Manche Historiker neigen bis heute dazu, die Verantwortung für den Krieg allein der Person Hitler zu geben. Dieses Schema war in der Nachkriegsauseinandersetzung auch bei vielen Deutschen beliebt, um die eigene Schuld zu verdrängen. Auch die SED, die aus der eigenen Geschichtstheorie nie begreifen konnte, warum die große Mehrheit der Arbeiterklasse dem Nationalsozialismus bis zum Schluß die Treue hielt, brauchte Hilfskonstruktionen. Bald war in der Geschichtsschreibung der DDR von der „Hitlerclique“ die Rede, die im Interesse der Monopole das deutsche Volk unschuldig in den Krieg gestürzt habe. Auch der ZDF-Historiker Guido Knopp hat in seiner Fernsehserie „Hitler – eine Bilanz“ den 2. Weltkrieg als Ausgeburt eines verrückten Hirnes mit Unterstützung seiner engen Kampfgefährten dargestellt. Der Krieg war jedoch nicht nur das Werk Hitlers, sondern hatte auch soziale Triebkräfte in der Gesellschaft. Fraktionen der alten und der neuen Eliten entwickelten verschiedene außenpolitische Konzepte, die Deutschland zur Weltmacht und zum Herrn über Europa machen sollten. In der Gesellschaft hatten einige dieser Konzepte eine Basis. Bei der Untersuchung der Machtverhältnisse im NS- Staat ist auch die Frage zentral, welche außenpolitische Konzeption sich in der Praxis durchsetzte.
1. Die Pläne und Strategien der Aggression
Krieg für den bäuerlichen Rassenstaat
In „Mein Kampf“ legte Hitler ausführlich und in völliger Offenheit die zukünftige Außenpolitik des Nationalsozialismus dar. Aus der Analyse der Niederlage des kaiserlichen Deutschlands im 1. Weltkrieg zog er Lehren und entwickelte eine neue außenpolitische Zielsetzung, aber auch eine neue Strategie, die mit der traditionellen revanchistischen Außenpolitik der Weimarer Republik brach.
Der Absicht aller Regierungsparteien der Weimarer Republik, in erster Linie mit friedlichen Mitteln Schritt für Schritt die Grenzen des Kaiserreiches wiederherzustellen, erteilte Hitler eine Absage. „Die Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen des Jahres 1914 ist ein politischer Unsinn von Ausmaßen und Folgen, die ihn als Verbrechen erscheinen lassen.“ [231] Hitler hatte kein Interesse an einfacher imperialistischer Machtpolitik. Die Außenpolitik sollte dem Ziel dienen, den bäuerlichen Rassenstaat zu errichten. „Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“ [232] Die bäuerliche Besiedlung Rußlands und der umliegenden Staaten erhob Hitler zum Leitmotiv der deutschen Außenpolitik und verwarf die Kolonialpolitik. Dieses Leitmotiv stellte etwas Neues dar. Siedlungsideologie gab es auch schon während des 1. Weltkrieges. Sie konnte sich aber gegen die „Kolonial- und Handelspolitik“ nie durchsetzen.
Schon in „Mein Kampf“ machte Hitler keinen Hehl daraus, daß seine Ziele nur durch Krieg zu erreichen seien und legte offen dar, daß „auch uns in der Zukunft den Boden und das Leben für unser Volk keine göttliche Gnade zuweisen (wird), sondern nur die Gewalt eines siegreichen Schwertes.“ [233]
Der Grundsatz der Ablehnung eines deutschen Kolonialreichs in Afrika zog sich bis Hitlers Tod wie ein roter Faden durch seine Weltanschauung. Bei Hitler spielten rassistische und völkische Vorstellungen die zentrale Rolle. Er befürchtete, die „Neger“ würden sich auf Dauer mit den deutschen Einwanderern und Kolonialisten vermischen. Als abschreckendes Beispiel galt ihm Frankreich, das er als „europäisch-afrikanischen Mulattenstaat“ [234] bezeichnete. Statt dessen forderte er die Konzentration des deutschen „Volkstums“ in einem geschlossenen Block von Blut und Boden in Europa.
In der zentralen Kriegszielbesprechung am 5. November 1937 in der Reichskanzlei (von Hößbach protokolliert) nannte Hitler auch wirtschaftspolitische Gründe: „Wenn die Sicherheit unserer Ernährungslage im Vordergrunde stände, so könne der hierfür notwendige Raum nur in Europa gesucht werden, nicht aber ausgehend von liberalistisch-kapitalistischen Auffassungen in der Ausbeutung der Kolonien (…) Auch die Rohstoffgebiete seien zweckmäßiger im unmittelbaren Anschluß an das Reich in Europa und nicht in Übersee zu suchen.“ [235] Auch in seinem „Testament“, in dem er seine Außenpolitik rückblickend analysierte, unterstrich er seine Prinzipien noch einmal. „Es gibt eine weitere Veranlassung dafür, uns mit den Amerikanern zu vertragen: weder sie noch wir neigen zur Kolonisation (…) Ich betrachte die stümperhaften Versuche am Ende des 19. Jahrhunderts als Seitensprung in unserer Geschichte. Die Niederlage von 1918 hatte wenigstens das Gute, uns auf einem verhängnisvollen Weg zu stoppen, zu dem sich die Deutschen, eifersüchtig auf Erfolge (…) törichterweise durch das Beispiel der Franzosen und der Engländer hatten verleiten lassen.“ [236] „Nach Osten, und immer nur nach Osten haben wir unseren Geburtenüberschuß zu lenken. Das ist die von der Natur gewiesene Richtung der germanischen Expansion“ [237], versuchte er den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und Polen zu rechtfertigen.
In „Mein Kampf“ ließ sich Hitler auch länger über die Politik der anderen Großmächte und die Mächtekonstellation, die die Nachkriegsordnung von Versailles geschaffen hatte, aus. Daraus leitete er Gegner und Bündnispartner Deutschlands ab. „Der unerbittliche Todfeind des deutschen Volkes ist und bleibt Frankreich.“ [238] Frankreichs Ziel, von den Jakobinern über Napoleon, sei immer die Kleinhaltung und Zersplitterung Deutschlands gewesen, um die zentrale Großmacht in Kontinentaleuropa zu werden. Das Ziel könne deshalb nur die Unterwerfung Frankreichs sein. Hitler sprach nur das allgemeine Gedankengut der deutschen und französischen Revanchisten aus. Die deutsch- französischen Kriege und die Reibereien um das Rheinland und Elsaß-Lothringen waren Ausdruck dieser Tatsache. Die französische Nachkriegsordnung des Versailler Vertrages, Deutschland zu verkleinern und sich selbst im Nahen Osten und Afrika Kolonien unter dem Stichwort „Mandat“ anzueignen, hatten schon die USA nicht unterstützt, indem sie dem Völkerbund nicht beitraten. Auch die britische Regierung empfand den Versailler Vertrag als zu hart gegenüber dem deutschen Reich.
Als Bündnispartner kam für Hitler deshalb nur England in Frage. „Wenn europäische Bodenpolitik nur zu treiben war gegen Rußland mit England im Bunde, dann war aber umgekehrt Kolonialpolitik und Welthandelspolitik nur denkbar gegen England mit Rußland.“ [239] England habe in Europa nur ein Interesse an Stabilität, um Weltpolitik, sprich Kolonialpolitik, machen zu können, deshalb sei ein Bündnis möglich. England verfolgte tatsächlich auf dem Kontinent die sogenannte „balance of power“- Politik. Im 1. Weltkrieg griff England nur ungern auf dem Festland ein und förderte schon zu Stresemanns Zeiten die Lockerung des Versailler Vertrages, um das Gleichgewicht der Stärke herzustellen. Hitler setzte also auf die Ausnutzung der Widersprüche zwischen den beiden großen Kolonialmächten England und Frankreich. „England kann weiter niemals ein Frankreich wünschen, dessen kontinental-politische Lage dank der Zertrümmerung des übrigen Europa als so gesichert erscheint, daß die Wiederaufnahme der größeren Linie einer französischen Weltpolitik nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erzwungen wird“, führte er aus. [240] Entsprachen Hitlers Berechnungen soweit der Realität, war es aber auch schon 1925 fraglich, ob das Empire ein Deutschland hinnehmen würde, das durch die Zertrümmerung des übrigen Europa der Weltmachtstellung Großbritanniens gefährlich werden könnte. Ein von Deutschland beherrschtes Europa war langfristig für das Empire eine zu große Gefahr. Da England mit fast allen Kräften in den Kolonien gebunden war, würde es in dieser Situation von der deutschen Laune abhängen, England zu besetzen.
Der zweite potentielle Bündnispartner war für Hitler Italien. Italiens Interessen seien „um das Mittelmeerbecken gruppiert“. [241] Aufgrund dieser traditionellen Orientierung würden die Siedlungsinteressen Deutschlands und die Kolonialpolitik Italiens nicht in Widerspruch zueinander geraten. Im „Zweiten Buch“ 1928 kündigte Hitler schon den deutschen Verzicht auf Südtirol an, das dem Bündnis immer im Weg stand. Auch in diesem Punkt verwarf er eine Forderung der revanchistischen Außenpolitik.
Hitlers Darlegungen in „Mein Kampf“ bewiesen, daß er trotz aller antisemitischen Wahnvorstellungen in der Lage war, die innerimperialistischen Widersprüche der Nachkriegsordnung richtig zu analysieren und daraus eine Strategie zur Sprengung des Versailler Vertrages abzuleiten, um dann den Siedlungskrieg führen zu können. Die konzeptionelle Fehleinschätzung der Politik des britischen Empires sollte Hitler allerdings noch zum Verhängnis werden.
Die Konkretisierung der Siedlungspläne
Mit dem Beginn des Krieges im Osten 1939 wurden die Länder von Deutschland besetzt, die Hitler 1925 als deutsche Siedlungsgebiete bestimmt hatte. Die SS übernahm nun als Blut- und Bodenorganisation die Konkretisierung dieses Programms. Den Grundgedanken der Siedlung bildete die Vernichtung oder Vertreibung der im Osten lebenden Völker, um so Siedlungsraum für Millionen „germanischer“ Bauern zu schaffen. Himmler brachte es in Kiew 1942 auf den Punkt, indem er sagte, „daß man die soziale Frage nur dadurch lösen kann, daß man die anderen totschlägt, damit man ihre Äcker bekommt.“ [242] Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und Polen stand also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Siedlungspolitik.
Schon 1939 erörterte Hitler die Aussiedlung von 6 Millionen Tschechen. Dieses Projekt wurde nicht durchgeführt, da die Nazis die tschechischen Arbeiter in der wichtigen Rüstungsindustrie Böhmens und Mährens brauchten. Der SS-Ideologe Konrad Meyer verfaßte im Mai 1940 den berühmt-berüchtigten Generalplan Ost. Dieser Plan beinhaltete die nationalsozialistischen Völkermordabsichten schon vor der Wannsee-Konferenz. Noch beschränkten sich die Pläne auf Polen, da man die Sowjetunion noch nicht erobert hatte. [243] Er sah die Deportation von Juden und Abschiebung von 3,4 Millionen Polen vor. An deren Stelle sollten 2 Millionen angesiedelter deutscher „Wehrbauern“ einen „Wall deutschen Volkstums“ bilden. Heydrich, einer der wichtigsten SS-Führer, äußerte zu den Wehrbauern: „Das sind Räume, die man eigentlich behandelt wie die Eindeichung eines neuen Landes an der Küste, indem man ganz im Osten einen Wehrwall von Wehrbauern zieht, um das Land abzuriegeln gegen die Sturmflut Asiens.“ Die untere Größe der Bauernhöfe legte Meyer bei 20 ha und die obere Größe bei 50-200 ha fest. Klein- und vor allem Mittelbauern, nicht Großgrundbesitzer, sollten das Siedlerpotential darstellen. Für die dörfliche Infrastruktur sah die SS auch die Ansiedlung von Handwerkern und Technikern vor. Himmler meldete zum Generalplan: „Der Führer sagte, daß es Punkt um Punkt richtig wäre.“ [244]
Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion dehnte Meyer Anfang 1942 den Generalplan Ost auf den Vielvölkerstaat aus und die SS entwickelte den Generalsiedlungsplan. 31 Millionen Einwohner der besetzten Ostgebiete wollte man nach Westsibirien aussiedeln. Schwerpunktmäßig planten die Nazis eine Verringerung der Stadtbevölkerung, da die Städte als Hort des Widerstandes galten. Dafür sollten 10 Millionen „volksdeutsche“ Siedler innerhalb von 30 Jahren angesiedelt werden. [245]
Ein anderes wichtiges Plandokument ist das „vorläufige Friedensprogramm des Reichsführers der SS“ vom 14. Dezember 1941. Dieses Programm war ein riesiges Bauprogramm, das Milliarden für die Siedlungen veranschlagte. Das ganze polnische Gebiet, Skandinavien, Tschechien und die Niederlande schlug man darin dem Deutschen Reich zu. Die Durchführung dieses Plans hätte den Osten nicht nur in ein Bauern-, sondern auch in ein Sklavenreich verwandelt. 80 % des Bauprogramms sollte von KZ-Häftlingen durchgeführt werden. Albert Speer, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, schätzte die Zahl im nachhinein auf 14.450.000 Häftlinge innerhalb des Zwanzig-Jahresprogramms. [246]
Etwas „bescheidenere“ Siedlungsplanungen verfaßte das „Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront“. Dieses Institut glaubte, daß sich in Deutschland nicht so viele Siedler finden würden, die nach Osten ziehen wollten. Um die Siedlung trotzdem zu ermöglichen, schlug es eine Veränderung der deutschen Industriestruktur vor. Alle nicht hochtechnischen Industriebereiche seien nach Rußland auszulagern. Nur durch Stillegung dieser Industriezweige, z. B. der Eisenindustrie, würden in Deutschland genug Siedler vorhanden sein. Außerdem sei nur durch eine Verdopplung der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe im Osten der Anreiz groß genug, um 700.000 deutsche Bauernfamilien nach Rußland zu locken.
In seinen „Tischgesprächen“ phantasierte Hitler in diesen Jahren wiederholt über die Zukunft seines Bauernstaates. Er war vom Siedlungswillen der deutschen Bevölkerung fest überzeugt: „der Reichsbauer (soll) in hervorragenden schönen Siedlungen hausen. Die deutschen Stellen und Behörden sollen wunderbare Gebäulichkeiten haben, die Gouverneure Paläste (…). Um die Stadt herum wird auf 30 bis 40 Kilometer ein Ring von schönen Dörfern gelegt, durch die besten Straßen verbunden.“ [247] Er wollte im Osten deshalb auch eine Eisenbahn und Autobahn bauen lassen. Hitler verstand sich also als Kolonisator, der die „Steppen Asiens“ in blühende Äcker verwandeln wollte. Die Besiedlung Amerikas, die auf der Grundlage der Vertreibung und Vernichtung der Indianer basierte, sowie die mittelalterliche Ostsiedlung der deutschen Ritterorden dienten dabei als historische Vorbilder. So viele brutale Verbrechen diese beiden „Kolonisationen“ auch hervorgebracht haben, sie stehen in keinem Vergleich zur nationalsozialistischen Siedlungspolitik. Allein schon deshalb, weil der nationalsozialistische Völkermord im 20. Jahrhundert stattfand. Die Wehrmacht und SS führten bei ihrem „Ritt nach Osten“ keine Schwerter und auch keine Winchester mit sich, sondern moderne Vernichtungswaffen. Sie drangen auch nicht in die weiten Prärien Amerikas ein, sondern in die Kerngebiete industrialisierten und dicht besiedelten Landes. Die Absicht, Millionen Russen, Polen, Ukrainer usw. zu vertreiben und zu vernichten, war somit schon indirekt in der Siedlungsprogrammatik von „Mein Kampf“ enthalten.
Der Siedlungskrieg im Osten hatte eine bäuerliche Triebkraft. Es ging zum einen darum, den Landhunger der deutschen Bauern nach außen zu lenken und mit einem neuen Siedlerreich im Osten die Dominanz der Industrie in Deutschland zu überwinden. Millionen landloser oder armer Kleinbauern wäre so ein beträchtlicher Besitz zugefallen. Auch das absteigende Kleinbürgertum und Handwerk sollte mit der Siedlung gerettet werden. Im „neuen Lebensraum“ hätte es genug Arbeitsmöglichkeiten für die im Reich bedrängten Kleinbetriebe gegeben. Zum anderen stand hinter der Siedlungsprogrammatik eine ideologische Absicht. Die SS und die NSDAP glaubten, durch die Siedlung den Bauern als „Blutquell des deutschen Volkes“ zu erhalten und durch die Neuverwurzelung des deutschen Volkes im Boden die „rassische Reinheit“ wiederherzustellen. Die Triebkraft der Siedlung war ein konkretes soziales Bedürfnis von Tausenden Bauern, aber auch die irrationale Rassenideologie von Hitler und der SS.
Die „Kontinentalblock“-Strategie – Alles gegen das Empire!
Eine alternative außenpolitische Zielsetzung zu Hitlers Siedlungspolitik entwickelten die Anhänger des Kolonialismus. Im Gegensatz zu der SS, Hitler und Rosenberg träumten sie von einem deutschen Kolonialreich in Afrika, das auf den Trümmern des britischen Empire entstehen sollte. Ihre Strategie, die sich deshalb in erster Linie gegen England richtete, verfolgten der deutsche Außenminister von Ribbentrop, die Führungselite des Auswärtigen Amtes und das Kolonialpolitische Amt des alten Kolonialisten Ritter von Epp. Auch Vertreter der Banken wie Hjalmar Schacht unterstützten den Kampf für Rohstoffquellen und Absatzmärkte in Afrika. Sie stellten sich selten offen gegen Hitlers Politik, versuchten aber in ihren Einflußbereichen, den Blick vom Osten nach Afrika abzulenken. Diese Linie knüpfte an die traditionelle Außenpolitik des Kaiserreiches und des Revanchismus der Weimarer Republik an und hatte auch in der deutschen Bevölkerung einigen Einfluß. Ihre Vertreter sammelten sich im Auswärtigen Amt, im Kolonialpolitischen Amt und in der Leitung der Marine.
Joachim von Ribbentrop war als deutscher Sonderbotschafter in England schon Mitte der 30er Jahre zu der Erkenntnis gekommen, daß England zu einem Bündnis mit Deutschland nicht bereit sei. Hitlers Wunschpartner kam für ihn nicht als Sicherung der deutschen Expansionspolitik in Frage. Angesichts der Schwäche des britischen Empire und der aufflammenden Befreiungsbewegungen in den Kolonien hielt Ribbentrop den Zeitpunkt für die Zerschlagung des Empire für günstig. Ribbentrop entwickelte als Außenminister die „Kontinentalblock“- Strategie. Das hieß eine Orientierung aller europäisch-asiatischen Großstaaten von anfänglich noch Frankreich und Spanien über Deutschland, Italien bis zu Japan gegen die angelsächsische Seemacht, um das Empire zu zerschlagen. [248] Spanien und Italien waren für die antibritische Front am Mittelmeer vorgesehen, und Japan bedrohte durch seine Expansion in Südostasien das Empire ohnehin schon. Als sich abzeichnete, daß sich Frankreich zu diesem Bündnis nicht hinreißen ließ, versuchte Ribbentrop die Sowjetunion in seine Planungen einzubinden. Der neuen Großmacht, die auf Seite der antikolonialen Bewegungen stand, bot Ribbentrop Indien als Einflußsphäre an. Für Ribbentrop war ein deutsches Kolonialreich Voraussetzung für die Weltmachtstellung. Er verfolgte eine Macht- statt Siedlungspolitik. Diese Vorstellungen bezeichnete der Historiker Wolfgang Michalka deshalb in Abgrenzung zu Hitlers Programmatik als „wilhelministische Allerweltspolitik“. [249]
Karl Ritter aus dem Auswärtigen Amt arbeitete im Krieg Pläne für das deutsche Reich in Afrika aus. Die Denkschrift über die Schaffung eines „Großwirtschaftsraums“ vom 1. Juni 1940 skizzierte ein deutsches Kolonialreich aus den ehemaligen deutschen Kolonien, Belgisch-Kongo, Französisch-Äquatorialafrika und „vielleicht auch“ Britisch-Nigeria. [250] Damit lag Ritter näher an dem Programm des Alldeutschen Verbandes als an der nationalsozialistischen Außenpolitik Hitlers.
Die alten Kader der kaiserlichen Kolonialpolitik sammelten sich um den Reichskolonialbund und das Kolonialpolitische Amt (KPA). Diese Bewegung, die schon in der Weimarer Republik eine gesellschaftliche Verankerung hatte, trat damals unter dem Namen „Deutsche Kolonial Gesellschaft“ auf. Die DKG übte Einfluß auf alle Parteien außer der KPD aus und hatte 30.000 Mitglieder. Erst nach der Machtübernahme der NSDAP begann ihr Aufstieg zur Massenbewegung. 1934 kam es zur Gründung des Kolonialpolitischen Amts der NSDAP (KPA) mit dem alten Kolonialisten Ritter von Epp an der Spitze. Im Juni 1941 beschäftigte das Amt 209 hauptamtliche Mitarbeiter und der mit dem KPA verbundene Reichskolonialbund hatte im selben Jahr über 2.100.000 Mitglieder [251]. Damit war er eine der größten Massenorganisationen des NS-Staates. Die staatliche Unterstützung stieg von mageren 157.428 RM (1938) auf schließlich 29.942.060 RM (1941). [252]
Die Tatsache ist interessant, da Ritter von Epp von Hitlers Programmatik nichts hielt. Schon 1928 kritisierte Epp das außenpolitische Programm Hitlers und prangerte es als „Ostlandreiterei“ an. [253] Auch aus seinem Nachlaß geht hervor, daß er Hitlers Politik kritisierte, da sie nicht auf die Zerschlagung des Empire, sondern der Sowjetunion ausgerichtet war, die für Epp niemals der Hauptgegner war. [254] Das KPA arbeitete statt dessen umfangreiche Organisations- und Wirtschaftspläne für ein deutsches Kolonialreich aus. In den Kolonien sollte strengste Rassentrennung herrschen, womit sich nationalsozialistische Rassenpolitik und Kolonialismus vermischte. 1941 planten Epp und verschiedene andere sogar ein Reichskolonialministerium, als die Ziele der Kolonialisten in Afrika greifbar nahe schienen.
Auch die Marine trat als Teil der Wehrmacht entschieden für eine antibritische Kolonialpolitik ein. Dabei spielten neben der Tradition der deutschen Flotte auch ressortpolitische Gründe eine Rolle. Ein Krieg, der sich auf Kontinentaleuropa beschränkte, verurteilte die Marine zur Bedeutungslosigkeit. Ohne eine Vielzahl von Stützpunkten in Afrika und am europäischen Mittelmeer bestand keine Aussicht auf einen Erfolg gegen die völlig überlegene britische Flotte. So forderte Wilhelm Canaris, Leiter des Amtes Ausland/Abwehr im OKW 1938, in einer Entwurfstudie „genügend Kolonialbesitz“ für die „Seekriegsführung gegen England“. [255] Diese Pläne umfaßten den Aufbau einer Kolonialflotte und die Ausstattung von Kolonialhäfen. Die große Chance kam für die Marine mit den deutschen Siegen in Afrika. Raeder entwickelte im Sommer 1940 einen Plan, um in Afrika gegen das Empire vorzugehen, den allerdings Hitler ablehnte. Ebenso schlug Admiral Raeder, der Oberbefehlshaber der Marine, Hitler 1940 dreimal vergeblich vor, den Hauptstoß gegen das britische Kolonialreich zu richten und von Nordafrika bis in den Vorderen Orient vorzustoßen. [256]
In einer Denkschrift vom 3. Juni 1940 von Fricke, dem Admiral und Stabschef der deutschen Seekriegsleitung, über „Raumerweiterung und Stützpunktfragen“ forderte dieser, zusammenhängenden Kolonialbesitz in Mittelafrika zu schaffen und weitete die Ansprüche auf französische und britische Kolonien im Juli noch weiter aus. [257] Auch die Richter der Nürnberger Prozesse erkannten, wer die eifrigsten Vertreter der Kolonialpolitik waren. „Am eindringlichsten hat wohl Großadmiral Raeder aus ressort-spezifischen Gründen versucht, Hitler vom Ostkrieg abzubringen und ihn für die schwerpunktmäßige Fortsetzung des Krieges gegen Großbritannien zu gewinnen.“ [258]
Schon vor dem 1. Weltkrieg traten auch Teile der Schwerindustrie für die Eroberung von neuen Kolonien ein und unterstützten massiv den gegen England gerichteten Flottenbau. Der Alldeutsche Verband propagierte den „Kolonialgedanken“ bis ins kleinste Dorf. Auch in der Weimarer Republik wurden die bürgerlichen Politiker nicht müde, die Rückgabe der deutschen Kolonien zu fordern.
Diese Tradition setzten Teile der Schwerindustrie auch nach Hitlers Machtübernahme fort. Hjalmar Schacht war ein Vertreter der Rückgabe deutscher Kolonien und argumentierte rein wirtschaftlich. Nach der Befreiung schrieb er noch: „von je her war ich ein eifriger Verfechter des kolonialpolitischen Gedankens gewesen, nicht im Sinne eines Imperialismus, sondern einzig aus dem Grunde, weil ein Industrievolk, das nicht über eine ausreichende Ackerfläche in der Heimat verfügt, zu seiner Ernährung zusätzliche landwirtschaftliche Produktionsquellen benötigt.“ [259] Zusätzlich führte er den Mangel an Rohstoffen in Deutschland ins Feld. Die nationalsozialistische Ostpolitik lehnte Schacht genauso wie der Ritter von Epp ab. In einem Brief vom 19.3.1935 an Epp schrieb der Finanzexperte: „Die Idee von dem zu erwerbenden Ostraum stiftet leider viel Unheil an.“ „Ich brauche ihnen deshalb, sehr geehrter Herr General von Epp, nicht zu sagen, wie sehr ich ihre kolonialpolitischen Gedankengänge billige und unterstütze“ [260], beteuerte er gegenüber dem Leiter des KPA. Schacht ließ in der Öffentlichkeit keine Gelegenheit aus, Kolonien in Übersee zu fordern, wie z. B. im Interview für die französische Zeitung „Paris Soir“ oder am 27. Mai 1937 vor der Handelskammer. [261] Schacht dachte nach eigenen Angaben an die Rückgabe der deutschen Kolonien durch Verhandlung mit Großbritannien und Frankreich.
Schacht war nicht der einzige Kolonialist unter den Vertretern des Kapitals. Die Denkschriften der Gruppe Deutscher Kolonialwirtschaftlicher Unternehmungen forderte neben den ehemaligen deutschen Kolonien in Belgisch-Kongo noch Kolonien in Britisch-Nigeria und Französisch-Äquatorialafrika. [262] Die Autoren waren sich der Tatsache wohl bewußt, daß ohne Krieg Frankreich und England wohl kaum zu diesen Zugeständnissen bereit sein würden. Was Hitler von diesen Plänen hielt, legte Schacht auch nach dem 2. Weltkrieg dar: „Mehrfach hatte ich versucht, Hitler (…) für das koloniale Problem zu interessieren (…) Dagegen war sein Traum einer deutschen Ausdehnung nach dem Osten Europas, (…) die keinerlei Aussicht auf Verwirklichung haben konnte.“ [263]
Revanchekrieg gegen den Osten – Die Junker
Neben dem Gegensatz von Siedlungs- und Kolonialpolitikern gab es noch eine dritte Kraft: Die junkerliche Reichswehrführung. Wie schon in dem vorhergehenden Kapitel dargestellt, trat die Reichswehrführung für einen Revanchekrieg gegen den Versailler Vertrag ein. Kernstück ihres Programms war schon seit 1919 die Zerschlagung Polens. Die Enteignung der junkerlichen Rittergüter durch den jungen polnischen Staat sollte rückgängig gemacht werden und der Staat, der als Bollwerk gegen die deutsche Expansion nach Osten gegründet worden war, sollte liquidiert werden. Gegen den Krieg im Westen hatten die Junker einige taktische Bedenken, der Krieg gegen Polen war ihnen jedoch eine Herzensangelegenheit.
Die Bedeutung der Kriegsplanungen
Die wichtigsten Kriegszielplanungen im NS-Staat wären damit dargestellt. Welche geschichtliche Bedeutung diese Berge an Denkschriften und Dokumenten tatsächlich hatten, kann man nur an Hand der Praxis des Weltkrieges untersuchen. Die „Kontinentalblockstrategie“ Ribbentrops war unvereinbar mit der nationalsozialistischen Ostpolitik Hitlers sowie der Europastrategie bestimmter Kapitalfraktionen. Einige Denkschriften schrieben die Autoren deshalb für die Schubladen. Die unterschiedlichen Strategien und Ziele stellen ein bedeutendes Argument dar gegen die Interpretationen, die Hitler als den alles kontrollierenden Alleinherrscher darstellen. Weder die NSDAP noch der Staatsapparat stellten jemals einen monolithischen Block dar.
Auf der anderen Seite bewerten manche Autoren diese Dokumente, ohne sie in der Praxis zu untersuchen. Reinhardt Opitz veröffentlichte unter dem Titel „Die Europastrategien des deutschen Kapitals“ eine Dokumentensammlung, in der auch der Generalplan Ost der SS enthalten ist. Ob die SS wirklich Teil des „Finanzkapitals“ war, darüber darf ein Historiker der Schule der SED natürlich nicht nachdenken. Allein aus der Tatsache der Existenz der Europastrategie von Teilen des deutschen Kapitals zieht er deshalb automatisch den Schluß, daß der Weltkrieg der Krieg des deutschen Kapitals war, ohne zu untersuchen, ob sich diese Strategie wirklich durchsetzte. Ähnlich verfährt Ralf Giordano in seinem Buch „Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte“. Durch seine rein moralistische Herangehensweise sieht er Hitler nur als bösen Größenwahnsinnigen, der die ganze Welt erobern wollte und schiebt ihm sämtliche Kolonialplanungen in die Schuhe, die völlig im Widerspruch zu seinen in „Mein Kampf“ dargelegten Grundsätzen stehen.
Wenn im folgenden Kapitel über den 2. Weltkrieg oft nur von Hitler gesprochen wird, wenn die bäuerlich-rassistische Triebkraft des Krieges gemeint ist, dann liegt das nicht an einer „Hitler-Zentrik“ des Autors. In der Praxis machten nicht die siedlungswilligen Bauern oder die SS die Außenpolitik, sondern Hitler. Er traf alle wichtigen tagespolitischen Entscheidungen. Die SS spielte nur bei dem Dollfuß-Attentat 1935, bei dem Angriff auf Polen und der Siedlungsplanung eine Rolle. Die Bestimmung der Außenpolitik durch Hitler änderte aber nichts an der Tatsache der bäuerlich-rassistischen Triebkraft des Krieges, da der „Führer“ für das damit verbundene Programm stand.