Empfehlung Jannis Milios: „Eine zufällige Begegnung in Venedig – Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem“

Martin Schlegel

Vorbemerkungen

Jannis Milios hat ein meiner Meinung nach ein sehr interessantes und erhellendes Buch geschrieben, das 2018 auf Englisch und im vorigen Jahr auf Deutsch im Karl Dietz Verlag Berlin erschienen ist. Sein Ziel ist es, zu analysieren, wie kapitalistische Gesellschaften entstanden sind. Im ersten Teil des Buches beschäftigt sich Milios mit den Aussagen von Marx und den nachfolgenden Diskussionen zur Entstehung des Kapitalismus. Im zweiten Teil des Buchs belegt er seine Ansichten anhand konkreter Untersuchungen zur Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsform in Venedig. Diese Untersuchungen sind eine erfreuliche Ausnahme unter vielen scheinbar marxistischen Debatten, in denen Ansichten ohne historische Belege geäußert werden.

Zum Autor: Jannis Milios ist einer der führenden marxistischen Ökonomen Griechenlands und Professor an der Nationalen Technischen Universität in Athen. Er wurde zu einem wichtigen Wirtschaftspolitiker der Partei SYRIZA, die von 2004 bis 2012 mit einem Wahlbündnis in Griechenland regierte und ab 2015 als alleinige Regierungspartei. Jannis Milios galt als kommender Finanzminister, Ministerpräsident Alexis Tsipras berief jedoch Yanis Varoufakis zum Finanzminister. Inzwischen ist Jannis Milios zum Kritiker der SYRIZA geworden.1

Meine Buchbesprechung ist keine Rezension im üblichen Sinn. Da ich die Aussagen von Milios weitgehend teile, versuche ich eine komprimierte Darstellung seiner Gedankengänge wiederzugeben, um damit zum Lesen des Buchs anzuregen.

Charakteristika des Kapitalismus

Im ersten Kapitel charakterisiert Milios den Kapitalismus mit Marx folgendermaßen: „In seinem Hauptwerk >>Das Kapital<< nennt er sechs grundlegende Eigenschaften des Kapitalismus, die ihn durch ihr spezifisches Zusammenspiel von allen anderen Gesellschaftssystemen unterscheiden: (a) die Verallgemeinerung der Lohnarbeit; (b) die Monetarisierung der gesamten Wirtschaft (geldvermehrendes Geld); (c) die Konzentration der Produktionsmittel und die Loslösung der Kapitalisten vom Arbeitsprozess als solchen; (d) freier Wettbewerb und die Verschmelzung einzelner Kapitalvermögen zu einem gesellschaftlichen Gesamtkapital; (e) die finanzielle Existenzform des Kapitals und (f) die Herausbildung rechtlicher, politischer und ideologischer Strukturen und einer entsprechenden Staatsform“2

Das erste und elementare Kennzeichen des Kapitalismus ist das Lohnarbeitsverhältnis. Der Arbeiter kann nur produzieren, wenn er sich dem Kommando des Kapitalisten unterwirft, somit zu einer Ware geworden ist. Zur Rolle des Staats schreibt er: „Die politische und ideologische Macht des kapitalistischen Staats muss als den objektiven (politischen) Interessen der kapitalistischen Klasse entsprechend verstanden werden. In diesem Rahmen spielt der Staat eine zentrale organisatorische Rolle, weil er die langfristigen politischen Interessen der bürgerlichen Klasse vertritt und organisiert sowie ihre verschiedenen Fraktionen politisch eint, die allesamt – wenn auch ungleiche – Positionen auf dem Gebiet der politischen Herrschaft über die ausgebeuteten Klassen der Gesellschaft einnehmen.“3

Milios Haltung zu dem Hauptwerk von Marx ist folgende: „>>Das Kapital<< ist mehr als ein Buch. Im Grunde genommen ist es ein umfassendes Forschungsvorhaben, das Marx angefangen, aber selbst nicht abschließen konnte, ein Projekt, das im Prinzip andauert.“4

Die unterschiedlichen Theorien von Marx zur Entstehung des Kapitalismus

Mit Bezug auf sein Hauptthema, die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft, stellt der Autor fest, dass Marx zur Ursache der Ablösung einer Gesellschaftsordnung durch eine neue Gesellschaftsordnung unterschiedliche Antworten gegeben hat: „Nach seinem ersten Erklärungsansatz, der sich auch in der Einleitung >>Zur Kritik der politischen Ökonomie<< findet, gerät die >>Entwicklung der Produktivkräfte<< in Konflikt >>mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen<<, die sich in ihre Fesseln verwandeln. Die Situation führe unweigerlich zu einem >>revolutionären Wandel<< der Produktionsverhältnisse.“5 Dieser Ansatz wird auch als Theorie oder Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bezeichnet.

Im Unterschied dazu entwickelt Marx im ‚Kapital‘ die Theorie von der ‚ursprünglichen Akkumulation‘. „Demnach ist die Geburtsstunde des Kapitals der Moment des >>Gegenüber- und In-Kontakt-Tretens <<zweier gesellschaftlicher Gestalten, die bereits vor dem Kapitalismus existierten: des Geldbesitzers und des eigentumslosen Proletariers. Erst durch die Verbindung dieser beiden Gestalten entstand das Kapitalverhältnis.“ Marx schreibt im ersten Band des Kapitals: „Zweierlei sehr verschiedne Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber und in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten; andrerseits freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, dass weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören […]“6

Der Ansatz aus den Grundrissen räumt der Entwicklung der Produktivkräfte die führende Rolle ein, sie sind die treibende Kraft der Geschichte: „Das macht den Klassenkampf zu einer bloßen >>Widerspiegelung<< der Entwicklung der Produktivkräfte und Technik […].“7 Milios betont, dass die Theorie der Führungsrolle der Produktivkräfte bei der gesellschaftlichen Entwicklung auch eng mit der Frage zusammenhängt, ob und wie es möglich ist, in einem industriell rückständigen Land das kapitalistische System zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen. Dass das möglich ist, haben die russische und chinesische Revolution gezeigt.

Diese Auffassung beinhaltet eine Vorstellung von der Determiniertheit der Geschichte durch Entwicklungen, die weitgehend unabhängig vom Handeln der Klassen stattfinden, so etwa durch technologische Entwicklungen. Insbesondere werden dadurch auch Vorstellungen genährt, dass der Sozialismus quasi im Selbstlauf aufgrund der sich im Kapitalismus zuspitzenden Widersprüche kommen müsse. Derartige Vorstellungen hat es in der kommunistischen Bewegung in unterschiedlichen Ausprägungen immer wieder gegeben. Dieser Ansatz lässt sich auch bei der Entstehung des Kapitalismus nicht belegen. Es gab im Feudalismus keine Produktivkräfte, die die Überwindung des Feudalismus zum Kapitalismus erzwangen.

Die Theorie der Produktivkräfte ist nach Milios „[…] kaum kompatibel mit Marx‘ zentraler These vom >>Klassenkampf als der unmittelbaren Triebfeder der Geschichte<<.“8 Diese Aussage von Marx besagt, dass das Handeln der jeweiligen Hauptklassen den Gang der Geschichte bestimmen. Anders gesagt: Nur der erfolgreiche Kampf der unterdrückten Klassen kann die bisher herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend umgestalten. Demgegenüber beinhaltet die Theorie der Produktivkräfte, dass die Fesselung der Produktivkräfte zu einem revolutionären Wandel der Produktionsverhältnisse führt.

Als Beispiel für Vertreter der zwei unterschiedlichen Erklärungsansätze von Marx fuhrt Milios Aussagen von Stalin und Mao Tse-Tung an. Nach Milios Ansicht vertritt Stalin meist die Position der Rolle des Vorrangs der Produktivkräfte für die Umwandlung der Produktionsverhältnisse: „Stalin hat es selbst so formuliert: >>Zuerst verändern und entwickeln sich die Produktivkräfte der Gesellschaft und dann, in Abhängigkeit von diesen Veränderungen und in Übereinstimmung mit ihnen, verändern sich die Produktionsverhältnisse der Menschen, ihre ökonomischen Beziehungen<<.“9 Milios beschreibt Maos gegensätzliche Position so: „Mao Tse-Tung und Theoretiker der Kommunistischen Partei Chinas haben in den 1960er-Jahren als Erste eine politisch einflussreiche Kritik an diesem Ansatz geübt. In einem in den Jahren 1961/1962 entstandenem Text kehrt Mao die Kausalkette zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen um. Mao schreibt: >>Zunächst muss man die Produktionsverhältnisse ändern, danach erst ergibt sich die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Produktivkräfte in großem Ausmaß zu ändern. […] <<“10 Es lassen sich bei Stalin wie bei Mao Äußerungen finden, die nicht so eindeutig wie die zitierten sind. Aber die Gegenüberstellung von Milios macht deutlich, dass die verschiedenen Erklärungsansätze von Marx zu sehr gegensätzlichen Auffassungen führen.

Gemäß der Theorie der ursprünglichen Akkumulation sind die Kapitalbildung und die Herausbildung des freien Lohnarbeiters zwei unterschiedliche, nicht notwendig gekoppelte geschichtliche Prozesse, die zeitlich und räumlich zusammentreffen müssen, um den Keim zur Entwicklung einer kapitalistischen Gesellschaft zu legen. Auch die Dauerhaftigkeit kapitalistischer Verhältnisse hängt von den historischen Umständen ab. Besonderes Gewicht legt Milios darauf, die Gruppe der Geldbesitzer zu bestimmen. Er zitiert dazu aus Marx‘ Grundrissen: „Die Kapitalbildung geht daher nicht aus vom Grundeigentum […], sondern vom Kaufmanns- und Wuchervermögen.“11

Lenin und Kautsky zum Frühkapitalismus und zur Agrarfrage

Vor der Vertiefung der Diskussion über die ursprüngliche Akkumulation geht Milios auf die Klassenverhältnisse im vorrevolutionären Russland ein. Dabei wird die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse aus der Unterwerfung kleiner Warenproduzenten unter das Handelskapital deutlich.

Lenin analysierte die Entwicklungsstufe der russischen Gesellschaft folgendermaßen: „Russland ist ein kapitalistisches Land. Andererseits […] ist Russland, verglichen mit anderen kapitalistischen Ländern noch sehr zurückgeblieben.“12 Lenins Argument ist, dass sich die vorkapitalistischen Ausbeutungsformen und ihre sie beherrschenden Klassen in Auflösung befanden. Dieser Zerfall bereitet die wachsende Vorherrschaft kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in Russland vor. Diese Entwicklung fand zunächst weniger durch den Aufbau von Großbetrieben statt, als durch die Unterwerfung der warenproduzierenden Bauern und Handwerker unter die Kaufleute, das Handelskapital. Das geschah dadurch, dass diese Kaufleute zunehmend Art, Menge und Preise der Waren der von ihnen abhängigen Produzenten bestimmten, wodurch die Warenproduzenten und ihre Produktionsmittel zunehmend von den Aufkäufern beherrscht wurden. Lenin schreibt dazu: “Die Arbeit für den Aufkäufer ist somit eine rückständige Form des Kapitalismus. […]“13 Seine Vorstellungen zum Entwicklungsstand des russischen Kapitalismus entwickelte Lenin insbesondere in Auseinandersetzung mit der Strömung der Narodniki, die die Großindustrie als einzig mögliche Form des Kapitalismus betrachteten und für Russland eine vom Volk getragene nicht-kapitalistische Entwicklung für möglich hielten.

Milios fasst die Auffassungen Lenins folgendermaßen zusammen: “Eine Gesellschaft ist nicht dann kapitalistisch, wenn die Mehrheit der Bevölkerung aus Lohnarbeitern und Werktätigen besteht, die formell dem Kapital untergeordnet sind, sondern sie ist dann kapitalistisch, wenn die dominierende Fraktion ihrer herrschenden Klassen kapitalistisch ist, das heißt die Grundform der Mehrarbeit die Form des Mehrwerts annimmt.“14

Milios stellt fest, dass Lenin in seinen Analysen nicht immer die besondere Rolle der Agrarwirtschaft in frühkapitalistischen Gesellschaften verstand. Die Rolle der Agrarwirtschaft in kapitalistischen Gesellschaften behandelt Milios mithilfe der Aussagen von Karl Kautskys Buch ‚Die Agrarfrage‘. Er stellt die Hauptaussage des Buchs so dar: “In diesem Buch stellt Kautsky die These auf, in kapitalistischen Gesellschaften sei die Agrarwirtschaft trotz der eindeutigen Produktivitätsvorteile großer Unternehmen in der Regel durch den Erhalt kleiner und mittlerer Unternehmen gekennzeichnet. Was solche kleineren nicht-kapitalistischen, aber marktorientierte Betriebe überlebensfähig mache, sei ihre Fähigkeit, die Preise ihrer Produkte zu senken, indem sie die absolute Rente und ihre Gewinne niedrighalten. Dies stehe Konzentrationsprozessen wie in der Industrie und der Dominanz des >>großen Agrarkapitals<< im Wege.“15 Ein Nebeneffekt der Selbstausbeutung der Bauern war, dass die Reallöhne der Arbeiter wegen niedriger Lebensmittelpreise niedrig gehalten werden konnten. Nach Milios übernahm Lenin die Positionen Kautskys weitgehend. Selbstausbeutung gab es nicht nur bei den kleinen Bauern, sondern auch bei anderen kleinen Warenproduzenten. Die Untersuchungen Kautskys zum Beharrungsvermögen agrarischer Kleinbetriebe widersprechen Anschauungen, die die Entwicklung zum Kapitalismus in der zunehmenden Vorherrschaft kapitalistischer Prinzipien auf dem Land sehen.

In Kontakt-Treten, die Bedeutung historischer Konstellationen

Im folgenden Kapitel geht Milios auf die Ansichten der Vertreter der ‚Weltsystemtheorie‘ zur Entstehung des Kapitalismus ein. Die Diskussionen sind interessant und wichtig, würden hier aber zu weit führen.

Zwei Themen aus dem Kapitel über die marxistischen Erklärungsansätze zum Übergang des Feudalismus zum Kapitalismus sind für die Vertiefung der Argumentation des Autors zur ursprünglichen Akkumulation wichtig. Es geht dabei zum ersten um das Thema des „Gegenüber- und in Kontakt-Tretens“ und zum zweiten um die Rolle des Kaufmannskapitals bei der Entstehung des Kapitalismus. Zum ersten Thema bezieht sich Milios auf die Autoren Balibar, Deleuze/Guattari und Althusser. Er fasst deren Ansichten folgendermaßen zusammen: „Der Kapitalismus entstand zum einen durch die Begegnung des Geldbesitzers mit dem >>Proletarier, der von allem befreit ist außer seiner Arbeitskraft<< (das sind schon zwei Elemente die ihrer Begegnung vorausgingen). Zum anderen war er das Resultat eines bestimmten historischen Ereignisses, das es ermöglicht hatte, dass diese Begegnung überhaupt stattfinden und >>greifen<< konnte. Die Begegnung war aleatorisch, das heißt nicht >>vorherbestimmt<< (sie hätte womöglich auch gar nicht stattfinden können) oder es war nicht absehbar, dass sie tatsächlich >>greifen<< würde (sie hätte sich auch als vorübergehend und kurzlebig erweisen können).“16 Von Althusser zitiert er die Aussage: „Wir können sogar einen Schritt weitergehen und vermuten, dass sich diese Begegnung in der Geschichte bereits mehrmals ereignet hatte, bevor sie im Westen stattfand, aber dass sie aufgrund eines fehlenden Moments nicht >>greifen<< konnte.“17 Es sind also zwei voneinander unabhängige Entwicklungen, die in einer bestimmten historischen Konstellation zu einer kapitalistischen Entwicklung führen. Diese muss überdurchschnittlich profitabel, sein, um die gesellschaftlichen Beharrungskräfte zu überwinden und die Gesellschaft dauerhaft umzuwandeln. Dazu muss es dem Kapital gelingen, die Anzahl der freien Proletarier zu vergrößern, wobei der Staat eine wichtige Rolle spielen kann. Wie das in Venedig geschah, beschreibt Milios im zweiten Teil des Buchs.

Die unterschiedlichen Theorien von Marx zum Kaufmannskapital

In der Diskussion über die Rolle des Kaufmannskapitals bei der Herausbildung des Kapitalismus beschäftigt sich Milios auch mit der unter Marxisten vieldiskutierten Frage, ob das Kaufmannskapital generell unproduktiv ist oder nicht. Er beginnt damit: “Marx hat in Band II des >>Kapitals<< ausführlich dargelegt, wie der allgemeine Kreislauf des Kapitals das Zusammentreffen dreier Momente oder einzelner Zirkulationsformen beinhaltet: die Zirkulation des Geldkapitals, die des produktiven Kapitals und die des Warenkapitals.“18 Er zitiert dann Marx: „Betrachten wir nun die Gesamtbewegung G-W… P … W‘-G‘, […] Das Kapital erscheint uns hier als ein Wert, der eine Reihenfolge zusammenhängender, durch einander bedingter Verwandlungen durchläuft […] Zwei dieser Phasen gehören der Zirkulationssphäre an, eine der Produktionssphäre. […] Dieser Gesamtprozess ist daher ein Kreislaufprozess […] Das Kapital, welches im Verlauf seines Gesamtkreislaufs diese Formen annimmt […] ist industrielles Kapital – industriell hier in dem Sinn, dass es jeden kapitalistisch betriebenen Produktionszweig umfasst. […] Geldkapital, Warenkapital, produktives Kapital bezeichnen hier also nicht selbständige Kapitalsorten, deren Funktionen den Inhalt gleichfalls selbständiger und voneinander getrennter Geschäftszweige bilden. Sie bezeichnen hier nur besondre Funktionsformen des industriellen Kapitals, das sie alle drei nacheinander annimmt.“19 und folgert daraus, dass für Marx in der kapitalistischen Gesellschaft jede Form von Kapital, das am Gesamtumschlag des Kapitals beteiligt ist, industrielles Kapital ist.

Milios stellt aber auch fest: „Marx Analyse der produktiven Arbeit und des Kapitalkreislaufs steht allerdings neben einem weiteren Diskussionsstrang in seinen Spätschriften, insbesondere in Band III des >>Kapitals<<. Diesem zweiten Strang zufolge gibt es nicht-produktives Kapital: Handel- und Finanzkapital. Beide nutzen fremde Arbeitskraft, erzeugen aber keinen Mehrwert, da sie >>ganz in den Zirkulationsprozess gebannt [sind], ohne durch das Intervall des Produktionsprozesses, der außerhalb seiner eignen Funktion und Bewegung liegt, unterbrochen zu werden<<.“20

Milios vertritt die erstgenannte Aussage von Marx aus Band II des ‚Kapitals‘, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft jedes Kapital, das sich Mehrwert aneignet, unabhängig von der Sphäre in der es beheimatet ist, produktives Kapital ist, sofern es der Gesamtreproduktion dient. Die Anhänger des späteren Gedankengangs Marx‘ aus Band III des ‚Kapitals‘, die Finanz- und Handelskapital generell für unproduktiv halten, haben die Schwierigkeit, zu erklären, warum in einigen Bereichen dieser Sphären trotzdem ein zusätzlicher Gebrauchswert für die Waren entsteht, wie auch Marx beschreibt.

Bezüglich der Einordnung der Funktion von Teilen des Geldkapitals heute, sieht für mich die Situation anders aus. Die Frage ist, in welchem Umfang das Geldkapital heute noch dem Umschlag des Gesamtkapitals dient und damit als produktiv bezeichnet werden kann. Es gab auch in der Vergangenheit spekulatives Kapital, sein Umfang ist heute jedoch erheblich größer und übertrifft deutlich den Geldumfang, der für den Warenumschlag notwendig ist um ein Vielfaches. Inwieweit sich dadurch die Beurteilung der Rolle von Teilen des Geldkapitals ändern muss, ist eine eigene Diskussion.

Auf den Inhalt des nächsten Kapitels ‚Nichtmarxistische Sichtweisen auf die Ursprünge des Kapitalismus‘ gehe ich nicht ein. Erwähnen möchte ich jedoch aus dem Kapitel die Feststellung von Milios, dass die nicht-marxistischen Historiker stärker als die marxistischen die Bedeutung des Wucher- und Handelskapitals für die Entstehung des Kapitalismus erkennen. Die meisten von ihnen begreifen jedoch das Kapital nicht als ein auf der Ausbeutung von Lohnarbeit gegründetes Klassenverhältnis. Daher verorten einige dieser Autoren die Entwicklung zum Kapitalismus bereits in der Antike.

Charakteristika vorkapitalistischer Gesellschaften

Zur Vorbereitung der Darstellung der frühkapitalistischen Entwicklung in Venedig behandelt Milios die Produktionsweisen und die Rolle des Geldbesitzes in vorkapitalistischen Gesellschaften. Er beginnt mit Begriffsdefinitionen, die seinen weiteren Ausführungen dienen. Unter der Nutzung von Produktionsmitteln versteht er ihre Anwendung, also die Gruppe der unmittelbaren Produzenten. Unter dem Besitz der Produktionsmittel versteht er die Macht, sie in Bewegung zu setzen und den Produktionsprozess zu steuern. Unter dem Eigentum an Produktionsmitteln versteht er die Macht, sich den erzeugten Mehrwert anzueignen. “Ökonomisch betrachtet ist jede Produktionsweise durch eine besondere Kombination dieser drei grundlegenden Verhältnisse gekennzeichnet. Die jeweilige Kombination bildet die ökonomische Grundlage der Produktionsweise und entscheidet darüber, welche dieser drei Komponenten (die ökonomische, die juristisch-politische oder die ideologische) bestimmend ist.“21 Im Kapitalismus fallen Besitz und Eigentum zusammen, in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformen nicht. In diesen waren die Produktionsmittel meist in den Händen der Produzenten, weshalb es außerökonomischen Zwang erforderte, sich den Mehrwert anzueignen. Weil Besitz und Eigentum im Prinzip im Kapitalismus zusammenfallen ist ein derartiger Zwang in der Regel in dem entwickelten Stadium des Kapitalismus nicht mehr notwendig. Charakteristisch für die vorkapitalistischen Gesellschaften ist nach Milios: „Die herrschende Klasse besitzt nicht die Produktionsmittel. Diese befinden sich – zusammen mit dem Nutzungsverhältnis – in den Händen der beherrschten Klassen.“22 Ich weiß nicht, welche Begriffe Milios in seinem englischen Originalmanuskript verwendet hat. Im Deutschen sind die Begriffe Besitz und Eigentum weitgehend gleichbedeutend. Meiner Meinung nach, wäre es besser, seinen Begriff ‚Besitz‘ im Deutschen durch Management, Leitung oder Verantwortung zu ersetzen, denn das ist das, was er meint.

Milios handelt seine These anhand des Feudalismus, der asiatischen Produktionsweise und der klassischen griechischen Sklavenhaltergesellschaft ab. Im Feudalismus befand sich der Boden im Besitz der Feudalherren, die Produktionsmittel aber nicht. Der Mehrwert wurde durch Fronarbeit und Abgaben angeeignet, dazu waren außerökonomische Zwänge notwendig.

Bei der asiatischen Produktionsweise war der Boden Staatseigentum, es gab auch keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln. Der Mehrwert wurde durch den Staat mithilfe von lokalen Beamten aufgrund der Tributpflicht hauptsächlich in Form von Geld angeeignet. Es wird durch die Dörfer und Städte eingezogen, in denen die Produzenten organisiert sind, und die gleichzeitig auch den Zugang zu den Produktionsmitteln regeln. Es hing von der Stärke der Zentralmacht ab, wie gut die Mehrwertabschöpfung gelang.

In der griechischen Antike und im römischen Reich beruhte nach Milios die politische Herrschaft auf einer besonderen Form der Sklavenarbeit. In der klassischen, von Marx als patriarchal bezeichneten Sklaverei hielt sich der Sklavenbesitzer vollständig aus dem Produktionsprozess heraus, indem er ihn einer Sonderkategorie von Sklaven als Aufseher überließ. Diese waren also die Besitzer bzw. Leiter des Produktionsprozesses. Der Eigentümer der Produktionsmittel schöpfte den Mehrwert vornehmlich als Sacheinkünfte aus dem Grundbesitz ab.23 Wie in der asiatischen Produktionsweise und im Feudalismus gab es also eine Trennung von Eigentum und Besitz von Produktionsmitteln, wenn auch in unterschiedlicher Form. Neben der patriarchalen Sklavenarbeit gab es auch Sklavenarbeit in der Warenproduktion und im Handel. Diese Sklavenbesitzer waren jedoch keine Bürger und konnten es auch nicht werden. Sie waren nicht in der Lage, die herrschende Klasse der Grundbesitzer zu entmachten.

Vorkapitalistische geldvermehrende Produktionsweisen

In jeder Gesellschaft gibt es eine dominierende Produktionsweise. Daneben existierten aber immer auch andere Produktionsformen. „In den Gesellschaften der Antike wie auch in anderen Gesellschaften, die auf unfreier Arbeit aufbau(t)en, existierte jedoch eine eigenständige ausbeuterische Produktionsweise, die auf Sklaverei beruhte und durch die Konzentration sowohl der Eigentums- als auch der Besitzverhältnisse in den Händen der Sklavenhalter gekennzeichnet ist. Charakteristisch für diese Produktionsweise ist die Anwesenheit des Sklavenbesitzers im Produktionsprozess, einer auf den Markt ausgerichteten Produktion, bei der sich der Surplus in Geldform angeeignet wird. Ich nenne diese nicht-dominante vorkapitalistische Produktionsweise auf Sklaverei beruhende geldvermehrende Produktionsweise.“24 Typisches Beispiel dafür ist der Fernhandel der patriarchalen Sklaverei. Es wurden von Sklaven produzierte Waren mithilfe von Sklaven an andere Orte transportiert und mit Gewinn verkauft.

Neben dieser Form der vorkapitalistischen Geldvermehrung gab es noch die Geldverleiher, die an Grundeigentümer, Bauern und Handwerker Geld verliehen. Vor allem durch Wucher entstanden große Geldkapitale. Dass diese beiden Typen von Geldbesitzern zunächst nicht immer eine kapitalistische Produktionsform entwickeln konnten, lag daran, dass kein freies Proletariat vorhanden war. Milios zitiert Marx:“ Wie weit aber dieser Prozess die alte Produktionsweise aufhebt, wie dies im modernen Europa der Fall war, und ob er an ihrer Stelle die kapitalistische Produktionsweise setzt, hängt ganz von der historischen Entwicklungsstufe und den damit gegebenen Umständen ab.“25 Auf Sklaverei beruhende Produktionsformen verschwanden nicht mit dem Untergang der klassischen patriarchalen Sklavenhaltergesellschaft. Sie bestanden vor allem in den italienischen Städten und den Kolonien noch eine lange Zeit weiter. Die Beschaffung von Sklaven war auch ein wichtiges Motiv für die Kreuzzüge des Mittelalters.26

Die Vertreter der These von einer Existenz kapitalistischer Produktion bereits in der Antike setzen fälschlicherweise Warenproduktion mit Kapitalismus und die auf Sklavenarbeit beruhende geldvermehrende Produktion mit der auf Lohnarbeit basierenden kapitalistischen Produktionsweise gleich. Ein weiterer Irrtum ist die Annahme, diese Art der Produktion habe in den antiken Gesellschaften eine Dominanz erlangt. Dennoch gibt es zwischen diesen beiden Formen auch Ähnlichkeiten: „[…] marktorientierte Tätigkeiten, die auf einen monetären Gewinn als Selbstzweck abzielen, >>ihr Geld schrankenlos zu vermehren<< (Aristoteles).“27 So konnte die auf Sklavenarbeit basierende geldvermehrende Produktionswese durchaus als Unterstützung und Wegbereiter der kapitalistischen Produktionsweise dienen und mit ihr koexistieren.

Milios stellt fest, dass dem Zwang der vorkapitalistischen Gesellschaft nicht eine freiere kapitalistische Gesellschaft folgte: „Kapitalismus ist nicht das Reich der Freiheit. Es ist ein gesellschaftliches System, in dem der direkte Zwang, der die ökonomische Ausbeutung der Beherrschten durch die herrschende Klasse sicherstellt, Teil der ökonomischen Beziehung selbst geworden ist. >>Freiheit<< ist dann nichts als die Erscheinungsform eines historisch-spezifischen (kapitalistischen!) Systems der Klassenherrschaft und -ausbeutung.“28 In der Anfangszeit des Kapitalismus wurden der Sklavenhaltergesellschaft vergleichbare Zwangsmethoden zur Erzeugung und Erweiterung des Proletariats angewendet. Sie ließen in dem Umfang nach, wie es zur Existenzerhaltung keine Alternative zur Lohnarbeit gab und damit die Lohnarbeit zur sozialen Normalität wurde.

Bevor Milios anhand der Entwicklung Venedigs auf die Entstehung kapitalistischer Produktionsformen konkret eingeht, beschreibt er die Fortentwicklung der geldvermehrenden Produktionsweisen. Sie entwickelten sich zu ökonomischen Partnerschaften von Geldbesitzern und Arbeitskraftbesitzern. Den Grund für solche Partnerschaften erläutert Milios an einem Bereich, in dem sie weit verbreitet waren, den Handelsreisen. Handelsreisen dauerten lang und noch länger brauchte es, bis die Handelsunternehmer das eingesetzte Kapital und die Erlöse erhielten, darüber hinaus drohte der Verlust von Schiffen. Es ist offensichtlich, dass die Handelsreisen in vielerlei Hinsicht eine Vorfinanzierung von mehreren Partnern brauchten. Die Partner für derartige Unternehmen waren auf der einen Seite die Geldbesitzer und auf der anderen Seite die Handelsunternehmer, die die Arbeitskräfte stellten. Sie können sich per Kontrakt die Vorfinanzierung und die Risiken auf unterschiedliche Weise teilen. Die Vorfinanzierung erforderte ein allgemein anerkanntes Geldsystem, das heißt, eine Monetarisierung der Gesellschaft. Darüber hinaus war es notwendig, rechtlich verbindliche Formen, für Kredit- und Investitionsvereinbarungen zu etablieren. Milios beschreibt eine Anzahl von verschiedenen Partnerschaftstypen, sie variierten von Land zu Land.

Die Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Venedig

Venedig war aufgrund seiner geografischen Lage von Anfang an stark von Seehandel, Schifffahrt und Schiffbau geprägt. Darüber hinaus besaß der Stadtstaat durch seine lange Zugehörigkeit zum byzantinischen Reich eine zentralistische staatliche Verwaltung und eine vom römischen Recht übernommene Rechtsverfassung.

Ein Großteil der Wirtschaftstätigkeit in Venedig bestand aus Formen der einfachen Warenproduktion und einem ursprünglichen Modell der hybriden Produktionsweise durch Kleinstunternehmen (siehe Kapitel 7). Es gab darüber hinaus selbstverständlich die auf Sklaverei basierende geldvermehrende Produktionsweise (siehe ebd.), die aber eine untergeordnete Rolle spielte. Feudale Beziehungen hatten weiterhin Bestand, da wohlhabende venezianische Grundbesitzer große Ländereien auf dem Festland besaßen und immer noch Leibeigene ausbeuteten, aber auch das war von marginaler Bedeutung im Vergleich zu den nicht-agrarischen, maritimen und handwerklichen Sektoren.“29 Als „hybride Produktionsweise“ bezeichnet Milios Kleinunternehmen, die nur wenige Lohnarbeiter beschäftigen und in denen der Eigentümer noch selbst am Produktionsprozess teilnimmt. Sie gehören nicht zur Kapitalistenklasse, sondern stellen eine Zwischenklasse zwischen der Lohnarbeit und dem Kapital dar. Dazu gehören zum Beispiel auch selbständige Handwerker und Bauern oder kleine Händler, die sich keinen von anderen geschaffenen Mehrwert aneignen.

Milios fasst die frühe Entwicklung Venedigs so zusammen: “Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts blieb Venedig ein Stadtstaat mit einer vorkapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft unter der ökonomischen, politischen und sozialen Herrschaft einer Klasse von Patriziern, die vornehmlich dem Handel oder der Reederei nachgingen oder staatlichen Unternehmungen vorstanden. Die auf Geldvermehrung setzenden ökonomischen Tätigkeiten dieser venezianischen herrschenden Klasse stellten einen unbestimmten Prozess der, um einen Begriff von Marx zu verwenden, ursprünglichen Akkumulation dar. Ein Part in diesem Prozess, die venezianischen Geldeigentümer und der von ihnen kontrollierte Staat, hatte bereits schon die Merkmale einer >>unechten Bourgeoisie<< angenommen. Den anderen Part jedoch, den besitzlosen Proletarier gab es in seiner Reinform noch nicht, warum wir auch von der Bourgeoisie als einer unechten sprechen.“30 Bezüglich der Matrosen schreibt er, dass, „[…] die gezahlten Löhne für die Besatzungs-mitglieder nicht die einzige und in der Regel nicht einmal die entscheidenden waren.“31 Sie konnten eigene Waren zum Verkauf mitführen und erhielten nach erfolgreichem Abschluss der Handelsfahrt zusätzlich eine Gewinnbeteiligung.

Der Zerfall des byzantinischen Reiches im 13. Jahrhundert führte zu einer neuen politischen und ökonomischen Ordnung im Mittelmeerraum, dessen Gewinner vor allem Venedig und Genua waren, die in mehreren Kriegen um die Vorherrschaft im Seehandel kämpften, wobei Genua lange Zeit erfolgreicher war. Dabei erwarb Venedig zahlreiche Kolonien, Inseln wie Kreta und Zypern, sowie zahlreiche Stützpunkte auf dem Festland. Vor allem mit dem Erstarken des osmanischen Reiches verlor Venedig einen Teil seiner Territorialansprüche, konnte aber weitgehend seine Handelsprivilegien verteidigen. Die Erweiterung des Machtgebiets Venedigs erforderte eine vergrößerte Militär- und Handelsflotte, die wiederum mehr Besatzung und mehr Arbeiter im Schiffbau erforderte.

Die zahlreichen Kriege führten dazu, dass der Stadtstaat Venedig einen Wandel der politischen und ökonomischen Strukturen durchführen musste. Es „[…] zeichnete den venezianischen Staat seit dem 12. Jahrhundert die Tendenz aus, die Produktionsprozesse zu kontrollieren und sich die Ressourcen, Mittel und Bereiche anzueignen, die damals aus militärischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht von entscheidender Bedeutung waren. Beispiele hierfür sind der Schiffbau, die Herstellung von Seilen, Segeln und sonstigem Schiffszubehör. In den stürmischen Zeiten des 14. Jahrhunderts wurde ein Teil dieser staatlichen Produktionsstätten in riesige Manufakturen verwandelt, die auf der Grundlage des Verhältnisses von Kapital und Lohnarbeit funktionierten. Das war der Ort, wo die Begegnung des eigentumslosen Proletariats mit dem Geldbesitzer zustande kam – in diesem Fall mit einem kollektiven Geldbesitzer, der Kommune Venedig, verkörpert durch einen oder mehrere Staatsbeamte(n).“32 In staatlichem Besitz waren vor allem das Arsenal (Schiffbau und Reparatur), Tana (Seile und Taue) und Zecca (Münzprägeanstalt). Der staatliche Schiffsbau führte auch zu einer teilweisen Verstaatlichung der Handelsflotte. Neben den großen staatlichen Manufakturen entwickelten sich zahlreiche kleine und mittlere private Manufakturen, vor allem im Druckereiwesen, der Metallbearbeitung, der Glas- Tuch- und Seidenindustrie.

Zu den Arbeitern schreibt Fernand Braudel: „Zwei Arbeitswelten existieren nebeneinander: zum einen die der ungelernten, nichtorganisierten und daher ungesicherten Arbeitskräfte einschließlich des >>Seeproletariats<< (F.C. Lane) aus Transportarbeitern, Schauerleuten, Matrosen, Ruderern; und zum anderen die Welt der Arti, der Zünfte, in denen die verschiedenen in der Stadt vertretenen Gewerbe zusammengeschlossen sind. Manchmal verwischt sich die Grenze zwischen den beiden Welten, so dass der Historiker nicht weiß, welcher er die beobachteten Berufszweige zuordnen soll.“33 Nach Braudel waren zwei Drittel der Arbeiter (22 504) in Zünften organisiert, der Rest (11 348) waren ‚freie‘ Arbeiter34. Für Seeleute gab es einen Arbeitsmarkt vor dem Dogenpalast. Auch die in Zünften organisierten Arbeiter waren Lohnarbeiter, falls sie nicht eigene Produktionsmittel besaßen, sie waren aber privilegiert.

Die einheimischen Arbeitskräfte Venedigs reichten nicht mehr zur Abdeckung des Arbeitskräftebedarfs aus, so dass zu Zwangsrekrutierungsmaßnahmen gegriffen wurde: „Von den venezianischen Behörden beauftragte Drückerkolonnen schafften Zwangsarbeiter aus Kreta und Dalmatien nach Venedig; zur gleichen Zeit wurden Kriegsgefangene als Galeerensklaven und Sklaven aus der Schwarzmeerregion als Ruderer eingesetzt. Neben der kapitalistischen Ausbeutung kam es auf den venezianischen Handelsschiffen zu einer Wiederbelebung der auf Sklaverei beruhenden geldvermehrenden Produktionsweise.“35 Kriege, die Verwaltung der Kolonien und Pestepidemien trugen dazu bei, dass Venedig immer auch auf einen kontinuierlichen Zustrom an Bevölkerung vom Festland angewiesen war. Vor allem dem Handel fehlten Arbeitskräfte. Der Staat hatte, vermutlich aus Steuergründen, den Besatzungen verboten, eigenen Handel zu betreiben, so dass ihr Sold letztendlich zu ihrer einzigen Einkommensquelle wurde.36 Interessant an dem Befund von Milios ist auch, dass in Venedig offensichtlich im Handel die ersten Proletarier auftraten. Das widerspricht Auffassungen, die das Auftreten des Proletariats einseitig mit dem Beginn der Industrialisierung verknüpfen.

Zur Rolle des venezianischen Staats bei der Erzwingung des freien Lohnarbeiters schreibt Milios: „Schließlich war es der Staat, der gegen Ende des 14. Jahrhunderts auf die Verallgemeinerung und Stabilisierung der Lohnverhältnisse drängte, indem er bis dahin gängige Formen der >>Assoziation<< zwischen Geldbesitzern und Arbeitern unterband und damit letztendlich die Ersteren in Kapitalisten und die Mehrheit der Letzteren in Proletarier verwandelte.“37 Venedigs Staat spielte bei der Durchsetzung des Lohnarbeitsverhältnisses nicht nur eine dominierende Rolle, sondern auch die des Vorreiters. Seinem Beispiel bei der Erzwingung der Lohnarbeit folgten weitere Stadtstaaten in Norditalien, Nordeuropa und in der atlantischen Welt.

Die mehrfachen langandauernden Kriege zwischen Venedig und Genua, gegen die Piraten, das aufsteigende osmanische Reich und gegen Mailand erforderten in Venedig erhöhte Zusatzausgaben, die nicht mit den in Friedenszeiten üblichen Mitteln bestritten werden konnten. Venedig gab Anleihen heraus und erhob Zwangsanleihen von den Reichen, die anfangs mit 5% verzinst wurden. Es entstand ein Finanzmarkt, auf dem mit Staatsanleihen gehandelt werden konnte und wurde. Milios zitiert Marx: „Das System des öffentlichen Kredits, d.h. der Staatsschulden, dessen Ursprünge wir in Genua und Venedig schon im Mittelalter entdecken, nahm Besitz von ganz Europa während der Manufakturperiode. […] Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation.“38 Milios beschreibt ausführlich die Entwicklung von der Finanzierung der Staatsschulden hin zu einem kapitalistischen Finanzwesen. Es fand schrittweise eine zunehmende Monetarisierung der venezianischen Gesellschaft statt, die schon früh mit den Seekrediten begonnen hatte. Später kamen Seeversicherungen für die Handelsfahrten hinzu. Direkte Steuern wurden in Venedig erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erhoben.

Nach der Darstellung von Milios ist die Entwicklung des Kapitalismus in Venedig kein Übergang, der einen Feudalismus überwand, sondern das Ergebnis des Zusammentreffens einer schon vorhandenen Klasse von vorkapitalistischen Geldbesitzern und des Staates mit einem, wesentlich durch staatliches Handeln erzwungenem Proletariat. Das staatliche Handeln wurde stark durch die Erfordernisse der Kriege um die Vorherrschaft im Seehandel und den Erwerb und Erhalt der Kolonien bestimmt. Dies erforderte vor allem drei Maßnahmen, zum einen die staatliche Großproduktion von Schiffen und Kriegswaffen, zum anderen die Herbeiführung eines Systems von Lohnarbeit. Darüber hinaus musste ein Finanzsystem geschaffen werden, das die Finanzierung jeder Art von Geschäften möglich machte.

Die weitere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise in Venedig

Nach der Darstellung der Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise in Venedig durch das Zusammentreffen von Staat und geldvermehrendem Kapital mit dem ‚freien‘ Lohnarbeiter geht Milios der Frage nach, ob die kapitalistische Entwicklung in Venedig Bestand hatte. Diese Frage ist Bestandteil der im ersten Teil des Buchs diskutierten Frage, wie sich die geldvermehrende Produktion dauerhaft in eine kapitalistische geldvermehrende Produktion verwandeln kann. Dazu setzt sich Milios mit verschiedenen Autoren auseinander.

Wie beschrieben, setzt Milios für Venedig den Übergang zum Kapitalismus für das Ende des 14. Jahrhunderts an. Im 15. Jahrhundert findet in Europa eine Machtverschiebung zu den Territorialstaaten und Atlantikanrainern Portugal, Spanien, Frankreich und England und zum außereuropäischen Handel statt, der eine andere Schiffstechnik erforderte. Dadurch wurde Venedigs Vorherrschaft im internationalen Handel geschwächt, weil der Mittelmeerraum seine zuvor zentrale Bedeutung verlor. So verlor Venedig zum Beispiel den Gewürzhandel an Portugal. Außerdem verschob sich das Zentrum der Warenproduktion zunehmend in Städte im nördlichen Europa, wie Brügge, Antwerpen, Amsterdam, London und andere. „Spätestens ab dem späten 16. Jahrhundert wurde die kommerzielle Vormachtstellung von Venedig durch neue Rivalen herausgefordert Es fand daraufhin eine Umstrukturierung der venezianischen Wirtschaft statt, beruhend auf dem raschen Wachstum des Manufaktur- und Finanzwesens.“39 Venedig, blieb aber ein maßgebliches Wirtschaftszentrum Europas. Es ist spannend, diese Entwicklung im Buch nachzulesen.

Milios fasst die weitere kapitalistische Entwicklung Venedigs so zusammen:“ Trotz >>relativer Rückschläge<<, vielfältiger Krisen und Erholungen, Umstrukturierungen und Veränderungen, was die Bedeutung einzelner Wirtschaftsbereiche angeht, blieb Venedig bis zu seinem Zusammenbruch als unabhängiger Staat im Jahr 1797 immer eine kapitalistische Gesellschaftsformation.“40

Die kapitalistische Produktionsweise impliziert Krisen. Auch Venedig blieb von ökonomischen und Krisen des Finanzsystems nicht verschont. Hinzu kam, dass Venedig in einem Zeitraum von 50 Jahren von zwei katastrophalen Pestepidemien heimgesucht wurde, die nicht unwesentlich zum politischen und wirtschaftlichen Niedergang beitrugen.41

Schlussbemerkungen

Milios Buch zur Entstehung des Kapitalismus behandelt eine Reihe von unter Marxisten kontrovers diskutierten Thesen.

Seine Kernaussage ist, dass nicht der Widerspruch zwischen dem Stand der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen zum Kapitalismus führt, sondern das Zusammentreffen von Geldbesitzern und ‚freien‘ Lohnarbeitern. Ob und wie das stattfindet, ist vom geschichtlichen Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung eines Landes abhängig. Kann sich die Lohnarbeit etablieren, so wird aus den verschiedenen Typen der vorkapitalistischen geldvermehrenden Kapitalbesitzer der lohnausbeutende Kapitalist. Bei dieser Entwicklung kann der Staat, wie im Fall Venedigs, eine prominente Rolle spielen.

Die Aussagen des Buchs haben Konsequenzen für die Debatten darüber, wann und wie grundlegende Umwandlungen von gesellschaftlichen Verhältnissen stattfinden. Demnach können sich vorkapitalistische Gesellschaften von unterschiedlichem Gesellschaftstyp und Entwicklungsstand zu kapitalistischen Gesellschaften entwickeln, die dann auch unterschiedliche Besonderheiten an Produktionsformen herausbilden. Gemeinsam ist ihnen, dass sich das Kapital den Mehrwert durch die Ausbeutung von Lohnarbeit aneignet. Die Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Venedig zeigt, dass die Entwicklung des Kapitalismus in England nicht der Normalfall sein muss.

Grundsätzliche Fragen wie beim Übergang zum Kapitalismus stellen sich auch beim Übergang zum Sozialismus, wie die Diskussionen über den Charakter der russischen und chinesischen Revolution zeigen. Offensichtlich sind Revolutionen mit dem Ziel des Aufbaus des Sozialismus auch in wenig entwickelten kapitalistischen Ländern möglich und in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern nicht zwingend. Es stellen sich Fragen nach dem Charakter der Revolution in rückständigen Ländern, ob sie notwendig scheitern müssen beziehungsweise, welche Fehler der kommunistischen Partei zu ihrem Scheitern führte. Zur russischen Oktoberrevolution sind in den AzD 84-86 und 88-90 eine Reihe von Artikeln erschienen.

Literatur

Milios, Jannis: Eine zufällige Begegnung in Venedig Die Entstehung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Dietz Verlag Berlin. 2021.

Braudel, Fernand: Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts Aufbruch zur Weltwirtschaft, Kindler Verlag, München, 1990.

1 Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Giannis_Milios

2 Jannis Milios, Seite 24

3 Ebd., S. 31

4 Ebd., S. 34

5 Ebd., S. 35

6 Ebd., S. 41

7 Ebd., S. 36

8 Ebd., S. 40

9 Ebd., S. 36

10 Ebd., S. 36, 37

11 Ebd., S. 45

12 Ebd., S. 52

13 Ebd., S. 56

14 Ebd., S. 63

15 Ebd., S. 66

16 Ebd., S. 97

17 Ebd., S. 98

18 Ebd., S.101

19 Ebd., S.101, 102

20 Ebd., S. 102

21 Ebd., S.129, 130

22 Ebd., S. 133, 134

23 Ebd., S. 142

24 Ebd., S. 138

25 Ebd., S. 141

26 Ebd., S. 144

27 Ebd., S. 148, 149

28 Ebd., S. 152

29 Ebd., S. 200

30 Ebd., S. 209

31 Ebd., S. 207

32 Ebd., S. 221

33 Fernand Braudel, S. 141

34Ebd., S. 142

35 Milios, S. 229, 230

36 Ebd., S. 227

37 Ebd., S. 261

38 Ebd., S. 231

39 Ebd., S. 248

40 Ebd., S. 259

41 Ebd., S. 256 f.