verschwanden auf mystische Weise nach und nach alle Leute, die noch irgendwelche klaren Vorstellungen vom einstiegen Ziel des bewaffneten antioligarchischen,  antiimperialistischen, antifaschistischen Aufstands hegten, das mir damals vor Ort zum Beispiel eine Reihe von Bergarbeitern erklärten mit dem Satz: ‚Unsere Heimat ist die Sowjetunion‘. Das war natürlich das letzte, was die Führung der russischen Bourgeoisie in ihrer Nachbarschaft gebrauchen konnte.“

Da die russische Politik selbst oligarchisch geprägt und damit reaktionär ist, blieb auch nur eine reaktionäre, imperiale Politik als Antwort auf die imperiale Politik der USA und NATO übrig. Dieser Krieg ist von allen beteiligten Seiten reaktionär und dies trifft auch auf jene Kräfte zu, die ihn „nur“ politisch, ökonomisch und mit Waffen unterstützen.

Um dies festzustellen, bedarf es keinerlei Rückgriff auf die heilige Fünffaltigkeit der Leninschen Imperialismustheorie. Hier wird Lenin bemüht, um die Unterstützung einer der beiden Kriegsparteien zu legitimieren. Hier wird die Imperialismustheorie bemüht, um den grossrussischen Chauvinismus salonfähig zu machen und Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen vergessen zu machen. Während Putin offensiv die Leninsche Politik zur nationalen Frage kritisierte und dies in das Zentrum seiner ideologischen Kriegsbegründung rückte – was von Andreas Wehr für die deutsche Linke mit Luxemburgs Kritik an Lenin und den Bolschewiki aufbereitet wurde –, schweigt der Rest des linken Spektrums hartnäckig zur nationalen Frage und ihrer politischen Sprengkraft in dem aktuellen Konflikt. Mit einer neuen Auslegung der Leninschen Imperialismustheorie ist dieser Krieg weder zu erklären, noch zu legitimieren und erst recht nicht zu beenden. Für einen wirklichen Frieden bedarf es der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und Nationen bis hin zum Recht auf Lostrennung, sowohl durch Russland als auch durch die Ukraine.

 

Was bleibt vom „Leninismus“?

Bei der ungebrochenen Begeisterung für die Leninsche Imperialismustheorie in der Linken stellt sich die Frage, was denn außer dieser Theorie heute noch vom „Leninismus“ Bestandteil linker Ideologie und Politik ist? Bei genauerem Hinsehen werden wir wenig finden.

Die Parteitheorie und die Schrift „Was tun“[8] wurde als erstes kritisiert und verworfen, weil sie undemokratisch sei und den Weg zum Stalinismus geebnet hätte. Als nächstes wurde die demokratische Republik mit ihrer parlamentarischen Demokratie Bezugspunkt linker Politik und damit die Leninschen Positionen aus seiner Schrift „Staat und Revolution“ sowie „Marxismus und Staat“ als utopisch verworfen. Aber dabei blieb es nicht, denn auf einer schiefen Bahn rutscht man immer weiter nach unten. Im Zuge des Abbaus der in der Verfassung der BRD garantierten Grundrechte während der Corona-Politik durch die bürgerlichen Parteien war die Linke – sowohl als Partei wie als rudimentäre Strömung (DKP, MLPD etc.) – in der vordersten Front mit dabei. Hand in Hand mit der Bourgeoisie kämpfte sie für Zwangsimpfungen, Demonstrationsverbote und weitere Einschränkung der Pressefreiheit bis hin zur fast völligen Gleichschaltung der Presse. (Siehe dazu: https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2317)

Nach dieser Abstinenz im Kampf um bürgerliche Grundrechte ist es nur konsequent, dass die Linke der Leninschen Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen bis heute ignorierend bis völlig ablehnend gegenübersteht. Für einen Teil der Linken ist die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht historisch überholt und/oder der Not des russischen Bürgerkrieges geschuldet; für andere ist das Aufstellen dieser Forderung grundsätzlich falsch und reaktionär. Begründet werden diese Positionen mit Argumenten von Luxemburg, Putin oder A. Wehr.

2. Warum die Imperialismustheorie?

Warum nach der Aufgabe aller dieser Positionen des „Leninismus“ bis hin zum demokratischen Kampf diese ungebrochene Nibelungentreue zu seiner Imperialismustheorie? Woher ihre bis heute andauernde Beliebtheit zur Erklärung aller möglichen Verbrechen, Militäraktionen, politischer Einflussnahmen und Annexionen in der Welt durch eine einzige Theorie? Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe:

    1. Die Imperialismustheorie ist eine ökonomische Theorie der II. Internationale, aus der sich sehr unterschiedliche politische Schlussfolgerungen – reformistische wie revolutionäre – ziehen lassen.
    2. Sie hat den Vorzug, als Theorie und Politik einer neuen Etappe der kapitalistischen Entwicklung – der monopolistischen, die die konkurrenzkapitalistische („Manchestertum“ bei Kautsky)[9] abgelöst haben soll – Gültigkeit für die Gesamtheit der entwickelten kapitalistischen Staaten zu beanspruchen und somit eine konkrete Analyse der Trieb- und Klassenkräfte in den einzelnen Staaten überflüssig zu machen.

 

Auf den Punkt gebracht wird dieser Gedanke im Einleitungssatz des Resolutionsentwurfs der linken Sozialdemokraten zur ersten Sozialistischen Konferenz (in Zimmerwald 1915): „Der gegenwärtige Krieg ist durch den Imperialismus erzeugt.“[10] Weshalb also nach den tatsächlichen Verursachern, den Klassenkräften und ihren führenden politischen Repräsentanten in den damaligen Großmächten suchen?

Dass die „marxistischen“ Imperialismustheorien ihren Ursprung in der II. Internationale haben, ist bis heute unbestritten. O Bauer, K. Kautsky, R. Hilferding, R. Luxemburg, N. Bucharin – um nur die bekanntesten Vertreter zu nennen – hatten sich vor Lenin mit dieser Frage beschäftigt[11] und versucht, die neuere Entwicklung des Kapitalismus ökonomisch zu interpretieren. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die „seit 1873 einsetzende Abschwächung der Geschwindigkeit der internationalen Wirtschaftsentwicklung, verbunden mit einem allgemeinen Rückgang der Preise und einem beachtlichen Abfall der Profitraten und Renditen. Die Überzeugung, dass die nationale Wirtschaft kolonialer Dependancen bedürfe, wurde bald Allgemeingut der bürgerlichen Schichten aller Industrienationen und kann keineswegs nur als Resultat interessenpolitischer Agitation der jeweils betroffenen Unternehmergruppen gelten. Allein, es ist charakteristisch, dass diese Auffassungen fast nirgends einer wirklichen Überprüfung unterworfen wurden, sondern eigentlich mehr als nur gängige ideologische Münze im Kampf für oder wider den Imperialismus dienten.“[12]

Diese krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus und die bürgerlichen Reaktionen darauf waren der Ausgangspunkt für die Imperialismusdebatte. Dies rief in der II. Internationale das Bedürfnis hervor, als Marxisten eine ökonomische Erklärung für diese Entwicklung zu finden. Hilferding lieferte sie mit seiner Theorie von den Kartellen, Monopolen und dem über das industrielle Kapital herrschenden „Finanzkapital“ als Ursache der neueren ökonomischen Entwicklung und der imperialistischen Politik.[13]

Kautsky zur Geschichte des Imperialismusbegriffs

Zuvor war der Imperialismus keineswegs allein ökonomisch hergeleitet worden. Vielmehr diente er der Beschreibung bestimmter politischer und militärischer Aktivitäten, die auf Großmachtpolitik, militärische Annexionen oder Kolonialpolitik abzielten.

Zur Geschichte des Imperialismusbegriffs schreibt Kautsky: „Es gibt wenige Worte, die so allgemein als etwas Selbstverständliches behandelt und vorgebracht werden wie heute das Wort Imperialismus. Und doch gibt es wenige Worte, die verschiedenartiger aufgefasst und gebraucht werden als dieses. …
Das Wort wurde abgeleitet aus dem Lateinischen und bezeichnet politische Bestrebungen, die mit einem Weltreich oder Kaiserreich (imperium) zusammenhängen. Meines Wissens kam es zuerst auf in Frankreich unter dem Kaiserreich des ersten Napoleon, wo man dessen Politik damit bezeichnete. Darauf ist es wohl zurückzuführen, wenn heute unsere französischen Genossen das Wort Imperialismus noch in einem ähnlichen Sinne, zur Bezeichnung des Strebens einer kaiserlichen Macht nach Weltherrschaft, auf Deutschland anwenden, wo sie dieses Streben zu finden glauben. … Sie gebrauchen das Wort in einem ähnlichen Sinne, in dem wir etwa von französischem Bonapartismus oder russischem Zarismus reden.
Einen anderen Sinn erhielt das Wort in England in den neunziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts. Man bezeichnete damit das Streben, an Stelle des kleinen Britannien ein größeres Britannien zu setzen durch Knüpfung eines Bandes zwischen England und den Kolonien. So sollte ein großes Reich (empire) geschaffen werden. Man bezeichnete also damit auch wieder eine besondere Art Reichspolitik. Das Interesse für Kolonien war dabei das entscheidende. Namentlich durch besondere Maßnahmen der Zollpolitik sollten sie enger mit dem Mutterland verbunden werden. Das wachsende Interesse für die Kolonien führte dann aber auch zu Erwerbungen neuer Gebiete, darob zu Gegensätzen mit anderen Mächten und zu Flottenrüstungen.
Ähnliche Tendenzen nach einem großen Kolonialreich und Rüstungen waren zum Teil schon früher, zum Teil gleichzeitig auch bei anderen kapitalistischen Mächten aufgetreten. England gab nicht den Anstoß zu dieser neuen Politik, lieferte aber den Namen. Sie wurde allgemein als Imperialismus bezeichnet.“

Hilferdings Verdienst – so Kautsky – besteht darin, mit der Entdeckung des „Finanzkapitals“ die Ursache für die moderne imperialistische Politik aufgedeckt zu haben. „Hilferding hat dann 1910[14] in seinem Werk über das Finanzkapital zum ersten Mal gezeigt, wie die modernste Phase des Kapitals zur Beherrschung des industriellen Kapitals durch das Geldkapital, namentlich durch die Banken, führen und den Charakter des industriellen Kapitals völlig umgestalten musste. Er nannte diese neue Ära die des Finanzkapitals. Er bezeichnete damit das ‚Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist.‘ [Finanzkapital, S. 283]; (in der Ausgabe der EVA von 1974, S. 309)
Er hütete sich sehr wohl, das schon allbekannte Wort ‚Imperialismus‘ zur Bezeichnung dieser neuen Phase des Kapitalismus anzuwenden. Auch er bezeichnet mit dem Worte Imperialismus eine besondere Art der Politik und nicht eine ‚Wirtschaftsphase‘. Der Imperialismus ist ihm die vom Finanzkapital bevorzugte Politik. Ich glaube, wir haben alle Ursache, an dieser Unterscheidung von Finanzkapital als Ursache und Imperialismus als Wirkung festzuhalten.
Sie entspricht dem Sprachgebrauch, der unter dem Imperialismus ein besonderes System der Politik versteht. Über die Einzelheiten dieser Politik gehen die verschiedenen Autoren, die vom Imperialismus handeln, auseinander, aber fast alle treffen sich darin, dass sie ihn als politisches System und nicht als ‚Wirtschaftsphase‘, nicht als ‚fortgeschrittenen, potenzierten Kapitalismus‘, sondern als die Politik der unter ihm herrschenden kapitalistischen Schichten betrachten. Der Imperialismus ist eine besondere Art kapitalistischer Politik ebenso wie das Manchestertum, das er ablöst. Auch dieses bezeichnete nicht eine bestimmte ‚Wirtschaftsphase‘, wenn es auch mit einer solchen notwendigerweise verbunden war.“[15]

Dies – insbesondere der letzte Abschnitt des langen Zitats – ist Kautskys Interpretation des Imperialismusbegriffs im Krieg (1915). Zuvor hatte er ihn -genauso wie Hilferding – als Entwicklungsstufe des Kapitalismus gesehen, die unweigerlich von der Diktatur der „Kapitalmagnaten“ (Hilferding) in die Diktatur des Proletariats umschlagen würde. Nur, an die Stelle der Diktatur des Proletariats trat der Weltkrieg und mit ihm in Deutschland ab 1916 die Diktatur der Obersten Heeresleitung, gestützt von der Sozialdemokratie. Von nun an wird der Imperialismus bei Kautsky eine von mehreren politischen Möglichkeiten des Kapitals, von einer Entwicklungsstufe der kapitalistischen Gesellschaft zu einer Variante der kapitalistischen Politik.

Das Scheitern der reformistischen Interpretation des Imperialismus

Ist die historische Beschreibung der Ursprünge des Begriffs Imperialismus und die Inhalte, die geschichtlich damit beschrieben werden, tendenziell richtig, aber historisch etwas zu kurz gegriffen,[16] so ist der Schluss seiner Ausführungen geradezu typisch für Kautsky. So, wie für ihn die Sozialdemokratische Partei eine revolutionäre Partei ist, aber keine, die eine Revolution macht,[17] so ist der Imperialismus bei ihm „eine besondere Art der kapitalistischen Politik“, die aber nicht einer bestimmten Wirtschaftsphase geschuldet ist, obwohl sie „wie das Manchestertum (notwendigerweise) mit einer solchen verbunden (war)“.

Kautsky sträubt sich vor den politischen Folgen der ökonomischen Theorie des Finanzkapitals, die er ehedem mit Hilferding geteilt hatte. Er möchte es dabei bewenden lassen, dass der Imperialismus nur eine „besondere Art der kapitalistischen Politik“ darstellt, begründet dies aber mit einer ökonomischen Theorie (Hilferdings Theorie vom Finanzkapital), die – um mit Kautskys Worten zu sprechen – mit einer neuen Wirtschaftsphase „notwendigerweise verbunden“ ist. Bei aller historischen Gelehrsamkeit Kautskys ist die Leninsche Schlussfolgerung aus der Hilferdingschen Theorie zwar nicht richtiger, dafür aber deutlich schlüssiger: Ihm zufolge entspringen die zum Krieg führende Politik und auch der Krieg selber der neuen „Wirtschaftsphase“, dem vom Finanzkapital beherrschten Imperialismus.

Kautsky formuliert obige Ausführungen im Jahr 1915, im zweiten Jahr des Weltkrieges. Den Unterschied zwischen dem Imperialismus als „Wirtschaftsphase“ und dem Imperialismus als „eine besondere Art der kapitalistischen Politik“ entdeckt er zusammen mit Hilferding erst nach dem Ausbruch des Weltkrieges. Zuvor vertraten beide die Position, dass mit der Herausbildung des Imperialismus der Sozialismus als nächste Entwicklungsetappe der Gesellschaft unausweichlich geworden sei.[18]

Hilferding selbst formuliert dies 1910 eindeutig: „Das Finanzkapital in seiner Vollendung bedeutet die höchste Stufe ökonomischer und politischer Machtvollkommenheit in der Hand der Kapitaloligarchie. Es vollendet die Diktatur der Kapitalmagnaten. Zugleich macht es die Diktatur der nationalen Kapitalbeherrscher des einen Landes immer unverträglicher mit den kapitalistischen Interessen des anderen Landes und die Herrschaft des Kapitals innerhalb des Landes immer unvereinbarer mit den Interessen der durch das Finanzkapital ausgebeuteten, aber auch zum Kampf aufgerufenen Volksmassen. In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.“[19]

Was hier so revolutionär formuliert erscheint, ist politisch nichts anderes als der Kautskysche „Weg zur Macht“ von 1909, seine Politische(n) Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution“. Der unvermeidliche Zusammenbruch des kapitalistischen Systems verschafft der Sozialdemokratie eine parlamentarische Mehrheit und ermöglicht so die Aufrichtung des Sozialismus. Die Diktatur der Kapitalmagnaten „schlägt schließlich um in die Diktatur des Proletariats“, ganz ohne Machteroberung und Revolution. Der Untergang des Kapitalismus und mit ihm des Finanzkapitals ist im „Buch der Geschichte“ vorgezeichnet und somit unausweichlich. Als sozialdemokratischer Finanzminister in der Weimarer Republik konnte Hilferding die Richtigkeit seiner Theorie in der Praxis überprüfen. Er versagte nicht nur bei der Aufrichtung des Sozialismus oder gar der Diktatur des Proletariats – er versuchte es erst gar nicht. Die reformistische Interpretation der ökonomischen Imperialismustheorie ist historisch gescheitert.

Oktober 2022 / Mai 2023

[1] Dietmar Dath: „Text und Tat“ in: Kritische Neuausgabe von “Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, Verlag 8. Mai: Berlin 2018, S. 17

[2] Habeck spricht von 60 Milliarden Euro für 2022 und über 100 Milliarden in diesem Jahr 2023, die zusätzlich zur Energieversorgung aufzuwenden wären. Wirtschaftsinstitute veranschlagen die Summen deutlich höher.

[3] Auf diese populäre Forderung antworteten interessierte NATO-Kreise mit der Sprengung beider Pipelines. Die „politische Sprengkraft“ dieser Forderung wurde durch diese Aktion für alle sichtbar. Inzwischen wissen wir, dass ein Strang der Nordstream 2 Pipeline noch intakt ist.

[4] Für viele von ihnen ist die Beschreibung „ehemalige Linke“ zutreffender.

[5] LW Bd. 22, S.179-180

[6] Zitiert aus Andreas Wehr: „Russland – ein imperialistisches Land?“, Mai 2022

[7] Worin der Vorteil für die Bevölkerung der betroffenen Länder bestehen soll, wenn mehrere Mächteblöcke oder Großstaaten sich um Einflusssphären balgen, lassen die Propagandisten der Multipolaren Weltordnung im Dunklen. Außerdem war diese Konzeption – siehe Steinmeier-Zitat weiter oben – Grundlage der inzwischen gescheiterten deutschen Außenpolitik, bevor die Amerikaner und Russen in der Ukraine „ernst machten“. Kann die ehemalige außenpolitische Orientierung des für die Linke zeitlosen und immer gleich räuberischen „deutschen Imperialismus“ heute eine erstrebenswerte Zielsetzung für den Rest der Welt sein?

[8] Der Verfasser ist keineswegs der Auffassung, dass sich die Schrift  „Was Tun“ auf die Begründung einer Parteitheorie reduzieren lässt. Aber dies ist ein anderes Thema.

[9] „Der Imperialismus ist eine besondere Art kapitalistischer Politik ebenso wie das Manchestertum, das er ablöst.“ Karl Kautsky, Zwei Schriften zum Umlernen, Die Neue Zeit, 1915, S. 110-111

[10] LW Bd. 21, S. 348; lt. Anmerkung auf Seite 484 wurde diese Resolution von Lenin geschrieben.

[11] Siehe dazu: Wolfgang Mommsen: Imperialismustheorien: ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen; Vandenhoek: 3. Auflage 1987, S. 27 ff.

[12] Ebenda, S. 12

[13] Siehe hierzu die Kritiken in den AzD 39/1989: Kapital und Monopol. Zur Kritik der Monopoltheorie bei Hilferding und Lenin

[14] Kautsky verweist auch auf eigene Artikel in der „Neuen Zeit“ (1897/98) über „Ältere und neuere Kolonialpolitik“, die bereits einen Hinweis auf die gewachsene Bedeutung des Finanzkapitals enthalten hätten.

[15] Karl Kautsky: Zwei Schriften zum Umlernen; Die Neue Zeit, 1915, S. 110-111

[16] Der Begriff des „Imperialismus“ ist deutlich älter als das französische Kaiserreich Napoleons III. Und ebenso ist der imperialistische Krieg um Kolonien deutlich älter als die kolonialpolitischen Differenzen am Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu gehören z.B. die englisch-spanischen Kriege, die englisch-holländischen oder – um ein historisch jüngeres und auch Deutschland betreffendes Beispiel zu wählen – der siebenjährige Krieg, der im Wesentlichen ein Kolonialkrieg zwischen England und Frankreich war. Dies alles waren imperialistische Kriege der Großmächte zur Erweiterung ihrer politischen Einflusssphären.
Der entscheidende Unterschied zwischen den historischen imperialistischen Kriegen und den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts bestand im Militärwesen. Seit der französischen Revolution ist die Zeit der Söldnerheere vorbei und Massenheere mit Wehrpflicht sind die Voraussetzung für die Kriegsfähigkeit der Großmächte. Dies hat ganz wesentliche Rückwirkungen auf die Politik: Es gilt, die Massen für den imperialistischen Krieg – der nun gar nicht in ihrem Interesse liegt – zu gewinnen. Auf diesen Punkt geht Kautskys obige Beschreibung der Geschichte des Imperialismusbegriffs nicht ein.

[17] Karl Kautsky: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, erschienen 1909. Man beachte den Untertitel.

[18] Siehe dazu auch Lenins Kritik an diesem Positionswechsel in LW Bd. 22, S. 294

[19] Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital, EVA 1974, S. 503