Anmerkungen zum Artikel „Digitalisierung der Produktionsprozesse“

Von Martin Schlegel

Nach Erscheinen der AzD 87 erhielt die AzD-Redaktion einen Link1 zu der Sondernummer 75s der Zeitschrift Proletarische Revolution der Initiative für den Aufbau einer Revolutionär-Kommunistischen Partei (IARKP). Dazu möchte ich im Folgenden mit einigen Kritikpunkten eine Diskussion anstoßen.

Zunächst zur grundsätzlichen Kritik. In dem Artikel wird nicht genau definiert, was die Autor(in)en unter Digitalisierung verstehen, es werden vor allem Beispiele aufgeführt. Am nächsten an einer Definition ist die Aussage auf Seite 8 des Artikels: „Das Kernstück der Digitalisierung sind die vernetzten cyber-physischen Systeme. Als solche werden programmierbare Maschinen bezeichnet, die entweder selbständig oder als Ergänzung menschlicher Arbeitskraft eingesetzt werden können. Dabei sind sie durch das Internet ständig miteinander verbunden und in der Lage, auf einem gewissen Niveau zu kommunizieren und unter Umständen flexibel auf sich ändernde äußere Bedingungen zu reagieren.“ Für mich ist diese Bestimmung nur eine Wiederholung dessen, was in vielen Papieren zu „Industrie 4.0“ zu lesen ist, aber keine Untersuchung der technischen Bestandteile und ihrer Entwicklung.

Den Begriff der Digitalisierung halte ich für unglücklich. Er bezeichnete ursprünglich nur die Umwandlung von analogen Daten in digitale, um sie digital verarbeiten zu können, wird aber inzwischen für alles Mögliche verwendet. Ein Sensor, der die Kraft in einer Roboterhand misst, liefert zwar analoge Daten für digitale Berechnungen, er selbst aber ist Ergebnis einer ingenieurtechnischen Entwicklung. Das Gleiche gilt für die digital angesteuerten Handhabungseinrichtungen, die konkrete Aktionen ausführen. Auch die Mikroprozessoren, die digitale Informationen verarbeiten sind technische Entwicklungen, selbst wenn dazu Programme zu Hilfe genommen werden. Der Begriff der Digitalisierung überbetont also die Softwareseite.

Ich habe die Absicht des Artikels so verstanden, dass er sich zum Ziel gesetzt hat, zu klären, ob die Digitalisierung eine Revolution der Produktivkräfte im Marx’schen Sinn ist. Dazu müsste aber in dem Artikel dargelegt werden, was die Autor(in)nen unter einer Revolution der Produktivkräfte verstehen. Nur dann kann man bestimmen, ob es derzeit technische Entwicklungen gibt, die eine Revolution der Produktivkräfte herbeiführen können. Eine derartige Begriffsbestimmung fehlt in dem Artikel.

Marx analysierte die industrielle Revolution in England und stellte heraus, dass sie in der Ersetzung der Hand des Menschen durch Werkzeugmaschinen bestand. In meinem Aufsatz zu „Industrie 4.0“ bin ich von dieser Marx’schen Begriffsbestimmung ausgegangen und habe versucht, herauszufinden, ob es in der technischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte Erfindungen gibt, die die menschliche Hand in neuen Arbeitsbereichen sowie weitere menschliche Fähigkeiten ersetzen können. Industrie- und Serviceroboter ersetzen seit einigen Jahrzehnten in immer weiteren Bereichen die menschliche Hand. Diese Entwicklung beschleunigt sich durch bessere, schnellere und billigere Sensoren und Handhabungseinrichtungen. Zusätzlich zu dieser kontinuierlichen Entwicklung steht für mich aber im Vordergrund, dass zunehmend andere menschliche Fähigkeiten vor allem bei der Steuerung und Regelung von Produktionsprozessen durch Sensoren und eingebettete Systeme ersetzt werden können. Es werden also zusätzliche Arbeitsschritte vom Menschen an die Maschine abgegeben. Dies ist für mich der Hauptgrund, von einer zweiten industriellen Revolution zu sprechen. Angesetzt habe ich diese Entwicklung ab Mitte der 1970er Jahre mit der Entwicklung der Mikroprozessoren. Bis zur Durchsetzung technischer Entwicklungen zu einer breiten industriellen Anwendung vergehen oft Jahrzehnte, abhängig vom Preis, der Qualität und der Breite des Anwendungsbereichs.

Dazu noch mal zur Illustration das in meinem Artikel geschilderte Beispiel des Tempomats im Auto. Der seit mehr als 50 Jahren erhältliche Tempomat regelt die Geschwindigkeit des Autos auf einen voreingestellten Wert, unabhängig davon, ob man bergauf oder bergab fährt, er ersetzt, sofern es der Verkehr zulässt, den Fuß des Fahrers am Gaspedal. Der seit einigen Jahren erhältliche adaptive Tempomat regelt die eigene Fahrzeuggeschwindigkeit unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit des vorausfahrenden Fahrzeugs. Das heißt, dass zusätzlich das Auge des Fahrers bei der Beurteilung des Sicherheitsabstandes zum Vorderfahrzeug durch Sensoren wie Kameras, Radar oder ähnliches ersetzt wird. Die Sensoren liefern Daten an einen Mikrocontroller, der die sonst vom Menschen zu leistende Steuerung und Regelung eines Prozesses übernimmt.

Die Ersetzung menschlicher Funktionen bei der Führung von Maschinen ist ein Schritt hin zu dem, was Marx als „eigentliches Maschinensystem“ bezeichnete2: „Ein eigentliches Maschinensystem tritt aber erst an die Stelle der einzelnen selbständigen Maschinen, wo der Arbeitsgegenstand eine zusammenhängende Reihe verschiedener Stufenprozesse durchläuft, die von einer Reihe verschiedenartiger, aber einander ergänzenden Werkzeugmaschinen ausgeführt werden,“ Diesem Ziel kommt die Kopplung von Sensoren, eingebetteten Systemen und der Funkverbindung zwischen den Werkzeugmaschinen einen Schritt näher. Die Entwicklungen von Sensoren und eingebetteten Systemen werden in dem Artikel der IARKP jedoch nur gestreift.

Ein Zeichen für die fehlende Begriffsbestimmung, was den Kern einer industriellen Revolution ausmacht, ist auch, dass im Artikel zunächst die in den Industrie 4.0 – Papieren behauptete zweite industrielle Revolution kritiklos übernommen wird (Artikel Seite 20). Dann wird das wieder relativiert: „Wenn man schon von „Revolution sprechen will, dann nur in dem Sinn, in dem auch Marx von der „ständigen Revolutionierung der Produktivkräfte“ durch das Kapital sprach (speziell die große „Maschinerie“) sprach. Das Gerede über die „vier industriellen Revolutionen“ dient dagegen nur dazu, die historische Entwicklung zu entstellen, den Kapitalismus und seine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hinter einem Cyber-Nebel verschwinden zu lassen und die heutige Digitalisierung zu einem Popanz aufzublasen.“ Solche schwankenden Urteile in diesem und andern Fällen kommen heraus, wenn man sich keine Richtschnur erarbeitet, wie man eine Revolution der Produktivkräfte bestimmen will. Zur vierten industriellen Revolution schreibt der Artikel auf Seite 21: „Die Digitalisierung sei also die vierte industrielle Revolution. Wenn wir uns aber nicht blenden lassen, sehen wir, dass diese „Revolution“ auf denselben technischen Grundlagen beruht wie die dritte. Sie ist die Fortsetzung, eine neue Phase der dritten, die nächste Stufe der Automatisierung. Von „digitaler Revolution“ zu sprechen hat keinen rationalen Kern.“ Das entspricht meiner Einschätzung, dass mit der Entwicklung des Mikroprozessors eine neue Stufe der Automatisierung begann, die bis heute andauert und sich beschleunigt.

Es gibt in dem Artikel auch sachliche Fehler. Auf einen möchte ich eingehen, weil er zu einem Thema von grundsätzlicher Bedeutung führt. Auf Seite 32 des Artikels wird behauptet, die Studien zu möglichen Arbeitsplatzverlusten würden sich „auf Automaten, Roboter, Plattformen etc. stützen (können), die es derzeit noch gar nicht gibt“. Auf Seite 36 wird das wiederholt. Das ist für alle von mir untersuchten Studien, wozu auch die im Artikel zitierten gehören, falsch. Sie beruhen alle auf den zur Zeit der Untersuchungen marktreifen Technologien. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat aufgrund der weiteren technischen Entwicklung ihre Substituierbarkeitsstudie von 20153, die auf Daten von 2013 beruht, im Jahr 2018 durch eine Studie4 ersetzt, die auf Daten von 2016 beruht. Der Laxheit, mit der in dem Artikel mit diesen Studien umgegangen wird, entspricht leider auch die Laxheit des Umgangs mit dem dahinterliegenden prinzipiellen Thema. Auf Seite 33 des Artikels wird geschrieben. Außerdem „werden für den Digitalisierungsprozess, wie überhaupt für Rationalisierungen jeder Art, Arbeiter nicht nur an einer Stelle überflüssig, sondern auch an anderer Stelle benötigt. Nun kann man lange darüber diskutieren, ob das eine das andere kompensiert oder nicht und welche Umschichtung der Gesamtarbeitskraft erfolgen werden – solange es kein klares Bild gibt, was genau an Digitalisierung in den verschiedenen Branchen konkret auf uns zukommt, ist das eine müßige Debatte. Niemand hat darüber ein klares Bild und niemand kann ein solches haben“. Der Artikel informiert nicht darüber, dass das Thema der Studien gerade die Untersuchung des Substituierungspotentials für Berufe, Tätigkeiten, Branchen und Ausbildungsstand ist. Eine entsprechende Tabelle ist in der AzD 87 abgedruckt. Darüber hinaus ist die Aussage „ob das eine das andere kompensiert“ in der Realität und im marxistischen Sinn falsch. Marx hat dazu folgenden Standpunkt5: „Obwohl die Maschinerie notwendig Arbeiter verdrängt in den Arbeitszweigen, wo sie eingeführt wird, so kann sie dennoch eine Zunahme von Beschäftigung in anderen Arbeitszweigen hervorrufen. Diese Wirkung hat aber nichts gemein mit der sogenannten Kompensationstheorie. Da jedes Maschinenprodukt, z.B. eine Elle Maschinengeweb, wohlfeiler ist als das von ihm verdrängte gleichartige Handprodukt, folgt als absolutes Gesetz: Bleibt das Gesamtquantum des maschinenmäßig produzierten Artikels gleich dem Gesamtquantum des von ihm ersetzten handwerks- oder manufakturmäßig produzierten Artikels, so vermindert sich die Gesamtsumme der angewandten Arbeit.“

Jede Automatisierung im Kapitalismus wird in Erwartung höherer Profite durchgeführt. Das bedeutet, dass eine Automatisierung nur dann durchgeführt wird, wenn sie billiger als die eingesparte Arbeitskraft ist. Dazu wurde in der AzD 87 eine Studie der Boston Consulting Group vorgestellt, die für verschiedene Industrieländer das Automatisierungspotential unter der Annahme abschätzt, dass Roboter dann eingesetzt werden, wenn ihre Arbeitsstunde 15% billiger ist als die menschliche. VW berichtete, dass in der deutschen Automobilindustrie die Arbeitskosten pro Stunde bei mehr als 50 € liegen, die der bei VW eingesetzten Roboter kosten inklusive Instandhaltung und Energieverbrauch 3 bis 6 € die Stunde6. Dazu noch eine weitere Zahl: Die International Federation of Robotics ermittelte, dass der weltweite Absatz von Industrierobotern im Zeitraum 2011 bis 2016 pro Jahr mit einer durchschnittlichen Rate von 12% wuchs7. Aufgeschlüsselt wird dort auch nach Ländern und Branchen.

Es ließen sich weitere Aussagen des Artikels kritisch betrachten. Die bisher genannten Argumente scheinen mir jedoch ausreichend für die Einschätzung, dass der Artikel seinen Ansprüchen noch nicht gerecht wird.

 

1 Initiative für den Aufbau einer Revolutionär-Kommunistischen Partei: Digitalisierung der Produktionsprozesse, Zeitschrift Proletarische Revolution 75 s,
https://prolrevol.files.wordpress.com/2018/07/pr75download.pdf

2 Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, MEW 23, Seite 400, Dietz Verlag, 1972

3 Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt * Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. (IAB-Forschungsbericht, 11/2015), Nürnberg, https://www.iab.de/185/section.aspx/Publikation/k151209302

4 Dengler, Katharina; Matthes, Britta (2018): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen: Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt. (IAB-Kurzbericht, 04/2018), Nürnberg, https://www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k180213301

5 Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, MEW 23, Seite 466, Dietz Verlag, 1972

6 FAZ: Ersetzen die Computer die Menschen? http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/smarte-arbeit/roboter-ersetzten-menschen-wie-wir-in-zukunft-arbeiten-13736124.html

7 IFR: Executive Summary World Robotics 2017 Industrial Robots, https://ifr.org/free-downloads/