Replik (auf Schröders Kritik in den AzD 90)

Thomas Kuczinsky

Ich beginne meine Replik auf Alfred Schröders Kritik an meiner Rede „Was bleibt von der Oktoberrevolution?“ mit einem genaueren Blick auf Lenins Rede über die Bodenfrage.1 Sie besteht aus drei Abschnitten. Der mittlere Abschnitt Dekret über den Grund und Boden (S. 249-52) ist eingerahmt von einleitenden und abschließenden Bemerkungen Lenins (S. 248/49 und 252/53). Das Dekret selbst umfasst die Ziffern (1) bis (5). Innerhalb (!) von Ziffer (4) steht der aus den Punkten (1) bis (8) bestehende Bäuerliche Wählerauftrag zur Bodenfrage (S. 249-51), den die Redaktion der Werkausgabe völlig klar, nämlich durch Kleindruck, von Lenins Text unterschieden hat. Trotzdem ist die mehrfach in sich verschachtelte Rede nicht ganz einfach zu lesen. Wer aber ihre Interpretation durch andre kritisiert, sollte sie zuvor sorgfältig studiert haben. Das hat Genosse Schröder offenbar nicht getan, denn er reduziert das Dekret auf die Ziffern (1) bis (4) und ordnet die Ziffer (5) dem Wählerauftrag zu (vgl. S. 23, 25, 29).

Ziffer (5) des Dekrets lautet: „Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Konfiskation.“ Sie steht damit in diametralem Gegensatz zu Punkt (1) des Wählerauftrags: „Das Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben… Der gesamte Boden… wird entschädigungslos enteignet…“, wobei die Formulierung „der gesamte Boden“ genau spezifiziert und darunter auch „das Gemeinde- und Bauernland“ genannt wird. Genau diese im Wählerauftrag formulierte entschädigungslose Enteignung (Konfiskation) des Bauernlandes ist im Dekret ausdrücklich ausgeschlossen. Nichts anderes hatte ich in meinem Aufsatz festgestellt (S. 136/37).

Genosse Schröder meint, ich hätte der Aussage Plechanovs zugestimmt, dass „die wirtschaftliche Tätigkeit der Bauern… nicht auf den Sozialismus, sondern auf den Kapitalismus gerichtet sein“ werde (S. 20). Das glatte Gegenteil ist der Fall, denn ich zitiere (und kommentiere) an dieser Stelle zwar Plechanov, stelle aber im unmittelbar darauf folgenden Absatz völlig unmissverständlich fest: „Die große Masse der Bauern war nach der entschädigungslosen Enteignung des Gemeindelandes weder am Erhalt des Kapitalismus noch am Aufbau des Sozialismus interessiert, sondern an ihrer eignen Scholle und an ihrem eignen Wohlergehen“ (S. 138). Schon deshalb ist sein Vorwurf, ich würde „die Aufrichtung des Kapitalismus… als unvermeidliche, gesetzmäßige Entwicklung unterstellen“ (S. 20), ganz und gar unbegründet; ebenso fehlt der für den Nachweis einer „durch Kuczynski entdeckten ‚Privatisierung des Gemeineigentums’“ (S. 23) notwendige Beleg.

Die Ergebnisse der neueren Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Russlands, insbesondere zur Entstehung und Entwicklung der russischen Dorfgemeinde, enthalten gegenüber dem zur Zeit von Marx bis Lenin erreichten Erkenntnisstand zweifellos ganz wesentliche Fortschritte. Was sie aber mit der von mir diskutierten Frage zu tun haben, dass sich die dekretierte Übereignung des Gemeindelandes an die Bauern als die „Achillesferse der Revolution“ herausgestellt habe, erschließt sich mir nicht, vor allem deshalb nicht, weil beim Genossen Schröder jegliche konkrete Auseinandersetzung mit dieser Charakterisierung fehlt. Da wäre allerdings nicht ein Blick in die Geschichte der russischen Dorfgemeinde vonnöten gewesen, sondern einer in die Geschichte der sowjetischen Landwirtschaft, und der fehlt eben leider auch.

Genosse Schröder hat mein Vorgehen mit dem von Alexander Herzen verglichen, denn den meinte Marx mit „diesem Schriftsteller“, dem er vorwarf, dass „er die russische Dorfgemeinde nicht in Russland, sondern in dem Buch von Haxthausen, einem preußischen Regierungsrat, entdeckt“ habe (S. 10). Marx hatte da wohl einfach vergessen, dass Herzen in seinem anonym publizierten Buch Vom anderen Ufer (Hamburg 1850) sich keineswegs unkritisch auf Haxthausens Buch (Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Russlands) bezogen (vgl. S. 154-58) und anschließend seine eigne Sicht entwickelt hatte (vgl. S. 158-66). Solche Vergesslichkeit kann ich dem Genossen Schröder mit seinen zahlreichen Fehlzitaten nicht konzedieren…

1 In meiner Replik beziehe ich mich auf
(1) W.I. Lenin, Werke, Bd. 26, S. 248-53;
(2) Alfred Schröder in: Aufsätze zur Diskussion 90, Oktober 2019, S. 5-42;
(3) Thomas Kuczynski in: Berliner Debatte Initial, H.4/2017, S. 133-41.
Da die Quellen nach ihren Seitenzahlen klar voneinander zu unterscheiden sind, werden im Text nur die jeweiligen Seitenzahlen genannt.