Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion

von Heiner Karuscheit

(Der folgende Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in: AzD 67 (1999))

Vorbemerkung

In dem Buch „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus“1 stellten sich Alfred Schröder und der Autor dieser Zeilen die Aufgabe, Entstehung und Entwicklung der Sowjetunion aus den bestehenden Klassen und ihren Kämpfen heraus zu untersuchen. Als wesentlich für das Verständnis der Geschichte erwies sich dabei die Untersuchung der Bauernschaft. Die Agrarverhältnisse im Zarenreich unterschieden sich je nach Region grundlegend voneinander. In der Ukraine, in den baltischen Ländern, in Sibirien oder bei den Kosaken gab es eine Tradition des Einzelbauerntums mit privatem Landbesitz wie im Westen Europas, und in den asiatischen Teilen des Landes dominierten viehzüchtende Nomadenvölker. Die ausschlaggebenden Millionenmassen der russischen Bauerschaft dagegen lebten in einer Agrarordnung, die von den heutigen Marxisten regelmäßig vollständig negiert wird. Sie verfügten im entscheidenden Unterschied zu Westeuropa über kein Privateigentum an dem von ihnen bebauten Boden. Das Land befand sich im Kollektivbesitz (obscina) der Dorfgemeinde (mir), die es in mehrjährigen Abständen an die Bauernfamilien umverteilte, nach dem Maßstab entweder der Anzahl sämtlicher Familienmitglieder oder nur der Arbeitskräfte in einer Familie. So wurde die Gleichheit aller Gemeindeangehörigen gesichert. Daran hatten auch die Reformen nichts geändert, mit denen Stolypin nach den Erfahrungen der Revolution von 1905/06 versuchte, die obscina aufzulösen, um ein Privatbauerntum als neue soziale Stütze des Zarismus zur Entwicklung zu bringen. Im Gegenteil wurde die Dorfgemeinde zum Rückhalt und Kampfpanier des bäuerlichen Widerstands gegen die von oben anbefohlenen Umwälzungen der Moderne. In den zentralrussischen rayons war das Arbeiter-Bauern-Bündnis der Oktoberrevolution das Bündnis des großindustriellen Proletariats mit der getreideanbauenden obscina-Bauernschaft.

Die überkommene Agrarverfassung war auch der Schlüssel zum Verständnis des Sprungs zum Sozialismus Anfang der 30er Jahre. Die Kollektivierung wäre in der Form in Westeuropa nicht möglich gewesen. Der Kolchos fußte auf auf der obscina, d.h. auf dem bereits vorhandenen russischen Gemeineigentum an Land. Ebenso bedeutete die Industrialisierung nicht die Umwandlung von Bauern im allgemeinen in Arbeiter, sondern von russischen Gemeindebauern, die ihre spezifischen Verhaltens- und Denkweisen in die Fabriken trugen.2

Darauf aufbauend hat der Autor es unternommen, auch die Entwicklung nach dem 2.Weltkrieg zu ergründen. Der thesenhafte Versuch, eine Linie von Chruschtschow zu Breschnew zu ziehen und dahinter einen linearen Aufstieg der Armee, gestützt auf die Bauernschaft, zu sehen, führte jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis. Es konnten einige neue Gesichtspunkte entdeckt, aber keine letzthin befriedigende Erklärung gewonnen werden.

Da kamen die Forschungsergebnisse aus dem Untergang der DDR zu Hilfe. Der Sturz der SED-Herrschaft hat die dortigen Archive und die Lippen der Beteiligten geöffnet. Seit 1989 ist eine Fülle von Dokumenten, Untersuchungen und Erinnerungen erschienen, die es möglich machten, gestützt auf die Tatsachen den Fehlschlag der SED beim Aufbau des Sozialismus zu erforschen. Ergebnis ist die kleine Arbeit „Das Scheitern des deutschen Kommunismus“. Bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus, dass die sowjetische Deutschlandpolitik nicht nur gespalten war, sondern dass die Widersprüche sich im Gegensatz von Partei und Staat (Regierung) niederschlugen. Davon ausgehend war es unvermeidbar, die Schlüsselkrise in der UdSSR vom Beginn der 50er Jahre einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen. Als dies getan wurde, ordneten sich viele schon vorher bekannten, aber aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit gar nicht oder falsch eingeordneten Fakten wie in einem Magnetfeld zu. Die gesamte Politik Chruschtschows erschien in einem anderen Licht. Es zeigte sich, dass der Kampf um die künftige Orientierung zwischen insgesamt drei verschiedenen Richtungen ausgetragen wurde.

Indem einige der in dem eingangs erwähnten Buch entwickelten Thesen sich bestätigten und fortgeschrieben werden konnten, waren andere zu korrigieren. Vor allem nötigte die Erkenntnis der unterschiedlichen Linien, erneut die Frage nach der sozialen Zuordnung, d.h. nach der konkreten Gestalt der realexistierenden Klassen, zu stellen. Die neu gewonnenen Erkenntnisse werden der interessierten Leserschaft hiermit vorgestellt. Von einem Abschluss der Untersuchung kann dennoch weiterhin keine Rede sein. Insbesondere die Frage nach dem Gesicht der Klassen kann nur vorläufig beantwortet werden, weil die empirische Forschung brachliegt und endgültig erst weitere Untersuchungen des gesellschaftlichen Arbeitskörpers, der Rolle der Gewerkschaften, der KPdSU und ihrer regionalen Gliederungen sowie der gewählten Sowjets und des Staatsapparats über die hier gegebene Erklärung Aufschluss geben können. Darum ist nicht auszuschließen, dass künftig erneut Korrekturen notwendig sind. Desungeachtet hofft der Autor, dass die Arbeit dazu beiträgt, mehr Licht in die Vergangenheit zu bringen, die wie ein Alp auf dem heutigen Kommunismus lastet, solange sie nicht erklärt werden kann.

I. Eine zwiespältige Lage

Ende der 20er Jahre war die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP), an der Bucharin bis zuletzt festhielt, in ihre Endkrise geraten. Das von Lenin eingeleitete Programm zum Aufbau des Sozialismus mithilfe des Austauschs zwischen Stadt und Land, gestützt auf die Leichtindustrie, erwies sich wegen der unzureichenden industriellen Basis als Sackgasse. Da die Städte nicht genügend billige Industrieprodukte für den Austausch liefern konnten, weigerten sich die Kulaken – und ihnen folgend das ganze Dorf – ihr Getreide zu verkaufen. In den Städten kam es zu einer Brotkrise, und das Proletariat wandte sich von der ungeliebten NEP wieder ab. Als Stalin an die Spitze des Aufbruchs zur Kollektivierung des Dorfes und Industrialisierung trat, zeigte sich, dass es für die Fortsetzung der NEP weder in der Stadt noch auf dem Land gesellschaftliche Mehrheiten gab. Die Kulaken und mit ihnen die „Rechten“ waren binnen kurzem geschlagen. Gegenüber den Teilen der Bauernschaft, die sich wie im Westen Europas auf das Privateigentum an Grund und Boden stützten, insbesondere also gegenüber der Ukraine, bedeutete die Kollektivierung den Bürgerkrieg. Im ausschlaggebenden Zentralrußland dagegen waren die altrussischen Landumteilungsbauern relativ einfach für die Kollektivierung zu gewinnen. Sie erhielten die gemeinsame Verfügung über Zugvieh, Pferde und Gerätschaften der „Dorfreichen“. Als dann noch die ersten Traktoren eintrafen, war der Kolchos gesichert.

1. Industrialisierung und neue Arbeiterklasse

Befreit von der Fesselung an den Warenaustausch mit dem Land ging die Industrialisierung in einem von keinem anderen Land wiederholten Ausmaß voran, mit der Schwerindustrie vom Kohlebergbau bis zu riesigen Traktorenwerken im Zentrum. Ungeheure Bauernmassen strömten in die alten und neuen, aus dem Boden gestampften Industriestädte und mussten dort mit Zuckerbrot und Peitsche an den Rhythmus der großen Industrie gewöhnt werden. Im Verlauf weniger Jahre wurde die Gesellschaft vollständig umgewälzt, begleitet von einer ebenso tiefgreifenden Umwälzung der bolschewistischen Partei. Selbst seine Gegner mussten anerkennen, dass es nur Stalin zu verdanken war, wenn der Staat nicht zusammenbrach.

Die Verfassung von 1936 stellte die Bauernschaft auf dem Boden der Kollektivierung als „werktätige“ Klasse mit der Arbeiterklasse gleich. Durch Gleichheit des Wahlrechts und der Wehrpflicht wurde sie in den Staat einbezogen, auch wenn der allgemeine, gleiche Waffendienst für die Bauernsöhne erst kurz vor Ausbruch des Kriegs, nach den Säuberungen in Partei und Armee, realisiert werden konnte. Noch bevor die Gesellschaft zur Ruhe kommen konnte, trieb der 1941 aufgezwungene Krieg die Umwälzung weiter voran. Hand in Hand mit wieder neuen Bevölkerungswanderungen mussten die z.T. eben erst errichteten Industrieanlagen aus den westlichen Regionen hinter den Ural verlagert, gleichzeitig die Industrialisierung noch einmal beschleunigt werden. Im ersten Weltkrieg hatte das zaristische Russland nicht einmal alle Soldaten mit einem eigenen Gewehr ausrüsten und drei Jahre Krieg nur überstehen können, weil das deutsche Heer die Entscheidung im Westen suchte. 25 Jahre später stand der Sowjetstaat einem nationalsozialistischen Deutschland gegenüber, das den Rücken im Westen frei hatte und nach der Niederwerfung Frankreichs über die Ressourcen ganz Kontinentaleuropas verfügte. 1944 überstieg die sowjetische die deutsche Rüstungsproduktion, und 1945 hatte die Rote Armee Berlin erobert.

Der Wiederaufbau nach dem Weltkrieg ging trotz der millionenfachen Menschenverluste und der Verwüstung der westlichen Landesteile durch die nationalsozialistische Politik der verbrannten Erde erheblich schneller vonstatten als in den kapitalistischen Staaten Westeuropas. Ende der 40er Jahre war die Rekonstruktionsphase im wesentlichen abgeschlossen. Man konnte wieder da anknüpfen, wo man Anfang des Jahrzehnts aufgehört hatte. Gestützt auf die proletarische Macht schien bloßer Wille, gepaart mit sozialistischer Wirtschaftsplanung, den unaufhaltsamen Fortschritt zum Kommunismus zu garantieren. Dabei war die Situation zwiespältig.

Einerseits waren Adel und Bourgeoisie ebenso wie die Kulaken untergegangen. Es existierten keine besitzenden, ausbeutenden Klassen mehr und es bestand keine Gefahr einer Restauration der alten Zustände. Die Sowjetunion verfügte über eine umfassende, leistungsfähige Schwerindustrie und somit über die Grundvoraussetzung der weiteren Industrialisierung. Die großen Produktionsmittel waren im Besitz des Staats, und die Städte, früher Inseln in einem Meer von Bauern, schickten sich an, auf absehbare Zeit die Mehrheit der Bevölkerung zu umfassen. Auf der anderen Seite war das alte, zahlenmäßig schwache, aber revolutions- und bürgerkriegserfahrene Oktoberproletariat bei dem Industrialisierungssprung der 30er Jahre in höhere Stellungen in der Fabrik aufgestiegen oder in den anwachsenden Staatsapparat übergewechselt. An seine Stelle war eine neue Klasse von millionenfach aus mittelalterlichen Bauernmassen hervorgegangenen Staatsarbeitern getreten. Die fehlenden Fabriken stellten nur die eine Seite des Problems dar. Die andere Seite war, dass die wichtigste Produktivkraft unentwickelt war, nämlich der Mensch selber. Die neuen Arbeiter waren nicht durch die Schule der kapitalistischen Fabrik gegangen. War es unter anderen Bedingungen die historische Funktion der kapitalistischen Produktionsweise, in der Abfolge von Generationen eine Arbeiterklasse heranzubilden, die den Rhythmus der Industrie aus Erfahrung und Gewohnheit zu ihrem eigenen macht, so musste diese Aufgabe in der Sowjetunion der Staat übernehmen, und zwar nicht hauptsächlich durch ideologische Kampagnen und Appelle. Durch die Ausgestaltung der Produktionsverhältnisse musste das Arbeitsvermögen der ungeschlachten Millionenmassen geformt werden.

Um das Vagabundieren von einer Fabrik zur nächsten und die weitverbreitete Bummelei zu bekämpfen, wurden die bäuerlich-barbarischen Proletarier in den schwerindustriellen Riesenbetrieben sowohl mit Gewalt (Verbot des eigenmächtigen Arbeitsplatzwechsels, drakonische Strafen bei Zuspätkommen) als auch mit betriebsgebundenen Privilegien (betriebseigene Wohnung, bessere Einkaufsmöglichkeiten, Zusatzrenten etc) am Arbeitsplatz festgehalten. 1931 hatte Stalin die bis dahin betriebene „linkslerische“ Lohnpolitik attackiert. Das gleichmacherische Tarifsystem würde dazu führen, „dass der unqualifizierte Arbeiter kein Interesse hat, sich zum qualifizierten Arbeiter fortzubilden“;3 notwendig seien materielle Anreize zur Qualifizierung der Arbeitskraft. Im Gefolge heftiger Auseinandersetzungen wurden Zeitlöhne als überholt abgeschafft; auch kollektive Stücklöhne wurden kritisiert. Zwischen 1936 und 1956 arbeiteten mehr als drei Viertel aller Industriearbeiter für individuelle Stücklöhne.4 Die Stachanow-Bewegung war ein Haupthebel zur Verbreitung der Akkordarbeit, die das individuelle Leistungsvermögen entwickeln sollte. Die Stoßarbeiter waren unter den Kollegen wenig beliebt, wenn ihre Arbeit nicht sogar sabotiert wurde.

Nachdem 1933 das Volkskommissariat für Arbeit aufgelöst und damit die zentrale Kontrolle über die Löhne aufgehoben worden war, stiegen die Tariflohnunterschiede auf ein Verhältnis von ca. 1 : 4. Wird auch das Hilfspersonal (Putzfrauen, Pförtner, Boten) einbezogen, stiegen die Unterschiede bei den Effektivlöhnen (einschließlich Prämien etc) bis auf 1 : 12.5 Im Vergleich zu den Zeiträumen der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals wuchsen die gesellschaftlichen Produktivkräfte in der Sowjetunion unvergleichlich schneller und weniger opferreich. Von einem Abschluss der Entwicklung konnte aber nach gerade 20 Jahren Industrialisierung und nur einer Gerationenfolge keine Rede sein, zumal Jahr für Jahr weitere Bauernmassen aus den Dörfern in die Fabriken strömten.

Die neue, ungeschlachte Arbeiterschaft hatte keine Klassentradition und kein Klassenbewusstsein. Nicht im Widerspruch zum Kapital aufgewachsen und nicht im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zur Klasse formiert, war es auf dem sicheren Boden der Staatsindustrie groß geworden. Es trug keinen revolutionären Charakter und war nicht reif, eine „freie Assoziation der Arbeit“ zu bilden, die Produktion selbständig zu regulieren und die Staatsgeschäfte zu führen. Hinzu kam die Situation der Nachkriegszeit. „Geprägt und erschöpft von den gewaltigen Anstrengungen der Industrialisierung und Kollektivierung einerseits und der Zerschlagung des Nazifaschismus andererseits“ war die Arbeiterschaft wie die Bauernschaft „aus sich selbst heraus weder fähig noch bereit, einen neuen Ansturm in Richtung auf den Sozialismus zu organisieren. Beide Klassen wollten in den 50er Jahren die Früchte ihrer Arbeit und ihrer Leiden ernten und nicht erneut gewaltige Anstrengungen in eine ‚permanente Revolutionierung der Gesellschaft‘ investieren.“6 Die notwendige Permanenzerklärung der Revolution musste als Fortsetzung der „Revolution von oben“ durch den Staat erfolgen.

Neben der Arbeiterklasse war auch die Intelligencija neu. Die alte bürgerliche Intelligenz, in den 20er Jahren noch unentbehrlich für die Organisierung der Produktion, war mehr oder weniger bedeutungslos geworden. An ihre Stelle war eine neue „Sowjetintelligenz“ getreten, die zu Hunderttausenden von den alten und neuen Hochschulen und technischen Schulen strömte, hervorgegangen aus den Reihen der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der werktätigen Intelligenz. Wie die Arbeiterklasse wurde sie auf dem Boden der Staatsindustrie groß, geprägt durch den Industrialisierungssprung und den Weltkrieg, als die Organisierung der Produktion und der Kriegführung besondere Anforderungen stellte. Von der Stellung zu den Produktionsmitteln her bildete sie im Unterschied zu den Arbeitern und Bauern keine eigene Klasse, sondern eine Zwischenschicht, die in verschiedene Abteilungen zerfiel, vom Ingenieur (der am meisten ausgeübte Beruf) über den Agroingenieur bis zur geisteswissenschaftlichen und kulturellen Intelligenz. Sie konnte ihre Rolle nur innerhalb der Grenzen spielen, die von den beiden Hauptklassen gezogen wurden.

2. Der Kolchos

Auf dem Land war nach dem Gutsbesitzer auch der Kulak verschwunden. Der sog. „Mittelbauer“, der den Dreh- und Angelpunkt des fortgesetzten Arbeiter-Bauernbündnisses bildete, war der klassische Kollektivbauer der obscina. Er hatte erst aufbegehrt, als die zur Niederwerfung der Kulaken auf das Land entsandten proletarischen Stoßbrigaden ihm sein Stück privates Hofland und seine Kuh, das Kleinvieh etc abnehmen wollten, um das Dorf nicht nur in den Kochos, sondern gleich in eine Agrarkommune umzuwandeln und so das ganze Land direkt in den Kommunismus zu treiben. Wie in Kronstadt ca ein Jahrzehnt zuvor, so war der Sprung zum Kommunismus auch diesmal an einer Welle von Bauernaufständen gescheitert, die Stalin dazu nötigten, das Steuer herumzuwerfen. Der Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“7 wurde zum Panier des Kampfes gegen die Linken, der schließlich in die „große Säuberung“ mündete.

Auch die nach der Oktoberrevolution auf dem Land entstandenden Agrarkommunen bzw. Sowchosen, die bis dahin als Vorreiter des Kommunismus gegolten hatten, waren in den 30er Jahren gegen den Widerstand der Linken wegen Unwirtschaftlichkeit aufgelöst und in Kolchosen umgewandelt worden, deren Mitglieder auf eigene Rechnung wirtschaften mussten. Die absolut vorherrschende Betriebsform war der Kolchos, eine Produktionsgenossenschaft zur gemeinsamen Bodenbearbeitung. Staatsfarmen existierten nur noch als Zucht- und Musterbetriebe.

Die Kollektivierung bewirkte, dass die sozialen Unterschiede im Dorf verschwanden und das Proletariat einer weitgehend homogenen Bauernschaft gegenüberstand. Der Grund und Boden war nationalisiert (als Folge der bäuerlichen Landumteilungstradition), aber der Kolchos stand als Nachfolger der obscina im Eigentum seiner Mitglieder, verfügte über den Boden und wirtschaftete selbständig. Zwar gehörte die Agrarmaschinerie in den Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) dem Staat und war ein erheblicher Teil der Kolchosproduktion in den „Plan“ einbezogen, aber im Gegensatz zur Industrie wurde der Kolchos in erster Hand Eigentümer der von ihm mit eigenem Saatgut angebauten Bodenfrüchte, zumeist Getreide. Das von den Kollektivwirtschaften erzeugte Produkt war kein „gesellschaftliches, sozialistisches Eigentum“, wie die Verfassung von 1936 in Artikel 7 postulierte. Es gehörte dem Kolchos und musste von der Gesellschaft im Nachhinein angeeignet werden. Der Staat musste es den Kolchosbauern abkaufen, denn „andere ökonomische Verbindungen mit der Stadt als Warenbeziehungen, als Austausch durch Kauf und Verkauf sind für die Kollektivwirtschaften gegenwärtig nicht annehmbar“,8 wie Stalin Anfang der 50er Jahre anerkennen musste – und damit unter der Hand das Postulat der Verfassung revidierte.

Von der Ernte musste der Kolchos einen Teil für die Maschinenarbeit der MTS (kostenlos) abgeben und einen anderen Teil als Planlieferung zu niedrigen Festpreisen an den Staat verkaufen. Über die verbleibende größere „Hälfte“ (real etwa zwei Drittel) der Ernte konnte er mehr oder minder frei verfügen. Ein Teil musste als Saatgut für das kommende Jahr zurückgelegt werden, ein anderer Teil wurde als Naturalentlohnung zur Ernährung an die Kolchosmitglieder verteilt. Soweit die Ernte gut war und keine weiteren Reserven angelegt werden sollten, konnte der Kolchos dem Staat sodann den überschießenden Teil der Ernte als Überplanlieferung zu höheren Preisen liefern (oder schwarz verkaufen). Die Einkünfte des Kolchos wurden besteuert. Das Einkommen der Kolchosmitglieder, das im Durchschnitt erheblich unter dem der Fabrikarbeiter lag, richtete sich nach dem Ernteertrag und setzte sich aus einem Teil Naturalien und einem Teil Geld (umverteilte Beträge aus den Verkäufen) zusammen.

Die Tätigkeit, Rechte und Pflichten des Kolchos und seiner Mitglieder wurden im „Musterstatut des landwirtschaftlichen Artels“ von 1935 geregelt. Der gesetzlich vorgeschriebene Maßstab für die Bewertung der Arbeit (und damit für die Umverteilung der Ernte bzw. des durch ihren Verkauf erzielten Geldes) war die Leistungsnorm (Arbeitstagsnorm), die der Kolchosvorstand für alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten ausarbeiten musste. Bei schlechten Ernteergebnissen einer Arbeitsbrigade (unter dem Kolchosdurchschnitt) war der Vorstand verpflichtet, ihre Einkünfte um bis zu 10% zu kürzen. Bei überdurchschnittlichen Leistungen erhielten die Brigademitglieder einen Zuschlag bis zu 10%, besonders herausragende Stoßarbeiter bis zu 15%. Das Musterstatut war von einem Unionskongress der Stoßarbeiter der Kollektivwirtschaften angenommen worden war, bevor es durch den Obersten Sowjet Gesetzeskraft erhielt.9

Jede Kolchosfamilie hatte im Anschluss an ihren „Hof“ (das Wohngebäude mit Ställen) eine Privatparzelle zur Verfügung, deren Größe je nach Region zwischen ¼ und ½ Hektar schwankte. Während der Kolchos auf der Masse des Bodens Getreide und andere großmaßstäblich zu erzeugende Bodenfrüchte anbaute, wurde hier arbeitsintensive Kleinproduktion betrieben: Vieh wurde gehalten (1 Kuh, bis zu 2 Jungrinder, Schweine, Ziegen, Hühner etc) und neben Fleisch, Milch und Eiern noch Kartoffeln, Gemüse und Obst erzeugt. Die eigene Kuh war als Fleisch- und Milch-, aber auch als Düngerlieferantin (Kunstdünger wurde noch kaum hergestellt) der Mittelpunkt der Hofwirtschaft.10 Die Parzelle war nicht groß genug, um das Großvieh zu ernähren; das Viehfutter musste auf die eine oder andere Weise vom Kolchos beschafft werden, sei es, dass die Kuh auf dem Kollektivland grasen konnte, sei es, dass Viehfutter (Getreide) Teil der Naturalentlohnung für die Arbeit im Kolchos war oder zugekauft wurde. Auf dem Nutzland betätigten sich vor allem die Bäuerinnen. Genau wie der Kolchos selber musste die einzelne Kolchosfamilie einen per Norm festgelegten Teil ihrer Parzellenerzeugnisse dem Staat zu niedrigen Festpreisen verkaufen; den Rest konnte sie zu erheblich höheren Marktpreisen auf den in allen Städten vorhandenen freien Märkten (den sog. Kolchosmärkten) verkaufen. Der Erlös wurde besteuert.

Als Ganzes stellte der Kolchos eine Produktionsweise besonderer Art dar. Sie verband sozialistische Elemente (MTS, Wirtschaftsplan) mit einer Form der sowohl kollektiven (auf dem Gemeinland) als auch individuellen (auf dem Hofland) einfachen Warenproduktion unter Kontrolle des Staats. Aus dieser Verbindung resultierten permanente Konflikte. So musste beispielsweise der Maßstab für die Naturalbezahlung der MTS-Arbeiten von der tatsächlichen Ernte auf die geschätzte Halmernte umgestellt werden, weil die Bauern vom Ernteertrag regelmäßig größere Mengen verschwinden ließen. Der Kolchos war kein organischer Bestandteil der sozialistischen Wirtschaftsproduktion des Staats, sondern musste von außen, gestützt auf die staatlichen MTS-Stationen, unter Kontrolle gehalten werden. Trotz der millionenfachen Abwanderung in die Städte blieb die Bauernschaft zahlenmäßig stark; erst in den 60er Jahren überflügelte die Einwohnerschaft der Städte die Zahl der Landbevölkerung. Der Zuzug in die Städte war durch Inlandspässe reglementiert.

Zu ergänzen ist, dass neben den Kolchosmitgliedern auch die Stadtbewohner und Sowchosarbeiter Anspruch auf eine Privatparzelle hatten. Sie hatte zwar geringeren Umfang, wurde aber ebenso zum ganzen Teil nicht nur als Obst- und Gemüsegarten genutzt, sondern auch zur Viehhaltung. Die dort erzeugten Produkte konnten ebenfalls unter Besteuerung auf den städtischen Märkten frei verkauft werden.

3. Die Schlüsselkrise

Die aus diesen Verhältnissen resultierende Gesellschaftsordnung entsprach nicht dem Sozialismus, wie Marx ihn in der „Kritik des Gothaer Programms“ als erste Stufe des Kommunismus definiert hatte. Während Marx davon ausgegangen war, dass mit der Warenproduktion auch die Kategorie des „Werts“ untergegangen sei, nahm die einfache Warenproduktion der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit weiterhin breiten Raum ein. Vor allem war das Proletariat unentwickelt, und die Verhältnisse waren längst nicht so weit, den Staat in die Gesellschaft zurückzunehmen. Nicht die Gesellschaft, sondern der Staat trug den Sozialismus. In den Reihen der Kommunisten gab es eine wenig bekannte Debatte darüber, wie der erreichte Zustand zu charakterisieren sei. Zusammen mit der Verfassung von 1936 ging Stalin im offenen, allerdings nicht diskutierten Gegensatz zu Marx davon aus, dass man „den Sozialismus im wesentlichen schon verwirklicht, die sozialistische Gesellschaftsordnung errichtet“ habe.11 Dagegen vertraten Andere wie Molotow in den 50er Jahren in der Debatte um den Übergang zum Kommunismus die Überzeugung, dass erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen seien, noch nicht die sozialistische Gesellschaft selber.12

Mit dem Ende der Rekonstruktionsperiode zeigte sich, dass die Agrarproduktion stagnierte. Durch die Vernichtung der Kulaken waren „nur“ Verhältnisse geschaffen worden, die es dem Staat ermöglichten, einen Großteil des agrarischen Mehrprodukts (ca. ein Drittel der Ernte) an sich zu ziehen, um die Industrialisierung zu finanzieren und die größer werdenden Städte zu ernähren.13 Die agrarische Produktivität als solche hatte sich aber nicht geändert. Obwohl nach dem Weltkrieg viele Minikolchosen (ein Kolchos war meist mit dem vorherigen obscina-Dorf identisch) zu größeren Kolchosen zusammengelegt wurden, um u.a. die Organisierung des MTS-Einsatzes zu erleichtern, gingen die Pro-Hektar-Erträge nicht über das in den letzten Jahren des Zarismus erreichte Niveau hinaus. Die Lebensmittelerzeugung musste aber gesteigert werden, denn die wachsende Stadtbevölkerung benötigte als Grundnahrungsmittel mehr Brot. Außerdem gingen die sich entwickelnden Bedürfnisse einher mit vermehrter Nachfrage nach Fleisch, für dessen Erzeugung ebenfalls zusätzliches Getreide (als Viehnahrung) benötigt wurde. Die Stagnation der Ernten wurde zum Haupthemmnis für die weitere Entwicklung, und die Abhängigkeit von der agrarischen Urproduktion dokumentierte die real noch vorhandene Zurückgebliebenheit des Landes. Im Zentrum der aufbrechenden Auseinandersetzungen um die künftige Politik stand wie 1917, 1920/21 und in den 30er Jahren die Agrarfrage.

Außerdem war die Grundlinie der sowjetischen Außenpolitik umstritten. Durch den Weltkrieg war die UdSSR zur stärksten europäischen Macht geworden und neben den USA zur Weltmacht aufgestiegen. Das ehedem weltbeherrschende Großbritannien war geschwächt, und Deutschland lag am Boden. Außenpolitisch war der erste Gegner der UdSSR zunächst Großbritannien. Der Versuch der niedergehenden Seemacht, ihr koloniales Empire zu retten, machte die Sowjetunion als natürlichen Verbündeten der antikolonialen Bewegung zum Hauptfeind Großbritanniens. Davor trat bald Nordamerika, denn angesichts der drohenden kommunistischen Hegemonie über die europäisch-asiatische Entwicklung stellten die USA ihre „one world“-Politik“ ein und gingen im Zeichen des Antikommunismus zu einer Politik der Isolierung und Einkreisung der UdSSR über. Weil die erzwungene Hochrüstung das Land überforderte, musste darauf eine Antwort gefunden werden. Dabei stellte sich das Problem, dass mit dem besiegten Deutschland der Staat, mit dem die Sowjetmacht in der Zwischenkriegszeit gegen die anderen kapitalistischen Mächte hatte lavieren können, vorläufig ausgefallen war. Dasselbe galt für Japan. Im Verhältnis zur später so genannten „Dritten Welt“ ging es gleichzeitig um die Frage, wer von beiden – UdSSR oder USA – international die Führung im antikolonialen Befreiungskampf übernehmen würde, denn trotz des Bündnisses mit Großbritannien und Frankreich arbeiteten die USA unter der Hand gegen deren Kolonialreiche.

Gleichzeitig befand sich auch die internationale kommunistische Arbeiterbewegung in einer Krise. Seit ihrer Entstehung aus dem Feuer der Nachkriegskrise waren sämtliche Anläufe zur Machtergreifung auf dem Boden der sozialistischen Revolutionsstrategie der Komintern gescheitert. „Wo sich in Europa zwischen den Kriegen eine revolutionäre Situation entwickelte (Deutschland, Italien, Ungarn, Spanien), stand noch immer die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung, die in allen diesen Ländern unvollendet geblieben war. Theorie, Strategie und Taktik des europäischen Marxismus orientierten dagegen auf die Eroberung der politischen Macht in einer sozialistischen Revolution. In den entscheidenden Klassenschlachten dieser Zeit stand darum das Proletariat sowohl innerlich gespalten als auch ohne ein dem gesellschaftlichen Entwicklungsstand der jeweiligen Länder angemessenes Klassenbündnis mit den Massen des Kleinbürgertums da. Aufgrund dieser fehlerhaften Revolutionstheorie wurde der europäische Marxismus zu einer Theorie der Niederlagen für das Proletariat.“14 Die Niederlagen waren lediglich durch die Oktoberrevolution und den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion verdeckt worden.

Nach dem 2.Weltkrieg wiederholte sich das Dilemma der Zwischenkriegszeit. Obwohl die alten, herrschenden Klassenkräfte Europas durch den Krieg zerrissen und geschwächt waren, kam es in den industriell enwickelten Staaten zu keiner proletarisch-sozialistischen Revolution, und wiederum wurden die Fehlschläge durch den militärischen Sieg der Sowjetunion und den sprunghaften Mitgliederzuwachs der meisten europäischen KPs verdeckt. Es galt, die Kernfrage der Revolutionsstrategie, das Verhältnis von bürgerlicher zu sozialistischer Revolution, neu zu diskutieren. Das galt insbesondere für das geschlagene Deutschland, in dem die NS-Herrschaft die Notwendigkeit einer Vollendung der bürgerlichen Revolution erneut unter Beweis gestellt hatte und in dem jetzt, Jahrzehnte nach Herstellung des Nationalstaats, die nationale Einheit durch die Politik Adenauers und der Westmächte bedroht war. In der deutschen Frage paarten sich Revolutionsstrategie und sowjetische Außenpolitik.

4. Partei, Staat und Armee

Die Auseinandersetzung um die einzuschlagende Politik wurde geführt im Kräftefeld dreier politisch-gesellschaftlicher Kräfte: Partei, Staat und Armee. Die Repräsentanten der verschiedenen Linien waren zwar alle Mitglieder des Politbüros (später zeitweise: Präsidiums) der Partei, hatten ihre Machtbasis aber entweder in der Regierung, d.h. im Staatsapparat, oder in der Partei selber.

Die Partei hatte sich seit den 20er Jahren vollständig gewandelt. Die Säuberungen der 30er Jahre hatten den alten bolschewistischen Führungskern und mit ihm die Oktoberpartei der alten Arbeiterklasse und der „sozialistischen Intelligenz“ zerschlagen. Unter der weiterexistierenden Hülle war faktisch eine neue Partei entstanden. Das Grundproblem dieser Partei lag nicht allein darin, dass der 18.Parteitag 1939 die vormaligen Klassenkriterien für die Mitgliedschaft aufgehoben und sie für alle Werktätigen geöffnet hatte. Es lag vorher noch darin, dass sie als Massenpartei angesichts des Zustands der Arbeiterschaft ihre Funktion als Avantgarde des Proletariats nicht erfüllen konnte. Diese Partei bildete nicht mehr das Machtzentrum der UdSSR. Entgegen dem geltenden Statut vergingen seit dem 18.Parteitag dreizehn Jahre, bis 1952 der nächste Parteitag einberufen wurde. Stalin sorgte außerdem dafür, dass „das Plenum des ZK jahrelang nicht mehr zusammentreten“ konnte und selbst das Politbüro „nicht mehr normal funktionierte“, sondern an seiner Stelle „Dreier- oder Fünfergruppen … im Auftrage des Genossen Stalin voneinander unabhängig an verschiedenen Fragen und Aufgaben“ arbeiteten, wie ihm nach seinem Tod vorgeworfen wurde.15

Der Staatsapparat bestand aus zwei Hauptpfeilern: der Wirtschaftsverwaltung und dem Unterdrückungsapparat. Die Wirtschaft musste „von oben“ organisiert werden, weil der unzureichende Entwicklungs- und Ausbildungsstand der Massen auch in den 50er Jahren noch keine Dezentralisierung zuließ. Die Hauptaufgabe der zentralen Wirtschaftsverwaltung war die Umsetzung der 5-Jahres-Pläne. Die aufeinander abgestimmte ökonomische Entwicklung der verschiedenen Landesteile, in denen eine Industrie zum ganzen Teil erst aufgebaut werden musste, war gleichzeitig der Motor für die weitere Annäherung der Nationalitäten in dem riesigen Land. Sonst bestand die Gefahr, dass es nicht zur allmählichen Verschmelzung der Völkerschaften und Republiken, sondern zum Zerfall der Union kommen würde.

Der Unterdrückungsapparat sicherte u.a. das Verbot des Arbeitsplatzwechsels, organisierte die Arbeitslager und hielt die Partei in Schach. Er existierte in Gestalt einerseits des Staatssicherheitsdienstes, andererseits des Innenministeriums (Polizei). Dabei wurde in diesen Organen wie in der Partei selber ein erbitterter Kampf der Richtungen geführt, der sich beim Staatssicherheitsdienst im häufigen Führungswechsel und den Namensänderungen niederschlug (GPU, OGPU, NKWD, KGB). Eine Bemerkung Stalins auf dem 18.Parteitag, dass die große Säuberung notwendig gewesen sei, aber erhebliche Fehler begangen wurden, deutet die vorhandenen Widersprüche an.16 Sie sind bis heute nicht ernsthaft untersucht worden, sondern werden dank Chruschtschows tätiger Beihilfe mit der Phrase von der Allmacht Stalins abgemacht.

Von den aus allgemeinen, gleichen Wahlen hervorgegangenen „Sowjets“ gewählt, stand an der Spitze des Staats die von Stalin als Ministerratsvorsitzender (Ministerpräsident) geführte Regierung. „Die einflußreichste Position des Landes war im Jahr 1953 jene des Ministerratsvorsitzenden der UdSSR, die Stalin von 1940 bis 1953 einnahm. (…) Natürlich war Stalin nicht nur Chef des Politbüros, sondern auch erster ZK-Sekretär geblieben, aber dieses Amt wurde recht selten erwähnt – was deutlich machte, wie sehr der Parteiapparat im System der sowjetischen Staatsorgane an Kraft eingebüßt hatte.“17

Darüber hinaus spielte die Armee in der noch wenig gefestigten Gesellschaft latent eine wesentliche Rolle, zumal der Krieg ihre Stellung gestärkt hatte. Allerdings war sie selber wie die Partei durcheinandergewirbelt worden. Mit allen Vorbehalten können in ihr grob zwei Richtungen dingfest gemacht werden: eine Richtung stand in der „linken“, kriegskommunistischen Gründungstradition der Roten Armee, als Vertreter kann ein Mann wie Woroschilow gelten; daneben hatte sich insbesondere durch den „Großen Vaterländischen Krieg“ eine russisch-nationale Strömung ausgebildet, die durch Schukow repräsentiert wurde, der zunächst stellvertretender und dann Verteidigungsminister war – „ein leidenschaftlicher Patriot und der Kirche nicht feindlich gesinnt“.18

Neben der Armee verfügte noch das Innenministerium über eigene Truppen in Stärke von mehreren Divisionen, allerdings ohne schwere Waffen.

II. Drei Linien

In der Schlüsselkrise traten letztlich drei verschiedene Strömungen auf den Plan, repräsentiert durch unterschiedliche Personen: eine „linke“ Richtung ( Chruschtschow), eine „rechte“ (Malenkow), sowie das „Parteizentrum“ (Stalin). In ausgearbeiteter Form liegen nur die Vorstellungen Stalins vor; sie finden sich großenteils in der Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus“ von 1952 und verdienen als einzige den Namen Programm. Die anderen Linien existieren in Gestalt politischer Positionen zu Kernfragen der Entwicklung, die eine zusammenhängende Grundrichtung erkennen lassen. Die Widersprüche wurden nicht in offener Feldschlacht ausgetragen. Stalin selber befand sich in der Minderheit und musste zurückhaltend agieren. Stalins Gegner hatten seine Autorität als Organisator des Siegs im Weltkrieg zu fürchten und zogen den verdeckten Kampf vor; je lauter das Lob des „genialen Führers aller Werktätigen“ gesungen wurde, desto genauer musste man hinhören.

1. Die Linie der „Linken“

Im „linken“ Parteiflügel herrschte eine Offensivideologie des Sturmlaufs zum Kommunismus vor. Sie knüpfte an die heroische Periode der Oktoberrevolution an, als die Reiterarmee Budjonnys die Diktatur des Proletariats vorübergehend weit nach Westen vorgetragen hatte – bis eine Welle der nationalpolnischen Bewegung sie vor Warschau gestoppt hatte -, und als im Innern die Ware-Geld-Beziehungen durch die Verteilung der Güter nach Plan ersetzt waren – bis die Bauern in Kronstadt die Requirierung ihres Getreides und damit das Kernstück dieses Verteilungskommunismus zu Fall gebracht hatten.

Bedingt durch die sich ändernden Umstände, herrschte die „linke“ Linie nacheinander in zwei unterschiedlichen Ausprägungen vor. In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging sie aufgrund der unverhüllten Feindschaft Großbritanniens und dem Bruch der Anti-Hitler-Koalition durch die USA davon aus, dass wegen der aggressiven Natur des Imperialismus ein neuer Krieg bevorstand, der diesmal im Unterschied zur unnatürlichen Frontbildung des vorangegangenen Kriegs zwischen dem einheitlichen, US-geführten „Lager des Imperialismus“ und dem „Lager des Sozialismus“ ausgetragen würde (Zwei-Lager-Theorie). Am Ausgang dieses unvermeidlichen Kriegs würde der Sieg des Sozialismus in ganz Europa, wenn nicht weltweit stehen.

In dieser „kriegskommunistischen“ Version wurde sie von Shdanow repräsentiert, der die treibende Kraft hinter der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) war. Gegen Stalin, der zu dieser Zeit zwischen Großbritannien und den USA zu manövrieren suchte und insbesondere den USA Konzessionen machte (z.B. in China), um die Sowjetunion nicht zu überfordern, führte Shdanow auf der Gründungsversammlung des Kominform 1947 aus, dass die „Hauptgefahr für die Arbeiterklasse jetzt in der Unterschätzung der eigenen und in der Überschätzung der gegnerischen Kräfte“ liege. Konzessionen an die USA und das imperialistische Lager würden dieses nur noch aggressiver machen.19 Die Sowjetische Besatzungszone in Deutschland bildete den Schlüssel für die verfolgte Offensivstrategie, und zwar sowohl militärisch (als Brückenkopf für den erwarteten Krieg mit dem Imperialismus) als auch politisch (durch den schnellstmöglichen Übergang zum Sozialismus). So schmiedete die deutsche Frage auf dem Boden der Zwei-Lager-Theorie „Linke“ und Militärs zusammen und verband sie mit der SED-Führung.

Als die Fronten im 1950 begonnenen Korea-Krieg einfroren, wurde deutlich, dass auf absehbare Zeit mit einer großen militärischen Auseinandersetzung nicht zu rechnen war. An die Stelle der außengerichteten Orientierung der ersten Nachkriegsjahre trat eine auf die innere Entwicklung, d.h. auf die schnellstmögliche Errichtung des Kommunismus zielende Orientierung, deren Repräsentant Chruschtschow wurde.

Wirtschaftspolitisch herrschte in dieser Richtung die Missachtung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten und insbesondere des Wertgesetzes vor. Beflügelt durch die außerordentlichen Umstände der Industrialisierungsphase und des Weltkriegs ging man davon aus, dass objektive, unabhängig vom Willen des Menschen existierende Gesetze des Wirtschaftsgeschehens gegenüber der bewussten Regulierung der Ökonomie keine Rolle mehr spielten und der Plan allmächtig sei. Auf dieser Basis ging man vom raschen Übergang zum Kommunismus aus, dessen unmittelbares Bevorstehen wenige Jahre nach Chruschtschows vollständiger Machtübernahme der 22.Parteitag 1961 offiziell verkündete. Die wissenschaftliche Begründung dafür lieferte der Politökonom L.D.Jaroschenko mit der Theorie von der „rationellen Organisation der Produktivkräfte“. Ihr zufolge war nicht die Klassenpolitik, sondern die immer bessere Organisierung der Produktion verantwortlich für den Fortschritt. Stalin verglich diese Theorie mit der Bogdanowschen „Allgemeinen Organisationswissenschaft“ und warf Jaroschenko vor, den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus als „viel zu einfach, kindisch einfach“ darzustellen.20

Mit dem Kommunismus würde die für den Sozialismus maßgebliche Verteilungsformel „Jedem nach seiner Leistung“ durch die Verteilung der Güter „nach den Bedürfnissen“ ersetzt werden. Für die Masse der Arbeiterschaft verknüpfte sich mit dem Kommunismusversprechen der Linken das Ende der Leistungslohnpolitik und Stoßarbeiterbewegung sowie die Aussicht auf sprunghaft steigende Konsumtionsmöglichkeiten.

Die für den Kommunismus erforderliche Lösung der Agrarfrage schlug Chruschtschow am 4.März 1951 in einem Prawda-Artikel vor. Er forderte die Auflösung der Kolchosdörfer und ihre Zusammenlegung in neu zu errichtenden „Agrostädten“; in ihnen sollte das persönliche Nutzland verkleinert und vom Wohnort getrennt, d.h. am Rand der neuen Siedlungen zusammengelegt werden.21 Der Artikel ging davon aus, dass das Angebot der mit allen modernen Errungenschaften versehenen Landstädte die Bauern veranlassen würde, ihren privaten Hof freiwillig aufzugeben. Wie der Bau dieser Agrostädte zu finanzieren war, wurde nicht erläutert. Chruschtschows Vorschlag wurde nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Mehrheit des damaligen Politbüros abgelehnt. „Nach einiger Zeit schickte man ein geheimes Rundschreiben, das Chruschtschows Artikel für irrig erklärte, durch alle Parteiorganisationen.“22 Den Mitgliedern der ärmeren Kolchosen kam die Verstaatlichungsforderung entgegen. Sie waren bei einer Übernahme durch den Staat nicht mehr selber für ihren Lebensunterhalt verantwortlich, sondern wurden vom Staat unterhalten.

Schließlich spielte die Intelligenz bei den Linken eine besondere Rolle. Die „Intelligenzija“ wird als „Chruschtschows zuverlässigste Stütze während der Entstalinisierung“ bezeichnet.23 Gemeint sind damit allerdings die Kulturschaffenden, nicht die Techniker. Chruschtschow betrieb eine andere Kulturpolitik als Shdanow, der als treibende Kraft bei der parteimäßigen Gleichstellung der neuen Intelligenz mit den Arbeitern und Bauern auf dem 18.Parteitag 1939 gilt.24 Die Unterschiede sind noch genauer zu untersuchen.

Hinzu kam die Jugend, die sich für die Perspektive des Kommunismus begeisterte und bereit war, dafür große Opfer zu bringen. In den „Ökonomischen Problemen“ sprach Stalin davon, dass „Tausende neuer junger Kader“, die jedes Jahr zur Partei stießen, „vor den außerordentlichen Erfolgen der Sowjetordnung von Schwindel befallen“, sich einbildeten, dass die Sowjetmacht „alles vermag“.25

Hinter der von Chruschow erhobenen Fahne des Kommunismus sammelte sich so ein heterogenes Bündnis zwischen der Masse der Arbeiterschaft, dem „armen“ Teil der Kolchosbauern, (Teilen) der Intelligenz und der Jugend. Die gemeinsame kommunistische Parole verdeckte die widersprüchlichen Zielsetzungen der unterschiedlichen sozialen Kräfte.

In der KP als einer Massenpartei tendierte die Mehrheit zu den „Linken“. Sobald das vielhundertköpfige Zentralkomitee wieder zusammentrat (nach Stalins Tod), erhielt Chruschtschow dort für seine Vorschläge regelmäßig Zustimmung. Solange Stalin Generalsekretär der KPdSU war, kam diese Stärke indes nicht zur Geltung, weil in der Parteiführung (Politbüro/Präsidium) andere Kräfteverhältnisse herrschten, das ZK (statutenwidrig) nicht zusammengerufen wurde, und von 1939 bis 1952 (ebenfalls statutenwidrig) kein Parteitag stattfand.

Geographisch war Leningrad, die westlichste und europäischste Großstadt des Landes, das Zentrum der Linken. Von Trotzki über Sinowjew bis hin zu Shdanow, als Gebietsparteisekretär Nachfolger des 1934 ermordeten Kirow, verfochten die führenden Funktionäre in diesem Industriezentrum traditionell eine „linke“ Politik, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Nach Shdanows Tod 1948 wurde eine große Säuberung in der Leningrader Parteiorganisation durchgeführt. Unter der Anklage des versuchten Sturzes der Regierung verloren mehrere tausend Parteifunktionäre ihre Posten. Die „Leningrader Affäre“ sorgte dafür, dass die Partei weiterhin kaum Einfluss auf die Politik der vom Parteizentrum und der „Rechten“ dominierten Regierung hatte.

1949 wurde das Kominform auf seiner Budapester Beratung auf die Herausgabe der Zeitung „Für dauerhaften Frieden, für Volksdemokratie“ beschränkt (1956 löste es sich formal auf), und 1951 wurde Chruschtschows Agrarprogramm zurückgewiesen. Damit waren die Vorstöße der Linken vorerst erfolglos geblieben. „Unverkennbar war aber doch, dass die Parteiführung sowohl (durch) den Verzicht auf die großsprecherischen Ambitionen Zdanovs und des Kominform auf außenpolitischem Gebiet als auch auf die zweite Agrarrevolution in innerpolitischer Hinsicht einen gewissen Prestigeverlust erlitten hatte.“26 Um die Politik des „linken“ Mehrheitsflügels zu verwirklichen, musste daher erstens das ZK die Parteiführung (Politbüro/Präsidium) in die Hand bekommen und zweitens die Partei wieder zur Herrin des Staats werden. „Chruschtschow wusste also, welche Aufgabe Priorität hatte: Er musste die führende Rolle im Machtsystem des Landes für die Partei und ihr Zentralkomitee zurückerobern.“27

2. Die Linie des Parteizentrums

Stalin legte seine Vorstellungen zur Revolutionspolitik und Gesellschaftsentwicklung in den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus“ nieder, in Abgrenzung hauptsächlich gegen die „Linken“, daneben gegen die „Rechten“. Vieles ist darin nur angedeutet bzw. in allgemeiner Form enthalten; wesentliche Überlegungen sind unsystematisch oder in Nebensätzen abgehandelt, so dass der Eindruck entsteht, dass der Autor noch dabei war, die eigenen Gedanken zu klären. Die Schrift stand offenbar erst am Beginn einer weitergehenden Auseinandersetzung.

Stalins Bemerkungen zur Revolutionsstrategie beschränken sich auf einen Passus in den „Ökonomischen Problemen“ und seine Rede auf dem 19.Parteitag der KPdSU. Er wandte sich dagegen, in den kapitalistischen Ländern den Sozialismus auf die Tagesordnung zu setzen; die vorhandene Bewegung habe demokratische Ziele, nämlich den Kampf um Frieden, aber nicht um Sozialismus.28 Auf dieser Linie forderte er die internationale kommunistische Bewegung auf dem 19.Parteitag auf, das von der Bourgeoisie fallengelassene „Banner der bürgerlich-demokratischen Freiheiten“ zu erheben, für nationale Unabhängigkeit und Souveränität einzutreten und so die „führende Kraft der Nation“ zu werden.29 Ohne dass er darauf näher einging, bedeutete dies in der Konsequenz den Bruch mit der sozialistischen Revolutionsstrategie des europäischen Marxismus.

Außenpolitisch rechnete Stalin im 6.Abschnitt „der Ökonomischen Probleme“ unter der Überschrift „Über die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern“ mit den Anhängern der 2-Lager-Politik ab.30 Er ging wie seine Gegner von der gegenwärtigen Tatsache der Existenz zweier Lager aus, entwickelte aber sodann eine Strategie, um das Lager des Imperialismus zu spalten und den Zwei-Lager-Gegensatz aufzulösen. Wenn man nur die gegenwärtige Vorherrschaft der USA über das imperialistische Lager sehen würde, bleibe man an der Oberfläche, führte er aus. Auf Dauer seien die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Ländern größer als ihr gemeinsamer Gegensatz gegen den Sozialismus. Darum sei auch die Behauptung von der Unvermeidlichkeit eines Kriegs zwischen dem Lager des Imperialismus und dem Lager des Sozialismus falsch. Wahrscheinlicher sei ein erneuter Krieg zwischen den kapitalistischen Mächten. Die Bemühungen der USA um die Schaffung eines westlichen Militärbündnisses bewertete er in den internen Gesprächen mit der SED-Führung nicht als Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion, wie das die „Linken“ behaupteten, sondern als Versuch, die amerikanische Hegemonie über Europa abzusichern: In den internen Gesprächen mit der SED führte er laut den Notizen Wilhelm Piecks aus: „Schaffung Europa-Armee – nicht gegen SU, sondern um Macht in Europa“.31 In einer historischen Parallele verwies er auf die Situation der Zwischenkriegszeit und die Konstellation des 2.Weltkriegs, als die Sowjetunion mit einem Teil der Imperialisten gegen den anderen zusammenging. Daraus ergab sich eine erneute Politik des Lavierens zwischen den kapitalistischen Mächten.

Der Haupthebel für diese Politik war Deutschland. Stalin wollte die deutsche Frage durch eine nationaldemokratische Politik der Vollendung der bürgerlichen Revolution und die Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschland an der Seite der Sowjetunion lösen – gegen die USA.32 Dadurch würde zugleich die „Zwei-Lager-Politik“ unterlaufen, die die Sowjetunion überforderte. Das hieß für die deutschen Kommunisten, anstelle des Kampfes um den Sozialismus den Kampf um die nationale Einheit gegen die von Adenauer geführte (west-)deutsche Bourgeoisie voranzustellen, um so den Weg zur Macht zu öffnen. Eine solche Politik verlangte von ihnen den Bruch mit der 1918/19 eingeschlagenen Revolutionsstrategie; der Sozialismus würde erst in der folgenden Etappe auf die Tagesordnung treten. In der SED/KPD konnte Stalins Orientierung keine Wurzeln schlagen.

In ihrem Hauptteil stellte die Stalinsche Schrift, wie klügere bürgerliche Beobachter seinerzeit bemerkten, „den Versuch dar, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die ihm wegen seiner Innen- und Wirtschaftspolitik gemacht werden“.33 Den Übergang zum Kommunismus in der Sowjetunion erklärte Stalin für nicht aktuell. Zunächst müsste ein ununterbrochenes Wachstum der gesellschaftlichen Produktion gesichert sein, der Kolchos in allgemeines Volkseigentum übergehen, die Warenzirkulation durch Produktenaustausch ersetzt werden und die allseitige Entfaltung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten aller Gesellschaftsmitglieder gewährleistet sein, wozu u.a. der Übergang zu einem höchstens sechsstündigen Arbeitstag, die Verdoppelung des Reallohns, die grundlegende Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und eine umfassende Bildung durch allgemeinen polytechnischen Unterricht gehörten, um nicht zeitlebens an einen einzigen Beruf gefesselt zu sein. Erst „nach Erfüllung aller dieser Vorbedingungen in ihrer Gesamtheit“ sei zu hoffen, dass die Arbeit aus einer Bürde zum ersten Lebensbedürfnis geworden sei.34 In der Auseinandersetzung mit Jaroschenko führte er dazu näher aus, dass die Gesellschaft bis zum Kommunismus noch „eine Reihe von Etappen der ökonomischen und kulturellen Umerziehung … durchlaufen muss, während deren die Arbeit aus einem lediglich dem Lebensunterhalt dienenden Mittel in den Augen der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis und das gesellschaftliche Eigentum zur unerschütterlichen und unantastbaren Grundlage der Existenz der Gesellschaft werden muss.“ Erst dann könne man gemäß der kommunistischen Formel verfahren: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“.

Entgegen den Illusionen über die Aufhebung der ökonomischen Gesetze verlangte Stalin die Anerkennung von objektiven, vom Willen der Menschen unabhängigen Gesetzmäßigkeiten. Drei dieser Gesetze zählte er für den Sozialismus auf: die Übereinstimmung der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen, die planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft, das Wertgesetz. Zum Wertgesetz erläuterte er näher, dass es die Produktion nicht insgesamt regulieren, aber weiterbestehen und wirken würde, und zwar – im Unterschied zur Produktionsmittelindustrie – in der Konsumgüterherstellung. „Die Konsumgüter, die für die Deckung des Aufwands an Arbeitskraft im Produktionsprozess notwendig sind, (werden) bei uns als Waren erzeugt und realisiert …, die der Wirkung des Wertgesetzes unterliegen.“ Das Wertgesetz galt also nicht nur im agrarischen Bereich, für die im Kolchos erzeugten Lebensmittel, sondern auch für die städtische Konsumgüter- bzw. Leichtindustrie. Hier würde das Wertgesetz sogar, „natürlich in bestimmten Grenzen, die Rolle eines Regulators“ spielen.35 Aus der Weiterwirkung ökonomischer Gesetze folgerte er u.a. die unbedingte Beachtung der wirtschaftlichen Rechnungsführung, der Selbstkosten und der Preise, und kritisierte das verbreitete „Geschwätz“ der Ökonomen, die sich mit „aus der Luft gegriffenen schätzungsweisen Angaben“ um die Notwendigkeit von Rentabilitätsberechnungen herumdrückten.

Zur Lohnpolitik äußerte sich Stalin in den „Ökonomischen Problemen“ nicht explizit. Seine Kritik an der Kommunismuspolitik und sein Hinweis auf eine ganze „Reihe von Etappen der ökonomischen und kulturellen Umerziehung“ der Gesellschaft bis zum Kommunismus zeigen jedoch, für wie unentwickelt er die sowjetische Arbeiterschaft noch hielt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Akkord- und Leistungslohnpolitik.

Um die Ergebnisse einer steigenden Produktivkraft der Arbeit weiterzugeben, gab es prinzipiell zwei Alternativen: entweder konnte die Arbeiterschaft für sich selber höhere Löhne beanspruchen, oder der Preis der Konsumgüter für die ganze Gesellschaft konnte gesenkt werden. Der Lohnkampf war im Zeichen der Auflösung der Klassen reaktionär. Wollte das Proletariat die Gesellschaft in den Kommunismus führen, so durfte es sich ihr gegenüber nicht als separate Klasse verhalten, sondern musste eine Politik der Aufhebung der Klassen verfolgen. Es hatte also nicht für die Erhöhung der eigenen Lohneinkünfte zu fechten, sondern musste die ganze Gesellschaft – sich selber eingeschlossen – durch sukzessive Verbilligung der individuellen Konsumtionsmittel an der Entwicklung seiner Produktivität teilhaben lassen. Auf diesem Weg ging es den anderen Klassen und Schichten voran und betätigte sich als Hegemon. Im Maße der ökonomischen und kulturellen Entwicklung waren sodann die heute noch unumgänglichen Unterschiede innerhalb der Klasse selber wie zwischen Arbeiterklasse, Bauernschaft und werktätiger Intelligenz allmählich einzuebnen, um die Klassen verschwinden zu lassen.

Da Stalin ausdrücklich die Beachtung des Wertgesetzes in der Produktion von Konsumgütern verlangt hatte, war die Konsequenz, dass deren Preise mit der Produktivkraftentwicklung fallen mussten. Der vom 19.Parteitag im Entwurf gebilligte neue Fünfjahrplan sah Preissenkungen im Maßstab des Produktivitätsfortschritts vor. Die Steigerung des Lebensstandards sollte „nicht auf dem Wege über die leicht kontrollierbare Erhöhung des Nominallohnes, sondern auf dem weit weniger übersichtlichen Wege der Preissenkung erreicht werden.36

Gegenüber den Bestrebungen nach Verstaatlichung des Kolchos warnte Stalin vor allen Maßnahmen, die von den Bauern als „Expropriation“ aufgefasst werden könnten, denn einen ernsthaften Konflikt mit der Bauernschaft konnte die proletarische Macht weiterhin nicht durchstehen. Er erklärte, dass die Verstaatlichung nur eine „niedere Form“ der Nationalisierung sei; die Entwicklung des Kolchos müsse einen anderen Weg einschlagen,37 indem der Kolchos zu einem späteren Zeitpunkt auf direktem Weg vergesellschaftet würde, als „höhere Form“ der Nationalisierung. Den Weg dorthin zeichnete er in Form einer Doppelstrategie gegenüber den Bauern vor:

Zunächst hielt er fest, dass im Kolchos Warenproduktion stattfand, weil die Bauern Eigentümer der von ihnen mit eigenem Saatgut angebauten Bodenfrüchte wurden. Deshalb, so seine Schlussfolgerung unter Rückgriff auf die NEP, „sind Warenproduktion und Warenumlauf bei uns gegenwärtig eine ebensolche Notwendigkeit, wie sie es beispielsweise vor dreißig Jahren waren, als Lenin die Notwendigkeit der allseitigen Entfaltung des Warenumlaufs verkündete.“38 Davon ausgehend war seine erste Schlussfolgerung, das Wertgesetz zu beachten. Welche konkreten Konsequenzen sich daraus ergaben, erörterte er nicht weiter. Die Unterwerfung der selbstwirtschaftenden Agrarbetriebe unter die ökonomischen Gesetze der (nichtkapitalistischen) Warenproduktion musste in der gesellschaftlichen Praxis jedenfalls einen Druck zur Entwicklung des Leistungsvermögens ausüben.39 Weiterhin verlangte er die Fortsetzung des vorrangigen Ausbaus der Schwerindustrie, die als Produktionsmittelindustrie eine neue Generation von Agrarmaschinen liefern sollte, um die agrarischen Produktivkräfte auch von der Seite der Technik her zu entwickeln. Da die MTS-Maschinerie dem Staat gehörte, würde die zunehmende Technisierung die Herrschaft über das flache Land sichern helfen. Um ein größeres agrarisches Mehrprodukt zur Versorgung der Städte abzuschöpfen, trat er intern (nicht in den „Ökonomischen Problemen …“) dafür ein, die Steuern auf dem Land zu erhöhen, wie ihm auf dem Berija-Plenum des ZK im Juli 1953 von Malenkow vorgehalten wurde.40

Auf der anderen Seite plädierte er dafür, die Warenproduktion allmählich einzuschränken, mit dem Ziel, sie auf lange Sicht abzuschaffen und das Wertgesetz aufzuheben. Er schlug vor, den Warentausch (von Konsumtionsmitteln) mit der Bauernschaft schrittweise durch Produktentausch zu ersetzen. Auf diesem Weg sollte der Kolchos ohne den Umweg über die abgelehnte Verstaatlichung vergesellschaftet, d.h. in allgemeines Volkseigentum überführt werden. „Um das kollektivwirtschaftliche Eigentum auf das Niveau des allgemeinen Volkseigentums zu heben, muss man die Überschüsse der kollektivwirtschaftlichen Produktion aus dem System der Warenzirkulation herausziehen und in das System des Produktentauschs zwischen der staatlichen Industrie und den Kollektivwirtschaften einbeziehen. Das ist das Wesentliche.“41 Wie die anzustrebende Verschmelzung der beiden Sektoren, in denen individuelle Konsumtionsmittel produziert wurden (des agrarisch-genossenschaftlichen und des industriell-staatlichen), in der Zukunft konkret stattfinden sollte, erklärte er für ein offenes, gesondert zu diskutierendes Problem.42 Sie würde auf jeden Fall erst mit dem gegenwärtig nicht aktuellen Übergang zum Kommunismus anstehen.

Ohne dass Stalin es so formulierte, lief sein Programm darauf hinaus, den Sozialismus über eine (nach der NEP) zweite „bürgerliche“ Phase der Revolution aufzubauen: Gegenüber der Arbeiterschaft Leistungslöhne und Akkordarbeit, verknüpft mit frühbürgerlichen Methoden außerökonomischer Gewaltanwendung, um die Arbeitskraft zu entwickeln; gegenüber der Bauernschaft die Anerkennung von Warenproduktion und Wertgesetz. Diese Politik entsprach den Interessen der Gesamtbewegung, wurde aber nicht von der Arbeiterklasse getragen. Das Parteizentrum konnte sich nur auf eine fortgeschrittene Minderheit unter den Werktätigen stützen, nämlich auf die Stoßarbeiter und die Beschäftigten der MTS-Stationen. Eine solche Politik musste als Fortführung der „Revolution von oben“ umgesetzt werden. Der Staat war also nicht abzubauen, wie Marx und Engels das für die niedere Phase des Kommunismus – den Sozialismus – vorausgesagt hatten, sondern musste vorübergehend weiter ausgebaut werden, um den Sozialismus in Form des Staatssozialismus zu entwickeln. In der 1950 veröffentlichten Schrift „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft“43 trat Stalin für die weitere Stärkung des Staats ein, begründete dies allerdings nicht mit der inneren, ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion, sondern mit der Bedrohung von außen, durch die imperialistische Gegnerschaft.

Wie 1921 die NEP und nach 1930 die Drosselung der Kollektivierung war eine solche Politik war nur gegen die „linken“ Mehrheiten in der Partei zu realisieren. Die Wortwahl „von Schwindel befallen“,44 mit der Stalin in den „Ökonomischen Problemen“ vielen Parteimitgliedern eine subjektivistische Haltung vorhielt, schlägt den Bogen zur Auseinandersetzung mit den Linken, die er 1930 mit seinem Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ begonnen hatte.

3. Die Linie der Rechten und die Position Molotows

Eine internationale Revolutionsstrategie der „Rechten“ ist nicht erkennbar. Außenpolitisch war Malenkow mit Stalin (und Berija) ein Gegner der 2-Lager-Theorie und wandte sich gegen den Übergang zum Sozialismus in der SBZ/DDR.

Das hervorstechende Merkmal der „rechten“ Linie war die Wirtschaftspolitik, die in den „Neuen Kurs“ der nach Stalins Tod von Malenkow übernommenen Regierung mündete. In seinem Rechenschaftsbericht auf dem 19.Parteitag 1952 wies Malenkow explizit das Agrarprogramm Chruschtschows und der Linken zurück, indem er ungenannte „einzelne unser führenden Funktionäre“ attackierte, weil sie „Kolchosstädte“ oder „Agrarstädte“ schaffen wollten.45 Er wandte sich auch gegen die von Stalin vorgeschlagene allmähliche Einschränkung der Warenproduktion, aber – soweit erkennbar – erst nach dessen Tod. Auf dem „Berija-Plenum“ des ZK im Sommer 1953 bezeichnete er die in den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus“ aufgeworfene Frage „der Fristen und Formen des Übergangs zum Produktenaustausch“46 als „ein komplexes und kompliziertes Problem, das die Interessen von Millionen von Menschen, die Interessen unserer gesamten wirtschaftlichen Entwicklung tangiert, und es wäre erforderlich gewesen, dieses Problem gründlich abzuwägen und umfassend zu untersuchen, bevor man der Partei einen programmatischen Vorschlag unterbreitet.“47 Stattdessen sprach er von der „noch für viele Jahre bedeutendsten Aufgabe der allseitigen Entfaltung des Warenaustausches“.48 Das bedeutete die Förderung des bestehenden Kolchos und der bäuerlichen Hoflandproduktion u.a. durch höhere Agrarpreise.

Damit verband sich der Vorrang der Leichtindustrie anstelle der Schwerindustrie, um die für den Austausch mit der Bauernschaft nötigen Produkte herzustellen. Zwar zitierte Malenkow auf dem 19.Parteitag in seinem Rechenschaftsbericht ausführlich Stalin mit der Forderung nach einem bevorzugten Wachstum der Produktionsmittelindustrie, wer aber genau liest, muss feststellen, dass er dies im Zusammenhang mit dem „Übergang zum Kommunismus“ tut und dabei von den „Zukunftsplänen der Partei“ spricht, während er gleichzeitig – ebenfalls unter Zitierung Stalins – vor „leichtsinniger Übereilung“ warnt und sich dagegen ausspricht, „dass man zu höheren ökonomischen Formen übergeht, bevor man die notwendigen Voraussetzungen für einen solchen Übergang geschaffen hat.“49 Das heißt, dass er – mit Stalin, gegen die Linken – den Übergang zum Kommunismus als Utopie ablehnte und stattdessen – gegen Stalin und die Linken – für die vorrangige Konsumgüterherstellung für die Bauern anstelle des Ausbaus der Produktionsmittelindustrie eintrat.

Dem Wesen nach handelte es sich bei dieser Linie um ein Wiederaufgreifen der Neuen Ökonomischen Politik der 20er Jahre. Der Warentausch mit dem Land, 1928/29 aufgrund der mangelnden Leistungsfähigkeit der Industrie zusammengebrochen, sollte jetzt auf höherer Stufe, gestützt auf die inzwischen vorhandene Schwerindustrie, erneut ins Zentrum der Wirtschaft rücken und zur Basis der weiteren Industrialisierung dienen. Auch klassenmäßig ging die Politik Malenkows in dieselbe Richtung, nur dass die Kulaken inzwischen untergegangen waren. Der rechte Parteiflügel vertrat objektiv die Interessen der Masse der Kolchosbauernschaft. Die „Rechten“ waren in der Regierung, insbesondere im Wirtschaftsapparat stark und repräsentierten auch insoweit dieselbe Kombination von Bauern und Wirtschaftsfachleuten wie Bucharin. Ihre Politik konnte sich wie die Stalins nicht auf die Partei stützen, sondern war nur mithilfe des Staats zu verwirklichen.

Als vierte Position ist die von Molotow zu erwähnen. Sie spielte in den Auseinandersetzungen keine eigenständige Rolle, ist aber wegen der Stellung zum Sozialismus und Kommunismus interessant. Molotow war als stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats jahrelang der zweite Mann hinter Stalin und auch theoretisch aktiv. „Nach Stalin galt Molotow als der bedeutendste Theoretiker der Partei.“50 Außenpolitisch verfocht er die 2-Lager-Theorie und war daher ein Gegner von Stalins Deutschlandpolitik. Aus diesem Grund von Stalin 1949 als Außenminister durch Wyschinski ersetzt, übernahm er unmittelbar nach Stalins Tod wieder seinen alten Posten. Insoweit zu den „Linken“ zu rechnen, vertrat er andererseits gesellschaftspolitisch eine sehr zurückhaltende Linie. Sie wurde 1955 und 1957 öffentlich bekannt, existierte mit Sicherheit aber bereits vorher. Gegenüber den Forderungen, unverzüglich zum Kommunismus überzugehen, erklärte er, dass in der Sowjetunion noch nicht einmal die sozialistische Gesellschaft existiere, sondern erst ihre Grundlagen errichtet seien, d.h. das „Fundament“ der sozialistischen Gesellschaft.51 Welche politischen Schlussfolgerungen sich damit verknüpften, ist nicht klar. Entscheidend ist, dass er keine gesellschaftliche Kraft repräsentierte. „Molotow, so angesehen und bekannt er war, verfügte nämlich über keinen Machtapparat innerhalb der UdSSR. Er leitete nur das Außenministerium und die Tätigkeit der sowjetischen Botschaften.“52

III. Die Niederlage der „Rechten“

Durch die Leningrader Affäre war der linke Parteiflügel nur zurückgedrängt, aber nicht vernichtet worden. Wechsel in der Führung des Staatssicherheitsministeriums, die sog. „Ärzte-Affäre“, mit der „die Verfolger der Shdanow-Gruppe getroffen werden“ sollten,53 und die „Ingrelische Affäre“ zeigten den Fortgang der innerparteilichen Kämpfe an. 1952 trieb die deutsche Frage die Widersprüche einer Entscheidung zu.

1. Die militärische Lösung der deutschen Frage

Als die USA darangingen, zur Sicherung ihrer Hegemonie über Westeuropa ein Militärbündnis unter Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland zu schließen (gegen das Angebot der Halbsouveränität), machte die sowjetische Regierung unter Stalin im März 1952 den Vorschlag, unter der Bedingung der Neutralität ein vollständig souveränes, einheitliches Gesamtdeutschland herzustellen und freie Wahlen abhalten zu lassen. Da dies das Ende ihrer Sozialismuspläne bedeutet hätte, ließ die SED-Führung daraufhin im Juli 1952 den Aufbau des Sozialismus in der DDR beschließen. Dabei erhielt sie Unterstützung von einer Mehrheit des Politbüros der KPdSU.54 Das war möglicherweise der Anlass für Stalin, der Einberufung des 19.Parteitags im Oktober 1952 zuzustimmen, auf dem das Politbüro durch ein vielköpfiges Präsidium ersetzt wurde, das wegen seiner Größe faktisch handlungsunfähig war. Auf dem Boden des augenscheinlich geschlossenen Kompromisses wurde im Gegenzug der Posten des Generalsekretärs abgeschafft, Stalin behielt aber sein persönliches Büro bei. Es waren also die Weichen für den Kampf um die Herausbildung einer neuen Führung gestellt.

Stalins Tod am 5. März 1953 veränderte die Konstellationen grundlegend. Unmittelbar darauf wurde das ZK-Präsidium auf 10 Personen verringert, was anstelle der Herausbildung einer neuen Führung auf einen Kampf um die Macht innerhalb der alten Führung – ohne Stalin – hinauslief. Über die Machtverteilung schlossen die verbliebenen Präsidiumsmitglieder einen vorübergehenden Kompromiss: Malenkow verzichtete auf den Posten eines Parteisekretärs und wurde Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR, trat also an die Spitze des Staats. Chruschtschow erhielt den Vorrang in der Partei, indem er als einziges Prädiumsmitglied zugleich Parteisekretär wurde (alle anderen ZK-Sekretäre waren einfache Mitglieder des ZK). Molotow löste Wyschinski als Außenminister ab, und für Berija wurde das Ministerium für Staatssicherheit mit dem Innenministerium zu einer einzigen Behörde zusammengeschlossen.

Offenbar versuchte Berija anschließend, die ganze Macht an sich zu nehmen. Er trat ebenfalls gegen den Aufbau des Sozialismus in der DDR und für die deutsche Einheit ein. Bekannt ist weiterhin, dass er in der Nationalitäten- und Agrarpolitik eigene Vorstellungen hatte. Sein Griff zur Macht ließ Chruschtschow und Malenkow, die von ihm gleichermaßen bedroht wurden, vorübergehend zusammenarbeiten. Die deutsche Frage brachte die Entscheidung. Als die ostdeutsche Arbeiterschaft Mitte Juni 1953 gegen die ihr zwecks Aufbau des Sozialismus auferlegten Normerhöhungen auf die Straße ging, wollte Berija die Krise ohne Einsatz der Armee durch Einsetzung einer neuen Regierung in Ostberlin mit bürgerlicher Spitze lösen und die deutsche Wiedervereinigung zulassen. Die Armee hatte in dieser Situation doppelten Grund, gegen Berija vorzugehen. Sie musste sowohl den Verlust ihrer vorgeschobenen militärischen Bastion in Ostdeutschland fürchten als auch ihre innenpolitische Schwächung durch den stärker gewordenen und eigene Truppen kommandierenden Innenminister. „Äußerst wichtig war auch, dass Chruschtschow damals die volle Unterstützung N.Bulganins und seines Stellvertreters G.Shukow genoss, denn die Armee spielt in unsicheren Zeiten oder in einer Krise gewöhnlich eine entscheidende Rolle. (…) Es handelte sich um die erste politische Führungskrise, bei der die Armee eine entscheidende Rolle spielte.“55 Das Militär ließ Panzer rollen, und am 26.Juni wurde Berija verhaftet.

Anfang Juli 1953 fand aus Anlass des „Falls Berija“ das erste Plenum des ZK der KPdSU seit Jahren statt. Neben dem Vorwurf der Machtergreifung und des Nationalismus wurde Berija entgegengehalten, er habe die DDR dem Imperialismus ausliefern wollen. Die Stimmung des durchschnittlichen Parteimitglieds gab das ZK-Mitglied Sawenjagin wieder: „Den einfachen Parteimitgliedern und Funktionären war unverständlich, wie man sich auf den Gedanken an eine Vereinigung von West- und Ostdeutschland überhaupt einlassen konnte. Dies würde bedeuten, 18 Millionen Menschen und die Deutsche Demokratische Republik den bourgeoisen Machthabern auszuliefern.“56 Die Mehrheit der Parteimitglieder dürfte so wie Sawenjagin gedacht haben. Dass damit indirekt auch die Stalinsche Politik abgemacht wurde, sprach niemand offen aus. Vor dem Hintergrund der Mehrheitsverhältnisse im ZK muss auch Malenkows Auftreten gesehen werden. Entgegen der von ihm befürworteten Außenpolitik stimmte er auf der ZK-Sitzung in den Chor der Wölfe ein und warf Berija den „Kurs auf ein bürgerliches Deutschland“ vor.57 Seine Charakterlosigkeit zahlte sich indes nicht aus. Als er einige Jahre später selber gestürzt wurde, lautete einer der Kritikpunkte, er habe seinerzeit mit Berija gemeinsame Sache gegen den Sozialismus in der DDR gemacht, wie Chruschtschow 1963 öffentlich mitteilte.58

Die Missachtung der Rolle der Partei war ein weiterer Anklagepunkt gegen Berija. Chruschtschow warf ihm die Auffassung vor, „dass die Partei in den Hintergrund treten müsse“, und zitierte seine Aussage, das ZK solle sich nicht mit der großen Politik, sondern „lieber mit den Kadern und der Propaganda“ beschäftigen.59

2. Das Scheitern des „neuen Kurses“

Am 8.August 1953 verkündete Malenkow als Ministerpräsident einen „neuen Kurs“ in der Wirtschaftspolitik. Die staatlichen Ankaufpreise für die wichtigsten Agrarprodukte wurden erhöht, die Normen für den Pflichtverkauf von Naturalien aus der privaten Hofwirtschaft gesenkt, alle alten Steuerschulden, die im Zusammenhang mit der Privatwirtschaft entstanden waren, gestrichen, und die künftigen Steuersätze für die Privatnutzung des Hoflands halbiert. „Den größten Eindruck auf die Landbevölkerung machte jedoch die Mitteilung Malenkows, dass die irrige und schädliche Einstellung zur Privatwirtschaft von Kolchosbauern und Sowchosangehörigen korrigiert werden müsse. (…) Diese Reformen, so bescheiden sie waren, machten Malenkow auf lange Zeit hinaus bei der Landbevölkerung beliebt.“60 Um den Bauern genügend Waren als Pendant zu ihren steigenden Einkünften anzubieten, verkündete Malenkow den Vorrang der Leichtindustrie – im Widerspruch zum kürzlich verabschiedeten Fünfjahrplan, der die Fortsetzung des schwerpunktmäßigen Aufbaus der Schwerindustrie vorsah.

Im September 1953 billigte das ZK der KPdSU auf einer neuerlichen Plenumssitzung die Regierungsbeschlüsse, was dem Anschein nach die inhaltliche Identität der Auffassungen ausdrückte (und wie vieles andere das Verständnis des Linienkampfs ungemein erschwert). Einerseits entsprach dies dem Kompromiss zwischen Malenkow und Chruschtschow: jeder respektierte vorläufig die Hoheit des anderen auf seinem Gebiet, Regierung und Partei. Darüber hinaus aber meldete die Partei damit ihren neuerlichen Machtanspruch an. In den Jahren zuvor war sie bei der Verkündung von Gesetzen, Verordnungen oder Regierungsbeschlüssen erst an zweiter Stelle, nach der Regierung, und teilweise auch gar nicht mehr erwähnt worden. Mit der formalen „Billigung“ der Regierungspolitik verkündete sie nun ihre Absicht, künftig wieder den Vorrang einzunehmen.

Dass die „Linken“ ansonsten eine gänzlich andere Wirtschaftspolitik als Malenkow verfolgten, zeigte der gleichzeitige ZK-Beschluss zur Neulandgewinnung in Sibirien und vor allem Asien (Kasachstan). Pläne dafür waren schon unter Stalin ausgearbeitet worden, aber wegen der befürchteten Bodenerosion und der nationalen Problematik (Ansiedlung von Ukrainern und Russen im asiatischen Kasachstan) in erheblich bescheidenerem Umfang. Mit dem Neulandprogramm schmiedeten die Linken jetzt eine durchschlagende Angriffswaffe gegen die Regierungspolitik. Erstens wurden auf dem Neuland hauptsächlich Sowchosen (Staatsbetriebe) eingerichtet. Je größer die Menge des von ihnen eingebrachten Getreides wurde, desto geringer wurde die Bedeutung des Kolchos auf dem „Altland“. Zweitens bedingte die Neulanderschließung die massenhafte Bereitstellung neuer Agrarmaschinerie und damit den weiteren Vorrang der Produktionsmittelerzeugung (wie auch von Stalin gefordert, der damit aber die MTS des Kolchos beliefern wollte). Die Neulandgewinnung stand also der Regierungspolitik der Umstellung auf die Leichtindustrie und der Förderung des Kolchos in jeder Hinsicht diametral entgegen. Im Parteipräsidium hatte Chruschtschow mit seinem Vorschlag, Neu- und Brachland zu erschließen, keine Mehrheit bekommen.61 Daraufhin ließ er das Programm vom ZK verabschieden, das der eigenen Partei- und vor allem Staatsführung damit den Kampf ansagte.

Auf dem Septemberplenum 1953 führte das ZK wieder den Posten eines „Ersten Sekretärs“ ein (anstelle von „Generalsekretär“) und wählte Chruschtschow in diese Funktion. Er hatte sich schon immer „eifrig für die im Leningrader Prozess liquidierten Shdanow-Anhänger eingesetzt“62 und machte als erstes die „Leningrader Affäre“ rückgängig. Er ließ den ersten Sekretär des Leningrader Gebietsparteikomitees auswechseln und zweitausend hohe Funktionäre rehabilitieren. Abakumow, der seinerzeit als Sicherheitsminister (von 1947-1951) die Säuberungen in Leningrad vorgenommen hatte, wurde hingerichtet.63 Außerdem tauschte Chruschtschow die Parteiführung in Moskau aus, die bis dahin von einem Anhänger Malenkows geleitet wurde.64 Die beiden wichtigsten Parteiorganisationen befanden sich somit wieder in den Händen der „Linken“.

Außerdem wurden im Herbst 1953 die lokalen Instanzen des Landwirtschaftsministeriums aufgelöst. Die Aufsicht über die MTS und die Kolchosbauern lag von nun an bei den örtlichen Parteiorganisationen, „die umso mehr Ursache hatten, der Kür des überraschenden Bewerbers um Stalins Nachfolge (Chruschtschow; H.K.) zuzustimmen.“65

Nach Berijas Sturz wurden Staatssicherheit und Innenministerium wieder voneinander getrennt. „Die Beseitigung der allmächtigen Spitze des Innenministeriums bedeutete, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und die örtlichen Parteiorgane wieder an Einfluss gewonnen hatten.“66 Die Leitung der Staatssicherheit übernahm ein Gefolgsmann Chruschtschows. Zugleich wurde beiden Ministerien die Befugnis zur Vollstreckung von Strafen entzogen und sie auf die Durchführung von Ermittlungen beschränkt: das Innenministerium für „normale“ Kriminalität; das KGB für politische Vergehen. Im Zuge der „großen Säuberung“ war die Staatsanwaltschaft den NKWD-Organen unterstellt worden; diese Unterstellung wurde aufgehoben und die Vollstreckung von Strafen ausschließlich den Staatsanwaltschaften zugeordnet.67 Da der Generalstaatsanwalt der UdSSR aber dem ZK der KPdSU verantwortlich war, bedeutete dies, dass die Partei die Organe, mit deren Hilfe sie seit den 30er Jahren in Schach gehalten worden war, sich wieder untergeordnet bzw. sie neutralisiert hatte.

In weniger als einem Jahr nach Stalins Tod hatte der linke Parteiflügel somit an mehreren Fronten gesiegt. Außenpolitisch war mit der Zementierung der deutschen Spaltung die Zwei-Lager-Politik verankert worden. Innenpolitisch war es gelungen, Geheimdienst und Innenministerium wieder unter die Kontrolle der Partei zu bringen. Parteipolitisch waren die Anhänger Malenkows in den wichtigsten Parteiorganisationen entmachtet und durch „Linke“ ersetzt worden. Darüber hinaus hatte Chruschtschow „nicht nur den Parteiapparat in der Hand. Die Armee, die er zur Liquidierung Berijas benutzt hatte, stand ebenfalls hinter ihm.“68

Die Neulandaktion entfaltete eine enorme Schubkraft, denn die Aufrufe zur Neulandgewinnung trafen auf eine gewaltige gesellschaftliche Massenbewegung. In den 30er Jahren hatte die vorangegangene Generation gegen den Rat der Fachleute und den Widerstand der „Rechten“ die Industrialisierung und Kollektivierung siegreich durchgeführt, um den Sozialismus aufzubauen. Jetzt brach eine neue Generation, wiederum gegen dieselben Bedenkenträger, in den Kommunismus auf. Mobilisiert durch den Komsomol strömten Hunderttausende von Angehörigen der Jugend nach Sibirien und in die Steppengebiete Kasachstans, um auf dem Ödland unter größten Entbehrungen gigantische Sowchosen als Stützpunkte der kommunistischen Zukunft zu errichten. Das läutete das Ende des „neuen Kurses“ ein. „Da es auf lange Sicht nicht möglich war, beide Programme gleichzeitig zu verwirklichen, musste sich über kurz oder lang entscheiden, welches von beiden Priorität besaß. (…) Da der Parteiapparat uneingeschränkt für die Neuland-Kampagne eintrat, große Teile des Staats- und Wirtschaftsapparates aber nach wie vor die Fortsetzung des Neuen Kurses forderten, war diese Auseinandersetzung inzwischen zu einem Machtkampf der verschiedenen Apparate geworden, der sich in der Stellung Malenkows und Chruschtschows personifizierte.“69 Obwohl die Regierung die Lieferung von Agrarmaschinerie hinauszögerte, trug der jungfräuliche Boden nach einem Jahr die erste Ernte.

Getragen von den Erfolgen der Neulandbewegung konnte der „linke“ Parteiflügel die Rechten immer weiter zurückdrängen Anfang 1955 attackierte Chruschtschow Malenkow wegen der Förderung der Leichtindustrie als „Rechtsabweichler“ auf den Spuren Bucharins. Mit der Forderung nach dem unbedingten Vorrang der Schwerindustrie brachte er auch „die Militärs auf seine Seite, die eine Herabsetzung der Rüstungsproduktion befürchteten, und das erwies sich als entscheidend“.70 Am 8.Februar 1955 musste Malenkow als Regierungschef zugungsten von Bulganin zurücktreten. Die Bauernschaft verlor ihre Haupstütze in der Regierung und der „Neue Kurs“ war zu Ende. Der Sieg der „Linken“ war indes nicht vollständig, denn Malenkow verblieb sowohl im Parteipräsidium als auch – als Minister für Kraftwerke und stellvertretender Ministerpräsident – in der Regierung.

Weil der Wirtschaftsapparat immer noch relativ selbständig war und eine andere Politik verfolgte, schlug Chruschtschow im Frühjahr 1957 vor, die zentrale Wirtschaftsverwaltung zugunsten regionaler „Volkswirtschaftsräte“ aufzulösen. Ziel war, „die Wirtschaftsreform den Händen der Wirtschaftsführer zu entwinden und sie der Leitung und Kontrolle der Partei zu unterstellen.“71 Vom Parteipräsidium und der Regierung abgelehnt, ließ er seine Politik wiederum vom ZK-Plenum billigen. „Die Idee von Volkswirtschaftsräten, die den Ministern wenig zusagte, schien den Gebietskomitee- und den ZK-Sekretären der nationalen Kommunistischen Parteien sehr vielversprechend, denn sie würde ihnen größeren Einfluss auf die Industrie ihres Gebiets oder ihrer Republik verschaffen.“72

Ob es die Furcht vor einem Auseinanderfallen des Staates durch die Regionalisierung oder ein anderer Grund war – jetzt verbündeten sich von Malenkow über Kaganowitsch bis Molotow alle Gegner Chruschtschows, um ihn zu entmachten. Ein gemeinsames Programm ist nicht bekannt; seine Erstellung dürfte auch schwergefallen sein, da die plötzlichen Verbündeten unterschiedliche Richtungen vertraten. Ende Juni 1957 beschloss die Mehrheit des ZK-Präsidiums die Absetzung Chruschtschows als Erster Parteisekretär. Aber es erwies sich als „unmöglich, den Krisenplan in Gang zu setzen, das heißt Chruschtschow verhaften zu lassen, da die Armee (in Gestalt von Shukow) und das KGB (in Gestalt von Serow) weiterhin loyal hinter Chruschtschow standen.“73 Während Chruschtschow sich weigerte zurückzutreten, da er als Erster Sekretär vom ZK und nicht vom Präsidium gewählt sei, organisierten seine Gefolgsleute mit Hilfe der Armee durch die Bereitstellung von Militärflugzeugen eine außerordentliche Zusammenkunft des ZK, auf der die überwältigende Mehrheit ihn unterstützte. Die Frondeure wurden aus dem ZK ausgeschlossen, und an ihre Stelle rückten Anhänger Chruschtschows. „Die Auseinandersetzungen auf dem Juli-Plenum brachten einen eindeutigen Sieg der ‚Einheitsfront‘ von Partei, Armee und unteren Wirtschafts- und Staatsfunktionären über die Prostalinisten und die zentrale Wirtschaftsführung.“74

Ein drohendes Aufbegehren der Kolchosbauernschaft wegen des endgültigen Sturzes Malenkows wurde im Vorfeld durch den Beschluss abgewehrt, dass künftig alle Erzeugnisse aus der Hoflandwirtschaft frei verkauft werden konnten, sei es an den Staat oder auf den Kolchosmärkten. Scheinbar betrieb die neue Führung also weiterhin eine probäuerliche Politik. In Wirklichkeit war dieser Beschluss, wie Leonhard berichtet, eine Konzession zur Beruhigung der Bauernschaft, „denn vor allem die Bauern verbanden mit dem Namen Malenkows den Neuen Kurs, der ihnen erhebliche Erleichterungen gebracht hatte.“75

Wenige Monate später musste auch Schukow, nach dem 20.Parteitag zum Verteidigungsminister ernannt, unter dem Vorwurf des „Bonapartismus“ seinen Hut nehmen. Er hatte versucht, den Einfluss der Partei in der Armee auszuschalten, indem er die Parteiorganisation der jeweiligen Ebene dem militärischen Befehlshaber unterstellte.76 Mit ihm verlor offenbar nicht nur der nationalrussische Flügel, sondern vorübergehend die Armee insgesamt an Einfluss, so dass eine größere außenpolitische Beweglichkeit gegenüber dem Westen möglich wurde. Am 27.März 1958 trat auch Bulganin zurück, und Chruschtschow übernahm als Erster Sekretär der KPdSU zugleich den Ministerratsvorsitz.

IV. Der verlorene Kampf um den Kommunismus

Mit der Übernahme der Regierungsgewalt in zwei Stufen (1955 und 1957) konnten die „Linken“ an die Realisierung ihres Versprechens gehen, schnellstmöglich den Kommunismus zu erreichen, in dem jeder nicht mehr „nach seiner Leistung“, sondern „nach seinen Bedürfnissen“ an den Erzeugnissen der Gesellschaft teilhaben sollte. Diese Politik war nur wenige Jahre durchzuhalten, dann scheiterte sie an den wirtschaftlichen Realitäten, und zwar auf demselben 22.Parteitag, der den nahen Sieg des Kommunismus verkündete.

1. Eine ständische Arbeiterpolitik

Schon mit der Ablösung Malenkows vom Regierungsvorsitz 1955 fand in der Arbeiterpolitik ein grundlegender Richtungswechsel statt. Die Arbeitszeit wurde verkürzt und das Zwangsregime der Arbeit beendet. Obwohl viele Arbeiter weiterhin an hohen Festtagen, zur Saat- und Erntezeit in ihre Heimatdörfer zurückkehrten und Trunkenheit und Bummelei am Arbeitsplatz weit verbreitet waren, wurden die staatlichen Strafen beim Zuspätkommen in der Fabrik und das Verbot des Arbeitsplatzwechsels ohne behördliche Erlaubnis aufgehoben. Bis dahin waren die Betriebsleitungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet gewesen, einen Arbeiter bei unentschuldigtem Fernbleiben von 1 Tag zu kündigen, was den Verlust aller an den Arbeitsplatz gebundenen Privilegien (z.B. der Wohnung) zur Folge hatte. Diese Kündigungspflicht wurde aufgehoben und in ein Recht umgewandelt. Gleichzeitig erhielten die Gewerkschaften eine neue Machtstellung. Waren die Betriebsleitungen bis dahin alleinverantwortlich für die Organisierung der Produktion gewesen, mussten sie jetzt gemeinsam mit Vertretern der Gewerkschaft „ständige Produktionsberatungen“ durchführen. Auch bei Kündigungen musste die Gewerkschaft künftig zustimmen. Die Folge war die faktische Unkündbarkeit der Beschäftigten. Nach einer Umfrage Anfang der 80er Jahre in fast 800 Betrieben der Moskauer Region verließen drei Viertel aller Arbeiterinnnen und Arbeiter regelmäßig ihren Arbeitsplatz, um private Dinge zu erledigen.77

Das 1933 aufgelöste Volkskommissariat für Arbeit wurde 1955 als Staatskomitee für Arbeit und Löhne neu gegründet, in dem die Gewerkschaften Sitz und Stimme hatten. Vorher hatten die einzelnen Betriebe große Freiheit bei der Festsetzung der Lohnhöhe gehabt, jetzt war es Aufgabe des neuen Staatskomitees, für alle Branchen und Betriebe verbindliche Richtwerte festzulegen.78 Die Stoßarbeiterbewegung wurde eingestellt, mit ihr ging die Akkordarbeit zurück, Zeitlöhne nahmen zu, an die Stelle individueller Stücklöhne rückten die zuvor kritisierten Gruppenprämien, die Löhne wurden nivelliert. Während die mittleren und insbesondere unteren Einkommen angehoben wurden, stiegen „die höheren Einkommen … in dieser Zeit (von 1957 bis 1965; H.K.) langsam oder gar nicht, gleichzeitig verringerte man die individuelle Akkordarbeit, beseitigte die extremeren Formen ‚progressiver‘ Akkordsätze und passte die Prämien der Manager nach unten an.“ Die Unterschiede zwischen den Effektivlöhnen der Arbeiter schrumpften auf höchstens 1 : 1,9 (im Bergbau) zusammen.79 Am Ende der Chruschtschow-Ära war der „Unterschied zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern … deutlich geringer als in den dreißiger Jahren.“80

Zwischen den Branchen fand allerdings keine Einebnung statt. „Die höchsten Löhne wurden sowohl 1955 als auch zwanzig Jahre später im Bergbau, gefolgt von der Metallverarbeitung, gezahlt.“81 In anderen Branchen erhielten die Arbeiter weniger als die Hälfte, häufig nicht einmal ein Drittel der Löhne in der Schwerindustrie. Das Schlusslicht bildete die Nahrungsmittel- und Bekleidungsindustrie, in der hauptsächlich Frauen arbeiteten. Aufschlussreich ist auch das Lohnverhältnis zwischen Angestellten und Arbeitern. In den 30er Jahren hatte das Einkommen von Büro- und Verwaltungsangestellten im Durchschnitt leicht über dem von Arbeitern gelegen (ca. 36 Rubel zu 32 Rubeln monatlich im Jahr 1940). 1978 lagen diese Zahlen bei etwa 143 Rubeln (Angestellte) zu 176 Rubeln (Arbeiter). „Die Zahlen zeigen, dass die Gruppe der Arbeiter relativ gewonnen hat. (…) Die Kategorie der Angestellten hat besonders stark an Boden verloren“.82 Auch Universitätspersonal, Lehrer- und Ärzteschaft sowie jüngere Ingenieure begannen, weniger als der Durchschnitt der Arbeiter zu verdienen.83 „Den steilsten Abstieg aber erlebten die Lehrer und sonstigen ‚Kultur‘-Angestellten. Zollte ihnen Stalin auch materiell Anerkennung, als einer unentbehrlichen Funktionsgruppe für die Vermittlung grundlegender Qualifikationen“,84 so fielen sie jetzt weit zurück.

Gleichzeitig nahm die Betriebsversorgung zu. In den 70er Jahren standen bereits über 50% der gesamten Wohnfläche in betrieblicher Verfügung, und neben Wohnungen wurden mehr und mehr Lebensmittel und industrielle Konsumgüter über die Fabriken verteilt. Der Betrieb bzw. die Branche wurde zur „Basis der Privilegierung und ständischen Differenzierung zwischen Arbeitern“.85

Mit der neuen Arbeiterpolitik machte die Masse der unentwickelten Arbeiterschaft, insbesondere die Arbeiterschaft der privilegierten Schwerindustrie, ihre Sonderinteressen gegenüber der Gesellschaft geltend. Was als Vorschein des Kommunismus in den Fabriken daherkam, ersetzte die alte bäuerliche durch eine neue proletarische Gleichmacherei, lange bevor die Entwicklung des Arbeitsvermögens das erlaubt hätte. Die neue Arbeiterpolitik ließ den Anreiz zur Qualifizierung der eigenen Arbeitskraft und zur Leistungssteigerung einschlafen, leistete Bummelantentum und Unverantwortlichkeit Vorschub und brachte das Wachstum der Produktivkräfte zum Erliegen. Statt als führende Klasse die Unterschiede zur Bauernschaft und Intelligenz zu beseitigen, verfocht die Arbeiterschaft ihre Sonderinteressen, und statt sich selber als Klasse aufzuheben, realisierte sie in den eigenen Reihen eine ständische Aufspaltung zwischen den verschiedenen Branchen, zwischen Schwer- und Leichtindustrie, zwischen Männern und Frauen.

2. Die Verstaatlichung des Kolchos

In der Agrarpolitik fällt es besonders schwer, zu unterscheiden, was beabsichtigte Zielsetzung, was unumgänglicher Kompromiss und was ungewollte Wirkung einer verfehlten Politik war. Nicht nur die soeben erwähnte Freigabe der Hoflanderzeugnisse beim Sturz Malenkows, sondern vor allem die am 31.März 1958, wenige Tage nach Chruschtschows Regierungsübernahme, verkündete Auflösung der Maschinen-Traktor-Stationen erschwert die Erkenntnis der Dinge. Hauptsächlich diese Frage hat auch den Autor irregeführt und zur früheren Fehleinschätzung Chruschtschows veranlasst, denn hier fielen Ursache und Wirkung, Wesen und Erscheinung der Politik nicht allein auseinander, sondern standen in direktem Gegensatz zueinander.

Wer gegen den Kolchos vorgehen wollte, musste dies unter den Bedingungen von 1958 tun, d.h. nach dem „Neuen Kurs“ einer mehrjährigen Agrarpolitik, die die Stellung der Kolchosbauernschaft gefestigt hatte. Das ging nur durch einen indirekten Angriff. Scheinbar diente die Übernahme der Agrarmaschinerie der Stärkung des Kolchos (und wurde häufig mit dessen Weiterentwicklung begründet, die ihn befähigen sollte, die vorher vom Staat geleisteten Aufgaben selber zu übernehmen). In Wirklichkeit zielte Chruschtschow damit auf die Verstaatlichung der Produktionsgenossenschaften. Der Haupthebel dazu waren die Finanzen.

Zusammen mit der MTS-Auflösung wurde den Kolchosen die Möglichkeit eröffnet, zum Staatsbetrieb zu werden. Bis dahin waren sie gezwungen gewesen, auf eigene Rechnung zu wirtschaften, ob sie wollten oder nicht. Es gab aber mehr als genug arme, unproduktive Kolchosen, deren Mitglieder nur darauf warteten, vom Staat übernommen zu werden. Die Verstaatlichung ließ die Schulden des Kolchos bei den Staatsbanken verschwinden; man brauchte keine neuen Kredite aufzunehmen, um die MTS-Maschinerie zu kaufen; und als staatlicher Landarbeiter erhielt man einen festen Monatslohn (einschließlich Altersrente), der zwar unter dem Lohn der Fabrikarbeiter, aber über dem bisherigen, unsicheren Einkommen lag. Außerdem durfte man sein Hofland behalten, konnte also weiterhin private Zusatzeinkünfte erzielen.

Auf der anderen Seite wurden die wohlhabenderen Kolchosen, die von der Verstaatlichung keine Vorteile zu erwarten hatten, in die Zange genommen. Sie mussten die Maschinen zu neuen Preisen kaufen, die weit über den Verrechnungspreisen lagen, zu denen die staatlichen MTS die Maschinen erhalten hatten.86 Dadurch flossen erhebliche Mittel aus den Kolchoskassen in die Staatskassen und wurden sogleich für Investitionen auf dem Neuland eingesetzt.87 Die Kolchosen, die die Maschinerie nicht (vollständig) aus Rücklagen bezahlen konnten und keine Sowchosen werden wollten, mussten sich beim Staat verschulden. Im Jahr 1961 betrugen die durch den Ankauf der Landwirtschaftsmaschinen aufgelaufenen Schulden der Kolchosen bei den Staatsbanken mehr als zwei Milliarden Rubel.88 Als weiteres Mittel zur Schwächung des Kolchos ließ Chruschtschow anstelle der unterschiedlichen Preise für Plan- und Überplanlieferungen einen einheitlichen Zwischenpreis festsetzen, der so berechnet war, dass die Genossenschaften dabei schlechter als vorher wegkamen. Die Maßnahmen hatten zum Ergebnis, dass das Durchschnittseinkommen der Kolchosmitglieder in der Zeit von 1958 bis 1961 zurückging89 – während gleichzeitig das Einkommen der Mitglieder der neuen Sowchosen stieg.

Getreu seinen 1951 öffentlich verkündeten Zielen ging Chruschtschow auch gegen die Parzellenproduktion vor. 1959 wurde den Stadtbewohnern verboten, Vieh auf ihren Parzellen zu halten; sie mussten es verkaufen. Da ein solches direktes Vorgehen gegen die Kolchosbauern zu gefährlich war, wurde den Kolchosen und Sowchosen die Aufbereitung, Aufbewahrung oder der Verkauf von Futter an die Kleinwirtschaften untersagt bzw. eingeschränkt. Ohne zusätzliches Futter konnte das Vieh aber nicht über den Winter gebracht werden. Anstelle von 22 Millionen Kühen im Jahre 1958 waren Ende 1962 nur noch 10 Millionen im Privatbesitz der Parzelleninhaber.90 Als Ersatz für die Hoflandproduktion wurde die Umwandlung von stadtnahen Kolchosen in Sowchosen forciert, die sich auf die Produktion von Fleisch, Milch, Eiern etc. spezialisierten.

Begleitet wurde die neue Politik von einer ideologischen „Kampagne gegen die ‚Tagediebe‘ in den Kolchosen und die ‚Spekulanten‘ auf den Kolchosmärkten. Man versuchte der Bevölkerung weiszumachen, alle Unstimmigkeiten und Lebensmittelengpässe rührten von der Faulheit der Kolchosbauern und den Machenschaften der Spekulanten auf den Märkten her.“91 Die Zahl der Kolchosen ging rapide zurück. Mehr als ein Viertel der Kolchosen des Jahres 1959 verwandelte sich in den fünf Jahren bis zum Sturz Chruschtschows in Sowchosen.92 Die Umwandlung des Kolchos, die Malenkow gar nicht beabsichtigt hatte und Stalin nur allmählich angehen wollte, rückte scheinbar in direkte Reichweite.

3. Das Kommunismusprogramm des 22.Parteitags

Ende der 50er Jahre war in Kasachstan ein neues Getreidezentrum entstanden, dessen Ernten die der Ukraine überflügelten. 1958 schien der Erfolg des Sputnik die Überlegenheit des Sozialismus auch in Wissenschaft und Technik unter Beweis zu stellen. Die neue Technologie ermöglichte eine kostengünstige Umstellung der Armee auf Raketen und schuf zusammen mit der Entmachtung Schukows neue Spielräume, um die Rüstungsausgaben zu beschränken und die Massenfabrikation von Privatautos, Kühlschränken und anderen Konsumgütern aufzunehmen. Auf diesem Boden schien die Zeit gekommen, um den Übergang zum Kommunismus beschließen zu lassen. Auf dem 21.Parteitag Anfang 1959 propagierte Chruschtschow die Entstehung neuer Agrostädte, verkündete die absehbare Umwandlung des Kolchos in allgemeines Volkseigentum und schlussfolgerte, dass die UdSSR in die Periode des umfassenden kommunistischen Aufbaus eingetreten sei. Als Richtschnur für die neue Etapppe sollte ein neues Parteiprogramm erstellt werden, das dritte nach dem Programm der Machtergreifung von 1903 und dem Programm zum Aufbau des Sozialismus von 1918.

Im Oktober 1961 verabschiedete der 22.Parteitag das Programm zum Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion. In den nächsten zehn Jahren sollten die USA in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung überflügelt werden und im darauffolgenden Jahrzehnt der Übergang zur Verteilung der Güter nach den Bedürfnissen erfolgen. In diesem Zeitraum würde das Wohnproblem gelöst sein, könnten die Mieten wegfallen sowie Gas, Heizung, Verkehrsmittel und andere öffentliche Leistungen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bis 1980 war der Kommunismus erreicht – so die Ankündigung des neuen Programms. Gestützt auf die Überflussproduktion des „Gulaschkommunismus“ verhieß es als „Programm des Sieges im ökonomischen Wettbewerb der Systeme“ zugleich den baldigen Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab.

Im Agrarteil musste Chruschtschow indessen einen schweren Rückschlag hinnehmen. Bis Anfang der 50er Jahre hatte der Kolchos als selbständige, nichtstaatliche Wirtschaftseinheit den Staatshaushalt nicht belastet, sondern war im Gegenteil die Industrialisierung von ihm mitfinanziert worden. Sobald ein Kolchos jedoch zum Sowchos geworden war, war der Staat für die Produktion und die Produzenten zuständig, und da vor allem die unproduktiven, armen Kolchosen von der Verstaatlichungsangebot Gebrauch machten, wurde der Staatshaushalt in Anspruch genommen. In der Ideologie, die Chruschtschow verkündete, war der Sowchos produktiver, weil er eine höhere Produktionsform verkörperte. Dies wurde scheinbar nachgewiesen durch Statistiken, denen zufolge die Staatsgüter dieselbe Produktenmenge mit weniger Arbeitskräften als der Kolchos erzeugten. Dabei wurde allerdings unterschlagen, dass die neuen Sowchosen vom Staat mit einem umfangreichen Maschinenpark ausgerüstet wurden und andere kostenlose Leistungen erhielten. Rechnete man alle Kosten zusammen, schnitten die neuen Sowchosen erheblich schlechter ab als die weiterexistierenden Kolchosen. Spätere sowjetische Berechnungen zeigten, „dass die Aufwendungen des Staates für die Erzeugung der Sovchoz-Produktion (wenn man die Haushaltsausgaben für Investitionen, Deckung von Verlusten, Aufbau der Stammherden und anderes einrechnet) bedeutend höher sind als die Ausgaben des Staates für den Erwerb der Kolchosproduktion.“93 Während der Kolchos, umgerechnet auf gleiche Flächeneinheiten, im Zeitraum von 1959 bis 1963 Gewinn erzielte, machten die Sowchosen Verluste, die aus dem Staatshaushalt zu decken waren.94

Außerdem führte die Kollektivierungspolitik in der Industrie zu einer Produktionskrise. Da die Bauern in den wohlhabenderen Kolchosen nicht bereit waren, ihre selbständige Stellung aufzugeben, stellten sie lieber den Ankauf neuer Maschinerie zurück, als sich verstaatlichen zu lassen. Die Lieferung von Mähdreschern, Lastwagen und anderen technischen Erzeugnissen an die Landwirtschaft ging um die Hälfte zurück.95 Davor hatte Stalin gewarnt. Er hatte 1952 darauf hingewiesen, dass nur der Staat in der Lage sei, die erforderlichen zigtausend neuen Traktoren, Mähdrescher etc. zu beschaffen; die Kolchosen seien damit überfordert. „Was bedeutet es nach alledem, wenn man fordert, dass die MTS den Kollektivwirtschaften durch Verkauf übereignet werden? Das bedeutet den Kollektivwirtschaften große Verluste zufügen und sie ruinieren, die Mechanisierung der Landwirtschaft gefährden und das Tempo der kollektivwirtschaftlichen Produktion herabsetzen.“96 Darüber hinaus wurden die gekauften Maschinen in den Kolchosen schlechter gewartet und weniger genutzt als in den ehemaligen Maschinen-Traktor-Stationen. Der Grund dafür war, dass die ursprünglich ca. 3 Mio MTS-Techniker durch die Auflösung der MTS-Stationen aus Angestellten des Staats zu Kolchosangehörigen wurden. Dadurch verringerte sich ihr Einkommen in vielen Kolchosen derart, dass Zigtausende von Traktor- und Mähdrescherfahrern in die Stadt gingen, um dort besser bezahlte Arbeit aufzunehmen. Die Landwirtschaft verlor bis zur Hälfte ihrer Mechanisatoren,97 was weitere negative Auswirkungen auf die Produktivität hatte.

In Stalins Konzept sollte der Kolchos auf dem Boden der Entwicklung der Produktivkräfte allmählich in allgemeines Volkseigentum überführt werden. Chruschtschows Versuch, den Kolchos durch eine Strategie des Aufkaufens und Aushungerns zu besiegen, führte zur Stagnation der agrarischen Produktivkraftentwicklung, beseitigte die proletarische Vormachtstellung auf dem Land und lief auf ein jahrelanges Kräftemessen zwischen Staat und Kolchos hinaus. 1961 hatte der Kolchos gesiegt. Drei Jahre nach Beginn der Verstaatlichung waren die Belastungen des Staatshaushalts so hoch geworden, dass sich im Vorfeld des 22.Parteitags eine neue Mehrheit gegen die Fortsetzung dieser Agrarpolitik formierte.98 Statt zum Jahr des Triumphes wurde das Jahr 1961 zu einem „Wendepunkt zuungunsten von Chruschtschows Plänen“.99 Er musste hinnehmen, dass der Agrarteil des neuen Parteiprogramms den Kolchos als „unveräußerlichen Bestandteil der sozialistischen Sowjetgesellschaft“ bezeichnete und ihn noch vor dem Sowchos erwähnte. Zwar wurde hinzugefügt, dass der Sowchos grundsätzlich die höhere Produktionsform darstelle; außerdem bezog sich die Bestandsgarantie für den Kolchos nur auf den Sozialismus und nicht auf den Kommunismus, den das gleiche Parteiprogramm unmittelbar bevorstehen sah. Der Formelkompromiss konnte jedoch nicht verdecken, dass Chruschtschow auf seinem Hauptfeld, der Agrarpolitik, eine schwere Niederlage erlitten hatte. Dem Wesen der Sache nach waren die „Linken“ bereits 1961 geschlagen, auch wenn ihr Anführer zunächst noch im Amt blieb und damit Gelegenheit hatte, einen Gegenangriff zu starten.

Das Resultat der verfehlten Agrarpolitik war entgegen den Absichten Chruschtschows nicht das Ende, sondern die Stärkung der Kolchosbauernschaft. Während die schwachen Kolchosen verschwanden, blieben die wirtschaftlich kräftigeren übrig, besaßen jetzt Eigentum an den Produktionsmitteln und wurden klassenmäßig durch die ehemaligen MTS-Beschäftigten gestärkt, die seit 1958 von ihnen bezahlt wurden. Damit waren die staatlichen Stützpunkte des Proletariats auf dem Land verschwunden und die genossenschaftlichen Warenproduzenten nicht mehr zu besiegen.

4. Der Zusammenbruch des Verteilungskommunismus

Im November 1962, ein Jahr nach dem 22.Parteitag, billigte das ZK eine von Chruschtschow vorgeschlagene Parteireform. Kernpunkt war die Übernahme der Wirtschaftsleitung am Ort durch die unteren Gliederungen der Partei. „Die Partei sollte sich nicht mehr mit einem Weisungsrecht begnügen, sondern die Verwaltung selbst in die Hand nehmen; die Lösung der wirtschaftlichen Probleme wurde zur Hauptaufgabe der Parteiarbeit erklärt. Partei, Staat und Wirtschaft waren nun im Ergebnis stärker ineinander integriert, als es je seit der Oktoberrevolution der Fall gewesen war.“100 In Verbindung damit wurde die KP in zwei parallele Organisationen aufgeteilt, von denen eine für die industrielle Produktion und die andere für die Landwirtschaft verantwortlich war. Zur machtpolitischen Absicherung wurde außerdem das Rotationsprinzip eingeführt. Bei jeder parteiinternen Wahl sollte durchschnittlich ein Drittel der Mitglieder des jeweiligen Gremiums ausgetauscht werden – ein schöner Plan, um unter dem Mantel der Demokratisierung die zahlreicher gewordenen Gegner loszuwerden.

Die Ära Chruschtschow kann „in der inneren Entwicklung der Sowjetunion als eine Wiederherstellung der unbeschränkten Parteiherrschaft charakterisiert werden“, heißt es aus bürgerlichem Mund dazu.101 In Wirklichkeit ging die „Wiederherstellung“ der Parteiherrschaft über alles hinaus, was die Partei bis dahin ausgemacht hatte. Stalin hatte wie Lenin auf der Trennung von Partei und Staat beharrt. Nur die „Spitzen“ von Sowjets und Partei sollten personell identisch sein, um die Leitung des Staats zu sichern – mehr nicht.102 Ob die Übernahme der wirtschaftlichen Aufgaben durch die Partei ein neuer Anlauf zur Kommunismus durch Abbau des Staats war, ob Chruschtschow damit seine auch in der Partei angeschlagene Stellung stabilisieren wollte, oder ob es ein letztes Aufbäumen war, um die Parteimassen gegen die ökonomischen Realitäten zu mobilisieren – im Ergebnis bedeutete dies die Entpolitisierung der ehemaligen Avantgarde der Arbeiterklasse. Nach Stalins Tod angetreten, um über alle Gesetze der Ökonomie hinweg den Kommunismus zu verwirklichen, endete sie keine zehn Jahre später als Wirtschaftsverwaltung.

Diese Politik war nur solange durchzuhalten, wie die Ernten auf dem Neuland die Getreideversorgung sicherstellten. Kein Enthusiasmus der jugendlichen Erbauer des Kommunismus konnte jedoch verhindern, dass Anfang der 60er Jahre die ersten Erosionsschäden auftraten, weil der Wind die dünne Decke fruchtbaren Bodens davontrug. Die Folgen machten sich nicht gleich bemerkbar, weil weiterhin zusätzliches, jungfräuliches Land unter den Pflug genommen wurde. 1963 gab es aber unter dem Einfluss ungünstiger Witterungsverhältnisse im ganzen Land eine Missernte. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte musste die Sowjetunion große Getreidekäufe im Ausland tätigen. Im selben Jahr legte die von der KP Chinas öffentlich ausgetragene „Polemik über die Generallinie“ die Spaltung der kommunistischen Weltbewegung offen.

Noch einmal trat Chruschtschow die Flucht nach vorn an und versuchte, an die Spitze des unumgänglich gewordenen Kurswechsels in der Agrarpolitik zu treten. Die bis dato nur halbherzig zurückgenommene Sowchosierungspolitik sollte endgültig eingestellt und die Kolchosproduktion durch umfangreiche Neu-Investitionen intensiviert werden. Um die Leistungsbereitschaft der Kolchosangehörigen zu fördern, wurde außerdem beschlossen, ihnen künftig eine staatliche Altersversorgung zu gewähren.

Die zusätzlichen Mittel für die neue Agrarpolitik wollte Chruschtschow auf Kosten von Armee und Schwerindustrie freimachen.103 Das bedingte eine substantielle Abrüstung neuer Qualität, die außenpolitisch das Ende der Zwei-Lager-Politik voraussetzte. Damit stellte sich erneut die deutsche Frage, zumal auf westdeutscher Seite der Rücktritt Adenauers 1963 scheinbar neue Freiräume für eine Wiedervereinigungsoption eröffnete. Derselbe Mann, der 1953 das Ende der deutschen Einheitspolitik mit herbeigeführt hatte, ließ also 1964 in Westberlin heimlich die Bedingungen für eine Preisgabe der DDR ausloten.104 Aber so, wie die Wendung gegen die Schwerindustrie klassenpolitisch den Bruch mit seiner bisherigen sozialen Hauptbasis bedeutete, traf das erneute Aufwerfen der deutschen Frage den Lebensnerv der sowjetischen Außenpolitik. Die Westberliner Unterredungen wurden bekannt und Chruschtschow verlor die Gefolgschaft des ZK. Im Oktober 1964 zwangen Partei, Schwerindustrie und Militär ihn gemeinsam zum Rücktritt. An seine Stelle als Erster Parteisekretär trat Breschnew, an seine Stelle als Ministerpräsident Kossygin.

Stalin bezeichnete Chruschtschow einem Bericht Medwedews zufolge einmal einen „Volkstümler“,105 stellte ihn also in eine Linie mit den Narodniki, die einen direkten Weg zum Sozialismus aus der russischen obscina heraus verfolgt hatten. Unter dem Panier des Übergangs zum Kommunismus realisierte Chruschtschow einen Verteilungskommunismus, der nicht auf entfalteten gesellschaftlichen Produktivkräften beruhte, sondern im Gegenteil die Bedingungen für ihre Weiterentwicklung beseitigte. Wo der Vorstoß zum Kommunismus politisch-praktisch stattfand, bei der Neulandbewegung, stützte er sich nicht auf die Arbeiterklasse, sondern auf die Jugend. Und als die Neulandaktion an ihre Grenzen stieß, war mit der neuen Generation auch der Aufbruch in den Kommunismus am Ende. Der Staat hatte seine Selbständigkeit eingebüßt, die Weiterführung der Revolution von oben war abgeschnitten, und die „Linken“ hatten die schönste Chance verwirkt, zum Kommunismus zu gelangen, ohne die Qualen des Kapitalismus zu durchlaufen.

V. Der Untergang des Arbeiter- und Bauernstaats

Der nach 1964 eingeschlagene Kurs konnte die Politik Chruschtschows ändern, aber nicht die Weichenstellung rückgängig machen, die in den 50er Jahren erfolgt war. Um diese Weichenstellung zu erklären, prägte die „Polemik über die Generallinie“ der Begriff des „modernen Revisionismus“, der zum Legitimationsnachweis der neu entstehenden marxistisch-leninistischen Bewegung wurde. Damit konnten die MLer jedoch weder die Entwicklung nach Stalins Tod erklären noch ihre eigene Existenz fundieren.

1. Die Agrarpolitik unter Breschnew

Nach Chruschtschows Sturz wurde die Rotationspflicht der Funktionäre ebenso wie die agrarisch-industrielle Teilung der Parteiorganisation und die Verschmelzung mit der Betriebsverwaltung rückgängig gemacht. Anstelle der regionalen Volkswirtschaftsräte wurden wieder zentrale Ministerien eingerichtet. Nach monatelangen internen Auseinandersetzungen beschloss das ZK im Frühjahr 1965 auf Vorschlag Breschnews einen grundlegenden Kurswechsel in der Landwirtschaftspolitik. „Das neue Agrarprogramm umfasst demnach die Schwerpunkte: Stärkere Subventionierung der Landwirtschaft, Mechanisierung, Chemisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, Forcierung der Bodenmelioration, verstärkte Stimulierung der Landarbeiter und Lösung der sozialen Probleme auf dem Land. Nicht in einer Extensivierung, wie 1954 unter Chruschtschow, sondern in der Intensivierung der Landwirtschaft besteht dieses mit Breshnews Namen verbundene neue Agrarkonzept. Diese 1965 gefasste Neuorientierung der Agrarpolitik machte eine Neuverteilung der Staatsausgaben nötig.“106 Die staatlichen Investitionen wurden von der Industrie in die Landwirtschaft umgelenkt. Die drei Fünfjahrpläne von 1966 bis 1980 ließen 366 Mrd. Rubel in die Landwirtschaft fließen, während es in den davorliegenden drei Planjahrfünften nur 89 Mrd. Rubel gewesen waren.107

Statt den Kolchos zu bekriegen, wurde er jetzt stabilisiert und gefördert. Die Arbeitstagsnorm für die Umverteilung der vom Kolchos erwirtschafteten Überschüsse an die Genossenschaftsmitglieder wurde abgeschafft und ein staatlich garantierter Mindestlohn für die Kolchosbauern eingeführt. Die Ankaufpreise für die Agrarprodukte wurden generell angehoben, erneut ein höherer Preis für Überplanlieferungen gezahlt und die Steuern gesenkt. Die Schulden der Genossenschaften bei der Staatsbank wurden gestrichen, später neu auflaufende Schulden ebenfalls. Parallel dazu drehte sich die Politik gegenüber den Parzellenwirtschaften um 180 Grad. Hatte Chruschtschow sie beseitigen wollen, verkündete Breschnew: „Ein Landbewohner ohne eigene Hofwirtschaft ist wie ein Baum ohne Wurzeln“.108 Der Schutz der Kleinwirtschaften wurde sogar in die neue Verfassung von 1977 aufgenommen (Artikel 13). Die Steuern auf die private Viehhaltung wurden gänzlich aufgehoben, Kolchosen wie Sowchosen angewiesen, den Parzellenbauern durch die Lieferung von Futter, die Zusammenarbeit bei der Viehzucht und die Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Privatprodukte zu helfen. Endlich schuf ein Kolchoskongress 1966 einen landesweiten „Kolchosrat“ als selbständigen Zusammenschluss der Genossenschaftsbauern.109 Damit konnte die Bauernschaft ihr Gewicht von nun an in organisierter Form zur Geltung bringen – wovor Stalin immer gewarnt hatte.

Trotz der schon 1961 in einem ersten Schritt geänderten Agrarpolitik nahm die Zahl der bäuerlichen Produktionsgenossenschaften zunächst weiterhin ab. Viele Kolchosen machten noch Gebrauch von der Möglichkeit, sich unter die direkte Obhut des Staats zu begeben. Das erübrigte sich allmählich, weil Kolchos und Sowchos immer mehr einander angenähert wurden, angefangen bei der Preisberechnung bis zur Altersversorgung. Zuletzt existierten in der Praxis kaum noch Unterschiede. Zu Beginn der 80er Jahre hatten sich Kolchos und Sowchos auf ein Verhältnis von etwa 1:1 eingependelt; ca. 13 Mio Kolchosbauern bebauten etwas weniger Landfläche als ca 12 Mio Sowchosarbeiter.110 Außer in den Neulandgebieten konzentrierten sich die Sowchosen im Umkreis der großen Städte, wo sie sich auf Milch- und Fleischproduktion, Obst- oder Gemüseanbaus spezialisierten. Ansonsten lagen sie verstreut in verschiedenen Teilen des Landes, wo von Natur wegen traditionell kein Getreide angebaut wurde, so z.B. in großen Teilen Weißrusslands, wo die tierische Produktion überwog.111 Das heißt umgekehrt, dass in den alten, zentralen Siedlungsgebieten der russischen Bauernschaft weiterhin der aus der obscina hervorgegangene, getreideanbauende Kolchos dominierte. In ihm fand der obscina-Bauer Zentralrusslands, mit dessen Unterstützung die Arbeiterklasse an die Macht gelangt war, seine letzte Existenzform.

Ohne es offen auszusprechen, knüpfte die neue Linie an die Agrarpolitik Bucharins aus den 20er und Malenkows aus den 50er Jahren an, allerdings unter neuen Bedingungen und Maßgaben. Die eine Hälfte der Bauern war (im Sowchos) verstaatlicht und wurde direkt vom Staat alimentiert. Die andere Hälfte blieb selbständig (im Kolchos) – und wurde ebenfalls vom Staat alimentiert. Die Genossenschaftler behielten ihre Stellung als selbständige Warenproduzenten, jetzt sogar verknüpft mit dem Besitz eigener Produktionsmittel – ohne den Gesetzen der Warenproduktion unterworfen zu werden. Diese für die Gesellschaft schlechteste aller denkbaren Alternativen realisierte für „Selbständige“ ideale Produktionsverhältnisse: der Staat schützte sie vor den Wirkungen des Wertgesetzes, zahlte ihnen ein festes Einkommen einschließlich der Altersrente und garantierte ihnen die Abnahme ihrer Produkte zu stetig steigenden Preisen.

Hatte die Landwirtschaft vorher die Industrialisierung mitfinanziert, so war sie nun ein Fass ohne Boden. Für 1976 sah die staatliche Planung für Arbeiter und Angestellte einen Durchschnittslohn von 150 Rubeln im Monat vor, für Kolchosbauern 98 Rubel im Monat.112 Dabei ist zu bedenken, dass der überwiegende Teil der Kolchosmitglieder aus ungelernten Frauen mittleren Alters bestand und dass die Parzellenwirtschaft neben der Selbstversorgung zusätzliche Einkünfte (durch die Verkäufe auf dem Kolchosmarkt) sicherte. „Wenn man unter Berücksichtigung all dieser Faktoren die Einkommen zwischen Stadt und Land vergleicht, so lässt sich der Vorwurf kaum halten, die Landwirtschaft werde ‚ausgebeutet‘ … Zieht man die Subventionen in Betracht, die hohen Investitionsausgaben, den wachsenden Anteil des Staates an den Kosten für Drainage, Bewässerung und andere Bodenverbesserungsmaßnahmen, auch die staatlichen Ausgaben seit 1966 für die Sozialversicherung der Bauern, dann könnte man behaupten, die Landwirtschaft sei für den Rest der Wirtschaft jetzt eher ein Mühlstein als eine Milchkuh.“113

Neben der Alimentierung der Staatsbauern dienten die zusätzlichen Mittel u.a. dem Aufbau einer chemischen Industrie (Kunstdüngerproduktion) und großangelegten Be- und Entwässerungsarbeiten. Die Getreideernten stiegen zwischen 1960 und 1980 im Mehrjahresdurchschnitt auch von 10 dz/ha auf 16 dz/ha.114 Nach sowjetischen (!) Schätzungen betrug die individuelle Arbeitsproduktivität auf dem Land aber nur etwa 20-25% des Niveaus in Nordamerika.115 Zuletzt wurden mindestens 27% des Staatshaushalts für den Agrarsektor eingesetzt, obwohl dieser weniger als 20% der gesamten Wertschöpfung lieferte.116 Während sich die Industrialisierung verlangsamte, stabilisierte sich die Agrarbevölkerung. In den westlichen Ländern schrumpfte die Bauernschaft in den Nachkriegsjahrzehnten nach dem 2.Weltkrieg rapide zusammen, in der Bundesrepublik beispielsweise auf 3 % der Erwerbstätigen. In der UdSSR ging sie zwar auch zurück, stellte in den 80er Jahren aber immer noch fast ein Viertel der Werktätigen; die Landbevölkerung insgesamt machte ca. ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus.

Mit dem allmählichen Niedergang des ganzen Staats ging schließlich trotz aller Fördermaßnahmen auch die Parzellenproduktion zurück, da die Kleinbauern mangels ausreichender industrieller Konsumgüterangebote im Austausch für ihre Produkte das Interesse daran verloren. Die zeitweisen Ertragssteigerungen beim Getreide konnten die sich dahinter verbergende Stagnation auch nicht überspielen, weil das Wachstum der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse weit höhere Anforderungen stellte. Die Sowjetunion musste immer mehr Getreide aus den kapitalistischen Ländern importieren. 1981 musste die Lösung der Agrarfrage erneut zur Hauptaufgabe der Fünf-Jahr-Pläne für das kommende Jahrzehnt erklärt werden,117 und 1985 wurde Gorbatschow deswegen Parteivorsitzender.

2. Wechselseitige Lähmung der Klassen

In der Industrie machte sich der Umschlag von 1964 nicht ernstlich bemerkbar. Noch vor Chruschtschows Sturz, am 9.September 1962, war in der Prawda ein Aufsatz des Ökonomie-Professors Liberman mit Überlegungen zu einer Wirtschaftsreform erschienen. In der Fachdebatte der Ökonomen gab es Vorschläge, die bis hin zur breiten Einführung marktwirtschaftlicher Elemente und der Inkaufnahme von Arbeitslosigkeit gingen. Die Voraussetzungen für eine solche Politik waren jedoch nicht gegeben. Das ZK verurteilte Libermans Artikel in einer offiziellen Stellungnahme, und damit waren die praktischen Grenzen der theoretischen Diskussion festgelegt. Erst kurz vor seiner Entmachtung im Jahre 1964, als ihm das Wasser schon bis zum Hals stand, erteilte Chruschtschow die Erlaubnis, Libermans System in zwei Fabriken zu erproben.118 Es waren Textilfabriken in Moskau und in Gorki, also keine schwerindustriellen Werke, sondern Betriebe der Leichtindustrie, in denen hauptsächlich Frauen arbeiteten.

Zwei Tage nach Chruschtschows Sturz dehnte Kossygin das Experiment auf weitere Unternehmen aus.119 Aber die Versuche wurden irgendwann eingestellt, und nur wenige Bestandteile der gemachten Erfahrungen flossen zwecks Förderung der „materiellen Interessiertheit“ der Beschäftigten in das „Neue System der Planung und ökonomischen Stimulierung“ vom September 1965 ein. Es räumte den einzelnen Betrieben größere Selbständigkeit ein und gab ihnen die Möglichkeit, wieder zusätzliche materielle Leistungsanreize zu gewähren. Aber „die leistungsbezogene Prämierung aus neu zugelassenen Gewinnrücklagen, die zu größerer Differenzierung hätte führen müssen, setzte sich … nicht durch.“120 Eine Neuauflage der individuellen Leistungslohnpolitik war gegen die Mehrheiten in der Fabrikarbeiterschaft, die sich auf Gewerkschaft und Partei stützen konnten, offenbar nicht durchzusetzen. Alles in allem „überwogen mit der Zeit doch die restaurativen Tendenzen, die letzten Endes dazu führten, dass selbst diese bescheidenen Ansätze sukzessive zurückgenommen wurden, so dass sich das sowjetische Planungssystem zu Beginn der siebziger Jahre nur unwesentlich von dem vor 1965 unterschied.“121

Hatte Chruschtschow noch versucht, sich an das ökonomische Einmaleins zu halten und steigende Ausgaben für die Landwirtschaft durch Rückführung der Rüstungsausgaben auszugleichen, so gelangte Breschnew an die Macht , um alle Akteure – Arbeiter, Bauern und Armee – gleichermaßen zu befriedigen. Diese Quadratur des Kreises war nur auf Kosten der Zukunft möglich, genauer gesprochen zu Lasten des gesellschaftlichen Reproduktionsfonds. Die im Kreislauf des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses anfallenden Mittel wurden nicht für die industrielle Reproduktion eingesetzt, sondern zu einem stetig wachsenden Anteil unproduktiv für die individuelle Konsumtion und das Militär verausgabt. Fabriken und Maschinen mussten weiterlaufen, auch nachdem sie das letzte Quentchen der in ihnen geronnenen Arbeit an das Produkt abgegeben hatten, unter Inkaufnahme immer längerer Stillstandszeiten und höherer Reparaturaufwendungen, bis sie auseinanderfielen, weil die Mittel fehlten, sie zu ersetzen.

Am Beispiel der Lebensmittel, wo die Interessen der Arbeiter und Bauern unmittelbar aufeinandertrafen, offenbart sich das Verhältnis der beiden Hauptklassen zueinander. Nach Stalins Tod stiegen die staatlichen Ankaufpreise für Agrarprodukte kontinuierlich an, während gleichzeitig die Endverkaufspreise in den staatlichen Lebensmittelläden mehr oder weniger unverändert blieben. Auf diese Weise öffnete sich eine Schere, die immer weiter auseinanderklaffte. „Bei viehwirtschaftlichen Gütern fing der Staat an, mit Verlusten zu arbeiten: 1966 gab der Staat für Rindfleisch im Wert (zu Einzelhandelspreisen) von 100 Rubeln 155,20 Rubel aus …, und der Unterschied nahm nach weiteren Preiserhöhungen 1970 und später beträchtlich zu.“122 Bei anderen Nahrungsmitteln fand dieselbe Entwicklung statt. 1970 musste der Staat ca 13 Mrd Rubel für die Subventionierung der Lebensmittel ausgeben, 1977 bereits 19 Mrd Rubel,123 und die Subventionen unaufhaltsam weiter.

Allen war die Irrationalität dieses Zustands bekannt, aber niemand konnte etwas dagegen unternehmen. Eine Senkung der Ankaufpreise hätte einen Aufstand der Bauern hervorgerufen, und eine Erhöhung der Verkaufpreise einen Aufstand der Arbeiter. Das machte Polen vor. Nachdem die dortigen Kommunisten ab 1948 begonnen hatten, die Bauernschaft zwangsweise zu kollektivieren, wurde die Unruhe auf dem Land so groß, dass 1956 Gomulka an die Macht kam, der das bäuerliche Kleineigentum wiederherstellte. Der anschließend 1970 und 1976 unternommene Versuch, den maroden Staatshaushalt nunmehr auf Kosten der Arbeiterklasse durch Erhöhung der Lebensmittelpreise zu sanieren, hatte Arbeiteraufstände zur Folge und wurde zur Geburtsstunde von „Solidarnocs“. Angesichts dieser praktischen Erfahrungen verharrte die sowjetische Staatsmacht ebenso willfährig wie ohnmächtig zwischen beiden Klassen und verteilte die produzierten Reichtümer, bis die gesellschaftlichen Reproduktionsfonds aufgezehrt waren. Die gegenseitige Lähmung der Klassen war zugleich die beste Voraussetzung für die Macht des Militärs, das kräftig dazu beitrug, die Reproduktionsfonds zu plündern.

Nachdem die Armee als letzte Garantin des staatlichen Zusammenhalts in Afghanistan geschlagen war, führten die Reformen, zu denen Gorbatschow schließlich durch den immer schnelleren Niedergang in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gezwungen wurde, den Zerfall des Staates zu Ende und machten die Bahn frei für den Kapitalismus.

3. Zum Begriff des „modernen Revisionismus“

Die Verurteilung Stalins auf dem 20.Parteitag der KPdSU hinterließ bei vielen Kommunisten das Gefühl eines Bruchs, ohne dass sie begriffen, was dahinter stand. Die Stalin-Kritik als solche war zwischen „Rechten“ und „Linken“ nicht umstritten, wohl aber Inhalt und Form ihrer Durchführung, weil beide Richtungen entgegengesetzte Standpunkte in der Abwendung vom Parteizentrum vertraten. Während eine Mehrheit im Parteipräsidium eine stillschweigende Verabschiedung vorzog, setzte Chruschtschow durch, vor den Parteitagsdelegierten eine Rede über den „Personenkult“ und seine Folgen zu halten.124 Der Kern dieser „Geheimrede“ (so genannt, weil Chruschtschow insgeheim für ihre alsbaldige Verbreitung sorgte) war die Attacke gegen die Säuberungen, zuletzt gegen die von Stalin und den „Rechten“ gemeinsam getragene Leningrader Säuberung. Die offizielle Verurteilung der Säuberungen bedeutete also nicht nur einen nachträglichen Sieg über den toten Stalin, sondern vor allem einen aktuellen Sieg über die noch lebenskräftigen „Rechten“.

Der „parlamentarische Weg zum Sozialismus“, an dem sich später die kommunistische Weltbewegung spaltete, rief hingegen keinen Streit hervor. Seine Propagierung war das Resultat eines Kurswechsels im Lager der „Linken“. Die Spannungen der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten die Gefahr eines neuerlichen Kriegs gegen die Sowjetunion noch real erscheinen lassen können. Getragen vom Schwung des soeben siegreich beendeten Weltkriegs konnte man darin zugleich eine Chance sehen, in Fortsetzung des militärischen Stoßes gen Westen die Brutstätten des Kapitals in ganz Europa zu vernichten. In den 50er Jahren wurde jedoch unverkennbar, dass die Verhältnisse sich stabilisierten. Damit wurde der bisherige Weg zum Sozialismus im Westen aus einem Krieg heraus ungangbar. Der neue Weg bestand in einem einfachen Wechsel der Kampfformen. In der Auseinandersetzung zwischen den Lagern des Imperialismus und des Sozialismus sollte der Sieg des Sozialismus nunmehr auf dem Feld der Wirtschaft statt auf dem Schlachtfeld der Waffen erfochten werden. Getragen von der Überzeugung, dass der Aufbau des Kommunismus in der Sowjetunion unmittelbar bevorstand und damit der Sieg des eigenen Lagers unausweichlich war, erklärte Chruschtschow die „friedliche Koexistenz“ zur Leitlinie der sowjetischen Außenpolitik und den ökonomischen „Wettbewerb der Systeme“ zur Hauptkampfform zwischen den Lagern.

Diese Umorientierung bedeutete eine Verkehrung der Gegensätze, die den Unterschied zu Stalin bis zur Unkenntlichkeit verwischte. Stalin war es gewesen, der gegen die Theorie vom Sieg des Sozialismus im unvermeidlichen Krieg mit „dem“ Imperialismus immer wieder die Möglichkeit des friedlichen Nebeneinanders von Kapitalismus und Sozialismus betont hatte – nur ohne den Begriff der friedlichen Koexistenz zu benutzen. In seiner Konzeption war diese friedliche Koexistenz ein Mittel zur Ausnutzung der Widersprüche zwischen den kapitalistischen Mächten gewesen, um Spielraum für die eigene revolutionäre Strategie zu erhalten. In den Händen seiner Nachfolger dagegen wurde sie zum Instrument der Blockpolitik, die die Verhältnisse einzementierte statt zum Tanzen brachte. Indem die Kommunisten in der SED das besiegte Deutschland unter der Parole des sofortigen Aufbaus des Sozialismus (mit-)spalteten, stellten sie sich im Schlüsselland Europas gegen das Gesetz der Geschichte, dankten als führende Kraft der Nation ab und räumten den Platz für die Bourgeoisie. In den folgenden Jahrzehnten stürzten die vorbürgerlich-reaktionären Regimes im agrarischen Süden Europas (Spanien, Portugal, Griechenland) unter bürgerlicher Führung und entwickelte sich in den kapitalistischen Staaten der Parlamentarismus fort, bis schließlich die nationaldemokratische Revolution 1989 in der DDR die Epoche der bürgerlichen Revolution in Europa abschloss – unter Führung der Bourgeoisie.

Während sich die Arbeiterklasse des Westens auf dem Boden ökonomischer Prosperität allmählich immer weiter in die bürgerliche Gesellschaft integrierte, wurde der „friedliche Weg“ zum Sozialismus zum Weg in die Sackgasse, denn es gab überhaupt keinen Weg zur Herrschaft des Proletariats mehr, weder friedlich noch gewaltsam. Aber die von den „Marxisten-Leninisten“ unter dem Begriff des „modernen Revisionismus“ vorgenommene Kritik beschränkte sich auf die Frage der friedlichen oder gewaltsamen Machtergreifung, d.h. auf eine Frage der Taktik, ohne die dahinter liegenden Fragen der Revolutionstheorie zu erkennen.

Ebenso scheiterten die „linken“ Kritiker beim Versuch, die innere Entwicklung der Sowjetunion durch eine „bürgerliche Konterrevolution“ mit der Folge des „Staatskapitalismus“ oder „Staatsmonopolkapitalismus“ zu erklären. Sie negierten hartnäckig, dass der Kapitalismus sich unter den gegebenen Verhältnissen nicht entfalten konnte. Freie (individuelle) Warenproduktion existierte nur auf den Nebenlandwirtschaften in Verbindung mit den städtischen Kolchosmärkten. Ansonsten bestand die staatliche Agrarpolitik darin, durch garantierte Abnahmepreise und bäuerliche Mindest“löhne“ das Wertgesetz gerade nicht zur Geltung kommen zu lassen. Waren bereits der einfachen Warenproduktion Grenzen gezogen, so war kapitalistische Warenproduktion gänzlich fernliegend, weil die Arbeitsplätze staatlich garantiert waren und die Arbeitskraft auch nicht ansatzweise zur Ware wurde.

Da sämtliche Hauptmerkmale der kapitalistischen Produktionsweise fehlten – ob in privater oder staatlicher Form – mussten Schwarzmarktgeschäfte, Bestechung und schlechte Arbeitsmoral als Beweise herhalten, so dass am Ende die Korruption als bürgerliche Produktionsweise erschien. In Wirklichkeit hatte die um sich greifende Korruption und Kriminalität die Beibehaltung der alten Zustände zur Grundlage. Nicht die Verwertung des Werts, sondern die Aufzehrung der geschaffenen Werte war das ökonomische Grundcharakteristikum dieser Zeit. Die bestehenden Produktionsverhältnisse wurden zersetzt, ohne dass sich neue herausbildeten. Die Marktwirtschaft musste von oben und von außen eingeführt werden, und dazu war die Zeit erst reif, als es zu spät war. Die MLer konnten also mit ihrer Kritik nur eines beweisen: nämlich dass die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie für sie ein Buch mit sieben Siegeln war.

Allenfalls war die Theorie der bürgerlichen Machtergreifung auf die Regierungszeit Breschnew-Kossygin anzuwenden, die Momente eines späten Siegs der „Rechten“ hatte. Aber welche „bürgerlichen“ Kräfte sollten die kapitalistische Konterrevolution getragen haben? Die grundlegende Differenz zwischen den 20er Jahren und der Nachkriegszeit, zwischen Bucharin und Breschnew, bestand darin, dass die Kulaken als mögliche soziale Träger einer bürgerlichen Entwicklung untergegangen waren und es auch kein städtisches Kleinbürgertum mit eigenen Produktionsmitteln gab. In Ermangelung solcher Schichten versuchte man daher, die „Intelligenz“ zum bürgerlichen Entwicklungsträger zu machen. Aber abgesehen davon, dass es eine seltsame „herrschende Klasse“ war, deren Angehörige im Durchschnitt weniger als die Arbeiter verdienten diese Klasse darstellen, gab insbesondere ihre Stellung zu den Produktionsmitteln für einen solchen Vorwurf nichts her.

So blieb als neue Bourgeoisie nur die „Nomenklatura“ übrig, die führenden Funktionäre von Staat und Partei. Sie besaßen zwar ebenfalls kein Eigentum an Produktionsmitteln, aber reichte nicht schon die „Verfügung“ darüber aus? Das Problem war nur, dass sich ihre privilegierte Stellung auf die vorhandene Gesellschaftsordnung stützte. Gerade die „Nomenklatura“ hatte durch die Einführung des Kapitalismus am meisten zu verlieren und verteidigte deshalb zäh die alten Verhältnisse. Davon unbenommen versuchten ihre Angehörigen individuell natürlich, ihre persönliche Stellung und Beziehungen auszunutzen, als marktwirtschaftliche Reformen nicht mehr zu verhindern waren.

Der Begriff des „modernen Revisionismus“, der eine historische Parallele zum „alten“ Revisionismus der zweiten, sozialdemokratischen Internationale zog, war also in jeder Hinsicht fehlerhaft: erstens verdeckte er die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Westen und Russland, der den jeweiligen Arbeiterklassen einen eigenen Charakter sowie Sozialdemokratie und KPdSU ein gänzlich anderes Gesicht gab; zweitens verwischte er die Gegensätze zwischen Chruschtschow und Breschnew: nicht die „Rechten“, sondern die „Linken“ waren hauptverantwortlich für den Niedergang der kommunistischen Arbeiterbewegung; drittens war die Berufung auf Stalin ohne jede Substanz, denn man hatte von der tatsächlichen Politik Stalins nichts begriffen; viertens stand die „bürgerliche“ Herleitung des Bruchs der 50er Jahre im Gegensatz zur politischen Ökonomie des Marxismus. Mit dieser Abgrenzung war das eigene theoretische Fundament auf Sand gebaut und hatten die MLer keine Perspektive.

Schluss:
Stalin als Organisator des russischen Wegs zum Sozialismus

Das Geheimnis der russisch-sowjetischen Entwicklung ist die dörfliche Umteilungsgemeinde. In ihrem gemeinsamen Vorwort von 1882 zur zweiten russischen Ausgabe des „Kommunistischen Manifest“ stellten Marx und Engels die Frage: „Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehen?“ Ihre Antwort darauf lautete: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“125 In den kommenden Jahrzehnten gingen die zeitgenössischen Marxisten, allen voran Engels und Lenin, davon aus, dass die Dorfgemeinde unrettbar zugrundeging – und mit ihr die erste Voraussetzung des „russischen“ Wegs zum Sozialismus. Man sah nicht, dass sie zwar zurückgedrängt wurde, aber nicht nur am Leben blieb, sondern Kristallisationspunkt des bäuerlichen Widerstands gegen die aufgezwungenen Veränderungen wurde.

Im Revolutionsjahr 1917 mussten die Bolschewiki ihr in langjährigen theoretischen Kämpfen entstandenes Agrarprogramm aufgeben und das Agrarprogramm der bäuerlichen Sozialrevolutionäre akzeptieren, das in Form der Nationalisierung des Bodens ganz Russland zur Dorfgemeinde erhob. Nur unter Anerkennung ihrer eigenen Forderungen waren die Bauern bereit, mit der Arbeiterklasse zu gehen. Ohne dass die Führer der Partei jemals die Konsequenzen daraus debattierten, verwirklichte der praktische Auftritt der russischen Bauernmassen im Revolutionsjahr 1917 also eine Grundannahme der 1882 von Marx und Engels getroffenen Feststellung.

Dagegen realisierte sich die zweite Bedingung ihrer Stellungnahme, die proletarische Revolution im Westen, nach 1917 so wenig wie am Ausgang des vorhergehenden Jahrhunderts. Russland musste den Weg zum Sozialismus allein gehen, und der Organisator dieses Wegs wurde Stalin. Gegen den Marxismus seiner Zeit, der von Kautsky bis Trotzki daran festhielt, dass die Arbeitermacht ohne industrielle Hilfe durch das Proletariat des Westens verloren sei, setzte er Mitte der 20er Jahre zunächst die Auffassung vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ durch. In der Krise Ende der 20er Jahre dann schuf seine Politik der gleichzeitigen Kollektivierung und Industrialisierung die ökonomischen Grundlagen für den Sozialismus. Diese Entwicklung musste „von oben“, durch den Staat organisiert werden und trug unter den bäuerlichen Verhältnissen des Landes notwendig barbarische Züge. Nur so war die Industrialisierung zu bewerkstelligen, die das Land in die Moderne führte und ohne welche der Sieg im zweiten Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre, der das ganze zivilisierte Europa vor der rückwärtsgewandten Barbarei des deutschen Nationalsozialismus rettete.

Stalin führte die russische Arbeiterklasse vom Staatskapitalismus der NEP zum Staatssozialismus. Aber jeder Schritt auf dem Weg voran zum Kommunismus, den er organisierte, ließ neue, größere Hindernisse emporwachsen. Die Kollektivierung vernichtete die Kulaken und ermöglichte durch den Zugriff auf das bäuerliche Mehrprodukt die Industrialisierung – aber sie beseitigte zugleich die sozialen Unterschiede im Dorf und ließ die Bauernschaft ihr bleiernes Gewicht umso massiver zur Geltung bringen. Die Industrialisierung schuf die ökonomischen Grundlagen für den Sozialismus – aber daraus ging eine bäuerlich unentwickelte Arbeiterklasse hervor, die nicht fähig war, die Gesellschaft zu führen, sondern „von oben“ vorwärtsgetrieben werden musste. Der Kampf gegen die „Linken“ stabilisierte das Arbeiter-Bauern-Bündnis – aber er zerstörte das theoretische Niveau und die Diskussionskultur des russischen Marxismus und ließ eine Massenpartei der unentwickelten Arbeiterklasse entstehen. Der Sieg im zweiten Weltkrieg schließlich stellte die Lebenskraft der neuen Ordnung unter Beweis und machte die Sowjetunion zur Weltmacht – aber er zehrte die Energien der Massen auf und brachte in der Sowjetischen Besatzungszone diejenige Partei an die Macht, die in der Komintern das Zentrum des linken Radikalismus gewesen war.

Das Programm für die nächste Etappe des sozialistischen Aufbaus, das Stalin als Antwort auf die Schlüsselkrise Anfang der 50er Jahre in den „Ökonomischen Problemen“ entwickelte, wurde nur von einer Minderheit getragen. Die schwache Stellung des Parteizentrums spiegelt sich nicht zuletzt in der Reaktion auf die Schrift wider. Lauthals gelobt wurden die allgemein-theoretischen Passagen wie die (fehlerhafte) Definition des Grundgesetzes des modernen Kapitalismus oder die (ebenso fehlerhafte) Erklärung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Weltsystems. Die konkreten Ausführungen zur sowjetischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Außenpolitik sowie zur internationalen Revolutionsstrategie riefen keine öffentliche Debatte hervor.

Eine Schwäche von Stalins Position war ihre fehlende theoretische Fundierung. Die Oktoberrevolution bewirkte in der Praxis einen fundamentalen Bruch mit den Grundannahmen des zeitgenössischen Marxismus, der davon ausgegangen war, dass die Revolution zuerst in den kapitalistisch entwickelten Ländern Europas siegen und proletarisch-sozialistischen Charakter tragen würde. Aber weder der eigene Charakter der russischen Agrarverhältnisse noch das Grundproblem der Revolutionstheorie dieses Jahrhunderts wurde geklärt, nämlich die Frage, ob das Proletariat nicht nur als Führerin einer bürgerlichen Volksrevolution an die Macht gelangen konnte. Auch Stalin agierte im wesentlichen als Mann der Praxis, ohne die weitergehenden theoretischen Fragen aufzuwerfen. Sein Hinweis auf eine Politik „wie vor 30 Jahren“, d.h. auf die NEP, ging ebenso unter wie seine Bemerkung über die „Erhebung des Banners der bürgerlichen Demokratie“ in den kapitalistischen Ländern.

Nach Stalins Tod gab es für die Realisierung seiner Politik keine Chance mehr. Im Westen unterlief die SED bereits 1952 durch den Beschluss zum Aufbau des Sozialismus in der DDR seine Revolutionsstrategie. Innenpolitisch blockierte das antagonistische Zusammenspiel von Rechten und „Linken“, die „rechte“ Bauernpolitik Malenkows und der schließliche Sieg der „Linken“ unter Chruschtschow den weiteren Aufbau des Sozialismus. Damit war der Weg in den Untergang vorgezeichnet.

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1 VTK 1993

2 In dem Buch „Herausforderung Russland“ schildert Kai Ehlers die bis in die Gegenwart fortwirkende „obscina“-Tradition im Verhalten und Denken vieler Russen anhand konkreter Beispiele, klärt allerdings nicht die Frage nach den materiellen Wurzeln in den heutigen Verhältnissen.

3 Neue Verhältnisse – Neue Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus. Rede auf der Beratung der Wirtschaftler, 23.Juni 1931; SW 13, S.51

4 Nove, S.249

5 Nove, S.249, 253

6 Alfred Schröder, Referat auf der Sozialismus-Konferenz Januar 1998; AzD 66

7 Vor Erfolgen von Schwindel befallen. Zu den Fragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, März 1930, SW 12, S.168

8 Ökonomische Probleme, SW 15, S.268

9 Das Musterstatut ist abgedruckt im Anhang zu Lenin-Stalin: Zu Fragen der Landwirtschaft, Dietz-Verlag, Berlin 1955, S.449-466

10 In seiner Rede vom 19.Februar 1933 auf dem Ersten Unionskongress der Stoßarbeiter der Kollektivwirtschaften sprach Stalin von einem „kleinen Missverständnis“ zwischen der Sowjetmacht und den Kollektivbäuerinnen „vor nicht langer Zeit“ wegen der eigenen Kuh (SW 13, S.226). Das „kleine Missverständnis“ war der Angelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Stalin und den „Linken“ um die Kollektivierung gewesen. Die von „Linken“ geführten proletarischen Stoßbrigaden hatten versucht, die individuelle Hofparzelle abzuschaffen und das Halten von Privatvieh zu verbieten – und damit eine Welle von Bauernaufständen provoziert.

11 Über den Entwurf der Verfassung der UdSSR, November 1936, in: Fragen des Leninismus, S.622

12 Auf Molotow zielte Chruschtschow in seinem Rechenschaftsbericht an den 20.Parteitag, als er „fehlerhafte Formulierungen“ einzelner Funktionäre „in der Art“ kritisierte, „dass bei uns vorläufig erst die Grundlagen, das heißt das Fundament des Sozialismus geschaffen worden seien.“ (Chruschtschow, S.152)

13 Die Industrialisierung wurde zum erheblichen Teil finanziert aus der Differenz zwischen dem Getreidepreis, der den Bauern gezahlt wurde, und dem Brotpreis, den die Städter zahlen mussten. Nach den (unbestätigten) Angaben Noves zahlte der Staat den Bauern im Jahr 1948 maximal 8 Rubel für eine Tonne Roggen und berechnete für die Abgabe an die staatlichen Mühlen einen Verrechnungspreis von 338 Rubeln (Nove, S.236).

14 Erklärung zur Herausgabe der „Kommunistischen Zeitung“, Kommunistische Zeitung Nr.1, Februar 1998

15 Malenkow auf dem „Berija-Plenum“ des ZK der KPdSU im Juli 1953; in: Knoll, S.41, 316

16 „Es lässt sich nicht behaupten, dass die Reinigung ohne ernstliche Fehler durchgeführt wurde. Leider wurden mehr Fehler begangen, als anzunehmen war.“ (Stalin in: Fragen des Leninismus, S.713)

17 Medwedew, S.92

18 Nolte, S.185

19 Shdanow, S.20

20 Über die Fehler des Genossen Jaroschenko, in: Ökonomische Probleme …, SW 15, S.316

21 Leonhard, S.89 f

22 Medwedew, S.82

23 Heller, S.289

24 Rauch, S.463

25 SW 15, S.262

26 Rauch, S.486

27 Medwedew, S.92

28 Ökonomische Probleme, SW 15, S.287 f

29 Rede auf dem 19.Parteitag der KPdSU, 14.Oktober 1952, SW 15, S.189 f

30 Ökonomische Probleme, SW 15, S.284 ff

31 Gespräch vom April 1952, in: Pieck, S.396

32 Ausführlich hierzu die erwähnte Broschüre über die DDR: Das Scheitern des deutschen Kommunismus

33 Klaus Mehnert, Über Stalins „Wirtschaftsprobleme des Sozialismus in der UdSSR“, in: Osteuropa, Heft 6/1952, S.409

34 Über die Fehler des Genossen L.D.Jaroschenko, Ökonomische Probleme, SW 15, S.316-319; Hervorhebung durch Stalin

35 Ökonomische Probleme, SW 15, S.271

36 Osteuropa (Zeitschrift), S.459

37 Antwort an die Genossen A.W.Sanina und W.G.Wensher, Ökonomische Probleme, SW 15, S.336. In dem Buch „Von der Oktoberrevolution…“ wurde vom Autor behauptet, Stalin habe aus den Kolchosen Staatsbetriebe machen wollen. Auf diesen Fehler haben die Autoren des Buchs „Wann und warum der Sozialismus scheiterte“ aufmerksam gemacht (S.105).

38 SW 15, S.268

39 Bereits Anfang der 30er Jahre hatte Stalin auf das Problem aufmerksam gemacht, dass als negative Seite der Kollektivierung der einzelne Kolchosbauer „die Verantwortung von sich abwälzen und auf die anderen Mitglieder der Kollektivwirtschaft“ bauen kann. („Über die Arbeit auf dem Lande“, Rede vom 11.Januar 1933, SW 13, S.199)

40 in: Knoll, S.317

41 Antwort an die Genossen A.W.Sanina und W.G.Wensher, Ökonomische Probleme, SW 15, S.342

42 Ökonomische Probleme, SW 15, S.269

43 Die ganze Schrift liest sich im beschriebenen Zusammenhang als Kampfschrift gegen die Linken. Stalin schrieb darin, „dass keine Wissenschaft ohne Kampf der Meinungen, ohne Freiheit der Kritik sich entwickeln und gedeihen kann“, und attackierte den Dogmatismus und das „Araktschejew-Regime“ (eine Epoche des Polizeidespotismus und der Militärwillkür Anfang des 19.Jahrhunderts in Russland) in der Sprachwissenschaft (SW 15, S.225). Verantwortlich für diesen Zustand war der Kulturminister, der mittlerweile gestorbene Shdanow.

44 SW 15, S.262

45 Malenkow, S.75

46 In der Übersetzung steht hier „Warenaustausch“. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass Produktenaustausch gemeint sein muss.

47 Rede auf dem Plenum des ZK der KPdSU vom Juli 1953 („Berija-Plenum“), in: Knoll, S.318

48 in: Knoll, S.318; Hervorhebung durch mich; H.K.

49 Malenkow, S.139, 144, 143

50 Heller, S.215

51 Molotows Erklärung von 1955 nach: Heller, S.215; sein Bericht vom 8.Februar 1957 vor dem Obersten Sowjet nach: Leonhard 1959, S.166

52 Medwedew, S.91

53 Leonhard 1959, S.262

54 Karuscheit 1997 (DDR-Broschüre), S.23

55 Medwedew, S. 91, 98

56 in: Knoll S.257

57 in: Knoll, S.36

58 Rede vom 8.3.1963 in: „Neues Deutschland“ Nr 73 vom 14.3.1963, S.4; auszugsweise abgedruckt in: Weingartner, S.102

59 in: Knoll, S.56

60 Medwedew, S.100

61 „Malenkow neigte eher zu einer intensiveren Nutzung bereits kultivierter Böden.“ (Heller, S.214; s.a. S.235)

62 Leonhard 1959, S.262

63 Rauch, S.504

64 Heller, S.214

65 Hildermeier, S.799

66 Medwedew, S.98

67 Medwedew, S.107

68 Heller, S.210

69 Leonhard, S. 133, 134 f

70 Stökl, S.763

71 Leonhard, S.339

72 Medwedew, S.160

73 Medwedew, S.163

74 Leonhard, S.350

75 Leonhard 1959, S.385

76 Leonhard, S.365f; Medwedew, S.170

77 Hildermeier, S.916

78 Nove, S.245; Hildermeier, S.915

79 Nove, S.250, 254; die Zahlen stammen aus den 70er Jahren.

80 Nove, S.257

81 Hildermeier, S.913

82 Nove, S.254, 255

83 Nove, S.255

84 Hildermeier, S.927

85 Teckenberg, S.266, 438

86 Heller, S.237

87 Medwedew, S.188

88 Heller, S.237

89 Nove, S.235

90 Heller, S.238

91 Heller, S.238

92 Wädekin 1969, S.8

93 nach: Wädekin 1969, S.57

94 Wädekin, S.57

95 Medwedew, S.187 f

96 Ökonomische Probleme des Sozialismus (Antwort an die Genossen Sanina und Wensher); SW 15, S.339

97 Medwedew, S.188, Heller, S.237

98 Wädekin 1969, S.40-45

99 Wädekin1969, S.43

100 Rauch, S.528

101 Stökl, S.776

102 Stalin: Zu den Fragen des Leninismus (1926), in: Fragen des Leninismus, S.154 f

103 Rauch, S.535

104 Fjodor Burlazki: Breshnew und das Ende der Tauwetterperiode; in: INITIAL 5/90, S.497

105 Medwedew, S.67

106 Wein 1985, S.132 f

107 Wein 1985, S.133

108 Wein 1985, S.112

109 Nove, S.173 f

110 Wein 1985, S.98

111 Wädekin 1969, S.38 f

112 Nove, S.238

113 Nove, S.238

114 Wein 1985, S.154 f

115 Wein 1980, S.30

116 Wein 1985, S.133

117 Wein 1985, S.152, 162

118 Heller, S.302

119 Heller, S.302

120 Hildermeier, S.912

121 Rauch S.540

122 Nove, S.236

123 Nove, S.238

124 Für den Kampf gegen den Personenkult waren die „Linken“ bestens gerüstet, wofür das Beispiel von Pospelow steht. Ursprünglich Mitglied des Autorenkollektivs, das die parteioffizielle „Kurze Lebensbeschreibung“ Stalins verfasste – ein Machwerk des Personenkults ohnegleichen, wurde er nach Stalins Tod Vorsitzender der „Entstalinisierungskommission“, die den Personenkult als Zentrum allen Übels entlarvte und die Vorlage für Chruschtschows „Geheimrede“ gegen Stalin erarbeitete.

125 MEW 19, S.296