1. Hitler – Vertreter des untergehenden Kleinbürgertums
Die Rolle Hitlers behandelten Politiker und Historiker in der BRD und der DDR lange vorherrschend nur von ideologischen Gesichtspunkten. Um die damalige Bevölkerung mit der Frage nach ihrer eigenen Verantwortung nicht vor den Kopf zu stoßen, bot es sich an, alle Schuld auf den „Führer“ des Nationalsozialismus abzuwälzen. Der einst zum Gott erhobene Führer verwandelte sich in einen Dämon. Später sahen viele in Hitler nur noch eine Witzfigur. Die Frage, warum der selbst ernannte Führer des deutschen Volkes von dessen erdrückender Mehrheit tatsächlich als solcher anerkannt wurde, fiel dabei unter dem Tisch.
Der größte Verbrecher dieses Jahrhunderts konnte sein Programm nur in Angriff nehmen, weil er auch einer der cleversten Politiker seiner Epoche war. Wie kein anderer deutscher Politiker in dieser Zeit besaß Hitler Gespür für die gesellschaftlichen Verhältnisse und die sozialen Interessen der Massen. Mitte der 20er Jahre arbeitete er in „Mein Kampf“ die Strategie zur Gewinnung der Massen aus. Weder die Kommunisten noch die bürgerlichen Parteien erkannten die Sprengkraft der sich von der Republik lösenden Kleinbürgermassen. Über die Wahlen kamen die Nazis durch die Unterstützung dieser Schichten an die Macht. Hitler gelang es nun, durch die Politik der sozialen Zugeständnisse an alle gesellschaftlichen Klassen als Führer der „Volksgemeinschaft“ anerkannt zu werden. Bis zum Ende verfolgte Hitler diese „Massenpolitik“ und konnte nur so den geschlossenen Kompromiß zwischen allen Klassen bis zur endgültigen militärischen Niederlage aufrechterhalten.
Von allen Führungspersonen der NSDAP stand er dem „kleinen Mann“ am nächsten. Er machte sich zum Anwalt ihrer unmittelbaren sozialen Interessen, wenn es zwischen der Bevölkerung und der Partei Spannungen gab. Die Mehrheit der Bevölkerung wollte nach 1933 keinen SA-Staat mit ständiger Unruhe auf der Straße und Ausnahmezustand. So stärkte Hitler sein Image, als er mit der Reichswehr den SA-Horden ein Ende bereitete. Auch die Ziele von Walter Darre gingen vielen Bauern zu weit. Schutzpolitik ja, aber mittelalterliche Subsistenzwirtschaft wollten sie nicht. Hitler sorgte für Darres Zurückdrängung, und die Bauern bekamen etwas größere Spielräume. Im Gegensatz zu den „Mystikern“ von der SS-Führung ließ Hitler Vorstellungen über Reinkarnation und andere Merkwürdigkeiten nicht nach außen dringen. Als man nach dem 20. Juni 1944 die aristokratischen Militärs erschießen ließ, konnte er sich sicher sein, daß die „kleinen Leute“ der alten Elite nicht nachweinten.
Diese Nähe zu den Massen war das Geheimnis des Führermythos. Auf diesem Hintergrund wurde der naive und dümmliche Satz „Wenn das der Führer gewußt hätte“ zum Sprichwort. Hitler griff diese Interessen natürlich nur auf, um seine bäuerlich-kleinbürgerliche Programmatik umzusetzen. Der Vertreter des vom Untergang bedrohten Kleinbürgertums konnte zum Führer der ganzen Nation werden. Ohne den Nationalsozialismus zu personifizieren, muß man zugestehen, daß Hitler eine zentrale Stellung im Staat hatte. Dabei erhob er den Führerstaat zum allgemeinen Prinzip. Es sollte auf allen Ebenen des Staates bestehen und war nicht an seine Person gebunden. „Der Führer vereinigt in sich alle hoheitliche Gewalt des Reiches; alle öffentliche Gewalt im Staat wie in der Bewegung leitet sich von der Führergewalt ab (…) Die Führergewalt ist umfassend und total; sie vereinigt in sich alle Mittel der politischen Gestaltung (…) sie erfaßt alle Volksgenossen, die dem Führer zu Treue verpflichtet sind. Die Führergewalt ist nicht durch Sicherungen und Kontrollen, durch autonome Schutzbereiche und wohlerworbene Einzelrechte gehemmt, sondern sie ist frei und unabhängig, ausschließlich und unbeschränkt“ [382], formulierte er schon unmißverständlich in „Mein Kampf“. Die Wehrmacht, SS und die Beamten ließ er alle auf sich vereidigen und unterstellte sie sich damit.
Die neuere Forschung hat die Frage aufgeworfen, ob Hitler in diesem System ein starker oder schwacher Diktator war. In erster Linie war er aber ein cleverer Diktator, der nicht versuchte, alles zu kontrollieren und selbst zu entscheiden. Als Führer delegierte er viele Aufgaben und überließ den Akteuren die Umsetzung. So übernahm Schacht die Wirtschaftspolitik des Reiches und auch Neurath hatte anfangs große Spielräume als Außenminister. Hitler griff erst ein, wenn er zu der Meinung gelangte, die Generallinie seines Programms sei in Gefahr. Auch bei den vielen Konflikten zwischen Wirtschaft, Partei oder Arbeitsfront hielt er sich so lange heraus, bis diese Auseinandersetzungen den Staat gefährdeten. Die rivalisierenden Kräfte sollten selbst Kompromisse finden. Nach seinem Einwirken mußte Röhm den Kompromiß mit der Reichswehr eingehen und den Anspruch auf ein braunes Massenheer aufgeben. Als der SA-Führer trotzdem die „zweite Revolution“ gegen die junkerliche Reichswehr vorbereitete, beseitigte Hitler ihn. In dem Konflikt zwischen Ley und Schacht über das Kommando über die Wirtschaft und die Sozialpolitik traf Hitler monatelang keine Entscheidungen. Schließlich wurde mit der „Leipziger Vereinbarung“ vorerst ein Schlußstrich gezogen. Dem starken Diktator gelang es, an allen Wendepunkten des 3. Reiches als Sieger hervorzugehen. Ob bei der Entmachtung Schachts, der Schwerindustrie oder beim Zwist in der Wehrmacht um Blomberg und Fritsch – immer konnte er sein Programm durchsetzen.
Besondere Aufmerksamkeit widmete Hitler der Außenpolitik, da seine Ziele nur durch den Krieg umgesetzt werden konnten. In der „friedlichen“ Vorbereitungsphase überließ er Neurath und dann Ribbentrop die Verhandlungen mit den anderen Mächten. Mit dem Krieg entschied er persönlich. Gegen alle Bedenken der Armeeführung bestimmte er den Zeitpunkt für die Angriffe im Westen und die Taktik im Krieg gegen die Sowjetunion. Gerade die Fähigkeiten, die Hitlers historische Größe ausmachten, ermöglichten das Verbrechen.
2. Eine Herrschaft für Bauernschaft und Kleinbürgertum
Der Nationalsozialismus in der Weimarer Republik wurde eingangs als kleinbürgerlich-bäuerliche Massenbewegung bezeichnet, die sich zum Schutz der Kleinproduktion gegen die Moderne richtete. Nach der Zerschlagung der SA 1934 trat die Bedeutung dieser Massenbewegung zurück. Aus den Kompromissen der Parteiführung mit Junkern und Kapital entstand eine von Widersprüchen und von Machtkämpfen geprägte Gesellschaft. Die deutsche Wirtschaft läßt sich seit der Durchsetzung des Primats der Politik nach der Absetzung Schachts in 4 Sektoren einteilen:
1. In der Industrie entstand mit dem ersten 4-Jahresplan ein starker staatskapitalistischer Sektor. Wie bei den Göring-Werken übernahm der Staat wichtige Teile der Produktion. Mit der Ausbeutung der besetzten Länder weitete sich dieser Staatsbesitz aus. Dazu verwaltete er Betriebe mit vorerst ungeklärten Eigentumsverhältnissen, wie die Industrie der Sowjetunion. Der Staat wurde zum Hauptinvestor [383] und hatte 1943 ca. 25 % des gesamten deutschen Aktienkapitals in der Hand. [384] Eine Übernahme so großer Teile der Wirtschaft sah die Parteiführung nach der Machtübernahme nicht vor. Aus der Notwendigkeit der Organisation der Kriegswirtschaft und dem Primat der Politik gegenüber der sich nicht fügenden Schwerindustrie legte Hitler seit 1936 die Priorität auf die Staatswirtschaft. Für Hitler war klar: „Auch nach dem Krieg werden wir auf eine staatliche Lenkung der Volkswirtschaft nicht verzichten können“. [385]
2. Neben dem neuen Staatssektor blieb natürlich der alte privatkapitalistische Sektor bestehen. Profite als Privateigentümer durften die Kapitalisten weiter machen, nur sprach auch hier der Staat ein entschiedenes Wort mit und diktierte die Rahmenbedingungen. Die Löhne setzten die Treuhänder der Arbeit fest, die Preise die Behörden, und freie Investitionen konnten nur noch sehr eingeschränkt getätigt werden. [386] Die freie Lohnarbeit war durch die Zwangsverpflichtung der Arbeiter eingeschränkt.
3. Als drittes gab es den künstlich konservierten vorkapitalistischen Sektor in der Landwirtschaft. Die Klein- und Mittelbetriebe wurden mit der Erbhofgesetz weitgehend vor dem Zugriff der Banken geschützt. Auch die Junkergüter brauchten durch die Fideikommisse bis 1938 keine Kapitalisierung fürchten.
4. Ein weiterer bedeutender Bereich für die deutsche Wirtschaft stellte mit dem Krieg der Sklavensektor dar. Die Millionen ausländischen Zwangsarbeiter unterstanden der SS. Dieser Sektor war ebenfalls ein nicht-kapitalistischer Sektor, da die Arbeitskraft keine Ware darstellte und freie Lohnarbeit nicht existierte. Nach dem Krieg sollte die Wirtschaft im Altreich in diesen Formen weiterbestehen. Das Gewicht zwischen Landwirtschaft und Industrie wäre durch die Siedlung zu Gunsten der Landwirtschaft bedeutend verändert worden: Im Osten also ein Reich von Millionen „Wehrbauern“ und Handwerkern, im Altreich verschiedene Eigentumsformen unter der Kontrolle des Staates. Hatte wirklich eine Klasse die Macht im „Dritten Reich“?
Der Krieg wurde bekanntlich verloren, und damit scheiterte auch die Errichtung der neuen Gesellschaft auf bäuerlicher Grundlage. Der NS-Staat von 1933 bis 1945 war sowohl von der nationalsozialistischen Programmatik, aber auch vom Krieg und der alten Gesellschaft geprägt. Es scheint verfehlt, ihn als Klassenherrschaft der Bauernschaft und des Kleinbürgertums zu bezeichnen. Diese Klassen brachten die NSDAP zwar an die Macht und stellten die zentrale Stütze der Herrschaft dar. Die politische Macht lag jedoch in den Händen der Führung der NSDAP und allen voran bei Hitler. Diese Spitze befehligte den nach dem Führerprinzip aufgebauten Staat. Diese Führung stand über den Klassen und war nicht dem spontanen Willen und den Launen ihrer Massenbasis unterworfen. Sie war aber keineswegs klassenlos. Die nationalsozialistische Elite verfolgte das Programm zur Rettung der Kleinproduktion vor der Moderne, die Besiedlung des Ostens. Hitler verstand sich zwar nicht als bloßer Interessenvertreter der Bauernschaft, sondern als Führer der ganzen deutschen Nation. Auch die Arbeiter und Unternehmer sollten durch den sozialen Ausgleich fest in die Volksgemeinschaft auf bäuerlichem Fundament integriert werden. Indem Hitler aber die „Gewinnung von Lebensraum“ und damit die Teilreagrarisierung Deutschlands zum zentralen Programmpunkt erhob, vertrat er faktisch die vorindustriellen Klassen gegen die moderne Industriegesellschaft. Diese Klassenpolitik Hitlers verschmolz in seinem Verständnis mit der Rassenpolitik. Mit der Rettung der Bauernschaft als „Blutsquelle“ des deutschen Volkes sollte gleichzeitig der Arier im „Kampf der Rassen“ gestärkt werden.
Durch den Aufbau des doppelten Staatsapparates und den Aufstieg der SS, der Prätorianergarde der Bauernschaft, versuchte dieses Führungszentrum, den alten junkerlich-bürgerlichen Apparat schrittweise abzubauen. Nach der Entmachtung der Schwerindustrie 1936 und der Junker im Zuge des Krieges stand der doppelte Staatsapparat unter dem Kommando der Parteiführung. Übrig bleiben sollte am Ende nur der neue Staatsapparat in den Händen der kleinbürgerlichen Elite und SS. Der Nationalsozialismus stellte also eine Herrschaft für die Bauernschaft und das Kleinbürgertum dar. Der nationalsozialistische Siedlungskrieg als Kern des Programms war der größte, aber auch der letzte Krieg gegen die Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft in Europa.