Zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution

Der folgende Artikel ist zuerst erschienen in: Marxistische Blätter 4/2018, S. 98-105

Heiner Karuscheit

Über den historischen Ort der Novemberrevolution

Der hundertste Jahrestag der Novemberrevolution konfrontiert die Marxisten mit der Erinnerung an eine schwere Niederlage der Arbeiterbewegung. Was war das für eine Revolution? War sie eine erfolgreiche bürgerliche Revolution? Eine gescheiterte proletarisch-sozialistische Revolution? Oder war sie „eine bürgerliche Revolution, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde“, wie die SED 1958 in einem Beschluss festhielt? Stand sie mit der Verbindung zweier verschiedener Elemente an der Schwelle zwischen zwei Epochen, endete also im November 1918 die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland und begann die Epoche der sozialistischen Revolution?

Da die Folgen dieser Revolution sich über die damalige Arbeiterbewegung hinaus sowohl auf die Republik von Weimar als auch die DDR auswirkten, gibt es Gründe genug, sich näher mit ihrem Charakter auseinander zu setzen.

Der Vorläufer: die Revolution von 1848/49

1848/49 hatte die Vorgängerin der Revolution von 1918/19 ganz Europa erschüttert. Anders als in Frankreich 1789 hatte die Revolution in Deutschland vor einer doppelten Aufgabenstellung gestanden: während die politische Befreiung des „dritten Standes“ jenseits des Rheins in einem existierenden Nationalstaat erfolgen konnte, musste die Revolution diesseits des Rheins nicht nur die alten Mächte stürzen, sondern auch einen gemeinsamen Staat schaffen. Anstelle von liberté, égalité, fraternité hieß es hier Einheit und Freiheit. Durch Freiheit zur Einheit gelangen – das war das Ziel der deutschen Nationalbewegung. Beides bedingte einander und richtete sich hauptsächlich gegen die preußische Militärmonarchie, die seit dem Wiener Kongress von 1815 durch den Besitz von Rheinpreußen auch im Westen Deutschlands dominierte und zusammen mit der Habsburgermonarchie den Deutschen Bund beherrschte.

Als die Revolutionswelle im Frühjahr 1848 in den deutschen Teilstaaten liberale Regierungen, die sog. Märzregierungen, an die Macht brachte und die Frankfurter Nationalsammlung mit dem Auftrag gewählt wurde, die Verfassung für einen deutschen Bundesstaat zu entwerfen, schien das Streben nach bürgerlicher Freiheit in einem neuen Nationalstaat gesiegt zu haben. Doch die seit 1815 in der Heiligen Allianz verbündeten Mächte des Gottesgnadentums – Preußen, Österreich-Ungarn und das Zarenreich – vermochten es, die revolutionäre Bewegung noch einmal zurückzuwerfen und die alte Ordnung zu retten.

Indessen ließ sich die Nationalbewegung nicht mehr dauerhaft unterdrücken. Vor allem als der Zarismus im Krimkrieg von 1853 bis 1856 eine Niederlage erlitt und nicht länger als Rückhalt der europäischen Reaktion dienen konnte, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Vorherrschaft Preußens und Habsburgs im Zeichen von deutscher Freiheit und Einheit untergehen würde.

Reichsgründung durch Preußen

Doch dann vollbrachte der preußische Ministerpräsident Bismarck, womit weder die Liberalen noch Marx und Engels gerechnet hatten. Er hatte begriffen, dass sich die Militärmonarchie durch eine bloß reaktive Verhinderungspolitik nicht gegen den Ansturm der Zeit halten konnte und die Entstehung eines deutschen Nationalstaats unausweichlich war. Das hieß für ihn: entweder würde der neue Staat das alte Preußen überwältigen – oder der Berliner Junkerstaat musste, um zu überleben, an die Spitze der Nationalbewegung treten, die demokratische Zielsetzung von der nationalen Triebkraft abtrennen und den neuen Staat unter preußischer Führung ins Leben rufen, um ihm auf diese Weise den eigenen Stempel aufzudrücken. An die Stelle der Parole Durch Freiheit zur Einheit setzte er das Ziel, die bürgerliche Freiheit mit Hilfe der nationalen Einheit niederzuhalten.

Im Verfassungskonflikt der 60er Jahre in Berlin an die Macht gelangt, realisierte er dieses Konzept mit enormem politischem Geschick, spielte in drei Kriegen die Hauptstärke des Militärstaats aus und ließ das Deutsche Kaiserreich unter Ausschluss Deutsch-Österreichs aus der Taufe heben. „Zwar wurde der lange ersehnte Nationalstaat gegründet, aber den bürgerlichen Schichten wurde der Zugang zu den Kommandohöhen des politischen Systems auf Dauer verwehrt.“1 Der Reichstag erhielt in dem neuen Staatsgebilde Mitspracherechte, aber keine reale Macht; er konnte die Regierung nicht bestimmen, bei missliebigen Entscheidungen konnte ihn der Kaiser jederzeit auflösen. Vor allem besaß er keine Verfügung über die bewaffnete Macht, denn das jederzeit im Innern einsetzbare preußische bzw. jetzt preußisch-deutsche Heer, dessen Renommee als Geburtshelfer und „Schule“ der Nation gewaltig gewachsen war, unterstand formal dem Kaiser und real dem ostelbischen Militäradel. Außerdem beherrschte dieser mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechts den deutschen Hegemonialstaat Preußen, der zwei Drittel der Bevölkerungszahl und Fläche des neuen Reichs umfasste.

Das heißt, Preußen war durch die Nationalstaatsbildung nicht in Deutschland aufgegangen, sondern hatte durch die „großpreußisch-militaristische Reichsgründung“2 seine Macht umgekehrt auf ganz Deutschland ausgedehnt. Der Nationalstaat war geschaffen – und die Demokratie verhindert worden. Dem entsprach die Charakteristik, die Marx 1876 in der Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratie gab: das Deutsche Reich war für ihn „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“.3 Er fasste den neuen Staat also nicht als bürgerliches Gemeinwesen auf, sondern als einen Militär- und Obrigkeitsstaat, in dem die Bourgeoisie ihre Interessen geltend machen konnte, den sie aber nicht beherrschte.

Die Schwäche der Bourgeoisie

Ungeachtet dessen vertrat die Sozialdemokratie die Auffassung, dass „die deutsche bürgerliche Revolution … 1870 ihr Ende erreichte“, wie der Parteitheoretiker Kautsky schrieb.4 Doch wie sollte dies geschehen sein? Die Reichsgründung hatte ähnliche Bedingungen wie im vorrevolutionären Frankreich hergestellt: sie hatte den Nationalstaat geschaffen, auf dessen Boden nunmehr der Kampf gegen die alte Ordnung ausgetragen werden musste. Indem die nationale Aufgabenstellung erledigt war, stand vor der deutschen Revolution dieselbe Aufgabe wie 1789 vor der französischen Revolution: der Sturz der alten Herrschaft. Die bürgerliche Revolution war nicht vorbei, sie musste als demokratische Revolution weitergeführt werden.

Der Bourgeoisie war bewusst, dass sie im Gegensatz zu den Theorien der Sozialdemokratie nach 1870 so wenig an der Macht war wie vorher. Zwar hatte sie aufgrund der Erfahrungen von 1848/49 einer massengestützten Revolution abgeschworen, aber nicht der Übernahme der Herrschaft; nach der nationalen „Einheit“ wollte sie jetzt die bürgerliche „Freiheit“ erreichen. Als die Liberalen in den 70er Jahren zeitweise über eine Mehrheit im Reichstag verfügten, versuchten sie deshalb wie schon zehn Jahre zuvor im preußischen Verfassungskonflikt, das Rüstungsbudget mit Hilfe des Haushaltsrechts in die Hand des Parlaments zu bekommen, um so dessen Machtvorrang zu erreichen. Die Antwort Bismarcks ließ nicht auf sich warten. Durch die Auflösung des Reichstags, das Durchpeitschen des Sozialistengesetzes, den Übergang zu einer Schutzzollpolitik und andere Maßnahmen gelang es ihm, die Liberalen zu spalten und den Angriff abzuwehren. Von der Geschichtsschreibung als „konservative Neugründung“ des Reichs apostrophiert, war das Ergebnis eine Zementierung der junkerlichen Machtposition.

Endgültig kapitulierte die Bourgeoisie Anfang der 80er Jahre vor Bismarck. Weil die SPD auf dem Boden des (von Bismarck zur Schwächung der Liberalen eingeführten) allgemeinen Wahlrechts bei den Reichstagswahlen trotz des Sozialistengesetzes immer mehr Stimmen aus den Reihen des rasant anwachsenden Proletariats erhielt, griff im bürgerlichen Lager die Angst um sich, dass den Sozialdemokraten gelingen könnte, was die Liberalen zuvor vergeblich versucht hatten: nämlich über den Ausbau der schwachen Ansätze des Parlamentarismus an die Macht zu gelangen.

Von ihrem schwerindustriellen Flügel beherrscht, verzichtete die nationalliberale Führungspartei des bürgerlichen Lagers angesichts dieser Gefahr auf die Verantwortlichkeit des Reichstags. Um „die bestehende Ordnung vor den Gefahren der Revolution zu schützen“, schwor sie in ihrer Heidelberger Erklärung von 1884 allen weiteren Versuchen zur Parlamentarisierung des Reichs ab und legte sich auf ein künftiges Zusammengehen mit Bismarck und der konservativen Junkerpartei fest; nur der linksliberale Flügel des bürgerlichen Lagers verfolgte weiter das Ziel einer Parlamentsherrschaft.5 Bis dahin hatten die Nationalliberalen nur ein vorübergehendes Zusammengehen mit Bismarck zwecks Schaffung eines Nationalstaats gewollt, von nun an datierte endgültig das Bündnis von Roggen und Eisen, von Junkertum und Montanbourgeoisie, das die Klassenbasis des Kaiserreichs bildete.

Mit dieser Entscheidung verabschiedete sich die Bourgeoisie von der Weiterführung der bürgerlichen Revolution. Indessen stand die Erkämpfung der Demokratie gegen das reaktionäre Preußentum weiterhin auf der Tagesordnung, nur musste jetzt das Proletariat die Führung in diesem Kampf übernehmen – ohne und gegen die Bourgeoisie.

Revolution „à la francaise“ unter proletarischer Führung

Die bei der Reichsgründung geschaffenen und anschließend zementierten Herrschaftsverhältnisse blieben bis zum Weltkrieg unverändert. 6 Obwohl Deutschland in dieser Zeit einen gewaltigen Aufschwung erlebte, gelangte die Bourgeoisie trotz Entwicklung der Produktivkräfte und erheblicher Ausdehnung der kapitalistischen Produktion nicht in den Besitz der politischen Macht. Sie konnte nach Bismarcks Abdankung ihren Einfluss auf den Staat ausbauen, mehr aber nicht. Durch welche politische Umwälzung sollte sie auch die Herrschaft übernommen haben? Während die Kluft zwischen ökonomisch-gesellschaftlicher Entwicklung und staatlichem Überbau immer größer wurde, blieb der Bourgeoisie der innere Kern der Macht weiter verschlossen, und das bedeutete, dass die Aufgabe der Fortsetzung der bürgerlichen Revolution als demokratische Revolution bestehen blieb.

Den Grundgedanken für ein solches Konzept des Zu-Ende-Führens der bürgerlichen Revolution unter proletarischer Führung hatte Karl Marx Mitte der 70er Jahre formuliert. Zur selben Zeit, als er seine Kritik des Gothaer Programms schrieb, bemerkte er über die Erfolgsaussichten einer künftigen sozialen Revolution in Deutschland, dass das Proletariat, um zu siegen, bereit sein müsse, „soviel unmittelbar mutatis mutandis für die Bauern zu tun, als die französische Bourgeoisie in ihrer Revolution für die damaligen französischen Bauern tat.“7 Er ging also davon aus, dass die Eroberung der Macht ohne das Zusammengehen mit dem Kleinbürgertum bzw. der Bauernschaft nicht möglich war. Um ein solches Bündnis zu schließen, musste das Proletariat sich darauf einlassen, die sozialen Interessen ihres Bündnispartners zu befriedigen, wie das seinerzeit die Bourgeoisie in der französischen Revolution getan hatte, und eine zeitweise Stärkung der kleinen Warenproduktion in Kauf nehmen. Aber wenn es diesen Preis nicht zahlte, würde es auf sich allein gestellt bleiben und nicht siegen können.

Der Krieg 1914-18 brachte die Machtverteilung erneut auf den Punkt. Während in Frankreich und Großbritannien, beides Länder einer bürgerlichen Revolution, die Parlamente die Oberhoheit über das Militär behielten, übte im Kaiserreich ab 1916 die Oberste Heeresleitung eine diktaturähnliche Herrschaft aus. Die seit der Reichsgründung bestehende Notwendigkeit einer Vollendung der bürgerlichen Revolution bestätigte sich noch einmal.

Die Novemberrevolution

Das Ende des Kriegs ließ den Bau der alten Herrschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammen fallen. Die sich wie ein Lauffeuer ausbreitende revolutionäre Bewegung fegte die bis dahin unbesiegbar erscheinende preußisch-deutsche Staatsmaschinerie im November 1918 binnen weniger Tage hinweg. Sowohl in der Armee als auch in der Verwaltung übernahmen Räte die Macht, und es konnte scheinen, als ob der Erfolg der Revolution unumkehrbar war. Doch die bis dahin herrschenden Kräfte waren durch den Umsturz nur von der Macht entfernt und nicht endgültig geschlagen worden. Um eine Entwicklung wie 1848/49 zu verhindern und ihre Rückkehr auszuschließen, bedurfte es weitergehender Schritte.

Als erstes musste zusammen mit dem Heer das preußisch-deutsche Offizierskorps aufgelöst und eine republiktreue Streitmacht aufgebaut werden. Dasselbe hatte mit dem nur stillgelegten, aber nach wie vor existenten, obrigkeitlichen Verwaltungs-, Polizei- und Justizapparat zu geschehen. Anstelle der vordemokratischen Staatsmaschinerie war also nicht nur dem republikanischen Namen nach, sondern tatsächlich ein neuer, demokratischer Staat zu errichten. Darüber hinaus mussten der junkerliche Großgrundbesitz enteignet und die Schwerindustrie sozialisiert werden, um den Trägern der alten Ordnung die soziale Basis zu entziehen. Schließlich waren Kirche und Staat voneinander zu trennen und der Staat Preußen aufzuteilen, nicht allein seines reaktionären Charakters, sondern schon seiner erdrückenden Größe wegen.

Ihrer Mehrzahl nach gehörten diese Maßnahmen seit 1848/49 zum Grundkatalog einer bürgerlichen Revolution gegen die preußische Militärmonarchie und wurden 1918/19 nicht nur von der Masse des Proletariats, sondern auch von großen Teilen des bürgerlichen Lagers getragen. So forderte die linksliberale Deutsche Demokratische Partei, die das Kleinbürgertum in der Tradition von 1848 repräsentierte und bei der Wahl zur Nationalversammlung knapp 19% der Stimmen erhielt, neben der Demokratisierung des Staats die „entschlossene Aufteilung von Großgrundbesitz zur Schaffung von selbstwirtschaftlichen bäuerlichen Familienbetrieben und zur Ansiedlung von Landarbeitern“.8

Verwirklichte man die genannten Punkte, hatte man nicht den Sozialismus erreicht, sondern „nur“ die bürgerliche Revolution zu Ende geführt und eine Rückkehr der alten Ordnung ausgeschlossen. Aber zugleich hatte man durch die Übernahme der Staatsmacht (unter Beteiligung des demokratischen Kleinbürgertums) sowie die staatliche Verfügung über einen maßgeblichen Sektor der Wirtschaft die Basis für einen späteren Übergang zum Sozialismus gelegt.

Konterrevolution unter Regie der SPD

Jedoch wurde nicht einer der angesprochenen Schritte umgesetzt. Die sozialdemokratische Parteiführung unter ihrem Vorsitzenden Friedrich Ebert realisierte in Allem das Gegenteil:

  • Durch ein Abkommen mit General Groener, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Obersten Heeresleitung (Ebert-Groener-Pakt), sorgte sie dafür, dass das vom Versailler Vertrag erlaubte 100.000-Mann-Heer unter dem Kommando des alten Offizierskorps als Fortsetzung der kaiserlichen Armee aufgebaut wurde. In der Übergangszeit bis zur Bildung genügend regulärer Reichswehreinheiten ließ sie Söldnertruppen in Gestalt von Freikorps aufstellen, die den Arbeiterwiderstand gegen die Wiederkehr der alten Ordnung in den kommenden Monaten blutig niederschlugen.
  • Eine Landreform wurde von ihr zurückgewiesen; stattdessen stellte sie unter Einsatz bewaffneter Kräfte gegen aufbegehrende Landarbeiter sicher, dass die Stellung der ostelbischen Latifundienbesitzer gewahrt blieb.
  • Gleichzeitig wendete das Stinnes-Legien-Abkommen zwischen sozialdemokratischer Gewerkschaftsführung und Schwerindustrie die allseits verlangte Sozialisierung der Zechen und Stahlwerke gegen eine Reihe sozialpolitischer Zugeständnisse ab.
  • Die in der Novemberrevolution entstandenen Räte, die überall die Demokratisierung von Verwaltung und Polizei eingeleitet hatten, wurden sukzessive entmachtet; ebenso wurde das alte Justizwesen wieder in Gang gebracht. Die Weimarer Verfassung schrieb schließlich die „wohlerworbenen Rechte“ des Berufsbeamtentums fest und ließ so den obrigkeitlichen Staatsapparat ungebrochen fortbestehen. Auch erfolgte keine Trennung von Staat und Kirche.
  • Schließlich verhinderten die Sozialdemokraten die Zerschlagung des Landes Preußen, weil sie nach den Wahlergebnissen der Vorkriegszeit davon ausgingen, dass sie in der nördlichen Hälfte Deutschlands dauerhafte Mehrheiten erhalten würden. Das Land Preußen, als deutscher Hegemonialstaat bis 1918 in der Hand des Junkertums, sollte nun der SPD als Machtrückhalt dienen.

Im Ergebnis blieb die Novemberrevolution wie die Revolution von 1848 eine unvollendete bürgerliche Revolution. Wie ihre Vorgängerin überrannte sie die alte Ordnung im ersten Anlauf, war aber nicht in der Lage, ihren Sieg zu befestigen. 1848/49 war es die preußische Militäraristokratie selber gewesen, die nach einem vorübergehenden Rückzug den Gegenangriff organisiert und die Revolution in Blut erstickt hatte. Diesmal erfolgte der Gegenangriff mit Hilfe des alten Offizierskorps im Namen der Republik und unter der Regie der Sozialdemokratie. Der neue Staat war nicht das Ergebnis einer siegreichen Revolution, sondern einer von der SPD organisierten Konterrevolution.9

Das Scheitern der revolutionären Linken

Die revolutionäre Linke war nicht in der Lage, der SPD-Politik eine realitätstaugliche Revolutionsstrategie entgegen zu setzen. Das „Oktoberprogramm“ der von Luxemburg und Liebknecht geführten Spartakusgruppe zielte nicht auf die Vollendung der demokratischen Revolution, sondern propagierte die Diktatur des Proletariats und rief mit flammenden Worten zur Errichtung einer sozialistischen Republik auf. Nach dieser Maßgabe war für eine Bündnispolitik gegenüber dem ländlichen und städtischen Kleinbürgertum kein Platz – im Gegenteil.

Ohne zwischen junkerlichem Großgrundbesitz und Bauernland zu unterscheiden, kündigte das Programm die „Enteignung alles Groß- und Mittelgrundbesitzes“ an.10 Der Enteignung entgehen würden also nur die Kleinbauern, die in Deutschland eine Minderheit bildeten. Wo Marx vom Proletariat verlangt hatte, den Bauern so weit entgegenzukommen, wie dies seinerzeit die Bourgeoisie in der französischen Revolution getan hatte, erklärte dieses Programm der breiten Mehrheit der Bauernschaft den Krieg. Es konnte nicht einmal die Millionenmasse der Landarbeiter gewinnen, da diese nach eigenem Landbesitz durch Aufteilung der Junkergüter strebten und nicht danach, auf Staatsgütern weiter zu arbeiten.
Zum städtischen Kleinbürgertum schwieg das Programm sich aus. Doch da die eingeschlagene Sozialismusstrategie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel verlangte, würde es den Handwerkern und Kleinhändlern der Städte nicht anders ergehen als der Bauernschaft.

Alles in allem stellte das Oktoberprogramm das linksradikale Konzept einer proletarischen Alleinrevolution nicht nur gegen die herrschenden Gewalten, sondern auch gegen die nichtproletarischen Teile des Volkes dar. Auf dem Boden dieser Zielsetzung war die Spartakusgruppe bzw. die an der Jahreswende 1918/19 gegründete KPD nicht in der Lage, den Widerstand der Massen gegen die von der SPD geführte Konterrevolution zu organisieren, selbst in den Arbeiter- bzw. Arbeiter- und Soldatenräten blieben ihre Anhänger isoliert. Die von ihr verfolgte Sozialismusstrategie war zum Scheitern verurteilt.

Junkerland in Bauernhand

Als die KPD/SED keine dreißig Jahre nach der Novemberrevolution in der Sowjetischen Besatzungszone an die Macht kam, war eine ihrer ersten Maßnahmen eine Landreform, die unter der Parole Junkerland in Bauernhand die Gutsländereien der Großgrundbesitzer an Landarbeiter, kleine Bauern und Vertriebene verteilte. Das heißt, sie folgte „mutatis mutandis“ der Empfehlung, die Karl Marx nach der Reichsgründung gegeben hatte, und betrieb eine probäuerliche Agrarpolitik zur Sicherung der Arbeitermacht.11 Mit der Enteignung und Verteilung des Landes wurde die Gefahr des Wiedererstarkens der Gutsadeligen beseitigt und die soziale Basis der SED-Herrschaft verbreitert. Ihre theoretische Legitimation fand diese Politik in der Errichtung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung, d.h. in einer dem Wesen nach bürgerlichen Umwälzung.12

Zehn Jahre später setzte aus Anlass des 40.Jahrestags eine breitere Diskussion um die Bewertung der Novemberrevolution ein, in deren Verlauf alle hier angesprochenen Fragen nach dem Verhältnis von bürgerlicher zu proletarischer Revolution sowie nach der Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Novemberstrategie 1918 aufs Tapet kamen.

Die in der Debatte vorgebrachten Einschätzungen waren im Ausgangspunkt gegensätzlich. Auf der einen Seite hatten die sowjetischen Kommunisten Ende der 30er Jahre die Novemberrevolution als unvollendete bürgerliche Revolution eingestuft, und diese Position konnte man nicht einfach negieren (auch die Verteilung der Gutsländereien an Landarbeiter und Kleinbauern ging wohl hauptsächlich auf sowjetische Initiative zurück). Auf der anderen Seite beharrten die Luxemburg-Anhänger aus der KPD darauf, dass 1918/19 eine fehlgeschlagene sozialistische Revolution stattgefunden hatte.13 Zwischen diesen beiden im Prinzip unvereinbaren Polen bewegte sich die Debatte, wenngleich nur zögerlich und ohne dass es zu einer Zuspitzung kam.

Der SED-Beschluss zur Novemberrevolution

Bevor die Auseinandersetzung weiter in die Tiefe gehen konnte, wurde sie durch den eingangs zitierten Beschluss des ZK der SED beendet, dessen Kernsatz lautete, dass die Novemberrevolution „ihrem Charakter nach eine bürgerlich-demokratische Revolution (war), die in gewissem Umfange mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde“.14 Indem die salomonisch übergreifende Formulierung beiden Seiten etwas gab, entzog sie dem beginnenden Disput die Luft und wurde später nicht mehr in Zweifel gezogen. Die grundlegende Fragestellung war damit jedoch nicht gelöst.

Wenn die Novemberrevolution eine bürgerliche Revolution war, stellt sich als erstes das elementare Problem, wie eine solche Revolution 1918/19 auf die Tagesordnung treten konnte. War die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland denn nicht seit 1870 beendet, wie die Bebel-SPD konstatiert hatte und wovon auch Luxemburg und die Spartakusgruppe/KPD überzeugt waren? Wie konnte dann aber 1918/19 eine bürgerliche Revolution stattfinden – etwa gegen eine bürgerliche Herrschaft und Gesellschaft?

An anderer Stelle verkündete der Beschluss, dass es die Aufgabe gewesen sei, gleich nach der demokratischen Revolution „zur proletarischen Revolution, die objektiv auf der Tagesordnung stand, überzugehen“. Ohne sich auf Trotzki und dessen Theorie der permanenten Revolution zu beziehen, versuchte diese Formulierung, den Widerspruch zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution terminologisch durch einen fließenden Wechsel zu glätten. Doch wie und wann hätte dieser Übergang stattfinden sollen? Die 1918/19 real stattfindende Revolution trug bürgerlichen Charakter, wie die SED soeben selber festgestellt hatte, und diese Revolution war nicht erfolgreich, denn in ihrem Ergebnis wurde lediglich die staatliche Fassade ausgewechselt, während mit der Fortführung der junkerlich-preußischen Armee in Gestalt der Reichswehr, der Weiterexistenz des obrigkeitlichen Beamtenstaats sowie der Erhaltung von Großgrundbesitz und Schwerindustrie die alten gesellschaftlichen Strukturen unverändert blieben. Sollte man also zu einer sozialistischen Revolution übergehen, ohne zuvor die demokratische Revolution zu Ende gebracht zu haben?

Oder anders herum gefragt: wenn 1918/19 eine proletarisch-sozialistische Revolution „objektiv auf der Tagesordnung stand“ – wieso konnte die SED dann nach 1945 unter ihrer eigenen Herrschaft eine bürgerliche Umwälzung in Gestalt der „Junkerland-in-Bauernhand“-Kampagne durchführen?

Wann endete die Epoche der bürgerlichen Revolution?

Wie auch immer man den SED-Beschluss von 1958 wendet, sobald man sich näher mit ihm befasst, muss man feststellen, dass es sich um einen theoretischen Formelkompromiss handelt, der voll unaufgelöster Widersprüche steckt und mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Diese Widersprüche spiegeln die historischen Bedingungen, unter denen die Novemberrevolution stattfand: Sie war eine bürgerliche Revolution, die aber nur unter Führung des Proletariats im Bündnis mit dem Kleinbürgertum durchzufechten war, gegen das Klassenbündnis von Junkertum und Montanbourgeoisie. Um sie zu vollbringen, mussten die Revolutionäre das Ziel des Sozialismus zurückstellen und eine Etappenstrategie einschlagen, die den Übergang dorthin erst zu einem späteren Zeitpunkt auf die Tagesordnung setzte. Das verlangte einen erheblich weiter gehenden Bruch mit der Bebel-SPD, als den Anhängern der Spartakusgruppe bewusst war.

In Russland führte Lenin das Proletariat im Jahre 1917 zum Sieg, indem er das von ihm jahrelang verfochtene Revolutionsprogramm über Bord warf und das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre übernahm. In Deutschland war die von Luxemburg geführte Spartakusgruppe dazu nicht in der Lage. Aber auch wenn ihr Kampf aufgrund einer verfehlten Strategie mit einer Niederlage enden musste – sie kämpfte für die Befreiung der Arbeiterklasse und eine bessere Gesellschaft, und die ihr zukommende Ehre erweisen wir ihr am besten, indem wir ergründen, welche Fehler zu dieser Niederlage geführt haben.

Wenn der hundertste Jahrestag dieser Revolution jetzt wieder dieselbe Fragestellung auf die Tagesordnung der historischen Debatte setzt, die 1918/19 in der gesellschaftlichen Praxis vor der deutschen Arbeiterbewegung stand, so ist zu hoffen, dass die Debatte darüber diesmal tiefer geht als 1958. Man mag sich über die hier dargelegte Auffassung streiten, aber welcher Position auch immer man zuneigt – die entscheidende Frage lautet: wann endete die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland?

1 Wolfgang J.Mommsen: Der autoritäre Nationalstaat; Frankfurt 1990, S. 261

2 So der Titel der von Horst Bartel und Ernst Engelbert herausgegebenen Sammelbände: Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871 – Voraussetzungen und Folgen; zwei Bände, Akademie-Verlag, Berlin (Ost) 1971

3 MEW 19, S. 29

4 Karl Kautsky: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution; Neuauflage hrsg. und eingeleitet von Georg Fülberth, Frankfurt 1972, S. 18

5 H. Karuscheit: Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg; Hamburg 2014, S. 113 ff

6 F. Engels stellte verschiedentlich Überlegungen an, ob Bismarck in seiner Regierungszeit nicht eine bonapartistische, über den Klassen stehende Herrschaft errichtet und das Kaiserreich ungewollt auf einen bürgerlichen Weg gebracht habe. Der Autor folgt diesen Überlegungen nicht.

7 Konspekt zu Bakunins Buch „Staatlichkeit und Anarchie“, geschrieben 1875/76; MEW 18, S. 633

8 Gründungsprogramm der Deutschen Demokratischen Partei von 1919; in: 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, >http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0002_ddp&object=translation&st=&l=de<; Zugriff am 13.4.2018

9 Das Vorgehen der SPD-Führung lässt sich nicht mit einem innerparteilichen Sieg des (bürgerlichen) Reformismus erklären, denn eine bürgerlich gewordene Arbeiterpartei hätte die angesprochenen Maßnahmen zumindest teilweise verwirklicht, wie das ja auch die DDP forderte. Vielmehr hatte sich die Sozialdemokratie nach dem Ende des Sozialistengesetzes in eine Richtung entwickelt, die am besten als „Verpreußung“ zu charakterisieren ist und das allmähliche Hineinwachsen in den vorbürgerlichen, preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat bedeutete. (Siehe hierzu den Artikel „Die SPD und der >Junkerstaat<. Die Politik der Sozialdemokratie in der Novemberrevolution“, der demnächst in einem Supplement zur Novemberrevolution der Zeitschrift Sozialismus erscheint)

10 Das Oktoberprogramm ist abgedruckt in: Revolutionäre Deutsche Parteiprogramme, hrsg. und eingeleitet von L. Berthold und E. Diehl; Berlin (Ost) 1967, S. 105 ff

11 Mit der Gutsverteilung an Landarbeiter und kleine Bauern ging sie über die Empfehlungen von Marx aus dem Jahr 1875/76 hinaus.

12 Außer der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in der DDR gab/gibt es auch andere – häufig als neudemokratisch o.ä. bezeichnete – bürgerliche Revolutionen unter nicht-bürgerlicher Führung. Das Thema ist von grundsätzlicher Bedeutung und verdient eine nähere Beschäftigung, die hier nicht geleistet werden kann.

13 Eine sachkundige Darstellung der Debatte findet sich in Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21. Jahrhundert; Berlin 2013, S. 329 ff

14 Die Einheit Zeitschrift für Theorie und Praxis des Wissenschaftlichen Sozialismus, Nr. 10/1958