VOM MONOPOL ZUM ORGANISIERTEN KAPITALISMUS

Zu Hilferdings Monopoltheorie
Heiner Karuscheit

 

1. Hilferdings Verständnis der ökonomischen Bewegungsgesetze

„Die monopolistische Vereinigung ist ökonomische Herrschaftsorganisation“,[1] schreibt Hilferding. Das Monopol ist seiner Auffassung nach nicht länger den objektiven, blind wirkenden Gesetzen der kapitalistischen Warenproduktion unterworfen, sondern übt „Herrschaft“ aus; es agiert bewusst und planmäßig. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“, fasst der österreichische Theoretiker seine Theorie in einem bekannten Satz zusammen, der u.a. von Lenin übernommen wurde.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob Hilferding im Prinzip voll und ganz auf dem Boden der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie steht, sich aber genötigt sieht, sie hinter sich zu lassen, weil die Verhältnisse sich geändert haben. Schließlich behauptet er selber dies auch. Stimmt das – oder hat er von Anfang an einen fehlerhaften Begriff der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise, so dass seine „Weiterentwicklung“ der Marxschen Theorie in Wahrheit von vornherein neben Marx steht? Um das zu überprüfen, wird im folgenden zunächst behandelt, was Hilferding über Kapital und Konkurrenz, Wertgesetz und Krise denkt, bevor anschließend seine eigentliche Monopoltheorie untersucht wird.

 

a) Eine subjektive Auffassung der Kapitalbewegung

Wenn und solange die Preise der Waren objektiv bestimmbar sein sollen, ist Bedingung wie Folge eine objektiv geregelte Profithöhe, der Durchschnittsprofit. Wie fasst Hilferding diesen auf? Er behauptet, dass „die Tendenz nach der Gleichheit des Profits zunächst individuelles Streben des Kapitalisten nach möglichst hohem Profit ist“.[2] Gleichlautend führt er an anderer Stelle aus: „Das subjektive Streben nach möglichst hohem Profit, das alle individuellen Kapitalisten beseelt, hat aber zum objektiven Resultat die Tendenz zur Herstellung der gleichen Durchschnittsprofitrate für alle Kapitale.“[3] Der Durchschnittsprofit wird also Hilferding zufolge bewirkt durch die Konkurrenz. In einer Anmerkung erläutert er diesen Gedanken: „Aus den Motiven der handelnden Wirtschaftssubjekte, die selbst aber durch die Natur der wirtschaftlichen Beziehungen determiniert werden, lässt sich nie mehr als die Tendenz zur Herstellung der Gleichheit der ökonomischen Bedingungen ableiten: gleiche Preise für gleiche Waren, gleicher Profit für gleiches Kapital, gleicher Lohn und gleiche Ausbeutungsrate für gleiche Arbeit. Aber zu den quantitativen Beziehungen selbst komme ich auf diese Weise, ausgehend von den subjektiven Beziehungen, nie. Ich muss vielmehr bereits die Größe des gesellschaftlichen Gesamtprodukts kennen, bei dessen Verteilung jene Gleichheitstendenzen wirksam werden“.[4]

Das bedeutet nach Hilferding: die Gesamtgrößen der Produktion sind objektiv gegeben, während ihre konkrete Umverteilung subjektiv bedingt ist. Die gesell­schaftliche Profitmasse – der Gesamtprofit – ist demzufolge als objektive Größe vorhanden, aber ihre Verteilung auf die einzelnen Kapitalisten wird durch deren subjektives Gewinnstreben bewirkt. Dadurch werfen letztlich gleichgroße Kapitalmassen gleiche Profite ab, auch wenn der eine Kapitalist aufgrund individueller Fähigkeit mehr, der andere weniger Profit macht. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: „Aus den Motiven der handelnden Wirtschaftsobjekte … lässt sich nie mehr als die Tendenz zur Herstellung der Gleichheit der ökonomischen Bedingungen ableiten“ – aber auch nicht weniger; die subjektive Konkurrenz ist Ursache tendentiell gleicher Profite. Derartige Formulierungen sind keine einmaligen Ausrutscher; sie verraten ein von Grund auf verkehrtes Verständnis der Konkurrenz.

Die „Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf“, sagt Marx demgegenüber.[5] Das heißt, das Gesetz der Durchschnittsprofitrate ist dem Kapital immanent; dass gleiche Kapitale gleiche Profite abwerfen, entspringt dem Wesen des Kapitals als solchem und wird nur vermittels der Konkurrenz in der äußeren Bewegung der Kapitale durchgesetzt. „Die Konkurrenz exequiert (führt aus, setzt durch; d.V.) die innren Gesetze des Kapitals; macht sie zu Zwangsgesetzen dem einzelnen Kapital gegenüber, aber sie erfindet sie nicht. Sie realisiert sie. Sie daher einfach aus der Konkurrenz erklären wollen, heißt zugeben, dass man sie nicht versteht.“[6] In einer längeren Auseinandersetzung über den „Schein der Konkurrenz“ schreibt Marx über das Verhältnis von Profit, Preis und Konkurrenz: „Der Durchschnittsprofit muss bestimmt sein durch eine Durchschnittsrate des Profits; wie wird diese bestimmt? Durch die Konkurrenz unter den Kapitalisten? Aber diese Konkurrenz unterstellt schon das Dasein des Profits. Sie unterstellt verschiedne Profitraten und daher verschiedne Profite, sei es in denselben, sei es in verschiednen Produktionszweigen. Die Konkurrenz kann nur auf die Profitrate wirken, soweit sie auf die Preise der Waren wirkt. Die Konkurrenz kann nur bewirken, dass Produzenten innerhalb derselben Produktionssphäre ihre Waren zu gleichen Preisen verkaufen und dass sie innerhalb verschiedner Produktionssphären ihre Waren zu Preisen verkaufen, die ihnen denselben Profit geben… Die Konkurrenz kann daher nur Ungleichheiten in der Profitrate ausgleichen. Um ungleiche Profitraten auszugleichen, muss der Profit als Element des Warenpreises schon vorhanden sein. Die Konkurrenz schafft ihn nicht. Sie erhöht oder erniedrigt, aber sie schafft nicht das Niveau, welches eintritt, sobald die Ausgleichung stattgefunden. Und indem wir von einer notwendigen Rate des Profits sprechen, wollen wir eben die von den Bewegungen der Konkurrenz unabhängige Profitrate kennen, welche ihrerseits die Konkurrenz reguliert. Die durchschnittliche Profitrate tritt ein mit dem Gleichgewicht der Kräfte der konkurrierenden Kapitalisten gegeneinander. Die Konkurrenz kann dies Gleichgewicht herstellen, aber nicht die Profitrate, die auf diesem Gleichgewicht eintritt. Sobald dies Gleichgewicht hergestellt ist, warum ist nun die allgemeine Profitrate 10 oder 20 oder 100%? Von wegen der Konkurrenz. Aber umgekehrt, die Konkurrenz hat die Ursachen aufgehoben, die Abweichungen von den 10 oder 20 oder 100% produzierten. Sie hat einen Warenpreis herbeigeführt, wobei jedes Kapital im Verhältnis zu seiner Größe denselben Profit abwirft. Die Größe dieses Profits selbst aber ist unabhängig von ihr. Sie reduziert nur alle Abweichungen immer wieder auf diese Größe. Ein Mann konkurriert mit den andren, und die Konkurrenz zwingt ihn, seine Ware zu demselben Preis zu verkaufen wie jene. Warum aber ist dieser Preis 10 oder 20 oder 100? (…) Das einzige, was uns die Konkurrenz sagt, ist, dass diese Profitrate eine gegebne Größe sein muss. Aber das wussten wir vorher, als wir von allgemeiner Profitrate und dem <notwendigen Preis> des Profits sprachen.“[7]

Der Durchschnittsprofit ist also nicht, wie Hilferding schreibt, das „objektive Resultat“ der Konkurrenz, sondern ist als gegebene Größe der Konkurrenz vorausgesetzt. Die Konkurrenz bewirkt die Schwankungen der Preise um die Werte resp. Produktionspreise herum, aber nicht diese Werte resp. Produktionspreise selbst. Sie bewirkt die Schwankungen des Profits der einzelnen Kapitale um den Durchschnittsprofit herum, aber nicht die durchschnittliche Profitrate selbst. Der Wert resp. Produktionspreis einer Ware bestimmt sich durch die zu ihrer Herstellung im gesellschaftlichen Durchschnitt erforderliche Arbeit. Das ist ein Maß, das dem individuellen Kapitalisten vorgegeben ist. Er kann es unterschreiten, indem er produktiver arbeitet, und überschreiten, indem er unproduktiver arbeitet bzw. arbeiten lässt als seine Konkurrenten. Im einen Fall erzielt er mehr als den gewöhnlichen Profit, im andern Fall weniger. Gleichermaßen ist die Rate des Durchschnittsprofits als Resultat aus der Größe des gesellschaftlichen Gesamtkapitals sowie dem Umfang der jeweiligen Arbeiterbevölkerung und dem Exploitationsgrad der Arbeit eine gegebene Größe. Auf jedes Einzelkapital entfällt im Grundsatz entsprechend seiner individuellen Größe ein entsprechender Teil des gesellschaftlichen Gesamtprofits. Umfasst es 5% des Gesellschaftskapitals, hat es auch Anspruch auf 5% des Gesamtprofits. Ob es diesen Anspruch aber realisieren kann oder ob es weniger oder mehr Profit macht, hängt von seiner individuellen Produktivität im Vergleich zu den anderen Kapitalen ab.

Hilferding verkehrt das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Er macht die allgemeine Profitrate, die der Konkurrenz zugrundeliegt, zu einer Wirkung der Konkurrenz, erklärt sie zu einem objektiven Resultat des subjektiven Strebens der individuellen Kapitalisten nach Höchstprofit. Damit wiederholt er dem Wesen nach seinen Fehler aus der Geldtheorie. Dort machte er den Wert des Geldes zu einem Resultat des Austauschs, anstatt zu begreifen, dass das Geld bereits Wert hat, bevor es in die Zirkulation tritt. Ähnlich macht er hier den Durchschnittsprofit und -preis zum Resultat der Konkurrenz, anstatt zu begreifen, dass er der Konkurrenz vorausgesetzt ist. Dieser Ansatz läuft darauf hinaus, dass die individuellen Kapitalisten die allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise nicht realisieren, sondern durch ihre Konkurrenz erst hervorbringen, auch wenn der Autor immer wieder etwas anderes versichert.

Wenn Hilferding daher unter der Herrschaft der Monopole die Preise und Profite als etwas rein Subjektives und Willkürliches beschreibt, findet sich der Ansatz dafür bereits im gegebenen Verständnis des „Konkurrenzkapitalismus“.

Von einer anderen Seite aus offenbart sich dies in der Auffassung des Wertgesetzes. Hilferding schreibt: „Betrachtet man die Kompliziertheit der Proportionalitätsverhältnisse, die in der doch anarchischen Produktion erfüllt sein müssen, so ist man zunächst versucht, die Frage aufzuwerfen, wer für die Erhaltung dieser Verhältnisse Sorge trägt. Es ist klar, dass diese Funktion das Preisgesetz erfüllen muss, da ja die Preise die kapitalistische Produktion, regulieren… Auch daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines objektiven Wertgesetzes als einzig möglichen Regulators der kapitalistischen Wirtschaft.“[8] Kommt es zu Abweichungen der Preise von den Werten resp. Produktionspreisen, so entstehen „Störungen in der Regulierung der von der Preisgestaltung in ihrem Ausmaß und ihrer Richtung abhängigen Produktion.“[9] Die Krisentheorie, die in diesen Sätzen angelegt ist, wird uns später noch beschäftigen. Im Augenblick ist das Wertgesetz wichtiger. Folgt man Hilferding, so besteht seine Funktion darin, mit Hilfe der Preise die Produktion in „Ausmaß und Richtung“ zu bestimmen. Es sei „Regulator der kapitalistischen Wirtschaft“, indem und solange es dafür Sorge trägt, dass die Preise der Waren den Werten entsprechen.

Marx folgend wird die Produktion jedoch dem Wesen nach durch das Wertgesetz reguliert, indem die Ausbeutung der Arbeitskraft, die Entwicklung des Verhältnisses von bezahlter zu unbezahlter Arbeit, von relativem und absolutem Mehrwert, von Profitrate und -masse über Akkumulation und Krise entscheidet. Die Gestaltung der Preise stellt nur die letzte Stufe dar, in der sich dies realisiert und das Wertgesetz in Erscheinung tritt. Die Preise vermitteln die Regulierung der Produktion durch das Wertgesetz, wie die Konkurrenz die Bewegung des Kapitals vermittelt. Wenn stattdessen die Preise als das Bestimmende angesehen werden, muss die Funktion des Wertgesetzes aus der Produktion in die Zirkulationssphäre hineinverlagert werden.

In den letzten Kapiteln von Band III des KAPITALs über den „Schein der Konkurrenz“ setzt Marx sich noch einmal zusammenfassend mit falschen Vorstellungen über die Bewegung des Kapitals auseinander. Dort bemerkt er: „Der ganze kapitalistische Produktionsprozess ist ferner reguliert durch die Preise der Produkte.“ Das benennt er als die in Erscheinung tretende Tatsache, die die Vorstellung der individuellen Kapitalisten prägt, und fährt darum fort: „Aber die regulierenden Produktionspreise sind selbst wieder reguliert durch die Ausgleichung der Profitrate und die ihr entsprechende Verteilung des Kapitals in die verschiednen gesellschaftlichen Produktionssphären.“[10] Weiter entwickelt er die verschiedenen Bestimmungen, die „aus der Entwicklung des Kapitals als sich selbst verwertenden, Mehrwert erzeugenden Werts“ hervorwachsen, bis in der letzten Stufenfolge die Marktpreise entstehen, die scheinbar die Produktion bestimmen. Im Einfluss dieser hin- und herschwankenden Marktpreise ist es, sagt Marx, dass „dem Kapitalisten in der Tat die Wertbestimmung allein erscheint“.[11] Aufgrund ihrer Bewegung trifft er seine Entscheidungen über Ausmaß und Richtung der Produktion. Hilferding formuliert dies theoretisch, indem er die Erscheinung für das Wesen nimmt und die praktischen Erfahrungen des Kapitalisten für die ganze Wahrheit des Wertgesetzes ausspricht: die Preise regulieren die Produktion.

Was der Autor des FINANZKAPITALs bisher über Konkurrenz und Wertgesetz zu sagen hatte, deutet ein subjektives, auf die Oberfläche der Bewegung reduziertes Verständnis der ökonomischen Gesetze an. Eine nähere Betrachtung seiner Ausführungen zur Konkurrenz sowie daneben zur Krise soll uns Aufschluss darüber geben, inwieweit die bisherigen Aussagen eine Ausnahme bilden oder aus einem durchgängig falschen Begriff des Kapitals hervorgehen.

 

b) Formen der Konkurrenz

Marx unterscheidet mehrere Arten der Konkurrenz voneinander, darunter als wichtigstes die Konkurrenz der einzelnen Kapitale innerhalb einer Produktionssphäre einerseits und die Konkurrenz zwischen verschiedenen Produktionszweigen als Anlagesphären für Kapital andererseits. Bleiben wir zunächst bei der letztgenannten Form der Konkurrenz, weil Hilferding hieraus die weitestreichenden Veränderungen ableitet. Aus technischen Gründen haben die verschiedenen Produktionssphären eine unterschiedliche organische Zusammensetzung. In der einen Sphäre ist der Anteil des variablen Kapitals niedriger, in der anderen höher. Durch die stoffliche Gestalt des Kapitals bedingt, unterscheidet sich die organische Zusammensetzung der Produktionszweige naturnotwendig voneinander. Da Mehrwert bzw. Profit aber nicht durch Maschinen, sondern durch die Anwendung menschlicher Arbeitskraft erzeugt wird, müssten demzufolge die Profitraten in den verschiedenen Produktionssphären unterschiedlich hoch sein. Das widerspricht dem Wesen des Kapitals, als sich selbst verwertender Wert Profit zu hecken, gleichgültig welche Gebrauchsgestalt es annimmt – ob für Arbeiter, Gebäude, Maschinerie oder Rohstoffe verauslagt. Mit Hilfe der Konkurrenz, durch beständige Aus- und Einwanderung von Kapital wird diese stofflich gesetzte Schranke überwunden und wirft das Kapital in den verschiedenen Produktionssphären gleiche Profite ab, gleich wie die organische Zusammensetzung ist. „Die Konkurrenz der Kapitalien sucht so jedes Kapital als Stück des Gesamtkapitals zu behandeln und danach seine Partizipation am Mehrwert und daher auch Profit zu regulieren (…) Es heißt dies aber zu deutsch nichts, als dass die Kapitalisten das Quantum unbezahlter Arbeit, das sie der Arbeiterklasse auspressen – oder die Produkte dieses Quantums Arbeit -, bestrebt sind (dies Streben ist aber die Konkurrenz), untereinander zu verteilen nicht in dem Verhältnis, worin ein besondres Kapital unmittelbar Surplusarbeit produziert, sondern im Verhältnis erstens, worin dies besondre Kapital einen aliquoten Teil des Gesamtkapitals bildet, zweitens, im Verhältnis, worin das Gesamtkapital selbst Surplusarbeit produziert. Die Kapitalisten teilen sich brüderlich-feindlich in die Beute der angeeigneten fremden Arbeit, so dass im Durchschnitt der eine soviel unbezahlte Arbeit aneignet wie der andre.“[12]

Diese Form der Konkurrenz nennt Marx das „Grundgesetz“ der Konkurrenz, „worauf die ganze kapitalistische Produktion beruht“,[13] denn dadurch wird das Wesen des Kapitals, sich unabhängig von seiner jeweils konkreten Gebrauchsgestalt zu verwerten, durchgesetzt. Alle Teile des gegebenen Kapitals werfen gleichermaßen Profit ab, mögen sie nun die Gestalt von Maschinerie oder die von Menschen annehmen. Die Arbeitskraft wird ein Bestandteil des Kapitals wie Gebäude und Rohstoffe auch. Nur noch gesamtgesellschaftlich und in den Sphären mittlerer Zusammensetzung ist der Profit mit dem Mehrwert identisch, in allen anderen Sphären nicht. Die Werte verwandeln sich in Produktionspreise, die ihrerseits zum Schwankungszentrum für die Marktpreise werden und denen nicht mehr anzusehen ist, dass sie aus der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft herrühren.

Davon zu trennen ist die Konkurrenz der individuellen Kapitale innerhalb eines Produktionszweigs. Jede Sphäre hat Anspruch auf die gleiche Profitrate wie jede beliebige andere Sphäre. Wie aber innerhalb dieser Sphäre die Profite sich auf die einzelnen Kapitale verteilen, ist eine Frage der individuellen Produktivität. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte kann ein Kapital Extraprofit machen, durch das Zurückbleiben hinter der Produktivitätsentwicklung in seiner Sphäre ein anderes Kapital weniger als den Durchschnittsprofit abwerfen.[14] Nehmen wir ein Beispiel: Das gesellschaftliche Gesamtkapital betrage 1000. Es sei aufgeteilt auf die vier Produktionssphären A, B, C und D, die einen Umfang haben von A = 100, B = 200, C = 300 und D = 400. Die jährliche Profitrate betrage 20%, die zu verteilende Profitmasse eines Jahres beläuft sich daher auf 200. Produktionssphäre A würde demzufolge Profite in Höhe von 20 an sich ziehen, gleich wie viel oder wie wenig Arbeiter im Verhältnis zum konstanten Kapital dort tätig sind. Produktionssphäre B würde 40, C würde 60 und D würde 80 an sich ziehen. Die Profitrate in allen Produktionssphären wäre gleich. Wie jedoch beispielsweise in Sphäre B, die bei einem Umfang von 200 aus 10 gleichgroßen Kapitalen von je 20 bestehen möge, die Profite verteilt werden, ist ein Frage der individuellen Produktivität. Im Prinzip hätte jedes B-Einzelkapital Anspruch auf eine 20%ige Profitrate, dh. auf einen jährlichen Profit von 4. Da ihre Produktivität sich jedoch unterscheiden wird, machen einige Kapitale weniger, andere mehr Profit als 4.

Diesem Prozess liegt die „entgegengesetzte Wirkung der Konkurrenz“[15] zugrunde, die Marx in den Worten zusammenfasst: „Was die Konkurrenz in derselben Produktionssphäre bewirkt, ist Bestimmung des Werts der Ware in dieser Sphäre durch die durchschnittlich in derselben erheischten Arbeitszeit, also Herstellung des Marktwerts. Was die Konkurrenz zwischen den verschiednen Produktionssphären bewirkt, ist Herstellung derselben allgemeinen Profitrate in den verschiednen Sphären durch Ausgleichung der verschiednen Marktwerte zu Marktpreisen, die die Kostenpreise darstellen, die von den wirklichen Marktwerten verschieden. Die Konkurrenz in diesem zweiten Fall strebt also keineswegs, die Preise der Waren ihren Werten zu assimilieren, sondern umgekehrt ihre Werte auf davon unterschiedne Kostenpreise zu reduzieren, die Unterschiede ihrer Werte von den Kostenpreisen aufzuheben.“[16] (Den „Kostenpreis“ nennt Marx später „Produktionspreis“, der seinerseits zusammengesetzt ist aus dem Kostpreis – den Herstellungskosten – plus dem Durchschnittsprofit). Das einemal – zwischen den Sphären – setzt die Konkurrenz also gleiche Profite (eine gleiche Profitrate) durch; das anderemal – innerhalb einer Sphäre – bewirkt sie ungleiche Profite (eine ungleiche Profitrate).

Es ist die „stete Tendenz“ der Kapitalbewegung, „nur solche Surplusprofite zu dulden, wie sie unter allen Umständen, nicht aus dem Unterschied zwischen den Werten und den Produktionspreisen der Waren, sondern vielmehr aus dem allgemeinen, den Markt regelnden Produktionspreis und den von ihm unterschiednen individuellen Produktionspreisen entspringen; Surplusprofite, die daher auch nicht zwischen zwei verschiednen Produktionssphären, sondern innerhalb jeder Produktionssphäre stattfinden, also die allgemeinen Produktionspreise der verschiednen Sphären, d.h. die allgemeine Profitrate, nicht berühren und vielmehr die Verwandlung der Werte in Produktionspreise und die allgemeine Profitrate voraussetzen.“[17] Das bedingt die verschiedenen Arten der Konkurrenz: die Fischkonservenfabrik konkurriert nicht mit dem Batteriehersteller, sondern nur mit anderen Fischkonservenfabriken bzw. darüber hinaus mit anderen Nahrungsmittelherstellern. Die Konkurrenz zwischen den Sphären ist eine Konkurrenz um Anlagesphären: freies Kapital muss sich entscheiden, ob es in der Fischbranche oder in der Batteriebranche angelegt werden will.

Diese beiden Formen der Konkurrenz werden von Hilferding nirgends analytisch unterschieden. Er spricht zwar schon einmal von der Konkurrenz zwischen Produktionssphären und der Konkurrenz zwischen Einzelkapitalen, wirft aber beides unterschiedslos durcheinander. Von den Produktionssphären behauptet er beispielsweise, ihre organische Zusammensetzung wachse um so schneller, je höher sie bereits sei, weil desto größere Profite zu erwarten seien. „Denn je größer die bereits angewendete Masse Maschinerie, Wissenschaft usw., desto größer und häufiger die Möglichkeit rationellerer Einrichtung, verbesserter Technik, wissenschaftlicherer Verfahrungsweisen. Desto stärker werden hier die Tendenzen zu höherer organischer Zusammensetzung wirksam sein.“[18] Das würde bedeuten, dass die technische Kluft zwischen den Branchen sich progressiv vertiefen müsste. Eine solche These ist politökonomisch schon im Ansatz verkehrt. Für freies Kapital, das über seine Anlagesphäre zu entscheiden hat, ist es gleichgültig, welche organische Zusammensetzung die Produktionszweige haben: die Profitrate ist entscheidend, und die ist unabhängig von der gegebenen organischen Zusammensetzung. Wo die Profitrate am höchsten steht, wird es sich anlegen. Gleichzeitig wird es sich natürlich auf dem höchsten Stand der Technik anlegen, um gegenüber den anderen Kapitalen seiner Sphäre einen Extraprofit zu machen, aber das ist hier eine zweite Frage.

Über die mit „Extraprofit“ arbeitenden Branchen hohen technischen Standes führt Hilferding weiter aus: „Je größer der in diesen Neuanlagen zu machende Extraprofit, desto mehr Kapital strömt in diese Sphären. Eine Korrektur kann erst eintreten, bis die neuen Produkte dieser Sphären auf den Markt kommen und ihr Überangebot den Preis senkt. Unterdessen hat die Nachfrage dieser Sphären den Preis von Produkten anderer Sphären gleichfalls erhöht und dort Kapitalzufuhr bewirkt, wenn auch in geringerem Maß, da dort wegen geringerer technischer Verbesserungen der Extraprofit geringer ist. Es hat dies wieder zur Folge, dass hier die Preissteigerung, da die Kapitalvermehrung nicht in gleicher Proportion zugenommen hat, verhältnismäßig stärker ist. In der ersten Produktionssphäre ist der Extraprofit bedeutend, in der zweiten geringer; dies gleicht sich allmählich aus durch Verringerung des Extraprofits durch stärkere Kapitalzufuhr dort und durch Preiserhöhung infolge relativ geringerer Zufuhr hier.“[19]

Zunächst einmal ist von dem „Extraprofit“ die Rede, den eine ganze Sphäre anderen gegenüber aufgrund ihrer organischen Zusammensetzung („technische Verbesserungen“) machen soll („In der ersten Produktionssphäre ist der Extraprofit bedeutend, In der zweiten geringer“). Die höhere oder niedrigere Profitrate einer Branche im Vergleich mit anderen hat jedoch, um das zu wiederholen, erst einmal nichts zu tun mit ihrer höheren oder niedrigeren organischen Zusammensetzung. Nur für die Profitraten der individuellen Kapitale innerhalb einer Sphäre ist die höhere oder niedrigere organische Zusammensetzung von ausschlaggebender Bedeutung für Extraprofit oder Verlust, insoweit damit eine höhere oder niedrigere Produktivität als bei den anderen Kapitalen verbunden ist. Darum hatten wir oben Marx sprechen lassen mit seiner Feststellung, dass die Konkurrenz das Mittel ist, Extraprofite zwischen den Sphären auszugleichen und für eine gleiche Profitrate zu sorgen, während sie gleichzeitig innerhalb des jeweiligen Produktionszweigs Extraprofite – oder Verluste – eines Kapitals gegenüber seinen Konkurrenten bewirkt.

Weiter sagt Hilferding, dass der hohe Extraprofit der ersten Sphäre viel neues Kapital dort hineinströmen lässt. Das bewirke eine Produktionserhöhung, bis schließlich das steigende Warenangebot die Preise und damit die Extraprofite zum Sinken bringe. Währenddessen habe das neue Kapital, das in die erste Sphäre geströmt sei, durch seine Nachfrage nach Produkten anderer Sphären deren Preise erhöht. Dadurch würden auch diese Sphären höhere Profite machen: wegen ihrer ursprünglich niedrigeren Profite ströme das Kapital dorthin „in geringerem Maße“ als in der ersten Sphäre, da in ihnen „wegen geringerer technischer Verbesserungen der Extraprofit geringer ist.“ Das erweist sich als Glücksfall, denn dadurch bleibt das Warenangebot eingeschränkt, so dass die Nachfrage der ersten Sphäre die Preise, der zweiten in die Höhe treibt. In der ersten Sphäre erhöht also – Hilferding zufolge – das einwandernde Kapital das Warenangebot so lange, bis der „Extraprofit“ dieser Sphäre verschwindet, und in der zweiten Sphäre lässt die Nicht-Zufuhr von Kapital umgekehrt die Nachfrage über das Angebot so lange wachsen, bis die dadurch bewirkte Preissteigerung den Ausgleich geschafft hat: „In der ersten Produktionssphäre ist der Extraprofit bedeutend, in der zweiten geringer; dies gleicht sich allmählich aus durch Verringerung des Extraprofits durch stärkere Kapitalzufuhr dort und durch Preiserhöhung infolge relativ geringerer Zufuhr hier.“ Ohne dass ein Wechsel in der Produktivität des zweiten Produktionszweigs erfolgte, wären dort mit den Preisen die Profite gestiegen. Allein durch Preiswechsel infolge von Angebot und Nachfrage wäre also der Ausgleich der Profitraten erfolgt und Gerechtigkeit eingetreten.

Legen wir die Marxsche Theorie zugrunde, sieht der ganze Zusammenhang anders aus: arbeitet in einer Sphäre ein Kapital mit überdurchschnittlicher Produktivität, kann es Extraprofite machen, weil es seine Waren zu denselben Preisen wie die anderen Kapitale verkaufen kann, sein Kostpreis (die Herstellungskosten) aber tiefer liegt. Oder aber es verkauft zu niedrigeren Preisen, um seine Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Verallgemeinert sich die produktivere Methode in dieser Sphäre, so sinkt die notwendige Arbeitszeit, die gesellschaftlich zur Herstellung der Ware (der Warenmasse) dieser Sphäre erforderlich ist. Die Profitrate des Gesamtkapitals dieser Sphäre kann die ganze Zeit über dieselbe gewesen sein.

Oder aber – ein anderer Fall – eine ganze Sphäre macht höhere Profite als die anderen Sphären. Das kann seine Ursache darin haben, dass die Nachfrage nach dem Produkt dieser Sphäre durch andere Sphären oder durch individuelle Konsumenten gewachsen ist. Politökonomisch bedeutet es, dass der Marktpreis über dem Produktionspreis steht. Mit höherer oder niedrigerer Produktivität der ganzen Sphäre hätte dies – um es erneut zu betonen – primär gar nichts zu schaffen, sondern mit dem zu geringen Umfang an Kapital, das in der betreffenden Sphäre engagiert ist. Die Zufuhr von Kapital sorgt dann dafür, dass infolge von Produktionserweiterung das Angebot sich mit der Nachfrage ausgleicht und der Marktpreis auf den Produktionspreis/Marktwert zurückfällt. Hören wir dazu Marx: „Das Verhältnis von Nachfrage und Zufuhr erklärt daher einerseits nur die Abweichungen der Marktpreise von den Marktwerten und andrerseits die Tendenz zur Aufhebung dieser Abweichung, d.h. zur Aufhebung der Wirkung des Verhältnisses von Nachfrage und Zufuhr. (…) Nachfrage und Zufuhr können die Aufhebung der durch ihre Ungleichheit hervorgebrachten Wirkung in sehr verschiedner Form durchführen. Z.B fällt die Nachfrage und daher der Marktpreis, so kann das dazu führen, dass Kapital entzogen und so die Zufuhr vermindert wird. Es kann aber auch dazu führen, dass der Marktwert selbst durch Erfindungen, die die notwendige Arbeitszeit verkürzen, erniedrigt und dadurch mit dem Marktpreis ausgeglichen wird. Umgekehrt: Steigt die Nachfrage und damit der Marktpreis über den Marktwert, so kann dies dazu führen, dass diesem Produktionszweig zuviel Kapital zugeführt und die Produktion so gesteigert wird, dass der Marktpreis selbst unter den Marktwert fällt; oder es kann andrerseits zu einer Preissteigerung führen, die die Nachfrage selbst zurücktreibt.“[20] Immer bewirkt die Konkurrenz – hier in Gestalt von Angebot und Nachfrage – nur, dass „die bestimmten quantitativen Abweichungen der Marktpreise von den Marktwerten und weiter von den Produktionspreisen“[21] ebenso ausgeglichen werden wie neu entstehen.

Hilferdings Sphärenkonstruktion ist dagegen von den verschiedensten Seiten aus verquer. Eingangs lässt er die erste Sphäre Extraprofite machen, nicht weil dort zu wenig Kapital angelegt ist, sondern weil sie als Ganze produktiver arbeiten soll. Das ist die „höhere Produktivität“ einer Brathähnchenfabrik gegenüber einer Aluminiumhütte, die ein nicht vorhandenes direktes Konkurrenzverhältnis zwischen beiden unterstellt. Ausgerechnet dort, wo Nachfrage und Zufuhr (von Kapital) ihren Platz haben, bestimmt er sie falsch. Den fehlerhaften Ansatz verdoppelt er sodann, indem er die Extraprofite der ersten Sphäre nicht durch Verallgemeinerung der produktiveren Methode, sondern durch Zufuhr von Kapital zurückgehen lässt. In der zweiten Sphäre wiederum lässt er die Preise allein aufgrund der wachsenden Nachfrage steigen, unabhängig von den gegebenen Produktionspreisen, dh. den realen Wertverhältnissen. Nicht die vorherrschenden Produktionsbedingungen regulieren dort den Preis, sondern die äußerliche Nachfrage der ersten Sphäre tut dies. Der Preis, der schließlich für die Ware der zweiten Sphäre gebildet wird, hat kein immanentes Maß mehr, sondern gründet sich allein auf Nachfrage und Angebot. Diese beiden sind die Regulatoren, die in Hilferdings Darstellung dem Ausgleich der Profitraten zugrundeliegen. Das verweist einmal mehr auf das mittlerweile schon mehrfach festgestellte äußerliche Kapitalverständnis des Österreichers.

Angebot und Nachfrage bzw. Zufuhr und Nachfrage benennen eine bestimmte Form der Konkurrenz, nämlich die zwischen Verkäufern (bzw. Produzenten) und Käufern (bzw. produktiven oder individuellen Konsumenten) einer Ware. Ihr gehen die anderen, zuvor beschriebenen Arten der Konkurrenz voraus. Damit Angebot und Nachfrage den Preis einer Ware auf dem Markt um den vorgegebenen Produktionspreis herum schwanken lassen, ist zweierlei vorausgesetzt: erstens ist innerhalb einer Produktionssphäre die Bildung eines gleichen Marktwerts als Durchschnittswerts der dort produzierten Waren vorausgesetzt; dh. es ist die Konkurrenz der in dieser Sphäre mit unterschiedlicher Produktivität agierenden Kapitale unterstellt.[22] Zweitens ist die Verwandlung dieses Marktwerts in den davon abweichenden Produktionspreis unterstellt, der den Durchschnittsprofit einschließt; dh. es ist die Konkurrenz der Kapitalien um die Produktionszweige als Anlagesphären für Kapital vorausgesetzt.[23] Erst auf dieser Grundlage bzw. unter diesen Voraussetzungen kommen Angebot und Nachfrage zum Tragen; in der Konkurrenz zwischen Verkäufern und Käufern bewirken sie die Oszillation der täglichen Marktpreise um die Produktionspreise, die Marx auch Marktproduktionspreise nennt. Es ist also nicht nur die Konkurrenz im allgemeinen, der Hilferding überragende Bedeutung beimisst, sondern darüber hinaus die äußerlichste Form der Konkurrenz.

Was in der Formulierung des Wertgesetzes durch Hilferding angelegt war, hat sich wiederholt: die Preise regeln die Produktion. Die Theorie der „Bestimmung der Preise durch Nachfrage und Zufuhr und daneben Bestimmung der Nachfrage und Zufuhr durch die Preise“ nannte Marx schlicht eine „Konfusion“.[24] Hilferding macht diese Konfusion zur Grundlage seiner Argumentation. Er beginnt mit dem an Marx erinnernden Satz, dass größere Produktivität Extraprofite erzeugt, bringt diese Feststellung von vornherein in einem falschen Zusammenhang, und macht sodann Angebot und Nachfrage zum eigentlichen Regulator der Bewegung. Beim nächsten Punkt wird sich zeigen, dass er daraus auch die kapitalistische Krise ableitet.

 

c) Das Krisenverständnis

An einer Steile schreibt Hilferding, „die Krise bedeutet nichts anderes als den Moment, wo das Sinken der Profitrate eintritt.“[25] Das ist ein Irrtum. Der Fall der Profitrate führt nicht direkt, sondern nur „in letzter Instanz“ zur Krise. Er ist streckenweise sogar mit beschleunigter Akkumulation verknüpft, solange die Profitmasse nur genügend anwächst. Erst wenn das Wachstum der Masse des Profits den Fall der Rate nicht länger kompensieren kann, tritt die Krise ein. Dennoch ist der Gedanke, dass die Krise etwas mit der fallenden Profitrate zu tun hat, nicht dumm. Hilferding verfolgt ihn aber nicht weiter, sondern betreibt eine eigene Krisenkonstruktion, die weniger mit der Profitrate, aber dafür um so mehr mit Angebot und Nachfrage zu tun hat.

Sie baut auf der oben vorgestellten These auf, wonach das Wertgesetz durch die Preisgestaltung die Produktion reguliert, der Produktionsprozess also so lange ungestört vor sich geht, wie die Preise der Waren den Werten entsprechen. Daraus folgert Hilferding im Umkehrschluss, Krisen müssten sich „erklären lassen durch die Störung in der spezifischen Regulierung dieser Produktion, also durch eine Störung in den Preisgestaltungen, so dass die Preise die Notwendigkeiten der Produktion nicht mehr richtig erkennen lassen. Da diese Störung periodisch ist, muss auch die Störung im Preisgesetz als periodisch auftretend nachgewiesen werden.“[26] Bedingt durch die Prosperität, lässt er in den entwickeltsten Produktionszweigen die Preise den Werten davonlaufen. In diesen Sphären, behauptet er, tritt infolge „der Verschiebung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage, dadurch, dass das Angebot langsamer wächst als die Nachfrage, zunächst ein stärkeres Steigen der Preise ein als in anderen Produktionszweigen.“[27] Die ungleichmäßige Preisentwicklung verursacht schließlich die Krise. „Denn all die erwähnten Momente bedeuten Abweichungen der Marktpreise von den Produktionspreisen und dadurch Störungen in der Regulierung der von der Preisgestaltung- in ihrem Ausmaß und ihrer Richtung abhängigen Produktion. Dass diese Störungen schließlich zur Absatzstockung führen müssen, ist klar.“[28]

Hilferding lässt die Krise also tatsächlich aus dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage und den dadurch bedingten Preisabweichungen hervorgehen. Das heißt, dass sie nicht aus dem Produktionsprozess, sondern aus der Zirkulation erwächst oder, wie Hilferding sagt, dass sie „nur erklärt werden kann aus den spezifisch kapitalistischen  Bedingungen der Warenzirkulation.“[29] Denn Angebot und Nachfrage berühren nicht die Produktion der Waren und damit die Schaffung von Wert und Mehrwert; sie betreffen den Umschlag der mit einem feststehenden Wert – darin eingeschlossen den Mehrwert – aus dem Produktionsprozess heraus­tretenden Waren. „Aber im Zirkulationsprozess wird  kein Wert produziert, also auch kein Mehrwert“, sagt Marx. „Es gehn nur Formveränderungen derselben Wertmasse vor. Es geht in der Tat nichts vor als die Metamorphose der Waren, die als solche mit Wertschöpfung oder Wertveränderung nichts zu tun hat.“[30] Die Hilferdingsche Krise resultiert also aus den zusätzlichen Einflüssen, die bei der Realisierung des in den Waren enthaltenen Werts und Mehrwerts in der Zirkulationssphäre wirken und die durch Angebot und Nachfrage darüber ent­scheiden, ob die produzierten Waren die Werte, die sie verkörpern, realisieren können oder nicht.

Marx hatte darüber wiederum andere Auffassungen. Für ihn ist die Krise dem Wesen nach eine Verwertungskrise des Kapitals. Aber „als Kapital existiert das Kapital“, formulierte er, „in der wirklichen Bewegung, nicht im Zirkulationsprozess, sondern nur im Produktionsprozess, im Ausbeutungsprozess der Arbeitskraft.“[31] Die kapitalistische Krise als Krise des Kapitals zu begreifen heißt daher, ihren Ursprung dort auszumachen, wo das Kapital als solches existiert: im Ausbeutungsprozess. Auf einem bestimmten Punkt seiner Bewegung tritt sich das Kapital selber als Schranke entgegen. Es existiert zu viel davon, um sich aus­reichend verwerten zu können, Indem das Kapital im Zuge seiner Akkumulation Bedingungen schafft, unter denen es nicht mehr genügend Mehrarbeit aneignen kann. Diese Verwertungskrise, in die das Kapital bei der Produktion seiner selbst periodisch gerät, tritt im Zirkulationsprozess, dh. auf dem Markt, als allgemeine Überproduktion von Waren zutage.[32] Hilferding lässt die Krise jedoch nicht allein in der Zirkulation erscheinen, sondern behauptet, sie „ist ganz allgemein eine Zirkulationsstörung.“[33] Wenn man sie über Angebot und Nachfrage aus den Einflüssen des Marktes erklärt, ist dies logisch.

Damit verknüpft sieht er die Krise konkret aus Disproportionen resultieren, die durch die unregelmäßige Preisbewegung hervorgerufen werden. Die Unterschiedlichkeit, in der die Preise von den Werten abweichen, muss „mit Notwendigkeit eine Verschiebung der Verhältnisse der Kapitalverteilung mit sich führen“[34], schreibt er. „So entstehen im Ablauf der Konjunkturperiode Disproportionalitätsverhältnisse durch Störungen der Preisgestaltung“,[35] die ihrerseits wieder die Preisgestaltung beeinflussen usw. bis die Krise ausbricht.

Die dem Wesen des Kapitals entspringende Krise resultiert jedoch ebensowenig aus Disproportionen der Kapitalverteilung wie aus gestörter Preisgestaltung wie aus dem Zusammenhang beider, wenn auch derartige Disproportionen Krisen hervorrufen können. Eine Störung, die auf „Disproportion zwischen der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die einzelnen Produktionssphären beruht“, ordnet Marx der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären zu.[36] Er bemerkt, dass die Ausgleichung der Profitraten, aus der die proportionale Verteilung des Gesellschaftskapitals auf die Produktionssphären resultiert, auch krisenhaft vor sich gehen kann.[37] Die eigentliche Krise des Kapitals stellt sich aber nicht als besondere Überproduktion in einzelnen Sphären (resp. Unterproduktion in anderen Sphären) dar, sondern als eine allgemeine Überproduktion von Waren.[38] Darin tritt die Überakkumulation des Kapitals an die Oberfläche. Wie auch immer Hilferdings Ausführungen zur Krise daher genommen werden: sie haben nichts mit den immanenten Bewegungsgesetzen zu tun, die die Verwertung des Kapitals regeln, sondern erschöpfen sich in den Phänomenen, die die wirkliche Bewegung sowohl in verkehrter Form zum Ausdruck bringen als auch verhüllen.

Die fehlerhafte Krisenauffassung hängt damit zusammen, dass Hilferding den zweiten Band des KAPITALs für den Ort hält, wo Marx die Ableitung der Krise angelegt habe. Er erklärt, dass „eine Erkenntnis der Krisenursachen nur möglich“ sei, „wenn man sich die Ergebnisse der Marxschen Analyse vergegenwärtigt“, die in Band II enthalten sind.[39] Folgerichtig gibt er die Marxschen Reproduktionsschemata bzw. die „Gleichgewichtsbedingungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses“ wieder, bevor er das Kapitel über die „Ursachen der Krise“ beginnt. Auf der Ebene von Band II sind die Krisen jedoch nicht zu erklären, weil dort im wesentlichen der „Zirkulationsprozess des Kapitals“ abgehandelt wird, wie der Titel dieses Buchs lautet. Zwar wird namentlich im dritten Abschnitt die Einheit von Zirkulations- und Produktionsprozess dargestellt; das Kapital erscheint dort aber wesentlich noch nicht als prozessierendes Verhältnis, sondern in linearem Fortgang, indem die allgemeinen Elemente und Voraussetzungen seiner Akkumulation benannt werden. Von so entscheidenden Momenten des Gesamtreproduktionsprozesses wie dem Fall der Profitrate wird dabei abgesehen. Erst im dritten Buch werden die konkreten Formen entwickelt, die aus dem Bewegungsprozess des Kapitals, als ganzes betrachtet, hervorwachsen. Darum muss auch der theoretische Ansatzpunkt zur Erklärung der Krise in KAPITAL III gesucht werden.

Auf der von Hilferding gewählten Ebene wird stattdessen nahegelegt, was er am Ende seiner Darstellung der Reproduktionsschemata schreibt: „Aber zugleich zeigen diese Schemata, dass in der kapitalistischen Produktion sowohl Reproduktion auf einfacher als auf erweiterter Stufenleiter ungestört vor sich gehen kann, wenn nur diese Proportionen erhalten bleiben.“[40] Das bedeutet zum einen, dass der Autor eine schrankenlose Akkumulation des Kapitals für möglich hält, „wenn nur die Proportionen erhalten bleiben“, wenn es also gelingt, die Ausbildung von Disproportionen aufgrund einer fehlerhaften Preisgestaltung zu verhindern. Zum andern ist er auf dem Boden dieser Feststellung gezwungen, die Krisen, wenn sie überhaupt noch stattfinden sollen, mit Missverhältnissen zwischen den Produktionssphären zu begründen.

Als das Buch mit dieser Feststellung erschien – im Jahre 1910 -, hielt sein Verfasser Krisen noch für unvermeidbar und leitete u.a. daraus die Notwendigkeit eines Sturzes des „Finanzkapitals“ ab. Kaum zehn Jahre später erklärte er die Krisen durch den „organisierten Kapitalismus“ für überwunden und sah kein Bedürfnis für eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft mehr. Der dafür erforderliche theoretische Sprung war nicht groß.

 

2. Die Monopolisierung des produktiven Kapitals

Die Aussagen, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, um Hilferdings Begriff der Bewegungsgesetze des Kapitals nachzuvollziehen, demonstrieren durchgängig ein subjektives Verständnis, das sich auf die erscheinende Oberfläche beschränkt und prinzipiell im Gegensatz zu Marx steht. In der eigentlichen Monopoltheorie, mit der das Ende des „Konkurrenzkapitalismus“ begründet wird, muss sich zeigen, ob diese Linie fortgesetzt wird oder nicht. Da der Autor die Monopolisierung zunächst im Bereich des produktiven Kapitals einsetzen lässt, bevor er auf die Verschmelzung von Handel, Industrie und Banken zum Finanzkapital eingeht, wollen wir ihm hierin folgen.

 

a) Die Herausbildung monopolistischer Vereinigungen

Die Herausbildung von Monopolen nimmt im FINANZKAPITAL einen eigen­tümlichen Verlauf. In Fortführung der oben kritisierten Ausführungen behauptet Hilferding bei der Beschreibung von Zyklus und Krise, dass die am meisten entwickelten Sphären, die sogenannten „schweren“ Industrien wie Kohle und Stahl, in der Prosperität überdurchschnittliche Gewinne machen. Diese Gewinne hingen zusammen mit der Unregelmäßigkeit der Preisgestaltung, aus der Hilferding im vorigen Punkt Disproportion und Krise ableitete. Den Grund für die übermäßigen Konjunkturgewinne macht er im fixen Kapital aus.[41]

Fixes Kapital ist nach Marx derjenige Teil des (konstanten) Kapitals, der als Arbeitsmittel (Gebäude, Maschinerie) im Arbeitsprozess fixiert ist und seinen Wert nur allmählich an das Produkt abgibt.[42] Die anderen Bestandteile des Kapitals, dh. sowohl das variable Kapital als auch die übrigen Teile des konstanten Kapitals, die in jedem Produktionsgang ihren Wert vollständig auf das Produkt übertragen (Rohstoffe, Hilfsmittel) bilden im Gegensatz dazu das flüssige oder zirkulierende Kapital.[43] Diese Unterscheidung resultiert aus dem verschiedenen Umschlag der verschiedenen Teile des im Produktionsprozess fungierenden Kapitals; sie „entspringt aus der Verschiedenheit der stofflichen Gestalten, worin das produktive Kapital existiert, und wovon ein Teil während der Bildung des einzelnen Produkts ganz konsumiert, ein andrer nur allmählich vernutzt wird.“[44] Die Aufteilung in fixes und flüssiges Kapital betrifft demgemäß die stofflich bedingte Verschiedenheit des Umschlags der einzelnen Kapitalteile. Diese Bestimmung berührt nicht den Verwertungsprozess, der sich in den Begriffen des konstanten und variablen Kapitals ausdrückt; die „differentia specifica“ des Kapitals ist in ihr ausgelöscht, denn als „flüssig“ bzw. „zirkulierend“ erscheint die Arbeit gleichwertig neben den Rohstoffen etc.[45] Das festzuhalten ist deswegen wichtig, weil Hilferding einmal die Begriffe des konstanten und flüssigen Kapitals unterschiedslos nebeneinander verwendet, dann aber in letzter Instanz das fixe Kapital zur entscheidenden Ursache der Monopolisierung macht.

Jedenfalls verhilft das fixe Kapital den schweren Industrien laut Hilferding vorerst zu überhöhten Profiten: „Je größer aber der Umfang des fixen Kapitals, desto länger die Zeit, nötig, um Neuanlagen herzustellen, desto größer auch daher der Unterschied der Zeit, während der in einzelnen Industriezweigen die Produktion erweitert werden kann. Je länger aber die Zeit zur Neuanlage, desto schwieriger die Anpassung an die Bedürfnisse der Konsumtion; desto länger bleibt das Angebot hinter der Nachfrage zurück, desto stärker steigen hier die Preise“.[46]

Marx hat die Schwierigkeiten ebenfalls gesehen, die dem Ausgleich der Profitraten zum Durchschnittsprofit aufgrund des Beharrungsvermögens des fixen Kapitals entgegenstehen, darauf jedoch eine andere Antwort gehabt als Hilferding. „Aber in jeder Sphäre der eigentlichen Produktion – Industrie, Ackerbau, Bergwerke etc. – bietet die Übertragung von Kapital aus einer Sphäre in die andre bedeutende Schwierigkeit, besonders wegen des vorhandnen fixen Kapitals. Zudem zeigt die Erfahrung, dass, wenn ein Industriezweig, z.B. die Baumwollindustrie, zu einer Zeit außerordentlich hohe Profite abwirft, er dann auch zu einer ändern Zeit sehr geringen Profit oder gar Verlust bringt, so dass in einem gewissen Zyklus von Jahren der Durchschnittsprofit ziemlich derselbe ist wie in ändern Zweigen. Und mit dieser Erfahrung lernt das Kapital bald rechnen.“[47] Sofern es also aufgrund des fixen Kapitals zu zeitweise überhöhten oder auch zu niedrigen Profiten kommt, gleicht sich dies über die Jahre hinweg aus. Außerdem errichtet das Kapital durch seine Gebrauchsgestalt (das fixe Kapital) nicht nur Hindernisse der eigenen Verwertung, sondern schafft auch die Mittel, diese Hindernisse zu überwinden. Was „Maschinen und andres fixes Kapital, Kohlen, Erze etc.“ angeht, sagt Marx, kann „deren Vermehrung, die sonstigen Naturbedingungen vorausgesetzt, in einem industriell entwickelten Land in kürzester Frist vor sich gehn“.[48] Je mehr mit dem fixen Kapital die Schranken für gleiche Kapitalverwertung anwachsen, desto mehr wachsen dementsprechend die Möglichkeiten und Fertigkeiten des Kapitals, diese Schranken aufzuheben.

Es ist von vornherein ein falscher Ansatz, die stoffliche Gestalt des Kapitals zum Ausgangspunkt für angeblich grundlegende Veränderungen im Produktionsprozess des Mehrwerts zu nehmen. Marx lässt mit der Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise die Wanderung von Kapital zwischen den Sphären nicht das einzige Mittel der Nivellierung der Profitraten bleiben. „Sobald die kapitalistische Produktion einen gewissen Entwicklungsgrad erreicht hat“, schreibt er, „geht die Ausgleichung zwischen den verschiednen Profitraten der einzelnen Sphären zu einer allgemeinen Profitrate keineswegs bloß noch vor sich durch das Spiel der Attraktion und Repulsion, worin die Marktpreise Kapital anziehn oder abstoßen. Nachdem sich die Durchschnittspreise und ihnen entsprechende Marktpreise für eine Zeitlang befestigt haben, tritt es in das Bewusstsein der einzelnen Kapitalisten, dass in dieser Ausgleichung bestimmte Unterschiede ausgeglichen werden, so dass sie dieselben gleich in ihrer wechselseitigen Berechnung einschließen. In der Vorstellung der Kapitalisten leben sie und werden von ihnen in Rechnung gebracht als Kompensationsgründe.“[49]

Hilferding setzt sich mit diesen Gedanken nicht auseinander, sondern führt seine Konstruktion weiter. Bisher waren wir bei den überdurchschnittlichen Profiten der schweren Industrien während der Konjunktur. Wie kommt es von dort zur Bildung von Monopolen? Der unbefangene Leser denkt wahrscheinlich, durch die Fixierung der Überprofite auf irgendeine Weise. Aber gefehlt; Hilferding schlägt einen unerwarteten Umweg ein. Weil nämlich hohe Gewinne zu erwarten sind, lässt er viel Kapital in die am meisten entwickelten Produktionszweige strömen. Je höher die Profitrate ist, „desto allgemeiner wird in solchen Industrien der Akkumulationsdrang“[50], schreibt er, und daraus resultiert die „Tendenz zu einer Überanlage, Überakkumulation des Kapitals in den Sphären höchster organischer Zusammensetzung im Vergleich zu denen niedrigerer Zusammensetzung.“[51] Das wiederum lässt alles umschlagen. Sind die neuen Fabriken nämlich fertig und fangen mit der massenhaften Produktion an, entsteht ein „Missverhältnis, das erscheint, wenn die Produkte der ersten Sphären auf den Markt gelangen. Der Absatz dieser neuen Produkte ist dadurch gehindert, dass die Produktion in den Sphären niederer Zusammensetzung nicht in gleicher Weise … vermehrt wurde.“[52] Das heißt, die schweren Industrien finden für ihr gestiegenes Warenangebot nicht genügend Absatz in den anderen Sphären. Die Zufuhr liegt über der Nachfrage und die Preise sinken.

Ein Rückzug aus der Produktion ist aber, so Hilferding, wegen des Umfangs, in dem Kapital in Gebäuden und Maschinerie gebunden ist, nicht ohne weiteres möglich. „Hier spielt das fixe Kapital weitaus die größte Rolle, hier wird der Abfluss einmal angelegten Kapitals am schwierigsten.“[53] Also muss weiter produziert werden und bleiben die Preise infolge des dauernden Überangebots im Keller. „Die starke Vermehrung der Produktion überkompensiert die Wirkung auf die Profitrate; stand diese vorher über dem Durchschnitt, so sinkt sie jetzt unter ihn.“[54] Auf diese Weise entsteht nach Hilferding „in den entwickeltsten Sphären kapitalistischer Produktion, in den schweren Industrien“ eine allgemeine Tendenz zu unterdurchschnittlichen Profiten. „Es wird gerade in diesen Sphären sich sehr leicht ein Zustand herausbilden, in dem durch längere Zeit die Profitrate unter dem Durchschnitt steht.“[55]

Die „längere Zeit“, von der Hilferding spricht, ist ein zyklusübergreifender Zustand unterdurchschnittlicher Profite. Neben den eben genannten, permanenten Tendenzen, die diesen Zustand bewirken und die er „aus dauernd wirksamen Ursachen“ erklärt,[56] sieht er nämlich weitere Momente, die in dieselbe Richtung wirken, sich aber auf „Bedingungen des industriellen Zyklus“ beschränken.[57]

Das ist die erste Hälfte von Hilferdings Herleitung der Monopoltheorie. Sehen wir einmal davon ab, dass die ganze Argumentation sich auf die stoffliche Gestalt, dh. die Gebrauchsform des Kapitals und die Wirkung von Angebot und Nachfrage stützt. Lassen wir auch die von Marx erwähnten Erfahrungen beiseite, aufgrund derer das Kapital mit den Auswirkungen des fixen Kapitals rechnen lernt. Warum werden dann trotzdem die konjunkturellen Überprofite der schweren Industrien nicht einfach durch höhere Verluste in der Krise ausgeglichen? Warum bringt die nächste Prosperitätsperiode nicht wieder Überprofite, die wiederum in der Krise ausgeglichen werden usw.? Woher sollen die dauerhaften, zyklusübergreifenden Überprofite kommen, die irgendwann in ebenso dauerhafte, zyklusübergreifende Unterprofite umschlagen? Selbst wenn für die Dauer eines ganzen Zyklus über Prosperität und Krise hinweg Überakkumulation in einem Industriezweig unterstellt wird: wieso besteht die Überakkumulation auch im nächsten Zyklus noch weiter, obwohl dieser ein größeres Produktionsvolumen mit sich bringt als sein Vorgänger? Wieso reicht das Übermaß an fixem Kapital des vorigen Zyklus nicht gerade hin, um die gestiegenen Produktionsanforderungen des neuen Zyklus zu erfüllen? Wo kommt die Permanenz der Überakkumulation her, die sich von Zyklus zu Zyklus fortpflanzen und permanente Unterprofite bewirken soll? Darüber gibt Hilferding keine nähere Auskunft. Der wiederholte Verweis auf das fixe Kapital und das Spiel von Angebot und Nachfrage reicht ihm.

Wir sind jedoch noch nicht bei den Monopolen und ihren dauerhaften Überprofiten angelangt, sondern soeben bei dem geraden Gegenteil. Wie soll es weitergehen? Wie soll die Konkurrenz überwunden werden, der Profit steigen und das Monopol entstehen? Dazu bemerkt Hilferding über die schweren Industrien: „Es herrscht nicht nur der Großbetrieb, sondern diese kapitalstarken Großbetriebe werden einander immer gleichwertiger, die technischen und ökonomischen Unterschiede, die einzelnen von ihnen eine Überlegenheit im Konkurrenzkampf gewähren würden, werden immer geringer. Es ist kein Kampf von Starken und Schwachen, in dem diese vernichtet und damit der Überfluss an Kapital in dieser Sphäre beseitigt würde, sondern ein Kampf von Gleichen, der lange unentschieden bleiben mag, allen Kämpfenden gleiche Opfer auferlegt.“[58] Das hat zur Folge, dass „gerade diese Industrien mit ihren großen fixen Kapitalmassen immer empfindlicher gegen die Konkurrenz und den durch sie bewirkten Fall der Profitrate“ werden.[59] Die Tendenz zu unterdurchschnittlichen Profiten löst darum „nun ihrerseits dort, wo die Kapitalskraft hinreichend stark ist, die Gegentendenz zu ihrer Überwindung aus. Diese Gegentendenz führt schließlich zur Aufhebung der freien Konkurrenz und damit zur Tendenz, die Ungleichheit der Profitrate dauernd zu gestalten.“[60]

Endlich ist es geschafft. Während andere, minder entwickelte Produktionszweige zwar ebenfalls Unterprofite machen, aber nicht genügend „Kapitalskraft“ haben, um diesen Zustand zu überwinden, weil die Betriebe zu klein und zersplittert sind,[61] beenden die gebeutelten Großbetriebe der schweren Industrien ihre Konkurrenz, schließen sich zu monopolistischen Vereinigungen zusammen und erzielen fortan Monopolprofite. Das ist der Schlussstein in der Herleitung des Monopols.

Wieder gibt es gar nicht genügend Fragen, die an diese Konstruktion zu richten sind: Wieso verschwinden die technischen und ökonomischen Unterschiede zwischen den Kapitalen der entwickeltsten Produktionssphären? Seit wann ist „gleiche Größe“ ein Argument gegen die Konkurrenz? Warum stacheln die unterdurchschnittlichen Profite den Konkurrenzkampf nicht an, sondern lassen ihn beenden? Weshalb wird das überschüssige Kapital nicht durch Untergang eines Großbetriebs vernichtet? Was sind „Empfindlichkeit“ und „Kapitalskraft“ für politökonomische Kategorien? Wenn die „Kapitalskraft“ etwas mit der Größe des fixen Kapitals zu tun hat – wieso bewirkt sie erst überdurchschnittliche, dann unterdurchschnittliche und schließlich Monopolprofite? Warum schließen die schweren Industrien sich nicht gleich zu Monopolen zusammen, sondern warten erst jahrzehntelange – da zyklusübergreifende – Unterprofite ab? Weshalb ist die Kapitalskraft ausgerechnet in den Sphären „hinreichend stark“, die so lange Zeit hindurch unterprofitlich waren?

Auf den gestellten Fragen, von denen Hilferding nicht eine beantwortet, ist deswegen zu beharren, weil der Abschnitt im FINANZKAPITAL über „Hindernisse in der Ausgleichung der Profitraten und ihre Überwindung“, dessen wichtigste Aussagen hier vorgestellt wurden, der einzige ist, in dem Hilferding versucht, eine politökonomische Begründung für die gesetzmäßige Herausbildung von Monopolen zu geben. Ansonsten beschreibt er noch die Absprachen von Firmen, erzählt Geschichten von zustandegekommenen und wieder auseinandergegangenen Kartellen, zitiert Kapitalistenklagen über zu niedrige sowie Lobpreisungen auf hohe Gewinne und beruft sich auf Adressbücher von Aufsichtsrats und Vorstandsmitgliedern. Politökonomisch beschränkt sich seine Herleitung auf das Zusammenwirken von fixem Kapital mit der Konkurrenzwirkung von Angebot und Nachfrage. Beides berührt allein die äußerlichen Formen, die das Kapital in seinem Verwertungsprozess durchläuft.

Dem entspricht die Definition, die der austromarxistische Theoretiker für die beiden von ihm benannten Formen des Monopols gibt: „Eine Interessengemeinschaft möglichst aller Unternehmungen zum Zweck, durch möglichst vollständige Ausschließung der Konkurrenz die Preise und damit den Profit zu erhöhen, ist das Kartell. Das Kartell ist also eine monopolistische Interessengemeinschaft.“[62] Während im Kartell die beteiligten Betriebe noch formell selbständig sind, verschmelzen sie im „Trust“ zu einem einzigen Betrieb: „Eine Fusion mit demselben Zweck, der durch dasselbe Mittel erreicht werden soll, ist der Trust. Der Trust ist also eine monopolistische Fusion.“[63] Neben diesen von dem bürgerlichen Ökonomen Liefmann übernommenen Definitionen stellt Hilferding noch über Seiten hinweg „Kombinationen“, „partielle Kombinationen“, „homosphärische“ Vereinigungen und „heterosphärische“ Verbindungen vor, die er ebenfalls von Liefmann entliehen hat. Wichtiger – und typisch – ist jedoch seine Auffassung vom „Monopol“. In beiderlei Gestalt – ob als Kartell oder als Trust – ist es nicht durch seine objektive Stellung definiert, sondern durch seinen „Zweck“, dh durch das subjektive Interesse seiner Träger an der Ausschließung der Konkurrenz und der Erzielung hoher Preise.

 

b) Der Nichtausgleich der Profitraten

Die so zustandegekommenen Monopole ziehen die erhöhten Profite, um deretwillen sie sich zusammenschlossen, laut Hilferding auf Kosten des Profits anderer Industriezweige an sich. Um das dauerhaft zu tun und systematisch eine höhere Profitrate zu sichern, darf die Ausgleichung der Profitraten nicht länger erfolgen, und dazu muss der freie Fluss der Kapitale zwischen den Sphären unterbunden werden. Das geschieht auch. „Die Kartellierung bedeutet zunächst eine Änderung der Profitrate auf Kosten der Profitrate der anderen kapitalistischen Industrien. Die Ausgleichung dieser Profitraten auf ein gleiches Niveau kann nicht erfolgen durch die Wanderung des Kapitals. Denn die Kartellierung bedeutet ja, dass die Konkurrenz des Kapitals um seine Anlagesphären gehemmt ist.“[64]

Was wie eine Schlussfolgerung aussieht, die sich auf ein neues Stadium der ökonomischen Entwicklung bezieht, hat seinen Ursprung wiederum in dem zugrundeliegenden Kapitalverständnis des Autors. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Hilferding die Ausgleichung der Profitraten nicht erst unter der Herrschaft der Monopole gehindert sieht. Seine Auffassung vom fixen Kapital lässt ihn nämlich schrei­ben, dass dessen Vorhandensein gegenüber der Tendenz zum Ausgleich der Profitraten „Hemmungen“ errichtet, „die sich mit der Entwicklung des Kapitalismus steigern.“[65] Das würde bedeuten, dass der Profitratenausgleich nur bei nichtentwickeltem Kapitalverhältnis ungehindert stattfindet. Dementsprechend macht Hilferding, wie vorhin schon vermerkt, „in allen entwickelten kapitalistischen Produktionszweigen“ Tendenzen aus, die eine „dauernde Senkung der Profitrate unter ihr Durchschnittsniveau hervorrufen und die nur überwunden werden können durch Beseitigung ihrer Ursache, der Konkurrenz“.[66] In dieser Aussage ist zugleich die Konkurrenz die Ursache der ungleichen Profitraten; anstatt den Profitratenausgleich zwischen den Sphären zu vermitteln, verhindert oder erschwert sie ihn mindestens.

Zu dieser Konsequenz gelangt Hilferding konkret durch das fixe Kapital: wegen dessen Trägheit werden in den „entwickelten“ Sphären, in der schweren Industrie, zuerst über- und sodann unterdurchschnittliche Profite erzielt; die Konkurrenz, dh. in Hilferdings Verständnis das subjektive Streben der einzelnen Kapitalisten nach Höchstprofit, führt dorthin. Auf den ökonomischen Kern gebracht, würde das Kapital sich dieser Theorie zufolge um so weniger seinem Wesen gemäß verhalten und gleiche Profite abwerfen können, je ungehinderter die Konkurrenz stattfände, je freier es zwischen den Sphären wandern könnte. Ausgerechnet die entwickelten Sphären würden gegenüber den minder entwickelten weniger Profit machen, und ursächlich wäre die Konkurrenz. Anstatt Instrument der Entwicklung des Kapitals zu sein, würde sie das Gegenteil bewirken. Unter diesen Umständen wäre es nur konsequent und richtig, die Konkurrenz zu beseitigen. Das Kapital würde damit ein Hindernis seiner eigenen Weiterentwicklung beseitigen.

In früher Zurückweisung derartiger Auffassungen schrieb Marx über die Profit­ratenausgleichung, sie „gelingt dem Kapital mehr oder minder, je höher die kapi­talistische Entwicklung in einer gegebnen nationalen Gesellschaft ist: d.h. je mehr die Zustände des betreffenden Landes der kapitalistischen Produktionsweise angepasst sind.“[67] Gehemmt sah er diese Bewegung, solange das Kapitalverhältnis nicht vollständig durchgesetzt ist, denn „diese Ausgleichung selbst stößt auf größre Hindernisse, wenn zahlreiche und massenhafte, nicht kapitalistisch betriebne Produktionssphären (z.B. Ackerbau durch Kleinbauern) sich zwischen die kapitalistischen Betriebe einschieben und mit ihnen verketten.“[68] Die Konkurrenz innerhalb einer Produktionssphäre schafft schon früh einen gleichen Marktpreis für die Waren sämtlicher Einzelkapitale, die in dieser Branche produzieren. Damit jedoch alle Sphären unter den gleichen Bedingungen produzieren, die Marktwerte sich in Produktionspreise verwandeln und eine allgemeine Rate gleichen Profits sich herausbildet, „ist höhere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise erforderlich als zu dem frühern.“[69]

Als Marx dies schrieb, waren noch längst nicht alle Bereiche der Gesellschaft von der kapitalistischen Produktionsweise erfasst und umgewälzt. Aufgabe wäre es daher gewesen, zu untersuchen, inwieweit dies um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Fall und von daher eine allgemeine Rate gleichen Profits möglich war. Im Abschnitt über die Krisen schreibt Hilferding, dass „die Krisen am stärksten sich äußern in den technisch entwickeltsten Produktionszweigen, also in den früheren Perioden vor allem in der Textil- (Baumwoll-)Industrie, später in den schweren Industrien.“[70] Solange eine Sphäre noch nicht vollständig von der kapitalistischen Produktionsweise ergriffen ist, ist sie auch nicht vollständig den Turbulenzen einer allgemeinen Verwertungskrise ausgesetzt. Je mehr das Kapital sich ausbreitet, desto umfassender wird seine Krise. Die von dem Verfasser selber konstatierte Tatsache hätte also Anlass sein können, den Stand der Durchsetzung des Kapitalverhältnisses in den verschiedenen Ländern und Produktionssphären zur damaligen Zeit zu untersuchen.

Ebenso deuten eine Reihe anderer Bemerkungen auf den konkreten historischen Entwicklungsstand der damaligen Zeit hin. Z.B. fällt auf, dass die Monopolbildung zum ganzen Teil durch Hinweise auf den Kohle- und Erzbergbau begründet wird. Bei Rohstoffen, deren Lagerstätten nicht beliebig vermehrbar sind – dh. in der extraktiven Industrie – kann aber leicht ein natürliches Monopol gebildet werden. Darauf weist Hilferding selber hin: „Die Festigkeit der Rohstoffsyndikate beruht wesentlich auf ihrer Monopolisierung der Naturbedingungen der Produktion, die ihnen zudem meist durch die Berggesetzgebung außerordentlich erleichtert wird.“[71] Im Fall der Kohle kommt hinzu, dass die Konkurrenz durch natürliche Ersatzstoffe (Erdöl, Erdgas) seinerzeit in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte. Das hätte ein Grund mehr sein können, zu untersuchen, wie weit die kapitalistische Durchdringung der Gesellschaft vorangekommen war. Nichts der­gleichen erfolgte.

Wir sind aber noch nicht am Ende dieses Punktes angelangt. Soeben hörten wir den Autor mit der Behauptung, dass die freie Kapitalwanderung zwischen den Sphären nicht länger stattfinde, weil die Konkurrenz „gehemmt“ sei. Für ihn stand im Hinblick auf die monopolisierten Produktionszweige fest, „dass die Aus- und Einwanderung von Kapital gerade in solchen Produktionszweigen kaum übersteigbare Schranken finden würde.“[72] Hören wir ihn jetzt abermals: „Die Kartelle bewirken, dass die Konkurrenz innerhalb eines Produktionszweigs aufhört oder, besser gesagt, latent wird (…) Aber sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären„.[73] Das ist verblüffend. Eben hatten die Kartelle ihre Produktionszweige noch durch „kaum übersteigbare Schranken“ abgesperrt, jetzt nicht mehr; eben war die Konkurrenz um die Anlagesphären noch gehemmt, jetzt findet sie unverändert statt! Das hätte Konsequenzen, denn wenn ein Kapital in einem Produktionszweig neu angelegt wird, tritt es selbstredend auf dem höchsten Stand der Technik in die Konkurrenz und lehrt ein Kartell das Fürchten. Die monopolistischen Vereinigungen wären ge­storben, bevor sie angefangen hätten zu leben. Wie vereinbart sich das miteinander, wie löst Hilferding den selbst aufgebauten Widerspruch?

Nun, der Autor selbst erklärt dazu gar nichts. Die Lösung liegt in der jeweils unterschiedlichen Thematik, die er behandelt. Die erste Aussage findet sich im Kapitel XI „Hindernisse in der Ausgleichung der Profitraten und ihre Überwindung“; dort beweist Hilferding mit ihr die Monopolbildung. Die zweite Aussage findet sich mehr als 100 Seiten später im Kapitel XX „Die Änderungen im Krisencharakter. Kartelle und Krisen“; dort soll sie einen bestimmten Krisenverlauf unter der Herrschaft der Kartelle bezeugen. Bei der Behandlung dieses Punkts werden wir darauf zurückkommen.

 

c) Eine eigentümliche Außenseitertheorie

Selbst zu Hilferdings Zeiten kam es kaum vor, dass tatsächlich ein Kartell, geschweige denn ein Trust, einen Produktionszweig vollständig beherrschte und also ein Monopol bildete. Andere Betriebe – „Außenseiter“, wie Hilferding sie nennt – waren nach wie vor in der betreffenden Branche tätig. Das wirft ein grundsätzliches Problem auf. Wenn eine Mehrzahl selbständiger Kapitale in einem Produktionszweig angelegt ist, kann eigentlich von einem „Monopol“ keine Rede sein. Gleich ob dort statt fünfzig nur noch fünf Kapitale agieren – an der Konkurrenz ändert sich dadurch nichts. Sie mag im Gegenteil sogar heftiger werden, weil jetzt relativ größere Kapitalmassen im Kampf miteinander stehen.

Diesem Problem begegnet der österreichische Politökonom zum einen mithilfe von Definitionen. „Es ist dabei zu beachten, dass man es bereits dann mit einer monopolistischen Vereinigung zu tun hat, wenn diese für die Preisbestimmung auf dem Markte ausschlaggebend ist. Dass daneben noch einige selbständige Unternehmungen existieren, die in ihren Preisen sich immer nach der Preisfestsetzung der Vereinigung richten, ändert nichts an der Tatsache, dass in diesem Produktionszweig die freie Konkurrenz im theoretisch-ökonomischen Sinne nicht mehr existiert. Um aber pedantische Bedenken nicht zu verletzen, nenne ich solche Vereinigungen nicht totale Interessengemeinschaften oder Fusionen, sondern monopolistische“, sagt er unter Berufung auf Liefmann.[74] Durch diese Worte wird klarer, warum die Monopoldefinition nicht nach der Realität, sondern nach dem Zweck des Monopols erfolgt: weil die objektive, die „totale“ Wirklichkeit Monopole nicht oder nur in seltenen Ausnahmen kennt, muss das „Monopol“ als nicht-total, dh. als Nicht-Monopol gefasst werden und die „Zweckbestimmung“, die seine Gründer ihm geben, zur Definition dienen.

Daneben hat Hilferding noch andere Gründe für die Weiterexistenz von Außenseitern parat. Ausgangspunkt ist der Markt. Monopolpreise für die von ihr hergestellten Produkte kann eine monopolistische Vereinigung nur erhalten, schreibt er, wenn sie den Markt beherrscht. In Zeiten guter Konjunktur, wenn die Nachfrage das Angebot übersteige, sei der Preis des Monopolprodukts ohnehin der höchstmögliche; auch Außenseiter seien dann geduldet.[75] Was aber geschieht, wenn eine Krise eintritt und der Markt zusammenschrumpft, also die Nachfrage unter das Angebot fällt? Was passiert mit den Monopolwaren, die weiterhin produziert, aber im bisherigen Umfang nicht länger benötigt werden? Führt diese Situation nicht dazu, dass die Preise fallen, Konkurrenz sich breitmacht und das Kartell auseinanderfliegt? Darauf entgegnet Hilferding: „Dies ist der Moment, wo es sich zeigen muss, ob die Vereinigung den Markt beherrscht. Dies wird aber dann der Fall sein, wenn ihre Produktion zur Versorgung des Marktes unbedingt nötig ist. Sie wird erst verkaufen, wenn ihr Preis bewilligt ist, und dieser Preis muss bewilligt werden, da die Zufuhr durch das Kartell dem Markte eben unentbehrlich ist.“[76] Er geht also davon aus, dass es auch in der Krise noch so etwas wie einen „Sockelbedarf“ und eine dem entsprechende „Sockelproduktion“ geben muss. Darüber hinaus behauptet er, mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion wachse „jener Anteil, der unter allen Umständen fortgeführt werden muss und dessen Fortführung die fast völlige Stockung des Produktions- und Zirkulationsprozesses einschränkt.“[77]

Das ändert dennoch nichts daran, dass auch die monopolistische Vereinigung ihre Produktion verringern muss. Dies sei „am ehesten möglich“, sagt Hilferding, „in jenen Produktionszweigen, wo die Einschränkung keine allzu schweren Opfer auferlegt, also besonders dort, wo die lebendige Arbeit einen Hauptposten bildet – der Verderb des konstanten Kapitals keine allzu große Rolle spielt. Beides ist der Fall in der extraktiven Industrie. Erz und Kohle nützen sich nicht ab, und die lebendige Arbeit spielt eine große Rolle.“[78] Der Leser ist ein weiteres Mal erstaunt. Oben hatten die „schweren“ Industrien, zu denen Hilferding ausdrücklich die Kohle zählte, noch einen hohen Anteil konstanten (fixen) Kapitals und dementsprechend einen niedrigen Anteil variablen Kapitals gehabt; jetzt bildet auf einmal das variable Kapital den „Hauptposten“?! Wie erklärt sich dies? Es muss mit den Eigenarten Hilferdingscher Logik zu tun haben. Oben leitete er aus dem hohen Anteil konstanten bzw. konstanten fixen Kapitals, die Ent­wicklung zum Monopol ab; jetzt soll umgekehrt ein niedriger Anteil konstanten Kapitals dem eben geschaffenen Monopol helfen, die Krise heil zu überstehen. Denn, so ist offenkundig die Überlegung Hilferdings, Arbeiter können massenweise und schnell entlassen werden, während die Entlassung konstanten Kapitals Schwierigkeiten bereitet.

Außerdem sagte er soeben, dass in der extraktiven Industrie der Verderb des konstanten Kapitals keine allzu große Rolle spiele, weil Kohle und Erz sich nicht abnützen; das sei ein Grund, warum die Produktionseinschränkung dort einfach möglich sei. Seit wann gehört das geschürfte Erz zum konstanten Kapital eines Erzbergwerks, die Kohle zum konstanten Kapital einer Kohlenzeche? Mit Marx waren wir bisher der Meinung, dass das konstante Kapital aus den Produktionsmitteln (Gebäude, Einrichtungen, Maschinen, Hilfsmittel) besteht, die benötigt werden, um eine bestimmtes Produkt (hier: Kohle bzw. Erz) zu erzeugen. In diesem Fall liegt auf der Hand, dass das konstante Kapital einer Kohlenzeche wie z.B. der abgeteufte Schacht nicht ohne weiteres stillgelegt werden kann. Es ist immer eine Mindestanzahl von Arbeitern vonnöten, um das Absaufen eines nicht betriebenen Schachts zu verhindern, weil sonst bei einer späteren Wiederinbetriebnahme erhebliche Kosten entstehen würden. Folgt man dagegen Hilferding und betrachtet als konstantes Kapital der Kohlenzeche die abzubauende Kohle, dann ist klar, dass dieses konstante Kapital ohne weiteres stillgelegt werden kann. Mit Hilfe solcher Definitionen könnte der monopolistisch betriebene Kohlebergbau die Krise also bequem überstehen.

Aber kommen wir zurück zum eigentlichen Gang der Entwicklung. Trotz aller theoretischen Gewaltakte steht fest, dass jede Produktionseinschränkung mit Verlusten verknüpft ist und das Ende eines Kartells heraufbeschwört. Das ist die Stunde der Außenseiter. Wie wäre es, wenn das Monopol sich auf ein bestimmtes Ausmaß an Produktion verständigen würde, das hinreicht, um den auch während einer Krise vorhandenen „Sockelbedarf“ zu befriedigen? Den darüber hinausgehenden Bedarf, den die Prosperität hervorbringt, könnten doch die Außenseiter befriedigen?! Auf diese Weise wäre das Monopol nicht den Unbilden eines dauernden Wechsels von Produktionserweiterung und -einschränkung ausgesetzt. Es könnte seine Produktion über den Zyklus hinweg auf einem Durchschnittsniveau stabilisieren und das anarchische Auf und Ab der kapitalistischen Produktionsweise zunächst für sich selber abschaffen.

So sieht tatsächlich die Lösung Hilferdings aus. Die Verminderung der Produktion, sagt er, kann „das Kartell vermeiden, wenn es nur die durchschnittliche Nachfrage befriedigt, die Befriedigung der Konjunkturnachfrage aber den Outsidern überlässt. Dies ist aber nur dann möglich, wenn diese erstens nicht mehr produzieren können, als diese zusätzliche Nachfrage der guten Konjunktur erfordert – denn sonst bestände die Gefahr, dass der Absatz des Kartells eingeengt wird -, zweitens aber, dass diese Außenseiter zu höheren Kosten als das Kartell produzieren.“[79] Aber wie sind diese Bedingungen zu erfüllen? Wie ist den Außenseitern zu untersagen, mehr zu produzieren, als das Kartell es wünscht, und wie sind sie anzuhalten, unproduktiver zu arbeiten als das Kartell? Oder anders herum: warum soll das Kartell darauf verzichten, seine Produktion in der Prosperität auszudehnen und zusätzliche Profite zu machen obwohl es doch der Höchstprofite wegen zustandegekommen ist? Darauf wird keine Antwort gegeben, vielleicht, weil „nur“ zu klären ist, wie Außenseiter und Monopol dem Verwertungstrieb des Kapitals entsagen sollen und aufhören müssen, sich als Kapital zu verhalten.

Stattdessen verkündet Hilferding: „Mit anderen Worten: die Outsider sind es wesentlich, auf die alle Lasten der Konjunkturschwankungen abgewälzt werden. Das Kartell realisiert während der Hochkonjunktur hohe Extraprofite, während der Depression normalen Profit, während die Konkurrenten ausgeschaltet werden. Unter solchen Bedingungen liegt es durchaus im Interesse der monopolistischen Vereinigung, das Bestehen von Outsidern nicht völlig zu verhindern, wozu sie infolge ihrer Überlegenheit oft die Macht hat.“[80] Damit ist allen Ernstes die unliebsame Tatsache geklärt, warum in so gut wie allen Produktionszweigen trotz behaupteter Monopolisierung weitere Kapitale existieren. Die monopolistische Vereinigung hat einfach ein „Interesse“ an Außenseitern, weil diese sie der Unbequemlichkeit von Produktionsänderungen entheben.

Zum Abschluss seiner Außenseitertheorie bringt Hilferding noch einen empirischen Beleg. Aus vollen drei Jahren – 1902 bis 1904 – führt er die Zahlen der Roheisenproduktion an.[81] Danach betrug 1902 der Anteil eines dort angesiedelten Kartells an der Gesamtproduktion 44,3%. 1903 sank er auf 39,9% ; 1904 stieg er wieder auf 43,9%, lag damit indes noch unter dem Jahresdurchschnitt von 1902. Weil 1904 aber laut Hilferding ein Depressionsjahr war und das Kartell seinen Anteil in diesem Jahr wieder ausweiten konnte, findet er darin eine Be­stätigung seiner Monopol- und Außenseitertheorie.

 

d) Kartell und Krise

Die kapitalistische Krise unter den Bedingungen der freien Konkurrenz war für Hilferding eine Zirkulationsstörung, geboren aus Preisabweichungen und Disproportionen. Wie steht es damit unter der Herrschaft der Monopole? Darauf geht DAS FINANZKAPITAL im XX.Kapitel ein: „Die Änderungen im Krisencharakter. Kartelle und Krisen“. Die entscheidende Ausgangsfrage stellt der Autor selber, nämlich „ob die große Änderung in der Organisationsform der Industrie, ob die Monopole durch ihre behauptete Aufhebung der regulierenden Kraft des kapitalistischen Mechanismus, der freien Konkurrenz, qualitative Änderungen in den Konjunkturerscheinungen verursachen können.“[82] Darauf entgegnet er zunächst mit einer prinzipiellen Feststellung: „Die Störungen in der Preisregulierung, die schließlich zu den Disproportionalitätsverhältnissen und damit zu dem Widerspruch zwischen den Verwertungs- und Realisationsbedingungen führen, werden durch die Kartelle nicht vermindert, sondern verschärft.“[83] Zur Begründung führt er ebenso grundsätzlich an: „Die Anarchie der Produktion wird nicht aufgehoben durch quantitative Verminderung der einzelnen Elemente bei gleichzeitiger Verstärkung ihrer Wirksamkeit und deren Intensität; sie kann überhaupt nicht ratenweise oder graduell aufgehoben werden. Geregelte und anarchische Produktion sind nicht quantitative Gegensätze, so dass durch Anstückelung von immer mehr <Regelung> aus der Anarchie bewusste Ordnung würde. Sondern ein solcher Umschlag kann nur plötzlich stattfinden durch die Unterstellung der gesamten Produktion unter die bewusste Kontrolle.“[84] Mit Ausnahme dieses Gedankens sind die übrigen Ausführungen abwegig.

Das Hochhalten der Preise durch die Monopole in der Krise, so setzt Hilferding mit seiner Darlegung ein, „verschärft die Wirkung der Krise für alle nichtkartellierten oder nicht so fest kartellierten Industrien“, die auf die Monopolwaren angewiesen sind.[85] Sie müssen relativ mehr dafür bezahlen und ihr krisenbedingt sowieso eingeschränkter Profit fällt weiter. Demzufolge müssen sie weitere Produktionseinschränkungen vornehmen und kaufen dem Monopol entsprechend weniger ab. Dieses mag zwar die Preise seiner Produkte hochhalten; der Absatz sinkt nichtsdestotrotz. Die dadurch erzwungene „Einschränkung der Produktion bedeutet aber weiteres Brachlegen von Kapital bei gleichbleibenden <Generalunkosten>, also weiteres Steigen der Selbstkostenpreise und daher neue Verminderung des Profits, selbst bei Aufrechterhaltung der hohen Preise.“[86] Die hohen Preise locken ihrerseits Außenseiter an, die mit niedrigeren Selbstkosten produzieren; „sie werden daher konkurrenzfähig und beginnen das Kartell zu unterbieten. Das Kartell kann die Preise nicht mehr halten, und der Preissturz greift auch auf die kartellierte Industrie über. Die künstlichen Eingriffe werden korrigiert, und die Preisgestaltung folgt den Gesetzen, die die Kartelle vergebens für sich auszuschalten trachteten. Auf Grundlage der neuen Preisgestaltung vollzieht sich eine neue Verteilung des Kapitals in die verschiedenen Produktionssphären, und allmählich stellen sich wieder Proportionalitätsverhältnisse ein; die Depression ist überwunden.“[87] Soweit Hilferdings Auffassung von Monopol und Krise.

Voraussetzung für diese Bewegung ist, dass die Wanderung von Kapital zwischen den Produktionszweigen ungehemmt stattfindet. So sagt Hilferding über die Kartelle, „sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären“,[88] auch wenn diese Aussage, wie bereits festgestellt, in diametralem Gegensatz zu dem steht, was er vorher über die Herausbildung von Monopolen behauptet hatte. Ansonsten beschränkt sich seine Argumentation auf die Preisgestaltung durch Angebot und Nachfrage, ist aber in sich folgerichtig. Ihr zufolge müsste angenommen werden, dass ein Monopol nur bis zur Krise existieren kann, denn seine „künstlichen Eingriffe“ werden nach Hilferdings Worten durch die Krise korrigiert.

Mehr noch folgt aus der Logik dieser Sätze: Wenn die Monopolpreise letzten Endes doch den „Gesetzen der Preisgestaltung“ folgen, die die Kartelle „vergebens für sich auszuschalten trachteten“, dann müsste hier der Preissturz größer sein als in den nichtkartellierten Sphären, denn auch die Abweichung der Preise von den Werten war besonders groß. Das stimmt überein mit Hilferdings grundsätzlichen Vorstellungen zur Krise: wenn Voraussetzung für die Überwindung der Depression die Wiederherstellung von Proportionalitätsverhältnissen ist, dann müsste der monopolisierte Teil der Industrie von der Krise stärker betroffen sein als die übrigen Produktionssphären. Beides – Preissturz und Zusammenbruch – hinge miteinander zusammen. Beides wäre notwendig, um wieder gleiche Profitraten zwischen den Sphären herzustellen, da die von Hilferding als Vorbedingung für einen neuen Aufschwung geforderte Proportionalität der Produktionszweige nur die Wirkung gleicher Profitrate sein kann. Die Konkurrenz würde dort, wo sie zuvor gehemmt war, um so ungehemmter wüten, die Wirkungen der Krise die Monopole mit umso größerer Wucht treffen. So muss der unbefangene Leser auch die zu Beginn dieses Punktes zitierte Feststellung des Autors verstehen, dass die „Störungen in der Preisregulierung durch die Kartelle nicht vermindert, sondern verschärft“ werden.

Aber hören wir dazu den Autor selber: „Die Kartelle heben also die Krisenwirkungen nicht auf. Sie modifizieren sie insofern, als sie die Wucht der Krise auf die nichtkartellierten Industrien abwälzen.“[89] Das ist eine unvermutete Überraschung. Während wir annahmen, dass die Krise die Kartelle besonders hart trifft, wälzt Hilferding ihre Wucht auf die nichtkartellierten Industrien ab. Ja noch mehr; er fährt fort: „Der Unterschied der Profitrate in den kartellierten und nichtkartellierten Industrien, der im Durchschnitt um so größer ist, je fester das Kartell und je gesicherter sein Monopol, wird geringer während der Prosperität und größer während der Depression.“[90] Wir haben also alles genau verkehrt gesehen: der Graben zwischen Monopolkapital und normalem Kapital wird durch die Krise nicht eingeebnet, sondern im Gegenteil vertieft; die Unterschiede werden größer statt kleiner. Wie dann allerdings die Proportionalitätsverhältnisse wiederhergestellt werden sollen, die nach Hilferdings Krisentheorie Vorbedingung für den Wiederaufschwung sind, das bleibt das Geheimnis des Autors. Die offene Widersinnigkeit dieser Krisenvorstellung bildet einen der Höhepunkte des an Ungereimtheiten nicht armen FINANZKAPITALs.

 

e) Das Generalkartell

Eine Grenze des Monopolisierungsprozesses gibt es laut Hilferding nicht. Er be­hauptet, „dass es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden.“[91] Selbst wenn alle bisherigen Ausführungen Hilferdings akzeptiert worden wären, müssten spätestens jetzt Zweifel an der Tragfähigkeit seiner Theorie auftauchen.

Prinzipiell muss die „absolute Grenze“ für alle Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Rubriken des Gesellschaftskapitals der gesellschaftliche Mehrwert sein, dh. die Profitmasse als Ganzes. Diese Grenze mag durch Senkung des Preises der Arbeitskraft unter den Wert hinausgeschoben werden, sie bleibt nichtsdestotrotz unüberschreitbar. Diesem Umstand trug Hilferding bislang insofern Rechnung, als er sagte, dass die monopolistischen Vereinigungen ihre überdurchschnittlichen Profite auf Kosten der nichtkartellierten Industrien an sich zögen. Die gegebene Profitmasse wurde also nur anders verteilt. Damit fand er sich wenigstens in einem Punkt in Übereinstimmung mit Marx, der über eventuelle Monopole geschrieben hatte: „Der Monopolpreis gewisser Waren würde nur einen Teil des Profits der andern Warenproduzenten auf die Ware mit dem Monopolpreis übertragen. Es fände indirekt eine örtliche Störung in der Verteilung des Mehrwerts unter die verschiednen Produktionssphären statt, die aber die Grenze dieses Mehrwerts selbst unverändert ließe. (…) Die Grenzen, innerhalb deren der Monopolpreis die normale Regulierung der Warenpreise affizierte, wären fest bestimmt und genau berechenbar.“[92]

Was aber geschieht, wenn die Monopolisierung mehr und mehr um sich greift? Woher sollen die Monopolprofite kommen, wenn immer weniger nichtkartellierte Industrien existieren? Der Profitkuchen mag verteilt werden, wie immer man will, es gibt nie mehr zu verteilen, als da ist. Solange die Monopolisierung nur die Hälfte aller Industriezweige erreicht, mag die Behauptung noch hingehen, dass die andere Hälfte der Kapitale die Monopolgewinne finanziert. Aber was danach? Kehren die Monopole ab einem bestimmten Ausmaß der Ausbreitung wieder zur Verteilung der Profite pro rata des angelegten Kapitals zurück? Was wäre dann an ihnen noch „monopolistisch“, wenn sie alle lediglich noch den Durchschnitts­profit erhielten, weil keine nichtmonopolistischen Sphären mehr existieren – oder zu wenig davon, auf deren Kosten sie sich mästen könnten? Oder stellte der gesellschaftlich gegebene Gesamtmehrwert von Anfang an keine Grenze für die Monopolprofite dar? Das würde bedeuten, dass sie nicht auf der Abpressung von Mehrarbeit beruhten; woher kämen sie dann? Die Behauptung einer grenzenlos möglichen Kartellierung läuft darauf hinaus, dass die Monopole mit ihrer Entstehung bereits aufhören, den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen zu sein. Dass Hilferding sie ihre Überprofite auf Kosten anderer Produktionszweige machen lässt, steht im Widerpruch zu einer Kartellierung ohne Grenzen. Die immanente Logik eines uferlosen Monopolisierungsprozesses besagt, dass die Profite der Monopole nicht aus der Vernutzung der Ware Arbeitskraft resultieren, sondern eine andere Quelle haben müssen, auch wenn völlig offen bleibt, wo diese Quelle liegt.

Unberührt von derartigen Fragen fährt der österreichische Theoretiker fort: „Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewusst geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell“.[93] Die Preise haben endgültig keine objektive Grundlage mehr. „Der Preis hört auf, eine objektiv bestimmte Größe zu sein, er wird ein Rechenexempel derjenigen, die ihn mit Willen und Bewusstsein bestimmen, wird an Stelle eines Resultats Voraussetzung, an Stelle eines Objektiven ein Subjektives, an Stelle eines vom Willen und dem Bewusstsein der Beteiligten Unabhängigen und Notwendigen ein Willkürliches und Zufälliges.“[94]

Erinnern wir uns: Eingangs hatte Hilferding die Funktion des Wertgesetzes auf die Festlegung der Preise durch die Konkurrenz der Kapitalisten reduziert. <Die Preise bestimmen die Produktion, und die Kapitalisten bestimmen durch ihre Konkurrenz die Preise> – so stellte sich dies im Kern dar. Damals stand noch die Konkurrenz der Einzelkapitalisten zwischen den Preisen und ihrer willkürlichen Festlegung. Jetzt ist die Konkurrenz beseitigt und der subjektiven Preisbestimmung steht nichts mehr im Wege. Das Kapital beherrscht die Gesellschaft „mit Willen und Bewusstsein“, ohne noch objektiven ökonomischen Gesetzen unterworfen zu sein. Besonderer theoretischer Anstrengungen bedurfte es nicht, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Nur die Konkurrenz war auszuschalten. Damit sind wir am Ende des industriellen Monopolisierungsprozesses, nicht jedoch der Hilferdingschen Theorie angelangt.

 

3. Vom Generalkartell zum organisierten Kapitalismus

Die Entwicklung des produktiven Kapitals zu einem Generalkartell stellt nur einen Teil der Gesamtentwicklung dar, die Hilferding in allen Bereichen der Wirtschaft zu sehen meint. Was das Generalkartell in der Industrie, ist die Zentralbank beim Geldkapital. Am Ende des Ganzen steht schließlich das „Finanzkapital“, das seinem Buch den Namen gegeben hat. Es geht aus der Verschmelzung von Industrie-, Handels- und Bankkapital hervor und steht unter der Vormundschaft der Banken. Nach dem ersten Weltkrieg wurde daraus der „organisierte Kapitalismus“, aus dem heraus wiederum das von den Gewerkschaften verfochtene Programm der „Wirtschaftsdemokratie“ entwickelt wurde.

 

a) Die Unterwerfung des Handels durch das Industriekapital

Im selben Maße, wie die Industrie sich kartelliert, ordnet sie sich nach Hilferdings Auffassung den Handel unter. Die ökonomische Begründung dafür lautet: „Der Handelsprofit ist aber ein Teil des in der Produktion erzeugten gesamten Mehrwertes. Je größer der Teil ist, der dem Handelskapital zufällt, desto geringer unter sonst gleichen Umständen der Anteil der Industriellen. Es besteht also ein Interessengegensatz zwischen Industrie- und Handelskapital. Aus diesen entgegengesetzten Interessen entspringt ein Kampf, der schließlich mit der Überwindung des einen Teiles endet durch Entstehung kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse.“[95] Richtig an diesen Sätzen ist allein, dass der gesellschaftliche Mehrwert bzw. Gesamtprofit sich aufteilt auf die verschiedenen Formen, die das Gesellschaftskapital im Prozess seiner Gesamtreproduktion annimmt. Es findet also eine Aufteilung auf das industrielle, das kommerzielle und das zinstragende Kapital statt. Daraus erwächst jedoch kein „Interessengegensatz“ zwischen Handels- und Industriekapital.

Die kaufmännischen Kapitale gehen gemeinsam mit den industriellen Kapitalen in die Ausgleichung der Profitrate ein.[96] „Ob das Kapital innerhalb der Produktionssphäre industriell oder in der Zirkulationssphäre merkantil angelegt (ist), es wirft pro rata seiner Größe denselben jährlichen Durchschnittsprofit ab“, stellt Marx fest.[97] Im „Unternehmergewinn“, der beiden Kapitalformen gleichermaßen zufließt, lösen sich die Unterschiede zwischen ihnen auf. Der Profit, der auf das in Industrie und Handel angelegte Kapital fällt, nimmt „die Form des industriellen resp. kommerziellen Profits an, oder, um ihn mit einem deutschen Ausdruck zu bezeichnen, der beides einschließt, die Gestalt des Unternehmergewinns.“[98] Das produktive industrielle und das zirkulierende kaufmännische Kapital bilden gemeinsam das fungierende Kapital, das von den aktiven Kapitalisten im Produktionsprozess verwendet wird und im Gegensatz zum passiven, bloßen Zins tragenden Geldkapital steht. Der „Zins fließt dem Geldkapitalisten, dem Leiher zu, der bloßer Eigentümer des Kapitals ist, also das bloße Kapitaleigentum vertritt vor dem Produktionsprozess und außerhalb des Produktionsprozesses; und der Unternehmergewinn fließt dem bloß fungierenden Kapitalisten zu“.[99] Sofern demgemäß in der Zirkulation durchschnittlich höhere Profite als in der Produktionssphäre erzielt werden, hat das seine Ursache darin, dass verhältnismäßig zu wenig kaufmännisches und zu viel industrielles Kapital existiert. Die notwendige Folge daraus ist eine Kapitalbewegung mithilfe der Konkurrenz, aus der die tendentielle Egalisierung der Profitraten zum Durchschnittsprofit hervorgeht. Durch Ab- bzw. Zufuhr von Kapital verringert sich das industrielle Kapital bzw. werden neue kommerzielle Kapitale gebildet oder die vorhandenen erweitert, bis die Profitraten ausgeglichen sind. Aber so wenig ein Gegensatz zwischen Aluminiumhütte und Hähnchenfabrik als Kapitalien aus verschiedenen industriellen Produktionszweigen besteht, so abwegig ist es, von einem „Interessengegensatz“ zwischen der industriellen und der kaufmännischen Sphäre des Kapitals zu sprechen.

Um die Unterwerfung des Handels unter die Industrie weiter zu begründen, beruft Hilferding sich außerdem auf die Zweckbestimmung des Monopols, durch Marktbeherrschung die Preise zu diktieren. „Die monopolistischen Vereinigungen aber haben die Tendenz, die Selbständigkeit des Handels völlig aufzuheben. Wir haben gesehen, dass eine wirkliche Kontrolle über den Markt erst dann möglich ist, wenn die Waren von einer Zentralstelle aus verkauft werden. (…) Die Preisfestsetzung muss also bis zum letzten Stadium von der monopolistischen Vereinigung aus ge­schehen (…) Die monopolistische Vereinigung wird also die Tendenz verfolgen, die Selbständigkeit des Handels aufzuheben. Nur dann wird das Kartell seinen Einfluss auf die Preisfestsetzung voll ausnützen können. (…) Die Kartellierung wird also den Handel als Anlagesphäre des Kapitals aufheben. Sie schränkt die Handelsoperationen ein, beseitigt einen Teil derselben und vollzieht den übrigen Teil durch eigene Lohnarbeiter, Verkaufsagenten des Kartells. Dabei kann sehr wohl ein Teil der bisherigen Händler zu solchen Verkaufsagenten gemacht werden. Das Kartell schreibt ihnen dann genau die Einkaufs- und Verkaufspreise vor, deren Differenz die Provision dieser <Händler> bildet. Die Höhe dieser Provision ist also nicht mehr bestimmt durch die Höhe des Durchschnittsprofits, sie ist ein Lohn, den das Kartell festsetzt.“[100]

Bereits die Wortwahl („muss also“, „wird also“) demonstriert die subjektive Vorgehensweise des Autors, der einen bestimmten Zweck des Monopols gesetzt hat und nunmehr der objektiven Realität die Tendenzen unterstellen muss, die zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich sind. Die Folge ist, dass er – und im Prinzip jede Monopoltheorie – die Beseitigung des Handelskapitals behaupten muss, wenn die Monopole ihr Ziel, die willkürliche Preisfestsetzung zwecks Erzielung von Monopolprofit, erreichen sollen. Eine derartige „Festsetzung“ der Verkaufspreise ist nämlich nur möglich, wenn der Markt „beherrscht“ wird, und zu diesem Zweck muss das vermittelnde Kaufmannskapital ausgeschaltet werden. Das bringt jedoch erneute theoretische Schwierigkeiten mit sich. Marx hat die Notwendigkeit des selbständigen Kaufmannskapitals darin gesehen, „l. dass infolge der Teilung der Arbeit das Kapital, das sich ausschließlich mit Kaufen und Verkaufen beschäftigt, kleiner ist, als es wäre, wenn der industrielle Kapitalist den ganzen kaufmännischen Teil seines Geschäfts selbst betreiben müsste; 2. dass … das Warenkapital selbst rascher seine Metamorphose durchmacht, als es in der Hand des Produzenten tun würde; 3. dass, das gesamte Kaufmannskapital im Verhältnis zum industriellen Kapital betrachtet, ein Umschlag des Kaufmannskapitals nicht nur die Umschläge vieler Kapitale in einer Produktionssphäre, sondern die Umschläge einer Anzahl von Kapitalen in verschiednen Produktionssphären vorstellen kann.“[101] Die Tendenz des Kapitals zu möglichst rationeller Organisation von Produktion und Austausch durch Vorantreiben der Arbeitsteilung begründet demzufolge die selbständige Existenzweise der kommerziellen Kapitale. Würden die industriellen Kapitale die kaufmännischen Operationen selber durchführen, wäre ein größerer Teil des Gesamtkapitals darin gebunden als es real der Fall ist.

Ungerührt davon betreibt Hilferding seine Monopolkonstruktion weiter: „Diese Verringerung des Handelskapitals ist eine Verringerung von Unkosten. (…) Ist aber das Kapital verringert, so auch der darauf entfallende Profit, der, wie wir wissen, ein Abzug des industriellen Profits ist.“[102] Was wir wissen, ist, dass eine solche Behauptung eine Milchmädchenrechnung ist. Würden die industriellen Monopole die Zirkulation ihrer Waren selber betreiben, müssten sie einen Teil ihres ansonsten produktiv angelegten Kapitals zur Durchführung der dafür erforderlichen Handelsoperationen einsetzen. Aus den von Marx benannten Gründen wäre dieser Teil des Kapitals größer als bei der arbeitsteilig vom Handelskapital vorgenommenen Zirkulation. Es gäbe also keine „Verringerung von Unkosten“, sondern das Gegenteil, die Vergeudung gesellschaftlicher Arbeit.

Diese Behauptungen beleuchten erneut die zugrundeliegende Vorstellung vom nichtmonopolistischen Kapitalismus, denn was Hilferding schreibt, ist darauf angelegt, die monopolistische „Überwindung“ des Handelskapitals aus den Unzulänglichkeiten des Konkurrenzkapitalismus herzuleiten. Folgte man Hilferding, müsste man davon ausgehen, dass die Selbständigkeit des Kaufmannskapitals von vornherein und grundsätzlich unnütze Kosten verursacht, anstatt gesellschaftliche Arbeit ersparen zu helfen. Bei dieser Vorstellung des Kapitalverhältnisses ist es nur natürlich – wenn nicht gar höchste Zeit, dass die Monopole endlich mit den unnützen Profitfressern aufräumen.

Daneben ist für die vorgetragene Argumentation typisch, dass Hilferding „das“ Industrie- gegen „das“ Handelskapital kämpfen und es überwinden lässt. Die Formulierung unterstellt, was zu beweisen ist: sie setzt das Verschwinden der vielen miteinander konkurrierenden produktiven wie kommerziellen Kapitale voraus und unterstellt ein einheitliches industrielles Gesamtkapital ebenso wie ein einheitliches kaufmännisches Gesamtkapital, die nun beide gegeneinander „kämpfen“. Auf dieser Grundlage fällt es leicht, im nächsten Schritt die Unterwerfung „des“ Handelskapitals als des schwächeren Teils zu behaupten, weil unter einigermaßen entwickelten kapitalistischen Verhältnissen die Industrie mehr Kapital umfasst als der Kommerz. Mit der Entwicklung des Verkehrs- und Kommunikationswesens nimmt nämlich das Verhältnis des kaufmännischen zum industriellen Kapital ab, wie dies bereits Marx festgestellt hat.[103] Im übrigen haben Industriekapitale, die anderen Zweigen Produktionsmittel liefern, dies teils schon immer durch direkten Verkauf ohne Dazwischentreten eines Kaufmanns bewerkstelligt.[104]

Den objektiven Nachweis für die von ihm unterstellten Tendenzen führt Hilferding wiederum durch Beispiele auf subjektiver Ebene. Er zitiert haufenweise das persönliche Lamento von Händlern und Großhändlern über den Bedeutungsverlust ihres Standes gegenüber der Industrie, darunter allein auf mehreren Seiten die Klagen von Kohlegroßhändlern aus Düsseldorf und Dortmund über das Verhalten der Zechenbarone des Ruhrgebiets.[105] Das verweist zum wiederholten Male auf die Rolle, die ein natürliches Monopol wie in der Kohleförderung evtl. zeitweise gehabt hat.

 

b) Der Weg zur Zentralbank

Parallel zur Kartellierung in Industrie und Handel sieht Hilferding denselben Prozess im Bereich des Geldkapitals ablaufen. Allerdings sind seine Ausführungen über die Monopolisierung der Banken äußerst mager. „Das banktechnische Prinzip größter Sicherheit macht die Banken im vorhinein der Konkurrenz abge­neigt“, enthüllt er dem Leser,[106] um ihm die Beendigung der Bankenkonkurrenz nahezubringen. Welcher Kapitalist macht seine Profite nicht am liebsten mit „größtmöglicher Sicherheit“? Welches Kapital begibt sich schon aus „Neigung“ in die Konkurrenz? Wieder ist es eine subjektive Kategorie, die Hilferding an den Anfang stellt, wobei doch die entscheidende Frage nicht die nach den persön­lichen Wünschen, sondern nach den objektiven Möglichkeiten ist, die das Ver­halten der handelnden Kräfte bestimmen.

Des weiteren beruft er sich auf die Wechselwirkung, um das Ende der Konkurrenz unter den Geldkapitalisten zu begründen. Um nämlich nicht in Abhängigkeit von den sich herausbildenden industriellen Monopolen geraten, schließen sich die Banken zusammen. „Die Kartellierung selbst befördert so den Zusammenschluss der Banken, wie umgekehrt der Zusammenschluss der Banken die Kartellierung.“[107] Am Ende winkt schließlich, wie das Generalkartell in der Industrie, so eine Zentralbank beim zinstragenden Kapital. „Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Banken und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, anderseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren… In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, dass eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche <Zentralbank> würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben.“[108]

Das ist alles. Beim produktiven Kapital hat Hilferding noch den Versuch gemacht, eine politökonomische Begründung für die Entwicklung des Monopols und die Tendenz zu einem Generalkartell zu geben, so oberflächlich dieser Versuch auch war. Beim Geldkapital fehlt selbst das. Der Verfasser des FINANZKAPITAL gibt keinen immanenten Grund für die Monopolisierung des zinstragenden Kapitals an, sondern beschränkt sich auf die Abneigung gegen die Konkurrenz sowie die Wechselwirkung. Weitergehend kann die Auseinandersetzung darum nicht geführt werden. Wir müssen uns stattdessen der Frage zuwenden, wie es den zusammenwachsenden Banken gelingt, sich die Industrie untertan zu machen.

 

c) Die Vorherrschaft der Banken

Während die Industrie noch den Handel bezwingt, gerät sie ihrerseits „immer mehr in Abhängigkeit … vom Bankkapital“, schreibt Hilferding.[109] „Die Macht der Banken wächst, sie werden die Gründer und schließlich die Beherrscher der Industrie, deren Profite sie als Finanzkapital an sich reißen“.[110] Ein wichtiges Argument hierfür ist das Verhältnis von Unternehmergewinn und Zins.

Marx hat nicht nur den tendentiellen Fall der Profitrate nachgewiesen, sondern ist auch von der Tendenz eines langfristig fallenden Zinsfußes ausgegangen.[111] Ohne ihn direkt anzugreifen, bezeichnet Hilferding dies als unbewiesenes Dogma und behauptet, dass „der Zinsfuß in entwickelten kapitalistischen Verhältnissen sich wenig ändert, die Profitrate dagegen sinkt“.[112] Daraus folgert er, dass ein „immer wachsender Teil des Kapitals der Industrie… nicht den Industriellen, die es an­wenden“, gehört, sondern den Banken, denn es „muss die Bank einen immer wachsenden Teil ihrer Kapitalien in der Industrie fixieren.“[113] Ein empirischer Beleg für diese Behauptung wird nicht gegeben; keine einzige Zahl über das an­wachsende Fremdkapital in der Industrie ist zu finden. Er bezieht sich lediglich auf eine tabellarische Zusammenstellung von Diskontsätzen aus einem Zeitraum von 55 Jahren,[114] obwohl die – von ihm eine Seite weiter sogar wiedergegebene – Umrechnung auf den Jahrzehntetrend eher die Marxsche Feststellung belegt, nämlich eine Abwärtsbewegung des Diskontdurchschnitts.[115]

Unterstellt, es gibt tatsächlich einen wachsenden Anteil des zinstragenden Kapitals am gesellschaftlichen Profit, weil zwar die Profitrate, nicht aber die Zinsrate tendentiell sinkt. Der „Überbau“ des Geldkapitals über der produktiven Basis würde sich also vergrößern. Wodurch aber und inwiefern würde ein grundlegender Wandel des Verhältnisses von produktivem und nichtproduktivem Kapital eintreten, und mit welchen Folgen? Das zinstragende Leihkapital akkumuliert zwar „auf Kosten zugleich der Industriellen und Kommerziellen“, schreibt Marx, ist im Ganzen jedoch abhängig von der Funktion des reproduktiven Kapitals. So verselbständigt die Bewegung des Geldkapitals auch sein mag, seine Akkumulation bleibt immer ein „Sprössling“ der wirklichen Akkumulation.[116]

Das Verhältnis zueinander ist durch einen fundamentalen Unterschied gekennzeichnet. Das industrielle geht zusammen mit dem kaufmännischen Kapital in den Ausgleich der Profitraten ein, wie wir oben festgestellt haben. Die Konkurrenz sorgt dafür, dass dem immanenten Gesetz der Kapitalverwertung Geltung verschafft wird und gleiche Kapitale gleiche Profite abwerfen, unabhängig davon, in welcher Sphäre sie angelegt sind. Ganz anders verhält es sich mit dem Zins. Für seine Rate gibt es kein immanentes Gesetz. „Die Konkurrenz bestimmt hier nicht die Abweichungen vom Gesetz, sondern es existiert kein Gesetz der Teilung außer dem von der Konkurrenz diktierten, weil … keine <natürliche> Rate des Zinsfußes existiert. Unter der natürlichen Rate des Zinsfußes versteht man vielmehr die durch die freie Konkurrenz festgesetzte Rate.“[117] Alles das, was Hilferding über Wert, Preis und Profit gesagt hat und was dort grundlegend falsch war, trifft auf den Zins zu. „Wo die Konkurrenz nicht nur die Abweichungen und Schwankungen bestimmt, wo also beim Gleichgewicht ihrer gegeneinander wirkenden Kräfte überhaupt alle Bestimmung aufhört, ist das zu Bestimmende etwas an und für sich Gesetzloses und Willkürliches.“[118] Die Zinsrate ist in der Tat das Resultat von Angebot und Nachfrage; sie wird durch die Konkurrenz als solche hervorgebracht. Je größer die Nachfrage nach Geldkapital, desto höher, und je reichlicher Angebot und Zufuhr von Geld, desto niedriger der Zinsfuß. Hier ist die subjektive Konkurrenz der individuellen. Kapitalisten das Maßgebliche und müsste eigentlich Hilferdings Domäne liegen.

Was es für die Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital heißt, dass zwischen Unternehmergewinn und Zins, zwischen Ausgleich der Profitraten und Bestimmung der Zinsrate ein prinzipieller Unterschied besteht, behandelt er jedoch mit keinem Satz. Wenn überhaupt, dürfte der Grund dafür in seiner Auffassung der Konkurrenz zu suchen sein. Da er alle Gesetze der Kapitalbewegung aus der Konkurrenz hervorgehen lässt, können für ihn keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Verwertungsweise des fungierenden und der des zinstragenden Kapitals bestehen. Darum kann ihm die behauptete Verschmelzung von Industrie und Banken auch keine größeren theoretischen Kopfschmerzen bereiten. Es scheint eben alles eins zu sein, und im Finanzkapital wird die Einheit praktisch hergestellt.

Daneben spielt der sogenannte „Gründergewinn“ in Hilferdings Argumentation zur Herausbildung der Bankenherrschaft eine wichtige Rolle. Das ist der Gewinn, der bei Gründung einer Aktiengesellschaft anfällt und von dem die Banken durch ihre Vermittlung der Aktienausgabe einen großen Teil einstreichen. Darauf wird hier nicht näher eingegangen, sondern nur auf folgendes hingewiesen: in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts kam es zur gehäuften Gründung solcher AGs bzw. zur Umwandlung bestehender Familienbetriebe in AGs. Marx, der dies aufmerksam verfolgte, sah dabei „eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren“ am Werk, „ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel.“[119] Er war jedoch weit davon entfernt, daraus das Ende der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise abzuleiten, sondern erblickte darin ganz im Gegenteil deren Weiterentwicklung und Vollendung.

Im Kapitel über die Kartellierung der Industrie beschreibt Hilferding näher, warum die Banken sich in den Monopolisierungsprozess einschalten. Wenn eine Bank mehreren miteinander konkurrierenden Betrieben Kredit gegeben habe, schade deren Konkurrenzkampf ihren Interessen, weil das Geld, das dem in der Konkurrenz unterliegenden Betrieb geliehen wurde, gefährdet sei. „Daher ist das Streben der Banken nach Ausschaltung der Konkurrenz zwischen Werken, an denen sie beteiligt ist, ein absolutes.“ Darüber hinaus habe jede Bank „das Interesse an möglichst hohem Profit. Dieser wird unter sonst gleichen Umständen wieder den höchsten Stand erreichen bei völliger Ausschaltung der Konkurrenz in einem Industriezweig. Daher das Streben der Banken nach Herstellung des Monopols. Es .treffen so die Tendenzen des Bankkapitals mit denen des Industriekapitals nach Ausschaltung der Konkurrenz zusammen.“[120]

In einem Satz ist von einer Bank die Rede, im nächsten Satz von „den Banken“ bzw. von dem Bankkapital. Warum aber soll das Bankkapital an einem möglichst hohen Profit der Industrie Interesse haben? Oder umgekehrt: welche Notwendigkeit besteht für ein Industriemonopol, sich den Banken unterzuordnen, wenn es Monopolprofite an sich zieht, seine Ertragslage mit Hilfe der Hilferdingschen Außenseiter über Konjunktur und Krise hinweg stabilisiert und keinerlei Kredite mehr benötigt, sondern im Gegenteil mit seinen Monopolprofiten eine eigene Bank gründen könnte? Noch grundsätzlicher: die spezifische Frucht des Bankkapitals, der Zins, steht gemeinhin in einem umgekehrten Wechselverhältnis mit dem industriellen Profit. So „wird man finden, dass meist niedriger Stand des Zinses den Perioden der Prosperität oder des Extraprofits entspricht“,[121] denn in solchen Zeiten kreditieren sich die Unternehmen im Vertrauen auf den Fortgang der Konjunktur gegenseitig. Die Nachfrage nach Geldkapital und damit die Zinsrate steht also niedrig. Umgekehrt ist es in der Krise, wo die Nachfrage nach Geld am höchsten steht: „Der Zinsfuß erreicht seine äußerste Höhe während der Krisen, wo geborgt werden muss, um zu zahlen, was es auch koste.“[122] Also ausgerechnet in der Krise, wo die Konkurrenz am schärfsten ist, werden die höchsten Zinsen gezahlt. Und da soll das Geldkapital ein Interesse an der Ausschaltung der industriellen Konkurrenz haben? Umgekehrt sind industrielle Höchstprofite gewöhnlich begleitet von einem niedrigen Zinsfuß. Und da soll das Bankkapital ein „Interesse an möglichst hohem Profit“ der Industriekapitale haben? Ja es soll sogar die industrielle Monopolbildung befördern, obwohl die gesicherte Ertragslage der Monopole zur Folge hätte, dass deren Nachfrage nach Geldkapital verschwindet?

Die Widersinnigkeiten, in die Hilferding hineingerät, sind erneut das Produkt seiner Oberflächenbetrachtung. Natürlich kann eine Bank in eine industrielle Krise hineingerissen werden, wenn sie einem bankrotten Betrieb – oder mehreren – zu viel Kredit gegeben hat. Ebenso kann sie sich gegen eine bestimmte Konkurrenz in der Industrie wenden, wenn sie mehrere Betriebe derselben Produktionssphäre kreditiert hat und den Zusammenbruch eines dieser Betriebe drohen sieht. Aber gerade weil die an der Oberfläche der ökonomischen Bewegung agierenden Kräfte häufig sich widersprechende Interessen haben, ist es notwendig, die immanenten Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln, die letztlich das Geschehen bestimmen und das Chaos der Erscheinungen strukturieren. Hilferding macht das Gegenteil; er springt von den subjektiven Beweggründen eines konkurrierenden Einzelkapitals zur objektiven Bewegung des Gesamtkapitals und umgekehrt. Aus den möglichen Interessen einer einzelnen Bank leitet er die Bewegung des Geldkapitals ab, und wo die Bewegungsgesetze des Bankkapitals und der Gegensatz zum produktiven Kapital zu entwickeln wären, spricht er von einzelnen Banken und Unternehmen.

Statt einer in sich logischen theoretischen Erklärung weiß er viele praktische Gründe für die Überlegenheit der Banken anzuführen. U.a. sagt er, eine „große Bank“ könne für ein Industrieunternehmen „mittels ihres großen Kapitals die Börse präparieren, und sie ist in der Lage, auch späterhin die Kursentwicklung der Aktien zu beherrschen.“[123] Natürlich ist so etwas möglich – in Grenzen. Gehen wir das Beispiel einmal durch. In der Regel ist der Aktienkurs nicht Produkt einer Bankenmanipulation, sondern Ausdruck der Konkurrenzposition des betreffenden Kapitals, bedingt durch seine Produktivität im Vergleich zu anderen Kapitalen. Nehmen wir jetzt an, dieser Betrieb würde in seiner Produktivitätsentwicklung von den anderen Kapitalen überholt; was wäre die Folge? Der Aktienkurs würde fallen oder mindestens nicht ebenso steigen wie bei den anderen Kapitalen.

Das könnte die „Hausbank“ wahrscheinlich verhindern, indem sie die Aktien aufkauft, dadurch die Nachfrage vergrößert und in der Folge den Aktienkurs in die Höhe treibt. Vorausgesetzt, dies ist nicht gesetzlich verboten, könnte sie damit so lange fortfahren, bis sie sämtliche Aktien in Besitz hätte. Hilferding würde sagen, die Bank „beherrscht die Kursentwicklung der Aktien“. Hätte das jedoch irgend etwas an der Produktivität der Aktiengesellschaft geändert? Das fiktive Kapital – die Aktie – würde zwar hoch stehen, das reale Kapital – das produzierende Unternehmen – aber mit Verlust arbeiten. Und was eine solche „Beherrschung des Aktienkurses“ kostet, würde die Hausbank spätestens merken, wenn sie die Verluste des jetzt ihr gehörenden Betriebs ausgleichen müsste. Die Loslösung des fiktiven Kapitals vom realen Kapital, die sich die Bank bei ihrer „Kursbeherrschung“ zu nutze gemacht hätte, käme sie teuer zu stehen. Befolgte sie die Hilferdingschen Ratschläge, würde sie nach einem Satz von Marx dem Mann gleichen, der die Gesetze der Schwerkraft so lange leugnet, bis ihm das Dach seines Hauses über dem Kopf zusammenpurzelt.

 

d) Das Finanzkapital

Aus der wachsenden Macht der Banken lässt Hilferding schließlich das „Finanzkapital“ hervorwachsen. Es sei ursprünglich Geldkapital, das die Banken aufgrund ihres steigenden Anteils am gesellschaftlichen Profit nicht selber verwenden können, sondern den Industriellen leihen. Er sagt: „Ich nenne das Bankkapital, also Kapital in Geldform, das auf diese Weise in Wirklichkeit in industrielles Kapital verwandelt ist, das Finanzkapital[124]. Das ist seine erste, von ihm hervorgehobene Definition.

Die Verleihung von Geld durch den Geldkapitalisten an den produktiven Kapitalisten weist eine Analogie zum einfachen Warentausch aus, bemerkt Marx. Es „wird auf der einen Seite ein wirklicher Gebrauchswert veräußert und auf der andren empfangen und verbraucht. Aber im Unterschied zur gewöhnlichen Ware ist dieser Gebrauchswert selbst Wert, nämlich der Überschuss der Wertgröße, die durch den Gebrauch des Geldes als Kapital sich ergibt, über seine ursprüngliche Wertgröße. Der Profit ist dieser Gebrauchswert. Der Gebrauchswert des ausgeliehenen Geldes ist: als Kapital fungieren zu können und als solches unter durchschnittlichen Umständen den Durchschnittsprofit zu produzieren.“ Daraus folgt: „Diesen Gebrauchswert des Geldes als Kapital – die Fähigkeit, den Durchschnittsprofit zu erzeugen – veräußert der Geldkapitalist an den industriellen Kapitalisten für die Zeit, während deren er diesem die Verfügung über das verliehne Kapital abtritt.“[125] Was Hilferding daher als besondere Charakteristik des Finanzkapital benennt: „Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen“[126] – ist einfach die elementare Bestimmtheit des Geldes als Kapital. Warum es dafür einer Umbenennung bedarf, ist aus der gegebenen Definition nicht ersichtlich.

An anderer Stelle findet sich eine andere Definition: „Das Finanzkapital bedeutet die Vereinheitlichung des Kapitals. Die früher getrennten Sphären des industriellen, kommerziellen und Bankkapitals sind jetzt unter die gemeinsame Leitung der hohen Finanz gestellt, zu der die Herren der Industrie und der Banken in inniger Personalunion vereint sind.“[127] Dieses Finanzkapital ist aus der Monopolisierung von Industrie und Banken hervorgegangen: „Die Tendenz zur Herstellung eines Generalkartells und die Tendenz zur Bildung einer Zentralbank treffen zusammen, und aus ihrer Vereinigung erwächst die gewaltige Konzentrationsmacht des Finanzkapitals. Im Finanzkapital erscheinen alle partiellen Kapitalformen zur Totalität vereinigt.“[128] Dass das Generalkartell und mit ihm das Finanzkapital auf der Abschaffung des Wertgesetzes und der subjektiven Preisbestimmung beruht, wurde bereits erörtert; jetzt geht es um die weiteren Konsequenzen.

Die wichtigste Konsequenz ist das Verschwinden des Geldes. „Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden… Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. (…) Die Verteilung (der Produkte; d.V.) selbst ist bewusst geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber.“[129] Das Geld nimmt also Abschied von der Gesellschaft, weil es nicht länger benötigt wird, um Ordnung in die anarchischen Produktions- und Verteilungsverhältnisse zu bringen. Das Verschwinden des Geldes hindert Hilferding aber nicht an der Feststellung: „Das Finanzkapital erscheint als Geldkapital und besitzt in der Tat dessen Bewegungsform G-G‘, geldtragendes Geld, die allgemeinste und begriffsloseste Form der Kapitalbewegung.“[130] Das eben erst aus der Gesellschaft verschwundene Geld taucht also plötzlich als Existenzform des Finanzkapitals wieder auf, m.a.W.: das Finanzkapital existiert als und in etwas, das nicht mehr existiert. Und dabei bleibt es nicht.

Wie wir soeben hörten, verwertet sich das Finanzkapital in der Bewegungsform G-G‘. Nun existieren jedoch, wie wir ebenfalls vernommen haben, keine andere Kapitalformen mehr als das Finanzkapital. Geld ist somit die einzige Existenzweise des Kapitals überhaupt. Das bedeutet, dass das Finanzkapital sich verwertet, ohne zuvor Warenform anzunehmen (G-W-G1), also ohne sich in die sachlichen Bestandteile der Produktion zu verwandeln. Geld, das hier die ausschließliche Daseinsform des Kapitals überhaupt ist, vergrößert sich demzufolge durch seine bloße Existenz. Gleichzeitig ist dieses Geld aber bereits verschwunden, so dass nur die Schlussfolgerung übrigbleibt, dass nichts das Nichtsein des Nichts ver­größert.

Das Geld verschwinde, erläutert der Autor, „da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten“. Dadurch verändere die Produktionsweise ihren Charakter grundlegend. „Das Kartell verteilt das Produkt. Die sachlichen Produktionsmittel sind wiederproduziert worden und werden zu neuer Produktion verwendet. Von dem Neuprodukt wird ein Teil auf die Arbeiterklasse und die Intellektuellen verteilt, der Rest fällt dem Kartell in beliebiger Verwendung zu.“[131] Es findet also keine Produktion von Werten, sondern nur mehr von Gebrauchswerten statt, die anschließend zielgerichtet nach dem Willen des Finanzkapitals verteilt werden. Der Wert hört auf, die bestimmende Kategorie zu sein, und die kapitalistische Produktionsweise gerät an ihr Ende. „So erlischt im Finanzkapital der besondere Charakter des Kapitals. Das Kapital erscheint als einheitliche Macht, die den Lebensprozess der Gesellschaft souverän beherrscht“.[132] Demgemäß hätte das Kapital sich selber abgeschafft und mit dem Übergang zur Gebrauchswertproduktion dem Kommunismus aufs erfreulichste vorgearbeitet.

Überhaupt ist zu fragen, was an dem neuen Gesellschaftsgebilde noch kapitalistisch ist, nachdem nur mehr Gebrauchswerte zur Befriedigung von Bedürfnissen produziert werden. Doch was das für eine Gesellschaftsformation ist, die faktisch nicht mehr kapitalistisch, aber auch noch nicht kommunistisch sein soll, führt der Autor nicht näher aus. Er sagt über dieses Zwischending nur: „Es ist die bewusst geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewusst geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber. Das Finanzkapital in seiner Vollendung ist losgelöst von dem Nährboden, auf dem es entstanden. Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh‘.“[133]

In diesen Sätzen fassen sich die Fehler der kritisierten Theorie noch einmal zusammen: <Durch die bewusste Regelung der Verteilung ist die Notwendigkeit des Geldes vorüber> – das heißt, vorher war das Geld erforderlich, um für die unbewusste Verteilung der Produkte zu sorgen. Auf einen Satz konzentriert, ist das die von Kaminski kritisierte Auffassung; in ihr erscheint das Geld nicht als allgemeiner Ausdruck und Repräsentant abstrakt menschlicher Arbeit, das deswegen die Fähigkeit hat, den Austausch zu vermitteln, weil sich darin Waren gegenübertreten, die menschliche Arbeit verkörpern, sondern entspringt eigenständig aus der Notwendigkeit, die Zirkulation zu organisieren. <Das Ziel des rastlosen Geldumlaufs ist die geregelte Gesellschaft – das heißt, mit der „Erfindung“ des Geldes hätten die Menschen den ersten Schritt zur Abschaffung der Warenproduktion gemacht, aus dem alles weitere von selber folgt. Die voll­ständige Ausbildung des Geld- und Kreditwesens bewirkt demgemäß nicht die Vollendung der kapitalistischen Produktionsweise, sondern deren Beseitigung, weil ja das „Ziel“ – dh. die vollständige Durchsetzung – des Geldumlaufs die „geregelte“, gebrauchswertproduzierende Gesellschaft ist. <Das Geld ist das perpetuum mobile der Zirkulation, das erst unter der Herrschaft des Finanzkapitals seine Ruhe findet> – das heißt, im Geld und damit in der Zirkulation soll sich die treibende Kraft der gegebenen Produktionsweise finden (unter „Zirkulation“ begreift Hilferding hier die Produktion mit). In Wahrheit spielt die Verwertung des Werts diese Rolle, und die hat ihren Ursprung in der Produktion, im Vernutzungsprozess der menschlichen Arbeitskraft. Dort sitzt das „perpetuum mobile“, das den Gesamtreproduktionsprozess, Zirkulation wie Produktion, in Gang hält.

Was unter „Finanzkapital“ zu verstehen sein soll, ist in Hilferdings Buch nicht eindeutig. Als Geldkapital „in der Verfügung der Banken und Verwendung der Industriellen“ erscheint das Finanzkapital einmal als bereits existierende Realität; als Zusammenschluss von Handel, Industrie und Banken tritt es das nächstemal nur als langfristige Tendenz auf. An einer Stelle bemerkt Hilferding über das Generalkartell: „An sich wäre ein Generalkartell ökonomisch denkbar, das die Gesamtproduktion leitete und damit die Krisen beseitigte, wenn auch ein solcher Zustand sozial und politisch eine Unmöglichkeit ist, da er an dem Interessen­gegensatz, den er auf die Spitze treiben würde, zugrunde gehen müsste.“[134]. Typisch ist wiederum die Abgrenzung. Ökonomisch sieht Hilferding das Generalkartell näher und näher rücken, nur politisch soll die stattfindende Entwicklung vorher unterbrochen werden, indem nämlich das Vordringen des Finanzkapitals „die Herrschaft des Kapitals innerhalb des Landes immer unvereinbarer mit den Interessen der durch das Finanzkapital ausgebeuteten, aber auch zum Kampf aufgerufenen Volksmassen“ macht, wie es in den Schlussworten seines Werks heißt. „In dem gewaltigen Zusammenprall der feindlichen Interessen schlägt schließlich die Diktatur der Kapitalmagnaten um in die Diktatur des Proletariats.“[135] Wodurch die zunehmende Unvereinbarkeit der Interessen von Bourgeoisie und Proletariat gesetzmäßig verursacht sein soll, bleibt im Dunkeln. Die Logik der Hilferdingschen Ausführungen läuft auf etwas ganz anderes hinaus, nämlich auf die zunehmende ökonomische und politische Beherrschung wie Befriedung der Gesellschaft durch das Finanzkapital. So erscheint der Satz von dem unvermeidbaren Zusammenprall der Klassen und der kommenden Diktatur des Proletariats nicht als immanente Konsequenz der vorliegenden Theorie, sondern als ein äußerlicher Zusatz.

Damit sind wir so weit, die eingangs gestellte Frage, ob und inwieweit Hilferding eine Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie des Marxismus auf deren eigenen Grundlagen vorgenommen hat, endgültig zu beantworten. Diese Frage kann nur mit Entschiedenheit verneint werden. Es war in dem vorliegenden Artikel nicht möglich, das Buch des österreichischen Theoretikers in seinem ganzen Umfang zu kritisieren. Die ausgelassenen Teile bieten jedoch kein anderes Bild als das wiedergegebene: In allen wesentlichen Fragen steht Hilferding fernab des wissenschaftlichen Sozialismus. Am Ende seines dritten Buches über das Kapital schrieb Marx: „Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und apologetisieren. Es darf uns also nicht wundernehmen, dass sie gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse, worin diese prima facie abgeschmackt und vollkommene Widersprüche sind – und alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen -, wenn gerade hier die Vulgärökonomie sich vollkommen bei sich selbst fühlt und ihr diese Verhältnisse um so selbstverständlicher erscheinen, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind.“[136] Die Oberflächenbewegung des Kapitals wird von Hilferding in seinem Buch mit marxistischer Terminologie verbrämt wiedergegeben; das Ergebnis ist nichts anderes als Vulgärmarxismus.

 

e) Organisierter Kapitalismus und Wirtschaftsdemokratie

Politökonomisch führte DAS FINANZKAPITAL unübersehbar weg von Marx. Politisch schwankte sein Autor vor dem 1. Weltkrieg als Anhänger des sogenannten „Zentrums“ in der Sozialdemokratie noch zwischen revolutionären und reformistischen Positionen. Beschleunigt durch Weltkrieg und Revolution, änderte sich seine Haltung in den folgenden Jahren. Die Novemberrevolution von 1918 beseitigte den kaiserlichen Obrigkeitsstaat in Deutschland und ließ eine demokratische Republik an seine Stelle treten. Die SPD bekam damit die Gelegenheit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Unter dem Eindruck der Ereignisse nahm Hilferding von den politischen Überresten revolutionär-marxistischer Positionen endgültig Abschied, entwickelte seine Auffassungen weiter zur Theorie des organisierten Kapitalismus und schuf die theoretischen Grundlagen für die gewerkschaftliche Strategie der Wirtschaftsdemokratie. Er wurde zum führenden Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit und übernahm zweimal als Finanzminister des Deutschen Reiches die Aufgabe, den „organisierten Kapitalismus“ zu verwalten.

Bereits im ersten Kriegsjahr 1915 entdeckte er „Keime zu einer Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung“.[137] Nach dem Krieg sah er diese Keime gewaltig anwachsen. „War früher die treibende Kraft der kapitalistischen Entwicklung die freie Konkurrenz, so wird diese jetzt immer stärker aufgehoben durch die kapitalistische Monopolbildung: In die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise schieben sich immer erfolgreicher Organisationstendenzen des Kapitals hinein.“[138] Er benannte es als „das Entscheidende, dass wir augenblicklich in der Periode des Kapitalismus uns befinden, in der im wesentlichen die Ära der freien Konkurrenz, in der der Kapitalismus rein durch das Walten der blinden Marktgesetze beherrscht war, überwunden ist, und wir zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft.“[139] Ganz deutlich werdend, sagte er, „Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion.“[140]

Dieser „organisierte Kapitalismus“ ist unverkennbar weitestgehend identisch mit dem bisherigen „Finanzkapital“, das Hilferding im gleichen Atemzug als Einheitsform von Industrie, Handel und Banken wiederholt.[141] Der Unterschied zu früher liegt denn auch nicht in der ökonomischen Theorie, sondern in der Politik, konkret in der Haltung zum Staat. Inwieweit Hilferdings prinzipielle politische Auffassung vom Staat identisch geblieben ist, muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.[142] Fest steht jedenfalls, dass seine konkrete Haltung zum Staat sich verändert hat, weil dieser konkrete Staat ein anderer geworden ist.

Ausgangspunkt dafür sind die Veränderungen, die das Finanzkapital und der organisierte Kapitalismus mit sich gebracht haben: „Diese planmäßige, mit Bewusstsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewussten Einwirkung der Gesellschaft, das heißt nichts anderes, als Einwirkung durch die einzige bewusste und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat.“[143] Durch die Umwandlung des Kaiserreichs in eine Republik, die beherrschende Stellung des Parlaments und das allgemeine Wahlrecht sah Hilferding es jetzt im Gegensatz zu früher als möglich an, den Staat als Instrument für den Übergang zum Sozialismus zu benutzen.[144] Als Beweis dafür nannte er die durch die Novemberrevolution erkämpfte Sozialgesetzgebung, die Arbeitslosenversicherung und das Tarifvertragswesen. „Das bedeutet: immer mehr unterliegt die kapitalistische Gesellschaft dem zunehmenden Einfluss der Arbeiterklasse, immer mehr siegt das politische Prinzip der Arbeiterklasse, den Staat zu benutzen als Mittel zur Leitung und Beherrschung der Wirtschaft im allgemeinen Interesse.“[145]

Die subjektive Fassung des Kapitalverhältnisses aus dem FINANZKAPITAL erfuhr nunmehr eine positive Umsetzung, schien doch die Regelung von Angebot und Nachfrage, der Sieg der Politik über die Ökonomie, des Willens über die blindwirkenden Gesetze, der Ordnung über die Anarchie endgültig. Die Arbeitslosenversicherung wertete Hilferding als „eine ganz bestimmte Regelung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.“ Im Tarifvertragssystem und der Schiedsgerichtsbarkeit bei Arbeitskämpfen sah er „eine politische Lohnregelung und eine politische Arbeitszeitregelung.“ Für ihn stand fest, „dass der Wochenlohn ein politischer Lohn ist“, erkämpft durch die SPD, so dass schließlich die Arbeiterfrauen durch ihre Wahlentscheidung „über Brot und Fleisch und die Höhe des Lohnes“ entscheiden würden.[146]

Aufbauend auf der Theorie des organisierten Kapitalismus propagierte er die Demokratisierung der Wirtschaft durch die sogenannte „Wirtschaftsdemokratie“. Der Kapitalismus stelle, so fasste er die Konsequenzen zusammen, „gerade wenn er zu seiner höchsten Stufe einer von neuem organisierten Wirtschaft gelangt, das Problem der Wirtschaftsdemokratie“.[147] Als Privateigentum sei nur noch die juristische Form der Unternehmen kapitalistisch; dem Inhalt nach sei die Wirtschaft bereits sozialistisch, da „organisiert“ bzw. „geregelt“. Darum komme es nunmehr darauf an, die private Verfügungsgewalt der Unternehmer als letzte Barriere gegen den Sozialismus gesetzlich einzuschränken und auf Dauer aufzuheben. Es gelte, mit der Sozialisierung von Schlüsselindustrien zu beginnen. Die Novemberrevolution und die Regierungsbeteiligung der SPD hatten dafür seines Erachtens die Voraussetzungen geschaffen. Wieder stellen diese Gedanken eine direkte Fortsetzung der Ausführungen aus dem FINANZKAPITAL dar, diesmal umgesetzt in „Realpolitik“. Und wieder sind es die veränderten Verhältnisse, die den Konsequenzen, welche bereits in der Theorie angelegt sind, zum Durchbruch verhelfen.

Durch die Führung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes ADGB, insbesondere durch Naphtali und Tarnow, wurden die Gedanken zum organisierten Kapitalismus und zur Wirtschaftsdemokratie in die gewerkschaftliche Strategiebildung umgesetzt und schließlich zum Gewerkschaftsprogramm erhoben.[148] „Die auf dem Hamburger ADGB-Kongreß von 1928 zum gewerkschaftlichen Grundsatzprogramm erhobene Strategie der Demokratisierung der Wirtschaft war Zusammenfassung, Summe und getreues Spiegelbild sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Gesellschaftsanalyse“.[149]

Auf diese Weise fanden Politik und Praxis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ihre tiefste politökonomische Fundierung in Hilferdings FINANZKAPITAL. Wer der Sozialdemokratie die Hegemonie in der Arbeiterbewegung streitig machen wollte, war genötigt, das Hauptwerk ihres führenden Theoretikers zu kritisieren und damit ihr theoretisches Fundament zu zerstören. Ansonsten musste die Politik gegenüber der SPD und jede eigene Gewerkschaftspolitik von der Hand in den Mund leben und letztlich hilflos bleiben.

 

f) Vom Zentristen zum Reichsfinanzminister

Zeitgleich mit der Entwicklung seiner Theorie des organisierten Kapitalismus erreichte Hilferding den staatsoffiziellen Höhepunkt seiner politischen Laufbahn.[150] Am 10. August 1877 in Wien als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, hatte er zunächst Medizin studiert und war Arzt geworden. Seinen Beruf übte er indes nur selten und ungern aus. Während des Studiums trat er dem Sozialistischen Studentenbund bei und war mit Otto Bauer und Gustav Eckstein befreundet, später führenden Politikern der österreichischen Sozialdemokratie. Schon 1902 als Fünfundzwanzigjähriger begann er, an der „Neuen Zeit“, dem von Karl Kautsky herausgegebenen theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, mitzuarbeiten. Vor allem mit ökonomischen Fragen befasst, wurde er 1904 durch eine Streitschrift gegen den Marx-Kritiker Professor Böhm-Bawerk bekannt. Durch das 1910 erschienene FINANZKAPITAL sicherte er sich endgültig den Ruf, führender Wirtschaftstheoretiker der Sozialdemokratie zu sein.

Politisch gehörte er vor dem ersten Weltkrieg dem sogenannten „marxistischen Zentrum“ um Kautsky an, das versuchte, die auseinanderstrebenden rechten und linken Flügel der deutschen und internationalen Sozialdemokratie miteinander zu versöhnen. 1917 gründete sich diese Richtung in Deutschland als eigene Partei in Opposition zur SPD, als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).[151] Kriegsgegner von Anfang an, wechselte Hilferding 1918 dorthin über und übernahm die Redaktion der Berliner „Freiheit“, des faktischen Zentralorgans der USPD. Als Mitglied der ersten „Sozialisierungskommission“, die der deutsche Rätekongreß im Dezember 1918 ins Leben rief, war er führend daran beteiligt, die Rätebewegung von der Machtfrage auf die folgenlose Debatte über Umfang und Reihenfolge von „Sozialisierungsmaßnahmen“ hinzulenken. Als 1920 – diesmal von der Regierung – die zweite Sozialisierungskommission einberufen wurde, erhielt er die Gelegenheit, mit den Vertretern der Bourgeoisie und des Kapitals persönlich zusammenzuarbeiten. Wie schon zuvor die erste, so stellte auch die zweite Sozialisierungskommission ihre Arbeit nach einigen Monaten als sinnlos ein.

Auf. dem Parteitag der USPD im Herbst 1920 war Hilferding der Hauptredner gegen einen Anschluss an die Kommunistische Internationale und den Zusammenschluss mit der KPD, den die Mehrheit befürwortete. Mit der Rest-USPD 1922 zur SPD zurückgekehrt, wurde er im Sommer 1923 zum erstenmal für einige Monate Reichsfinanzminister im ersten Kabinett Stresemann. Als der Sozialdemokrat Hermann Müller im Juni 1928 eine SPD-geführte Koalitionsregierung bildete, wurde Hilferding erneut als Finanzminister ins Kabinett berufen. In dieser Position überraschte ihn 1929 die bis dahin größte Krise der kapitalistischen Produktionsweise.

„Es wär zu schön gewesen, es hat nicht sollen sein“, hatte er im FINANZKAPITAL noch in einem letzten Anflug marxistischer Überzeugung gegenüber Behauptungen geschrieben, dass der Kapitalismus krisenfrei geworden sei.[152] Mittlerweile selber zum Vertreter derartiger Auffassungen geworden, wollte es die Ironie der Geschichte, dass er ausgerechnet auf dem Gipfel seiner Karriere höchst praktisch eines besseren belehrt wurde – und die Folgen zu spüren bekam. Unter dem Druck des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht musste er im Dezember 1929 zurücktreten. Zu einem Überdenken seiner Auffassungen führte weder das eine noch das andere. Er blieb fest auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung stehen.

Als Jude und prominenter Gegner des Nationalsozialismus musste er im März 1933 emigrieren. Vom Ausland aus trat er weiter gegen das NS-Regime ein – und wandte sich gleichzeitig gegen jede Zusammenarbeit mit der KPD. In Frankreich überraschte ihn 1940 der deutsche Blitzkrieg. Am 10. Februar 1941 wurde er von der Vichy-Regierung gemeinsam mit dem SPD-Politiker Rudolf Breitscheid an die Gestapo ausgeliefert. Zwei Tage später starb er im Pariser Gefängnis La Santé in Gestapo-Haft, ob aufgrund von Folterungen oder durch Freitod, ist ungeklärt.

 

4. Das FINANZKAPITAL im historischen Urteil

Die Auseinandersetzung von Linken mit Hilferding ist bis heute durch einen merkwürdigen Dualismus geprägt. Seine im FINANZKAPITAL niedergelegte Monopoltheorie galt und gilt als Vorbild einer marxistischen Analyse der Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Seine Praxis, insbesondere seine politische Tätigkeit in der Weimarer Republik, wird dagegen als Sündenfall begriffen, als Verrat an den eigenen und eigentlichen sozialistischen Prinzipien. „Zwischen den Stühlen“ soll er gesessen haben, zerrissen durch die „Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis“, wie der bezeichnende Titel einer Veröffentlichung über ihn lautet. Derartige Urteile nehmen nicht zur Kenntnis, dass Hilferdings Praxis der 20er Jahre durch die theoretische Arbeit der davorliegenden Jahre vorbereitet wurde. Nicht der „Verrat“ an den eigenen Ideen stellt sich bei genauerem Hinsehen als das Bestimmende im Leben des Sozialdemokraten heraus, sondern die konsequente Fortschreibung und Umsetzung dieser Ideen. Der Bruch in den politischen Überzeugungen erscheint demgegenüber als minder bedeutsam. Hilferding ist sich selber in viel höherem Grade treu geblieben, als es seine Kritiker von links wahrhaben wollen.

Die Grundlage für derartige Fehleinschätzungen wurde schon früh gelegt, gleich nach Veröffentlichung seines Hauptwerks im Jahre 1910, als in der Folgezeit die meisten der führenden Vertreter der internationalen Arbeiterbewegung dazu Stellung nahmen. Ihre Urteile geben zugleich einen Überblick über den Stand der ökonomischen Theorie in der Zweiten Internationale.

 

a) Bernstein: bloße Hypothesen

In dem Artikel „Das Finanzkapital und die Handelspolitik“, der 1911 in den „Sozialistischen Monatsheften“ erschien, befasste sich Eduard Bernstein, der Stammvater des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie, mit dem FINANZKAPITAL.[153] So gut wie alle Stützpfeiler der Hilferdingschen Theorie erklärte er für nicht tragfähig. Er verwies darauf, dass in jedem Land das Verhältnis von Industrie und Banken zueinander anders sei. Ohne nähere Untersuchung der nationalen Besonderheiten, die Hilferding nicht vorgenommen habe, sei der aus der Verschmelzung von Industrie und Banken gewonnene Begriff des Finanzkapitals eine unzulässige Verallgemeinerung. Dasselbe sei mit der Behauptung einer prinzipiellen Ablösung des Freihandels durch den Schutzzoll der Fall. Bernstein sah zwar einzelne Phänomene In dieser Richtung, hielt es aber für falsch, daraus eine gesetzmäßige Entwicklung abzuleiten: „Hilferdings Satz von einem generellen Interesse des Finanzkapitals am Allerweltsschutzzoll ist nichts als Konstruktion auf der Basis von Einzelerschei­nungen, die durchaus unzu­länglich sind, eine so verallgemeinernde Theorie zu tragen.“[154] Denselben Einwand erhob er gegen die Theorie des Kapitalexports, Hilferding zufolge ein Charakteristikum des Finanzkapitals. Ihm schien: „ohne einigermaßen verlässliches Tatsachenmaterial ist jede verallgemeinernde wirtschaftspolitische Folgerung, die auf das Vorkommen solcher Exporte sich stützt, bloße Hypothese und nicht mehr“.[155] Mit dem Vorwurf, dass Hilferding keine statistischen Daten aufbringen würde und über das „empirische Material … bei ihm so gut wie gar nichts zu finden“ sei, gelangte er zu der Schlussfolgerung, dass der wesentliche Inhalt des Buches nur „als Theorie im Sinne logischer Spekulation“ gelten könne.[156]

Der Gegensatz zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fiel Bernstein nicht auf, im Gegenteil. Selber seit Jahren Gegner der Marxschen Theorie im allgemeinen und der Dialektik im besonderen,[157] erklärte er die Fehler Hilferdings daraus, dass der Autor in der Tradition des Marxschen Denkens stehe und sein Buch im wesentlichen mit Hilfe der „Methode der spekulativen Dialektik“ zustandegebracht habe.[158] Hilferdings FINANZKAPITAL wie Marxens KAPITAL tat er insoweit gleichermaßen als Produkt dialektischer Gedankenkonstruktionen ab.

Der Verriss des FINANZKAPITAL erstreckte sich auch auf die politischen Schlussfolgerungen bzw. war von den Differenzen geprägt, die zwischen dem rechten, revisionistischen Flügel und dem Zentrum bestanden. Die von Hilferding gegen Ende des Buchs ausgesprochene Warnung, dass die internationalen Widersprüche auf ihre gewaltsame Lösung durch einen großen Krieg hintrieben, erklärte Bernstein wie die ganze Theorie für eine spekulative Deduktion und behauptete im Gegenteil, dass die Verhältnisse immer friedlicher würden, denn „überall gewinnt die Vertragsidee im Streit mit den überlieferten Kriegstendenzen an Boden.“[159] Gegenüber der abstrakten Enthaltsamkeitsparole Hilferdings zur Außenwirtschaftspolitik „Weder Schutzzoll noch Freihandel, sondern Sozialismus“ forderte er, dass der Internationalismus der Arbeiterklasse sich in der handelspolitischen Richtlinie betätigen müsse: „Niederreißung der nationalen Zollmauern.“

 

b) Kautsky: eine Fortsetzung des Marxschen KAPITAL

Der theoretische Kopf der Zentristen, Karl Kautsky, rezensierte Hilferdings Werk in der „Neuen Zeit“ unter dem Titel „Finanzkapital und Krisen“.[160] Mit Hilferding politisch und theoretisch verbunden, war er voll des Lobs über das Werk seines Genossen; es war für ihn eine „eingehende und ausreichende Untersuchung aufgrund unserer Theorie“, dh. auf Grundlage des Marxismus.[161] „Ausgehend von den Marxschen Grundbegriffen“ habe Hilferding die neuen Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise gründlich erforscht und geklärt. Die Untersuchung der Kartelle, Trusts und Monopole schien ihm „aufs scharfsinnigste und eingehendste dargelegt“; er sah dadurch „eine Fülle neuer Einsichten in die ver­wickeltsten Zusammenhänge“ erschlossen.[162]

Nur einen Punkt gab es, in dem er seinem Landsmann nicht zu folgen vermochte. Das war die Geldtheorie. Nach einer Seite brachte er seine Kritik daran jedoch zu Ende; eine lange Auseinandersetzung erübrige sich, weil die Geldtheorie praktisch und theoretisch ohne Wirkung bleibe.[163] Erst als Hilferding einen längeren Artikel „Geld und Ware“ veröffentlichte,[164] worin er seine fehlerhafte Geldtheorie weiter ausbreitete, sah Kautsky sich zu einer längeren Replik unter dem Titel „Gold, Papier und Ware“ veranlasst.[165] Darin kritisierte er ausführlicher, dass bei Hilferding das Geld ohne Wert in die Zirkulation eingehe. Er legte dar, dass es nur darum allgemeines Äquivalent werden könne, weil die abstrakt menschliche Arbeit als Grundlage der Vergleichbarkeit der Waren objektiv vorhanden sei. Das überaus Wohlwollende Gesamturteil über das FINANZKAPITAL nahm er jedoch in keinem Punkt zurück.

In seiner Besprechung verwies Kautsky auf einen wichtigen Umstand. Der erste Band des KAPITAL, so führte er aus, habe große Popularität unter den Arbeitern erworben und  erheblich tiefere Wirkungen als die beiden folgenden Bände gehabt. Der Grund dafür liege nicht allein daran, dass Band I vollständig ausgearbeitet sei, während Band II und III unvollendet geblieben seien. Vielmehr werde in Band I die eigentliche Domäne des Klassenkampfs, die Ausbeutung und der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, Proletariat und Bourgeoisie, untersucht. „Anders der zweite und dritte Band. Hier handelt es sich anscheinend nur um Gegensätze der Ausbeuter untereinander und um Gebiete, auf denen der Arbeiter noch weit fremder war wie bürgerliche Theoretiker. Hier halfen ihm die Erfahrungen aus seiner Klassenlage gar nichts.“[166] Das sei der Hauptgrund, weshalb die beiden Nachfolgebände des KAPITAL I keine größere Aufmerksamkeit gefunden hätten.

Was Kautsky über das Interesse und den Kenntnisstand der damaligen organisierten Arbeiterbewegung schreibt, dürfte zutreffen. Allerdings ist seine Feststellung nicht auf die Arbeiter zu beschränken, sondern muss – und zwar in erster Linie – auf die Theoretiker der Sozialdemokratie, Kautsky eingeschlossen, ausge­dehnt werden. Mindestens Band III des KAPITAL blieb ihnen eine terra incognita.[167] Das spiegelt sich nicht zuletzt in Kautskys eigener Rezension wider. Soweit Kritik – wie in der Geldtheorie – angemeldet wird, überschreitet sie thematisch nicht den Rahmen der In KAPITAL I behandelten Fragen. Alle weitergehenden Kritikpunkte wie die nach dem Verhältnis von Kapital und Konkurrenz, dem Ausgleich der Profitraten etc. spricht der Herausgeber der „Neuen Zeit“, dieser unbestritten führenden theoretischen Zeitschrift der inter­nationalen Sozialdemokratie, nicht an. Sie scheinen ihm richtig behandelt. Die Ausführungen Hilferdings über die Krisen erklärt er sogar „zu den besten und fruchtbarsten seines Buches“![168] Dagegen tut er die Fehler in der Geldtheorie, die im Kern auf einer falschen Auffassung des Wertgesetzes, dieses Herzstücks der Marxschen Politischen Ökonomie beruhen, mit einem Achselzucken ab, und demonstriert so zusätzlich die eigene Geringschätzung der theoretischen Aus­einandersetzung.

In seiner Rezension bezeichnete Kautsky das FINANZKAPITAL wegen seiner Behandlung der Kartelle und Trusts als „eine Fortsetzung des Marxschen <Kapital>“.[169] Außerdem lobte er seinen Landsmann, weil es ihm gelungen sei, „die Schätze zu heben und zu verwerten, die in dem zweiten und dritten Band des <Kapital> zu finden sind.“[170] In Wirklichkeit hat Hilferding den theoretischen Reichtum des KAPITAL nicht gehoben, sondern verschüttet. Sein Werk öffnete nicht den Zugang zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, sondern verschloss ihn, und die Rezension leistete dem Beistand. Wer ihrer Bewertung folgte, musste glauben, durch die Lektüre des leicht lesbaren FINANZKAPITAL der Mühe ent­hoben zu sein, sich durch die komplizierten Zusammenhänge von Band II und III des KAPITAL hindurcharbeiten zu müssen. Er musste darüber hinaus annehmen, dass die Kenntnis dieser Bücher ohnehin überflüssig sei, da ja daraus nichts für die Praxis des Klassenkampfs, dh. für die vertiefte Erkenntnis des Gegensatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zu gewinnen war. Nur blutleere Theoretiker konnten sich danach noch ernsthaft mit der Weiterführung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie über KAPITAL I hinaus beschäftigen.

Kautsky aber war der theoretische „Papst“ der internationalen Sozialdemokratie, gleichermaßen anerkannt und gefürchtet von „Rechten“ wie „Linken“. Darum dokumentiert sein Urteil nicht allein das politökonomische Niveau der II.Internationale, sondern trug zugleich dazu bei, es zu erhalten. Seine Worte, die eine deutliche Gering- bzw. Fehleinschätzung der Bedeutung von Band II und III des KAPITAL bekunden, haben durch die Organisationen der Arbeiterbewegung hindurch bis heute gewirkt.

 

c) Lenin: eine höchst wertvolle Studie

In den „Heften“ zum Imperialismus, den Vorarbeiten, die Lenin zu seiner eigenen Veröffentlichung über den Imperialismus anfertigte, wird mehrfach auf Hilferding Bezug genommen, außerdem findet sich dort ein eigenes Exzerpt zum FINANZKAPITAL.[171] Darin erwähnt der Führer der SDAPR unter Hinweis auf die „Neue Zeit“, worin Hilferding und Kautsky die Debatte über die Geldtheorie geführt hatten: „Bei Hilferding geht das Geld ohne Wert in die Zirkulation ein.“[172] Eine weitergehende politökonomische Auseinandersetzung und Kritik an Hilferding findet sich nirgends. Zusammenfassend nennt Lenin als „Mängel Hilferdings: 1) Theoretischer Fehler in bezug auf das Geld. 2) Ignoriert (fast) die Aufteilung der Welt. 3) Ignoriert den Zusammenhang zwischen Finanzkapital und Parasitismus. 4) Ignoriert den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Opportunismus.“[173] Dem folgend weist er die politökonomische Fundierung von Hilferdings Monopoltheorie auch nicht als unhaltbar zurück, sondern spricht im Hinblick auf den Imperialismus von der „Unvollständigkeit der Definition bei Hilferding“.[174] Das heißt, dass das FINANZKAPITAL nach Lenins Meinung nicht von Grund auf zu kritisieren, sondern im wesentlichen zu ergänzen ist. Politisch ist die Abgrenzung Lenins allerdings scharf und unübersehbar. Er bezeichnet „Kautsky, Hilferding & Co. (+ engerer Freund = Trotzki)“ als „Mahner der imperialistischen Bourgeoisie“ bzw. als deren „Beschwörer“ oder „Reformatoren“.[175]

Diese durch die Vorarbeiten vorgezeichnete Linie bestimmt die in der ersten Jahreshälfte 1916 geschriebene und Mitte 1917 veröffentlichte Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Lenin übernimmt ausdrücklich die Hilferdingsche Definition des „Finanzkapitals“ als „Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen“.[176] Er bezeichnet sie nur als „insofern unvollständig, als ihr der Hinweis auf eines der wichtigsten Momente fehlt, nämlich auf die Zunahme der Konzentration der Produktion und des Kapitals in einem so hohen Grade, dass die Konzentration zum Monopol führt und geführt hat. Doch wird in der ganzen Darstellung Hilferdings überhaupt und insbesondere in den zwei Kapiteln, die demjenigen, dem diese Definition entnommen ist, vorangehen, die Rolle der kapitalistischen Monopole hervorgehoben.“[177] Der Satz, der Hilferdings subjektives Kapitalverständnis in gewisser Hinsicht auf den Punkt bringt, wird von Lenin zustimmend zitiert: „<Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft>, sagt Hilferding mit Recht.“[178]

Die Einleitung der Imperialismusbroschüre fasst die Einschätzung des Hilferdingschen Werks zusammen. Dort schreibt Lenin, dass „der Autor in der Geldtheorie irrt und eine gewisse Neigung zeigt, den Marxismus mit dem Opportunismus zu versöhnen“.[179] Desungeachtet ist sein Gesamturteil über das FINANZKAPITAL von Hochachtung geprägt; für ihn ist „dieses Werk eine höchst wertvolle theoretische <Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus>, wie der Untertitel des Hilferdingschen Buches lautet.“[180] Damit schloss sich der SDAPR-Vorsitzende politökonomisch im wesentlichen der Beurteilung Kautskys an, auch wenn er das Buch des Österreichers nicht zum vierten Band des KAPITAL machte.

 

d) Oelßner: eine bedeutsame Weiterentwicklung

1947 wurde das FINANZKAPITAL vom Dietz-Verlag Berlin neu aufgelegt. Allein diese Tatsache zeigt, welche Wertschätzung die soeben aus dem Zusammenschluss von KPD und SPD hervorgegangene SED dem Werk entgegenbrachte. Das bestätigt sich, wenn man dazu das 30-seitige Vorwort liest, das Fred Oelßner, führender Politökonom und zeitweise Mitglied des Politbüros der SED, zur Neuherausgabe verfasste.

Nach seinem Urteil ist das Buch „nicht frei von theoretischen Fehlern, die es Hilferding unmöglich machten, das ganze Wesen des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus zu verstehen.“[181] Die Fehler sieht Oelßner zum einen in der Geldtheorie, die er unter Berufung auf Kautsky kritisiert. Zum zweiten wirft er Hilferding vor, bei der Herausbildung der Monopole nicht, wie Lenin, die Konzentration der Produktion in den Mittelpunkt zu stellen. Zum dritten grenzt er sich von der Erklärung der Krisen aus Disproportionalität ab und verweist stattdessen auf die Unterkonsumtion der Massen.[182] Schließlich hält er Hilferding entgegen, den Parasitismus des Finanzkapitals nicht zu berücksichtigen und einen ständigen technischen Fortschritt zu unterstellen, anstatt, wie Lenin, die Tendenz zu Stagnation und Fäulnis herauszuarbeiten.

Am Ende kommt Oelßner zu dem gleichen Urteil wie vor ihm Kautsky und, mit Abstrichen, Lenin. Er bewertet DAS FINANZKAPITAL als „eine bedeutsame Weiterentwicklung der marxistischen ökonomischen Theorie“[183] und beschließt sein Vorwort mit der Feststellung, „dass das Buch Rudolf Hilferdings trotz seiner theoretischen Mängel ein … unerlässliches Hilfsmittel zum Verständnis unserer Epoche ist. Man kann die Ökonomie und die sozialen Bewegungen unserer Zeit nicht richtig verstehen, ohne gründlich <Das Finanzkapital> studiert zu haben.“[184]

Wie Kautskys Rezension das theoretische Niveau der II.Internationale vor dem 1.Weltkrieg, so beleuchtet Oelßners Vorwort das politökonomische Niveau der Kommunisten in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Auch wenn die vertretenen Auffassungen nicht ganz miteinander identisch sind, zieht sich hier polit­ökonomisch ein roter Faden von Hilferding und Kautsky über Lenin bis zur SED Fred Oelßners. Mit dessen Vorwort werden schließlich auch die theoretischen Voraussetzungen charakterisiert, auf deren Boden in den 50er und 60er Jahren die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus entwickelt wurde.

 

e) Eine Hilferding-Kritik aus der westdeutschen Linken

Im Zuge der Neuentdeckung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, die in Westdeutschland im Gefolge der Jugend- und Studentenbewegung zu verzeichnen war, kam es in einem Teil der westdeutschen Linken zu einer grundsätzlich-theoretischen Auseinandersetzung mit der Monopol- und der Stamokap-Theorie. Ein Ergebnis dieser Kritikwelle, die ihren Höhepunkt Mitte der 70er Jahre erreichte, war das 1974 erschienene Buch „Monopol und Staat. Zur Marx-Rezeption in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus“.[185] Darin ist u.a. ein Aufsatz von Reinhard Schimkowsky enthalten „Zur Marx-Rezeption bei Hilferding. Die Bestimmungen von Konkurrenz und Monopol im <Finanzkapital>“.

Den methodischen Hauptfehler sieht Schimkowsky darin, dass Hilferding den Unterschied zwischen allgemeiner Theorie und konkret-historischer Analyse übersehen habe. „Das KAPITAL wird als eine historische Darstellung und nicht als Darstellung der allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitals begriffen.“[186] Hilferding – und nach ihm Lenin – habe nicht erfasst, dass Marx die allgemeinen Gesetze der Bewegung des Kapitals entwickelt habe, die nicht auf ein spezifisches historisches Stadium des Kapitalismus zu beschränken seien. Selber spricht Schimkowsky jedoch ebenfalls von der Entwicklung von „Monopolen“ und vom „Konkurrenzkapitalismus“ als einem eigenen Stadium, ohne dass deutlich würde, wie dies gemeint ist.[187]

Inhaltlich stellt er den Ausgleich der Profitraten und das Kreditwesen in den Mittelpunkt seiner Kritik. Das Verhältnis von Kapital und Konkurrenz wird nicht näher betrachtet; es wird nicht erwähnt, dass Hilferding die Konkurrenz nicht als Exekutor immanenter Bewegungsgesetze begreift, sondern die Kapitalbewegung aus der Konkurrenz hervorgehen lässt. Insbesondere wird der subjektive Wert- und Geldbegriff des österreichischen Theoretikers nicht herausgearbeitet, der letztlich den anderen Fehlern zugrundeliegt. Aus diesem Grunde enthält die Kritik zwar richtige Momente, wird aber nicht weit genug vorangetrieben.

 

Nachbemerkung

Die vorgelegte Auseinandersetzung mit Hilferding trägt prinzipiellen Charakter. Sie beschränkt sich darauf, die Hilferdingschen Ausführungen der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie gegenüberzustellen. Mit dieser Elle gemessen ergibt sich, dass die vorgestellte Theorie in allen wichtigen Punkten jenseits von Marx steht. Eine solche Kritik hat jedoch Grenzen. Sie ist abstrakt, letztlich dogmatisch, und damit einseitig, weil nicht erklärt wird, wie die kritisierten Anschauungen entstanden sind und was sich in ihnen widerspiegelt.

Hilferdings Auffassungen von Geld und Kredit, Konkurrenz und Monopol sind nicht vom Himmel gefallen. Sie dürften von der seinerzeitigen bürgerlichen Nationalökonomie bzw. einer ihrer Schulen beeinflusst sein. Diese Querverbindungen wären näher zu betrachten. Außerdem ist das allgemeine theoretische Milieu der II.Internationale und speziell der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie weitergehend zu untersuchen, als dies hier geschieht. Bernsteins und Kautskys Stellungnahmen zum FINANZKAPITAL geben nur Hinweise. Schließlich sind vor allem die realen Verhältnisse der Zeit um die Jahrhundertwende zu berücksichtigen. Sie bilden die objektive Unterlage für die damalige theoretische Diskussion, sei es der Reaktionäre und Bürgerlichen, sei es der Marxisten. In dieser Richtung muss weitergearbeitet werden.

 

[1] Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, EVA, Frankfurt 1974, S.279; künftig zitiert als: Hilferding. Neben der EVA-Ausgabe wird hinter einem Schrägstrich zusätzlich aus der Ausgabe Dietz Verlag, Berlin 1955, zitiert; hier also: Hilferding, S.279/301

[2] Hilferding, S.251/268

[3] ebda, S.246/264

[4] ebda, Anm.2, S.2477 Anm.1, S.264

[5] Karl Marx, Das Kapital Band I;  MEW 23, S.618; s.a. S.286

[6] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie = GR, S.638

[7] MEW 25, S.872 f

[8] Hilferding, S.348/379

[9] ebda, S.360/393

[10] MEW 25, S.889

[11] ebda, S.879

[12] MEW 26/2, S.23

[13] MEW 25, S.47

[14] vgl.  MEW 23, S.336 ff

[15] MEW 26/2, S.204

[16] ebda, S.205

[17] MEW 25, S.769

[18] Hilferding, S.354/386

[19] ebda, S.354f/386f

[20] MEW 25, S.200

[21] ebda, S.205

[22] vgl. ebda. S. 187 ff

[23] vgl. ebda, S.219

[24] ebda, S.201

[25] Hilferding, S.349/380

[26] ebda, S.348/379

[27] ebda, S.355/387

[28] ebda, S.360/393

[29] ebda, S.332/362

[30] MEW 25, S.291

[31] ebda, S.355

[32] vgl. MEW 26/2, S.513

[33] Hilferding, S.332/362; Hervorhebung durch mich; d.V.

[34] ebda, S.354/385

[35] ebda, S.360/393

[36] MEW 26/2, S.521

[37] vgl. ebda, S.522

[38] vgl. ebda, S.528-535

[39] Hilferding, S.333/362

[40] ebda, S.347/378

[41] vgl. ebda, S. 355/387

[42] vgl. MEW 24, S.159

[43] vgl. ebda, S.165

[44] ebda. S.167

[45] vgl. ebda, S.226

[46] Hilferding, S.355/387

[47] MEW 25, S.218

[48] ebda, S.128

[49] ebda, S.219

[50] Hilferding, S.355/387

[51] ebda, S.356/388

[52] ebda

[53] ebda, S.254/272

[54] ebda, S.253/271

[55] ebda. S.254/273

[56] ebda, S.260/279

[57] ebda

[58] ebda, S.254/272

[59] ebda, S.255/273

[60] ebda, S.256/274

[61] vgl. ebda, S.255/273f

[62] ebda, S.267/286

[63] ebda

[64] ebda, S.316/342

[65] ebda, S.253/271; Hervorhebung durch mich; d.V.

[66] ebda. S.260/279

[67] MEW 25, S.206

[68] ebda

[69] ebda, S.190

[70] Hilferding, S.356/388

[71] ebda, S.273/294

[72] ebda, S.314/341

[73] ebda, S.401f/439; Hervorhebung durch mich;  d.V.

[74] ebda, S.266/286, Anm.1

[75] vgl. ebda, S.269/289

[76] ebda, S.269f/289 f

[77] ebda, S.391/427

[78] ebda, S.270/290

[79] ebda

[80]  ebda, S.270 f/290 f

[81] vgl. ebda, S.272/292 Anm.

[82] ebda, S.400/437

[83] ebda, S.401/439

[84] ebda, S.402/440

[85] ebda, S.403/441

[86] ebda

[87] ebda, S.404/442

[88] ebda, S.402/439

[89] ebda, S.404/442

[90] ebda

[91] ebda, S.321/349

[92] MEW 25, S.869

[93] Hilferding, S.321 f/349

[94] ebda, S.313/339 f

[95] ebda. S.287/310

[96] vgl. MEW 25, S.292-313 (17.Kap.: Der kommerzielle Profit)

[97] ebda, S.350

[98] ebda, S.386

[99] ebda. S.387 f

[100] Hilferding, S.288 f/311  f; Hervorhebung durch mich;  d.V.

[101] MEW 25, S.286 f

[102] Hilferding, S.292/316

[103] vgl. MEW 25, S.322; MEW 26/2, S.484

[104] vgl. MEW 24, S.114

[105] vgl. Hilferding, S.295-298/319-322

[106] ebda, S.242/257

[107] ebda, S.306/332

[108] ebda, S.243/258

[109]  ebda, S.309/336

[110] ebda, S.310/337

[111] vgl. MEW 25, S.373  f, 637

[112] Hilferding, S.133/133

[113] ebda, S.309/335

[114] ebda, S.131f/131

[115] vgl. die Tabelle ebda, S.133/132 Anm

[116] MEW 25, S.519

[117] ebda, S.369

[118] ebda

[119] ebda, S.454

[120] Hilferding, S.257/275

[121] MEW 25, S.372

[122] ebda, S.373

[123] Hilferding, S.123/121

[124] ebda, S.309/335

[125] MEW 25, S.364

[126] Hilferding, S.309/336

[127] ebda, S.406/445

[128] ebda, S.322/350

[129] ebda, S.322/349 f

[130] ebda, S.322/350

[131] ebda, S.322/349

[132] ebda, S.323/350

[133] ebda, S.322/349 f

[134] ebda. S.402 f/440

[135] ebda, S.507/562

[136] MEW 25, S.825

[137] Arbeitsgemeinschaft der Klassen?, 1915, Raubdruck o.O., o.J.; zitiert nach: Monopol und Staat, hrsg. von R. Ebbighausen, Frankfurt 1974, S.280

[138] Hilferding auf dem Heidelberger Parteitag der SPD 1925; Protokoll, Dietz-Nachf. Berlin-Bonn-Godesberg 1974, S.278

[139] Hilferding auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927; Protokoll, Berlin 1927, S.166

[140] ebda, S.168

[141] vgl. Heidelberger Parteitag, Protokoll, aaO, S.279

[142] vgl. hierzu Wilfried Gottschalch, Strukturveränderungen der Gesellschaft und politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding, Berlin(West) 1962; Cora Stephan, Geld- und Staatstheorie in Hilferdings Finanzkapital, 1974

[143] Kieler Parteitag, Protokoll, aaO, S.168

[144] vgl. ebda, S.172 f

[145] ebda, S.171

[146] ebda, S.169, 170

[147] Hilferding, Probleme der Zeit, in: DIE GESELLSCHAFT, l. Jg 1924, S.3

[148] vgl. hierzu u.a. Franz Ritter, Theorie und Praxis des demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Campus  1981

[149] ebda, S.115

[150] die folgenden biographischen Angaben stützen sich auf:  Alexander Stein, Rudolf Hilferding und die deutsche Arbeiterbewegung, Hannover 1946; Cora Stephan (Hg), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis. Schriften Rudolf Hilferdings 1904-1940

[151] zur USPD vgl.  Hartfrid Krause, USPD.  Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt-Köln 1975

[152] Hilferding, S.401/438

[153] Eduard Bernstein, Das Finanzkapital und die Handelspolitik, in: Sozialistische Monatshefte, 1911, 2. Band, S.947-955

[154] ebda, S.951 f

[155] ebda, S.953

[156] ebda, S.950 f

[157] vgl. dazu Bo Gustavsson, Marxismus und Revisionismus. Eduard Bernsteins Kritik des Marxismus und ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen (Zwei Teile), Frankfurt 1972

[158] Bernstein, aaO, S.953

[159] ebda, S.955

[160] K. Kautsky, Finanzkapital und Krisen, in: Neue Zeit, Jg 1910-11, I. Band, S.764-772, 797-804, 838-846, 874-883

[161] ebda, S.765

[162] ebda, S.770, 767

[163] vgl. ebda, S.772

[164] R. Hilferding, Geld und Ware, in: NEUE ZEIT, Jg.1911-12,  l. Bd, S.773-782

[165] K. Kautsky, Gold, Papier und Ware, in: Neue Zeit, Jg. 1911-12, I. Band, S.837-847, 886-893

[166] K. Kautsky, Finanzkapital und Krisen, aaO, S.766

[167] vgl. hierzu Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Zugleich eine Krisentheorie, Leipzig 1929, S.192 ff; H.Karuscheit, über die Aufnahme des KAPITALS in der Arbeiterbewegung, in: AzD 28, S.5 ff

[168] K. Kautsky, Finanzkapital und Krisen, aaO, S.772

[169] ebda, S.765

[170] ebda, S.766

[171] Lenin Werke (LW) Band 39, S.330-336

[172] ebda, S.331; vgl. S.766

[173] ebda, S.186

[174] ebda, S.225

[175] ebda, S.629

[176] LW 22, S.230

[177] ebda

[178] ebda, S.267

[179] ebda, S.199

[180] ebda

[181] Fred Oelßner, Vorwort zur Neuherausgabe, in: Hilferding (Dietz-Verlag 1955), aaO, S.XVIII

[182] ebda, S.XXVIII ff

[183] ebda, S.VI

[184] ebda, S.XXXV

[185] Rolf Ebbighausen (Hrsg), Monopol und Staat, Frankfurt 1974

[186] R. Schimkowsky, in: ebda, S.210

[187] vgl. ebda, S.208 f