Einführung in das Projekt „Industrie 4.0“

    1. Einordnung, Programme, Akteure

Im Jahr 2006, also in etwa gleichzeitig mit den Hartz IV Gesetzen, beschloss die damalige Bundesregierung aus Rot-Grün die „Hightech Strategie“ (HTS). HTS hat folgende Schwerpunkte ([3]):

  • Digitale Wirtschaft und Gesellschaft
  • Nachhaltiges Wirtschaften und Energie
  • Innovative Arbeitswelt
  • Gesundes Leben
  • Intelligente Mobilität
  • Zivile Sicherheit

Im HTS Aktionsplan ([4]) sind die einzelnen Projekte zu diesen Themenkomplexen und ihr Stand dokumentiert. Außerdem kann man im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ([5]) jährlich die aktuelle Finanzierung der HTS-Projekte einsehen. Als roter Faden zieht sich durch alle Themenkomplexe die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch die zunehmende Digitalisierung. Eine Schlüssel- und Querschnittstechnologie innerhalb der HTS-Strategie sind die sogenannten „eingebetteten Systeme“ (embedded systems). In allen Bereichen des HTS-Projekts, aber auch in Alltagsgegenständen werden Sensoren (Messgeräte), Mikroprozessoren und Mikrocontroller (Rechner kleinster Abmessungen) eingesetzt, die Sensordaten und teilweise über Funk angeforderte Informationen aus dem Internet verarbeiten. Die verarbeiteten Daten dienen der Steuerung von Prozessen. Dabei fallen große Datenmengen an, die teilweise in Echtzeit verarbeitet werden müssen. Maschinen mit eingebetteten Systemen und Funk- oder Internetverbindung werden „cyber-physikalische Systeme“ (CPS) genannt. Will man es weniger hochtrabend ausdrücken, so kann man den Begriff „smart machine“ verwenden. Eine umfassende Beschreibung der cyber-physikalischen Systeme findet sich in ([6]). Das in diesem Aufsatz vor allem behandelte Thema „Industrie 4.0“ ist ein Teilprojekt der HTS-Strategie. Viele Internetseiten sind dem Thema Industrie 4.0 gewidmet. Eine übergeordnete Seite ist die der Plattform Industrie 4.0 ([7]), die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung betrieben wird. Die Plattform Industrie 4.0 arbeitet mit ihrem amerikanischen Pendant, dem Industrial Internet Consortium zusammen. Bemerkenswert an der HTS ist, dass der Staat damit umfassende gesamtgesellschaftliche Konzepte entwickelt, während er sich ansonsten seit langem auf Druck des Neoliberalismus aus immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zurückzieht

Beraten wird die jeweilige Bundesregierung zum Beispiel durch die Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft ([8]) und die deutsche Akademie der Technikwissenschaften ([9]). Beteiligt an der Umsetzung der HTS-Strategie sind alle Bundesministerien. Mit im Boot sind die Verbände Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien), VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau), ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie) und verschiedene Forschungsgesellschaften. Da die deutsche Industrie zum größten Teil von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geprägt ist, gibt es eine Reihe von Förderprogrammen, die die Digitalisierung dieser mittelständischen Industrie unterstützen, wie die Förderinitiative „Mittelstand 4.0“ ([10]). Die mittelständischen Unternehmen beschäftigen mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer, haben aber aufgrund ihrer Größe oft wenig IT-Kompetenz. Eine Reihe von Beispielen geförderter Projekte und teilnehmender Firmen finden sich in ([11]). Aus Berichten wie diesem geht auch hervor, dass „Industrie 4.0“ keine Fata Morgana ist, sondern ein bereits stattfindender Prozess. Auch von Seiten der EU gibt es Förderprogramme wie zum Beispiel Artemis (Advanced Research and Technology for embedded Intelligence and Systems, ([6]), die in die gleiche Richtung gehen.

 

    1. Was soll das Projekt „Industrie 4.0“ erreichen?

Zunächst ist anzumerken, dass der Begriff „Industrie 4.0“ vor allem im deutschsprachigen Raum verwendet wird. Im englischsprachigen Raum wird zum Beispiel von dem „second machine age“ oder dem „Industrial Internet“ gesprochen. Alle diese Begriffe beziehen sich aber auf die gleiche Entwicklung, nämlich das beschleunigte Eindringen von digital gesteuerten Prozessen in die Warenproduktion und weite Lebensbereiche. Die Ziele von „Industrie 4.0“ beschreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung folgendermaßen: „Industriebetrieben aus Deutschland erwächst in Asien und zunehmend auch in Südamerika starke Konkurrenz, die mittelfristig ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährden kann. Unternehmen, etwa aus China, steigern ihre Produktivität und Innovationskraft, zugleich beschleunigen sich die Innovationskreisläufe in vielen Technologiefeldern und die Märkte werden volatiler. Die Unternehmen müssen in Deutschland zusätzlich auf weitere Herausforderungen Antworten finden: knappere Rohstoffe, steigende Energiepreise oder das zunehmende Durchschnittsalter der Beschäftigten. Das produzierende Gewerbe braucht Lösungen, um auf diese Herausforderungen wirksam zu reagieren. Die Technologie der cyber-physischen Systeme – oder kurz CPS – bietet das Potential für solche Lösungen.“ ([12]).

Das Projekt „Industrie 4.0“ verfolgt produktionstechnische, betriebswirtschaftliche und logistische Ziele. Die Basis für die Automatisierung in der Produktion wurde in den 1970er Jahren mit den ersten frei programmierbaren CNC-Werkzeugmaschinen, der SPS-Steuertechnik (CNC: computerized numerical control, SPS: speicherprogrammierbare Steuerung) und Industrierobotern vor allem in der Automobilindustrie gelegt ([13]). Zuvor mussten mindestens die Steuerprogramme für jede neue Anwendung ausgetauscht werden. Dies war aufwendig und erschwerte einen schnellen Produktwechsel und die Individualisierung eines Produkts nach Käuferwunsch. Ab den 1970er Jahren begann der Einzug von Mikroprozessoren und Mikrocontrollern in die Fertigungstechnik und der Vormarsch von Computern mit betriebswirtschaftlicher Software in Betrieben, Verwaltung, Handel und Logistik. Ein begünstigendes Moment bei der Automatisierung von Produktion und Verwaltung war, dass alle Komponenten der Automatisierungsverfahren immer billiger wurden. Diese Entwicklung wird in späteren Kapiteln genauer beschrieben.

Im Grunde ist das Konzept von „Industrie 4.0“ eine Fortschreibung des in den 1970er Jahren entwickelten Konzepts CIM (computer integrated manufacturing) mit den heute verfügbaren Technologien. CIM umfasst den integrierten EDV-Einsatz (Elektronische Datenverarbeitung) in allen mit der Produktion zusammenhängenden Bereichen. Auf der Produktionsseite sind dies die rechner­gestützte Konstruktion CAD (computer aided design), die rechnergestützte Fertigung CAM (computer aided manufacturing) mit CAD-Daten und die rechnergestützte Qualitätskontrolle CAQ (computer aided quality). Auf betriebswirtschaftlicher Ebene umfasst CIM die rechnergestützte Arbeitsplanung CAP (computer-aided planning), die rechnergestützte Betriebsdatenerfassung BDE und das Produktionsplanungs- und Steuerungssystem PPS ([14], Seite 573 folgende).

Das Thema Automatisierung war Kern der in den 1950er Jahren begonnenen Kybernetik-Diskussion, in deren Mittelpunkt technisch der Begriff des Regelkreises stand. Obwohl die Entwicklung von Rechenanlagen noch in den Kinderschuhen steckte, wurde bereits damals die Vision von selbst­lernenden Maschinen entworfen. Die damals beschriebenen Bestandteile einer kybernetischen Maschine sind im Wesentlichen die gleichen, die heute bei cyber-physikalischen Systemen genannt werden: Signalverarbeitung, Steuerung, Regelung, Rückkopplung und so weiter. Im Unterschied zur damaligen Diskussion sind heute die technischen Grundlagen für die damaligen Visionen vorhanden.

Hinsichtlich der Weiterentwicklung der HTS-Teilaufgabe „innovative Wirtschaft“ oder „smart factory“ sind folgende Zielvorstellungen maßgeblich:

  • Individuelle Produktion, das heißt die Herstellung individualisierter Produktvarianten (Losgröße 1) mit demselben Maschinenpark und ohne lange Produktionsunterbrechung. Außerdem werden die Voraussetzungen für die Möglichkeit schnellerer Modellwechsel geschaffen. Dazu sind anwendungsoffene Maschinen mit einer größeren Flexibilität in der Fertigung erforderlich und damit eine Standardisierung der Zentralkomponenten mit einer Spezialisierung der Einzelkomponenten. Zu diesem Themenkomplex gehört auch die Verringerung der Stillstandzeiten und des Ressourceneinsatzes.
  • Weiterentwicklung der Automatisierungs- und Robotertechnik in Hinblick auf Reaktionsfähigkeit in Echtzeit, Lernfähigkeit und Orientierung in nichtstandardisierten Umgebungen, Durchführung unterschiedlicher Aufgaben, Vernetzung von Maschinen und Gegenständen über Funk und Internet sowie der Verbesserung Zusammenarbeit Roboter – Roboter und Roboter – Mensch.
  • Horizontale Vernetzung von Unternehmen und Kunden, beginnend mit der kundenspezifischen Bestellung, änderbar bis zur Fertigung, und darüber hinaus die Überwachung des Produkts bis zum Ende der Produktlebenszeit. Dies erfordert, dass sich jedes Produkt identifizieren lässt, mit Sensoren seinen Zustand erfasst, ihn an eine Auswertungsstelle übermittelt, in der mittels intelligenter Auswertungsprogramme aus den großen Datenmengen die erforderlichen Wartungsmaßnahmen angestoßen werden. Dieser Datenaustausch erfordert standardisierte Schnittstellen statt firmeneigener Lösungen.

Vor der weiteren Beschreibung des Projekts „Industrie 4.0“ sollen anhand der Geschichte wesentliche Merkmale einer Revolution der Produktivkräfte herausgearbeitet werden.

Fortsetzung:

-> Charakterisierung früherer Revolutionen der Produktivkräfte