Dass der Kriegsausbruch 1914 hauptsächlich von Deutschland zu verantworten war, folgte nicht aus den Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie des Kapitals, sondern war durch die Konstellation der Klassen im Kaiserreich bedingt. Die Politik, die in Deutschland zum Krieg führte und seinen Verlauf prägte, beruhte letztlich auf dem Klassenverhältnis, dessen Grundlage in den deutschen Einigungskriegen 1864 bis 1870/71 gelegt worden war und das im Ganzen bis 1918 bestehen blieb, in erheblichen Teilen sogar bis 1945.
1. Ein aufgenötigter „contrat social“
In der Revolution von 1848 noch ein hartleibiger Verfechter der junkerlichen Reaktion, für den die Einigung Deutschlands nur ein „Nationalschwindel“ war, begriff Bismarck wahrscheinlich in den Jahren als Berliner Gesandter beim Bundestag in Frankfurt von 1851 bis 1859, dass Preußen keine Zukunft hätte, wenn es sich weiter gegen die deutsche Nationalbewegung stellte, und dass mit Preußen seine staatstragende Klasse, das Junkertum, untergehen würde. Begabt mit einem ausgeprägten Gespür für die Interessen und die Bewegung der Klassen und das politisch Notwendige, sah er, „dass die Macht Preußens wirkungsvoll und dauerhaft letztlich nur im Zusammenwirken mit der kleindeutschen Nationalbewegung und insbesondere mit den durch den Zollverein mehr und mehr auf Kleindeutschland fixierten Wirtschaftsinteressen im Land selber und in den Nachbarstaaten vergrößert werden könne.“ (Gall, S. 382)
Zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts berufen (die Regierung tätigte die Ausgaben für das Heer ohne einen vom Landtag verabschiedeten Haushalt), ging Bismarck in den folgenden Jahren daran, der Politik des Junkerstaats eine andere Richtung zu geben. Nach dem ihm zugeschriebenen Satz: „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen, als erleiden“ stellte er Preußen an die Spitze der Nationalbewegung und ließ das preußische Heer den deutschen Nationalstaat in drei Kriegen erkämpfen. 1866, nachdem Preußen durch den Sieg von Königgrätz bewiesen hatte, dass es auf die Einigung Deutschlands in „kleindeutscher“ Form, also unter Ausschluß Österreichs, zusteuerte, stimmte das Berliner Parlament mit der Mehrheit der Liberalen für das „Indemnitätsgesetz“, das die ungesetzliche Ausgabenpolitik der Regierung nachträglich billigte. Damit machte die Bourgeoisie ihren Frieden mit Preußen, und das Bündnis zwischen „Landwirtschaft und Industrie“ wurde zur Grundlage des neuen Reichs. Als Bismarck Ende der 70er Jahre mit seiner „antiliberalen“ Wendung die Gefahr eines Bruchs mit der Bourgeoisie (den er nicht wollte) heraufbeschwor, beschuldigte ihn der Vorsitzende der Zentrumspartei Lasker, den historischen Kompromiß von 1866 zwischen Adel und Bürgertum aufzukündigen. Sofort wies der Kanzler vor dem Reichstag den Vorwurf zurück, er habe den „Krieg zwischen Landwirtschaft und Industrie“ eröffnet, und appellierte an die „Vertreter von Land und Stadt“, sie sollten doch begreifen, dass es weiterhin „ihr Interesse ist, zusammenzugehen“. (nach: Gall, S. 581)
Der Klassenkompromiß, zu dem beide Klassen mehr von Bismarck genötigt werden mußten, als dass sie ihn freiwillig eingingen, verlangte von beiden Seiten Zugeständnisse, brachte aber jeder von ihnen mehr Vor- als Nachteile. Die Junker mußten sich mit der Gründung des deutschen Nationalstaats abfinden, aber dafür wurde ihre bisherige Machtstellung gesichert, die in bloßer Frontstellung gegen die Ansprüche der Bourgeoisie dauerhaft nicht zu halten war. Die Bourgeoisie mußte auf den Weg zur Macht verzichten, erhielt aber dafür den gemeinsamen Staat und freie Bahn für die Entfaltung des Kapitals; der Staat sorgte durch seine Regelungen dafür, dass sich die Wirtschaft in Deutschland schneller und kräftiger als in den anderen europäischen Ländern entfalten konnte.
Dieses Deutschland war alles andere als ein „bürgerlicher“ Staat. Nach den ursprünglichen Überlegungen von Marx war die demokratische, parlamentarische Republik die dem Kapitalverhältnis angemessene politische Form für die Herrschaft der Bourgeoisie, wie er 1850 schrieb: „Die Bourgeoisie hat keinen König, die wahre Form ihrer Herrschaft ist die Republik.“ (Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, S. 40) Tatsächlich aber stand das Bürgertum in ganz Europa, auch und gerade in den entwickelteren Ländern Großbritannien, Frankreich und Deutschland, vor ähnlichen Schwierigkeiten, nämlich dass es keine stabile gesellschaftliche Basis für den bürgerlichen Parlamentarismus gab. Neben dem Proletariat, das auf dem Boden der modernen Produktionsverhältnisse gegen die Bourgeoisie kämpfte, wehrte sich die Masse der Bevölkerung auf dem Boden der überkommenen Produktionsverhältnisse gegen die Unterwerfung ihrer kleinen Warenproduktion unter das Kapitalverhältnis. Darüber hinaus waren die Gegensätze zwischen dem alten, städtisch-ständischen Handelsbürgertum und der modernen Industriebourgeoisie noch längst nicht überwunden. Die Staatsform der Republik war auch in den Reihen der Bourgeoisie umstritten; überall in Europa fanden sich „bonapartistische“, von den Klassen relativ unabhängige Herrschaftsformen.
Angesichts der Erfahrungen mit der zwanzigjährigen Herrschaft Napoleon III. notierte Marx im zweiten Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, dass das bonapartistische Kaisertum nicht „einfach eine der politischen Formen der Bourgeoisgesellschaft (ist), es ist zugleich ihre prostituierteste, ihre vollendetste und ihre schließliche politische Form. Es ist die Staatsmacht der modernen Klassengesellschaft, zumindestens auf dem europäischen Kontinent.“ (MEW 17, S. 610; Hervorhebung durch Marx) Dagegen schrieb er einige Jahre später, nachdem sich die 1870 ausgerufene Dritte Republik in Frankreich wider Erwarten gehalten hatte, in der Kritik des Gothaer Vereinigungsprogramms der deutschen Sozialdemokratie von 1875, dass die „demokratische Republik … die letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft“ sei, in der „der Klassenkampf definitiv auszufechten ist“. (MEW 19, S. 29). Ebenso meinte Engels noch einmal neun Jahre später, dass die demokratische Republik die „höchste Staatsform“ sei, „die in unseren modernen Gesellschaftsverhältnissen mehr und mehr unvermeidliche Notwendigkeit wird“. (Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, 1884, MEW 21, S. 167) Aber auch da war es bei weitem zu früh für einen gefestigten bürgerlichen Parlamentarismus. Es bedurfte noch mehr als eines halben Jahrhunderts, darunter zweier Weltkriege, bevor zumindest im entwickelten Teil Europas die parlamentarische Demokratie endgültig siegte.
Dabei war der grundlegende Unterschied zwischen England und Frankreich auf der einen, Preußen-Deutschland auf der anderen Seite, dass dort die alten herrschenden Mächte in einer Revolution geschlagen worden waren, während sie hier ihre Macht behalten hatten. Während der Parlamentarismus in England und Frankreich trotz aller Rückschläge und Einschränkungen entwicklungsfähig war, stand er in Deutschland in einer Sackgasse. Dessen ungeachtet führte die Reichseinigungspolitik Bismarcks zunächst zum Bruch mit seiner eigenen Klasse. Die Junker wollten nicht wahrhaben, dass das Vorgehen des „königlich-preußischen Revolutionärs“ in ihrem eigenen Interesse lag, und fanden sich weder mit dem deutschen Nationalstaat noch mit der bloßen Existenz des Reichstags ab. Zwar erklärte sich die Mitte der 70er Jahre neu gegründete ostelbisch-agrarische Interessenpartei der Großgrundbesitzer, die „Deutschkonservative Partei“, mit der Reichseinigung einverstanden, aber ein harter Kern der Junker verzieh Bismarck bis zuletzt weder den Verrat an Preußen, den er durch die Schaffung des Reichs, noch den Verrat an seiner Klasse, den er durch die Konzessionen an die Bourgeoisie beging.
So hatte die Klassenkonstellation, aus welcher der deutsche Nationalstaat hervorging, langfristig verhängnisvolle Auswirkungen. Die junkerlich-preußische Armee hatte den Nationalstaat auf dem Schlachtfeld erkämpft, aber die Junker selber begriffen sich nicht als Teil der deutschen Nation, sondern blieben preußisch und fühlten sich für den neuen Staat nicht verantwortlich. Sie herrschten nicht selber, sondern ließen herrschen – in den von ihnen gesteckten Grenzen. Umgekehrt mußte die Bourgeoisie sich damit zufriedengeben, dass ihre nationalen und wirtschaftlichen Ziele realisiert wurden, sie aber keinen substantiellen Anteil an der Macht erhielt. Das heißt, keine der beiden Klassen, aus deren Zusammenwirken unter der Führung Bismarcks das deutsche Reich hervorging, wurde zu dessen Trägerin. Daraus resultierte die relative Selbständigkeit des „Staats“ in dem neuen Reich, verkörpert in der ebenso machtvollen wie bodenlosen Stellung der vom Kaiser ernannten Reichskanzler.
Diese Entwicklung führte auch zur Trennung von „Demokratie“ und „Nation“ in Deutschland. Bis dahin waren der Sturz der adeligen Gewalten und die Zusammenfassung der aus der Vergangenheit überkommenen Territorialherrschaften in einer einheitlichen, demokratischen Republik in eins gefallen. Im subjektiven Verständnis der Liberalen war die Herstellung des Nationalstaats weiterhin nur der erste Schritt, dem bald der zweite, die Verantwortlichkeit des Parlaments, folgen mußte. Objektiv erfolgte 1866/70 jedoch eine Zäsur, die weit in die Zukunft hinein wirkte. 1918/19 erhielt die Bourgeoisie die Republik als Geschenk aus den Händen der Arbeiterbewegung, aber ihre Mehrheit wollte diese Republik auf dem Boden des allgemeinen Wahlrechts aus Angst vor den Ansprüchen der Arbeiterklasse gar nicht haben. Und noch einmal 30 Jahre später wurde ihr die Republik ein weiteres Mal geschenkt, diesmal von den westlichen Weltkriegs-Siegermächten unter Preisgabe der Nation.
Die nicht durch eine Nationalversammlung verabschiedete, sondern von den Fürsten und freien Reichsstädten gestiftete Verfassung des Deutschen Reichs spiegelte das Kräfteverhältnis der beiden maßgeblichen Klassen wider. Zwar gab es ein Parlament, den Reichstag, der alle Gesetze verabschieden und vor allem den Staatshaushalt bewilligen mußte, d.h. der vom Kaiser ernannte Reichskanzler konnte nicht gegen das Parlament regieren. Aber dieser Reichstag war nicht „verantwortlich“. Er hatte nicht das Recht zur eigenen Auflösung und Ausschreibung von Neuwahlen, sondern dieses Recht stand nur dem kaiserlichen Staatsoberhaupt zu. Ebensowenig hatte er das Gesetzes-Initiativrecht, konnte also von sich aus keine neuen Gesetze einbringen und verabschieden, sondern hatte sich mit den Gesetzentwürfen zu befassen, welche die Regierung einbrachte, und diese entweder im Ganzen anzunehmen oder abzulehnen. Die Regierung war nicht dem Reichstag, sondern dem Kaiser verantwortlich, der den Reichskanzler ernannte und auch die Frage von Krieg und Frieden entschied. Als Gegengewicht gegen den ohnehin halblahmen Reichstag fungierte als zweite Kammer der Bundesrat, der sich aus den Vertretern der 25 deutschen Einzelstaaten zusammensetzte und alle vom Reichstag verabschiedeten Gesetze billigen mußte. In ihm verfügte Preußen über eine verfassungsmäßig festgelegte Vetostellung, konnte also jedes vom Reichstag verabschiedete Gesetz auch gegen den Willen der Mehrheit zu Fall bringen.
Das Reich war kein Einheitsstaat wie Frankreich, sondern nach wie vor ein Flickenteppich aus großen und kleinen Einzelstaaten, in dem der Hohenzollernstaat mit zwei Dritteln des Reichsgebiets und der Bevölkerung die Vorherrschaft ausübte. Statt Preußen im Deutschland aufgehen zu lassen, ähnelte das Deutsche Reich eher Großpreußen. Um überhaupt regieren zu können, war ungeschriebenes Gesetz, dass der Reichskanzler zugleich preußischer Ministerpräsident war und umgekehrt. Preußen selber verkörperte den Dualismus des Reichs in sich: die uneingeschränkte Macht im agrarischen, ostelbischen Altpreußen hatten die Junker inne, ca. 20.000 Familien mit weniger als 100.000 Köpfen. (Wehler 1995, S. 811) Sie herrschten auch über das sogenannte „Rheinpreußen“, in dem mit der Industrie die Bourgeoisie dominierte. Im Unterschied zu den Reichstagswahlen wurde der preußische Landtag nach einem Dreiklassenwahlrecht gewählt, das allein 50 % der Mandate für den Grund- und Hausbesitz reservierte. Zudem mußten alle vom Landtag verabschiedeten Gesetze durch das von Adeligen bestimmte Berliner „Herrenhaus“ gebilligt werden.
Eine einheitliche Armee des Reichs existierte nicht. Die Truppen der Bundesstaaten blieben als Kontingente des Gesamtheeres mit getrennter Militärverwaltung bestehen; sie waren entweder „preußisch“ oder „bayrisch“ oder „württembergisch“ etc., weil die Junker um keinen Preis bereit waren, das von ihnen geführte preußische Heer in einer deutschen Armee aufgehen zu lassen. Folgerichtig gab es auch keinen Kriegsminister des Reichs; im Kriegsfall übernahm der preußische Kriegsminister im Namen des Kaisers den Oberbefehl über die Streitkräfte der Bundesstaaten. Nur die Marine war „reichsunmittelbar“, sie war als „kaiserliche“ Marine die einzige Waffengattung, welche den deutschen Nationalstaat verkörperte. Ihre Angehörigen kamen aus allen Teilen Deutschlands. In den Worten von Tirpitz wurde die Marine „ein Schmelztiegel des Deutschtums (…) Wir waren die einzige Reichseinrichtung, die Hunderttausende aus landsmannschaftlicher Sehweise hinweg in einen gemeinsamen Horizont zog“. (nach: Steltzer, S. 217)
Die schweren Geburtsfehler des Reiches waren nicht die Folge einer „zu spät gekommenen Nation“, wie eine inhaltsleere Geschichtsschreibung meint, sondern das Resultat des ungeschriebenen Gesellschaftsvertrags zwischen Junkern und Bourgeoisie. Die ganze Reichsverfasssung war eine künstliche, Bismarck auf den Leib geschnittene Konstruktion, wobei der innerste Kern der Macht bei den Junkern verblieb. In seiner Kritik des Gothaer Vereinigungsprogramms der deutschen Sozialdemokratie schrieb Marx, dass das Deutsche Reich ein „mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus“ sei. (MEW 19, S. 29) Bei aller ökonomischen wie militärischen Stärke war die gesellschaftliche Grundlage des Deutschen Reichs faul; sie stellte eine Einheit von Gegensätzen dar, die im Kern unversöhnlich waren.
2. Das allgemeine Wahlrecht
Zu diesen Widersprüchen gehörte das Wahlrecht. Zu einem Zeitpunkt, wo dies in der Mehrheit der europäischen Staaten noch längst nicht der Fall war, wurde der Reichstag nach allgemeinem, gleichem und geheimem (Männer-) Wahlrecht gewählt. Die Erklärung dafür fand die damalige Sozialdemokratie in der Kampfstärke der Arbeiterklasse, und die marxistische Geschichtsschreibung folgte ihr. So heißt es in der in der DDR herausgegebenen „Deutschen Geschichte“ über die Arbeiterbewegung: „Das Ergebnis ihres Kampfes fand bereits in der politischen Verfassung des Deutschen Reiches seinen Niederschlag.“ (Deutsche Geschichte, Band 2, S. 499) Dabei berufen sich die Autoren auf Lenin, der 1913 über die Einigung Deutschlands bemerkte: „Deutschland hatte Freiheiten erhalten, trotz Bismarck, trotz der preußischen Liberalen, nur dank dem nachdrücklichen und hartnäckigen Streben der Arbeiterklasse … nach weitestgehender Demokratisierung.“ („Lehrreiche Reden“ vom Juli 1913; in: Lenin, Über Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, S. 81)
In Wirklichkeit war das allgemeine Wahlrecht nichts weniger als ein Kampferfolg der Arbeiterklasse. Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Militäretat hatte Bismarck mehrfach Unterredungen mit Ferdinand Lassalle geführt, um herauszufinden, ob er in ihm einen Verbündeten gegen die Liberalen finden konnte. Dass daraus nichts wurde, lag nicht an dem Führer der sich entwickelnden Sozialdemokratie, der zu jedem Schacher mit der Krone auf Kosten der Bourgeoisie bereit war. Es lag auch nicht an der Furcht des preußischen Ministerpräsidenten, die Sozialdemokratie könne ihm über den Kopf wachsen, sondern an seiner Einschätzung, dass sie bedeutungslos sei. „Bismarck hat sehr bald erkannt, dass mit der Lassalleschen Arbeiterbewegung auf absehbare Zeit kein wirklich nennenswertes und in seinem Sinne brauchbares Potential zur Verfügung stehen würde“. (Gall, S. 277) Wie irreführend der Glaube an die Stärke der Arbeiterbewegung war, beweist das Dreiklassenwahlrecht, das bis 1918 in Preußen Bestand hatte.
Der eigentliche Grund für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts hatte mit der Bourgeoisie zu tun. Diese trat für ein verantwortliches Parlament ein, aber mehrheitlich nur für ein Parlament der Besitzenden, das aufgrund eines Zensuswahlrechts gewählt werden sollte. Auch in Großbritannien und Frankreich fielen die Zugangsschranken zum allgemeinen Wahlrecht endgültig erst nach langem Hin und Her. „Mit dem allgemeinen Wahlrecht, das wußte er (Bismarck; H. K.) sehr genau, verband die Mehrheit der Liberalen seit 1848, seit der Zuspitzung der sozialen Gegensätze im Verlauf der Revolution, die größten Sorgen.“ (Gall, S. 352) Schon im Norddeutschen Bund hatte Bismarck das Wahlrecht gegen die Liberalen eingesetzt, weil er davon ausging: „In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht, indem es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisklassen beseitigt, auch zu monarchischen Wahlen führen.“ (Brief vom April 1861 an den preußischen Botschafter in London, Graf Bernstorff; nach: Gall, S. 352) Die Massendemokratie war auf dem Boden der Existenz sowohl alter als auch moderner Klassen kein Garant für den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern konnte ebensogut das Gegenteil bewirken. Im Unterschied zu vielen Marxisten begriff Bismarck dies und setzte das gleiche Stimmrecht als politisches Instrument ein, um das Parlament ohnmächtig zu halten.
Sofern der Reichstag nicht vorzeitig aufgelöst wurde, fanden die Reichstagswahlen zunächst alle drei und später alle vier Jahre statt. Ablesbar an der steigenden Wahlteilnahme, beförderten sie die Politisierung der Gesellschaft und die Formierung der Klassen, die durch jeweils eigene Parteien repräsentiert wurden. Dabei spiegelte sich der Übergangscharakter der Gesellschaft auch in der Flügelbildung der Klassen wider.
Die Konservativen vertraten im preußischen Landtag wie dann im deutschen Reichstag die Junker. Wegen Bismarcks unerwarteter deutscher Einigungspolitik hatte sich ihre Mehrheit 1866 von ihm abgewandt. Nur eine Minderheit, organisiert in der Freikonservativen Partei (FKP), unterstützte ihn weiterhin. Die freien Konservativen hatten ihre Schwerpunkte in Schlesien und Rheinpreußen und umfaßten neben agrarfreundlichen Schwerindustriellen und hohen Beamten vor allem die Minderzahl der „modernen“ Gutsbesitzer, die für eine bürgerliche Entwicklung aufgeschlossen waren.
Die Mehrheit der Konservativen konstituierte sich nach einer zwischenzeitlichen Krise 1876 als Deutsche Konservative Partei (DKP) neu. Sie anerkannten jetzt die nicht mehr rückgängig zu machende Reichsgründung, um auf dem neuen Boden weiter für die alten Verhältnisse, d.h. für patriarchalische Zustände, die Sicherung der Ausnahmestellung Preußens und außerdem für Steuerprivilegien, staatliche Subventionen und agrarische Schutzzölle zu kämpfen. Bei Beendigung der liberalen Ära 1878 wurden sie zur parlamentarischen Hauptstütze der Regierung.
Die Partei der Bourgeoisie waren die Liberalen, in Preußen zunächst als „Fortschrittspartei“ zusammengeschlossen, bis eine „nationalliberale“ Mehrheit der Landtagsfraktion 1866 entgegen der bis dahin verfolgten Politik dem „Indemnitätsgesetz“ zustimmte und damit den von Bismarck angebotenen Klassenkompromiß akzeptierte. Im Zuge der Reichsgründung, die ihr ureigenes Projekt war, und in den ersten Jahren danach hatten die Nationalliberalen als stärkste Partei zeitweise eine Hegemonialstellung inne und kamen zu dieser Zeit dem Charakter einer „Volkspartei“ am nächsten, besaßen aber keine tiefergehende soziale Verankerung in den Massen. Nach der Abspaltung eines „linken“ Flügels 1880 in der Sozialisten- und Schutzzollfrage dominierte bei ihnen die Schwerindustrie; sie repräsentierten insoweit das Gros der industriellen Bourgeoisie. Bis zum Ende des Kaiserreichs (und als DVP auch in der Weimarer Republik) standen sie für das Zusammengehen mit den Junkern, gegen das allgemeine Wahlrecht und für einen „antisozialistischen“ Konfrontationskurs gegen die Arbeiterbewegung.
Auf dem anderen Flügel der Bourgeoisie agierten die Linksliberalen, zumeist gespalten in verschiedene Parteien. Als Anhänger des Freihandels fanden sie vor allem in den Seehandelsstädten des Norden, im Süden Deutschlands und in der weiterverarbeitenden Industrie Resonanz. Politisch traten sie für die Demokratisierung Deutschlands ein, zum Teil auch für ein Zusammengehen mit der Arbeiterschaft, besaßen aber kein Konzept für den Klassenkompromiß, denn alle Ansätze des Sozialstaats lehnten sie als „Staatssozialismus“ ab.
Bauern und städtisches Kleinbürgertum, die zahlenmäßig stärksten Klassen der alten Gesellschaft und auch nach der Jahrhundertwende noch stärker als das moderne Proletariat, spielten noch kaum eine eigenständige Rolle. Dabei nahmen die alten Klassen auf dem Boden der Massendemokratie, durch Reichstagswahlen und allgemeine Wehrpflicht, eine Schlüsselstellung ein, denn je nachdem, wohin sie sich wandten, entschieden sie über die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. In der Regel waren sie kaisertreu und wählten konservativ oder liberal oder Zentrum. Daneben gab es aber Tendenzen zu einer selbständigen Politik. Auf dem Land entwickelten sich Bauernbünde und -vereine, welche die Interessen der Agrarbevölkerung unabhängig vom „Bund der Landwirte“ verfochten und z.T. regional großen Einfluß hatten. Außerdem entstanden neben den „linken“ Liberalen, die vor allem im Süden Deutschlands kleinbürgerlich geprägt waren, seit Ende der 70er Jahre verschiedene Antisemitenparteien, die auf Basis rassistischer Theorien „den“ Juden als Verkörperung des Kapitals für alle Krankheitserscheinungen der Moderne, im Kern für die Untergrabung der ehrwürdigen Verhältnisse der kleinen Warenproduktion verantwortlich machten, aber vorerst Sekten blieben. Erst als sich die traditionellen Bindungen im Verlauf des Weltkriegs lockerten, die alte Ordnung 1918 zerbrach und die Republik den kleinbürgerlichen Massen keine Perspektive bot, schlug ihre Stunde.
Das Zentrum repräsentierte den katholischen Teil Deutschlands, etwas über ein Drittel (36 %) der Bevölkerung, und war unter konfessionellem Vorzeichen die einzige klassenübergreifende Partei. Sie hatte ihren Rückhalt hauptsächlich im agrarischen und kleinstädtischen Milieu, war aber auch in Adel und Bürgertum sowie mit der katholischen Arbeiterbewegung (1906 hatten die Christlichen Gewerkschaften Deutschlands 350.000 Mitglieder) in Teilen des Proletariats verankert. Durch seinen festen Wählerstamm verfügte es über eine bei anderen Parteien ungekannte Stabilität und hatte dauerhaft ca. 20-25 % der Reichstagsmandate inne. Insbesondere seit die adelige Vorherrschaft in der Partei in den 90er Jahren beendet wurde, war das Zentrum nach allen Seiten offen. Seine eigentliche Stunde schlug allerdings erst nach dem 2.Weltkrieg, als es durch die Weiterentwicklung zur CDU endgültig zur „Volkspartei“ wurde und in Gestalt der „sozialen Marktwirtschaft“ den Klassenkompromiß zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse organisierte, auf den die Bundesrepublik sich gründete.
Nicht zuletzt spielte die Monarchie eine eigene Rolle. Als preußisches Herrscherhaus hatten die Hohenzollern geschichtlich immer schon im Gegensatz zum niederen Adel gestanden. Unter den Bedingungen des Heraufkommens der modernen Gesellschaft hatte die Krone prinzipiell die Möglichkeit, sich auf andere Klassen als den Adel (bzw. zusätzlich dazu) zu stützen, wie schon Bismarck in Gesprächen mit Lassalle über ein „soziales Königtum“ im Hinblick auf die Arbeiterbewegung eruiert hatte. Die Herrschaftszeit Wilhelms II., der sich im Gegensatz zu seinem Großvater wesentlich als deutscher Kaiser statt als König von Preußen begriff, war durchgängig durch den Versuch gekennzeichnet, die soziale Basis der Monarchie zu erweitern, wenn nicht gar zu Lasten der Junker zu wechseln.
Die Arbeiterbewegung wurde dominiert von Handwerker-Facharbeitern, die bis zum ersten Weltkrieg das Gesicht der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bestimmten. „Der Befund, dass die deutsche Arbeiterbewegung nie eine Bewegung der allerärmsten, sondern vor allem bis 1914 eine Bewegung der qualifizierten, besser gestellten Arbeiter war, verdient besonders hervorgehoben zu werden.“ (Tenfelde, S. 173) Während die Industriearbeiter der Großbetriebe aus den Bereichen Textil, Kohle und Stahl, die Frauen und die ungelernten Arbeiter sowohl jenseits der Sozialdemokratie als auch der Gewerkschaften standen, fanden sich die „qualifizierten, bessergestellten Arbeiter“, die das Fundament der sozialistischen Organisationen bildeten, insbesondere in handwerklich geprägten Berufen in Klein- und Mittelbetrieben.
Die Wünsche dieser Arbeiter kreisten, wie Helga Grebing nachweist, „immer wieder um die gleichen Dinge: mehr verdienen, weiterbilden, unabhängig sein, ein Häuschen auf dem Land, eine Wohnung, am liebsten eine kleine Wirtschaft mit etwas Acker und Obstgarten, einen kleinen Bauernhof kaufen oder frei ein Handwerk ausüben. Der restaurative Zug in der sozialen Orientierung – Bauer, Handwerker, aber nicht Fabrikarbeiter sein wollen“ – verlieh ihrer Frontstellung gegen das industrielle Kapital einen deutlichen Zug zurück zur vormodernen Standesgesellschaft (Grebing, S. 96,97). Aus sich selbst heraus entwickelte diese Arbeiterschaft keinerlei politische Vorstellung von einer bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, sie hatte kein Verhältnis zu den Kämpfen des Bürgertums um die Ausweitung der Rechte des Parlaments und konnte „sich einen Staat ohne Obrigkeit nicht vorstellen“ (Grebing, ebenda). Oder wie August Bebel es auf dem Parteitag in Magdeburg 1910 formulierte: „Es gibt keinen zweiten, dem preußischen ähnlichen Staat, aber wenn wir einmal diesen Staat in der Gewalt haben, haben wir alles (…) Im Süden versteht man nicht diesen Junkerstaat in seiner ganzen Schönheit.“ (Protokoll S. 250)
Statt diese Arbeiterbewegung politisch zu formen, war die deutsche Sozialdemokratie umgekehrt wenig mehr als der organisatorische Ausdruck ihres handwerklich-rückwärtsgewandten Charakters. Lassalles Verhandlungen mit Bismarck waren kein einmaliger Ausrutscher einer einzelnen Person, sondern Ausdruck einer grundlegenden Orientierung. Der Marxismus, der sich bis zum Ende des 19.Jahrhunderts in der SPD durchgesetzt haben soll, war kaum mehr als ein ideologischer Firnis, der nicht einmal die Parteiführung durchdrang, geschweige denn die Mitgliedermassen. Das sozialdemokratische Staats- und Gesellschaftsideal war der preußische Sozialismus, und der preußisch-junkerliche Staat blieb der Ansprechpartner zur Besserung der sozialen und politischen Lage der Massen. Erst durch den Weltkrieg wurden die entscheidenden Bataillone der entstehenden modernen Industriearbeiterschaft aus den Großbetrieben, die bis dahin weitgehend außerhalb der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen geblieben waren, politisiert, und ihr Eintritt in die Politik veränderte das Gesicht der Arbeiterbewegung grundlegend.
Mehr als zehn Jahre nach Marx‘ Worten über den preußisch-deutschen „Militärdespotismus“ bemerkte Engels, dass es die historische Aufgabe sei, Deutschland „bewußt und endgültig auf die Bahn der modernen Entwicklung zu leiten, seine politischen Zustände seinen industriellen Zuständen anzupassen“ (Engels, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, 1887/88, MEW 21, S. 454) Die vorhandene parlamentarische Form mußte also den ihr gemäßen Inhalt bekommen, der Reichstag zum Zentrum der politischen Macht werden. Aber wie sollte das ohne Revolution geschehen?
3. Das untergehende Junkertum
Die entschiedensten Gegner der Parlamentarisierung waren die Junker, die durch jeden Machtzuwachs des Reichstags ihre privilegierte Existenz als Herrschaftsklasse bedroht sahen. Über ihrer unverkennbaren gesellschaftlichen Sonderstellung wird regelmäßig übersehen, dass sich damit ein ökonomischer Sonderstatus der großen Landwirtschaftsgüter Ostelbiens verknüpfte, der den besonderen Charakter des Junkertums prägte und ihm sein spezifisches Beharrungsvermögen verlieh.
Es war eine verkehrte Schlußfolgerung, dass der „preußische“ Weg in der Landwirtschaft zum Agrarkapitalismus geführt hätte, wie Lenin dachte. In der Ende 1907 verfaßten Arbeit über „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907“ (LW 13, S. 211 – 437) und anderen Artikeln entwickelte er die Theorie von „zwei Wegen“ zum Agrarkapitalismus, dem „amerikanischen“ und dem „preußischen“ Weg. Sie würden entweder auf „gutsherrlich-bürgerliche“ oder auf „bäuerlich-bürgerliche“ Art die kapitalistische Umwälzung der Agrarwirtschaft vollbringen. (LW 13, S. 275). Den amerikanischen Weg sah Lenin charakterisiert durch die meist gewaltsame Aufteilung des Großgrundbesitzes auf viele bäuerliche Kleineigentümer, die anschließend als „Farmer“ auf dem Boden bürgerlicher Produktionsverhältnisse wirtschaften würden. Auf dem preußischen Weg hingegen, so Lenin, „wächst die fronherrliche Gutsbesitzerwirtschaft langsam in eine bürgerliche, in eine Junkerwirtschaft hinüber“. (LW 13, S. 236) Er hatte keine Zweifel, dass die Gutswirtschaften der Junker „in ihrem Wesen kapitalistisch“ seien (LW 15, S. 132). Das war falsch. (Dazu im einzelnen Michael Vogt = Heiner Karuscheit: Über die patriarchalischen Gutswirtschaften der Junker, AzD 51/1990)
Die Arbeitsverhältnisse auf den ostelbischen Rittergütern trugen bis zuletzt alle Merkmale persönlicher Abhängigkeit. Weder die Gewerbeordnung von 1867/71, die das Koalitions- und Streikrecht einräumte, noch die arbeitsrechtlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 galten für die ländlichen Arbeitskräfte. Sie waren einer Vielzahl regionaler „Gesindeordnungen“ unterworfen, im überwiegenden Teil Preußens der „Preußischen Gesindeordnung“, die der Herrschaft u.a. das Züchtigungsrecht gewährte, indem sie „geringe Tätlichkeiten“ gegen das Gesinde für straffrei erklärte. Arbeitsverträge mit festen Arbeitszeiten gab es nicht, sondern als Gegenleistung gegen die zeitlich unbeschränkte Verpflichtung zum „Dienst“ bei der „Herrschaft“ oblag dem Gutsherrn die umfassende Fürsorgepflicht gegenüber dem Arbeiter und seiner Familie. Der „Lohn“ wurde nur zum geringeren Teil als Barlohn ausgezahlt, zum überwiegenden Teil in Naturalien, teils auch durch Zuteilung eines Stücks Land.
Als Bismarck 1872 eine neue Kreisordnung für das ländliche Preußen durchsetzte, knüpfte Engels daran die Hoffnung, dass der einzelne Junker damit „die Ausnahmestellung (verliert), die er als Feudalherr hatte. Er sinkt herab zum einfachen modernen Gutsbesitzer – und damit hört er auf, Junker zu sein.“ (Engels: Die Krisis in Preußen, 1873, MEW 18, S. 293 f) In Wirklichkeit blieb in neuen Formen das alte Herrschaftsverhältnis erhalten: der Gutsbezirk blieb „Amtsbezirk“ und der Gutsherr „Gemeindevorsteher“, nur dass er jetzt vom Landrat zu bestätigen war. Die rund 16.000 Gutsbezirke blieben bis 1928 als selbständige Gemeindebezirke erhalten. Als Reserveoffizier war der Junker der militärische Vorgesetzte seiner Knechte, die als „Gediente“ der Reserve angehörten. Und weil die Gutskirche in der Regel von seiner Familie gestiftet war, hatte er das Kirchenpatronat inne und wählte den Pastor aus, so dass dieser gar nicht in Versuchung kam, aufrührerische Ideen von der Kanzel zu verbreiten.
Solange die Volksschulen der geistlichen Aufsicht unterstanden, sorgte dieser Pastor dafür, dass auch den Kindern der Landarbeiter die Furcht vor Gott und dem Herrn eingebleut wurde. Und als die geistliche Aufsicht in den 70er Jahren im Kulturkampf abgeschafft wurde, übte der Gutsherr die an ihre Stelle tretende weltliche Aufsicht als Amtsvorsteher selber aus. Sonntags führten er oder sein Gutsverwalter die Familien der Landarbeiter in die Patronatskirche, und am Wahlsonntag der Reichstagswahlen führten sie die Männer zu den Wahlurnen. Wie Engels in seinem Manuskript von 1888/89 über „die Rolle der Gewalt in der Geschichte“ polemisch bemerkte, waren „die ländlichen Arbeiter jener Landstriche – Gesinde wie Tagelöhner -, in ihrer bisherigen tatsächlichen Leibeigenschaft, zugelassen nur für zwei öffentliche Funktionen: Soldat zu werden und den Junkern bei den Reichstagswahlen als Stimmvieh zu dienen.“ (MEW 32, S. 460) Das hielt ihn 1894 allerdings nicht davon ab, den Großgrundbesitz in Deutschland wie in Frankreich als „unverhüllten kapitalistischen Betrieb“ zu bezeichnen. (Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, MEW 22, S. 503)
Nicht zu vergessen ist, dass ein erheblicher Teil des adeligen Grundbesitzes als „Fideikommis“ dem marktwirtschaftlicher Bodenverkehr entzogen war. Die betreffenden Güter waren nur innerhalb der Adelsfamilie vererblich. Mit der Fideikommisgesetzgebung, die bis 1917 auf immer mehr Güter ausgedehnt wurde, sicherte das Junkertum seine Stellung als Klasse gegen seine einzelnen Mitglieder, die durchaus ein Interesse am freien Verkauf von Land hatten. Die Weimarer Reichsverfassung enthielt dann eine Bestimmung zur Auflösung der Fideikommisse. Durchgesetzt wurde sie aber nicht von der SPD, obwohl diese bis 1932 in Preußen die Regierung stellte, sondern erst von den Nationalsozialisten.
Zwar gab es eine „gesetzmäßige“ Entwicklung zum Kapitalismus. Der Barlohn für die auf dem Gut Beschäftigten stieg allmählich zu Lasten der Naturalentlohnung; der Maschineneinsatz nahm zu und verlangte andere Arbeitskräfte als stumpfe Gutsknechte; außerdem war allmählich größere Zurückhaltung gegenüber den Landarbeitern geboten, weil sonst die Gefahr bestand, dass sie in die Industrien des Westens abwanderten. Viele Güter richteten auch eigene Zucker-, Holz- und Schnapsfabriken ein, um ihre Produkte weiterzuverarbeiten – wobei die Konservativen gleichzeitig im Reichstag für ihre Steuerprivilegierung sorgten. (köstlich dazu: Engels, Preußischer Schnaps im Deutschen Reichstag, 1876, MEW 19, S. 37). In allen Poren begann sich der Kapitalismus also einzunisten. Die Entwicklung erreichte jedoch nie den Punkt, ab dem eine Mehrheit der Gutswirtschaften als agrarkapitalistisch zu betrachten ist. Trotz aller Neuerungen blieb die alte, patriarchalische Produktionsweise der Gutswirtschaft erhalten. Die Herren der Güter gewannen nie ein sachliches Verhältnis weder zu den Produktionsbedingungen, dem Boden, noch zu den Produzenten, ihren Landarbeitern. Triebkraft der Produktion wurde nicht die Verwertung des Werts, sondern blieb die Sicherung einer standesgemäßen Stellung. Das Junkertum wurde nicht zu einer (grundbesitzenden) Abteilung der Bourgeoisie.
Im Gegenteil setzten die Junker ihre privilegierte Stellung im Staat dazu ein, um sich einer solchen Entwicklung entgegenzustemmen. „Der Konservatismus benutzt seit seinem Entstehen in der vormärzlichen Zeit die Staatsmacht mit Vorliebe als Mittel seiner eigenen Konservierung, und zwar zur Konservierung einer dem Bürgertum gegenüber rückständigen Sozial- und Wirtschaftsform.“ (Kehr S. 151; „vormärzlich“ meint die Zeit unmittelbar vor der Revolution von 1848). Insbesondere seit die in den 70er Jahren langsam einsetzende Agrarkrise die Getreidepreise fallen ließ und die großen Güter bedrohte, klammerten sich die Rittergutsbesitzer um so wütender an die hergebrachten Verhältnisse. Wer daran rüttelte, zog sich ihre Todfeindschaft zu. Mehrere der vom Kaiser ernannten Reichskanzler stürzten bei dem Versuch, das Dreiklassenwahlrecht oder die preußische Gemeindeordnung, diese Eckpfeiler der spezifisch junkerlichen Zustände, im Sinne bürgerlichen Fortschritts anzukratzen. Es war ein Teufelskreis: einerseits prägte der agrarische Hintergrund der preußischen Adelsfamilien ihr obrigkeitliches Auftreten in Militär und Verwaltung. Umgekehrt sorgte ihr politischer Einfluß dafür, dass der Staat die patriarchalischen Junkergüter gegen das bürgerliche Rad der Zeit schützte. Der „preußische“ Weg führte also nicht in die bürgerliche Gesellschaft; sein Wesen bestand vielmehr darin, diesen Übergang zu verhindern.
Was die gesetzlichen Bestimmungen anbelangt, änderten sich die Verhältnisse auf den Gutswirtschaften erst nach 1918, und dann eher auf dem Papier als in der Realität. Nicht erst für die heute Lebenden, sondern auch schon für die damalige Stadtbevölkerung war Ostelbien eine fremde Welt. Zwar gab es Ausnahmen, gebildete Junkersprößlinge mit weitem Horizont, welche die engen Schranken ihrer Klasse durchbrachen. Die Regel bildete aber der preußische Stockjunker, dessen Horizont nicht weiter als vom Gutshof bis zum Offizierskasino reichte. Diese untergehende Klasse hatte das letzte Wort in Deutschland – bis ihr nur der Krieg übrigblieb, um die patriarchalische Ordnung vor dem Untergang zu retten.
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