1. Aufstieg und Fall des Kleinbürgertums
Nach der Machtübernahme der NSDAP am 31. Januar 1933 glaubte die kleinbürgerliche SA, die Stunde der Abrechnung sei gekommen. Sie wollten nun verwirklichen, wofür sie jahrelang gekämpft hatten. Der Zustrom an begeisterten Überläufern, aber auch Opportunisten zur SA und Partei war kaum noch zu bremsen. Die Partei sah sich veranlaßt, einen Aufnahmestopp zu verhängen. Die SA wuchs und wuchs. Nach der Vereinigung mit ca. 300.000 Stahlhelmleuten kam sie innerhalb eines Jahres auf 4 Millionen Mitglieder. Diese riesige Massenarmee war von keiner Macht mehr zu kontrollieren und wurde zum selbständigen Machtfaktor. Neben der SA wurde die NSBO zum Unsicherheitsfaktor. Ihr Führer Muchow träumte von einer Einheitsgewerkschaft und vertrat einen radikalen Antikapitalismus.
Der Nationalsozialismus zeigte sich in dieser Phase äußerst mittelstandsfreundlich. Alte Forderungen des Handwerks wurden nun erfüllt. Die Zwangsinnung für alle Handwerker führte man ein. Damit konnten z. B. Preise festgelegt werden, um die Härten des freien Marktes auszuschalten. Ebenso wurde ein Beschäftigungsnachweis von allen Handwerkern verlangt. Alle, die keinen Meistertitel hatten, mußten ihn bis 1939 nachholen. Der Beschäftigungsnachweis war ein großer Schutz vor der Konkurrenz, da so Arbeitslose oder andere nicht einfach einen Handwerksbetrieb eröffnen konnten. Die gehaßten Warenhäuser wurden zwar nicht aufgelöst, ihr Handelsspielraum aber enorm beschränkt. Im Mai 1933 erließ die Regierung eine Einrichtungs- und Erweiterungssperre für Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte, die bis 1945 galt. [33] Per Gesetz verdoppelte sich am 18. März auch die Gewerbekapitalsteuer für Warenhäuser. [34] Die Eigentumsfrage wurde allerdings nur bei jüdischen Warenhäusern gestellt. Mit dem SA-Boykott am 1. April 1933 begann die „Arisierung“ in Form der sogenannten „freiwilligen“ Verkäufe. Viele „alte Kämpfer“ der Partei und SA übernahmen die vormals jüdischen Geschäfte, wobei die Warenhäuser meist den Großbanken zufielen.
Mit den mittelstandsfreundlichen Maßnahmen konnten die Nationalsozialisten die Handwerker und Kleinunternehmer in dem Glauben bestätigen, ihre Regierung mit „Volkskanzler“ Hitler sei an der Macht. Doch die Millionen Arbeitslosen und die während der Wirtschaftskrise ins Proletariat gespülten Kleinbürger waren damit nicht aus ihrem sozialen Elend befreit. Die Demonstrationen gegen Warenhäuser gingen mit einer solchen Radikalität weiter, daß es selbst der Parteiführung zu viel wurde. Eine Parteiverordnung im April 1933 verbot SA und NSBO jegliche Demonstrationen gegen Wirtschafts- und Finanzunternehmer ohne Erlaubnis der Führung. [35] Rudolf Heß erließ im Juni 1933 zwei Verordnungen, die forderten, die Agitation und Demonstrationen gegen Warenhäuser einzustellen. Als Begründung wurde angeführt, daß die Auflösung der Warenhäuser eine Gefährdung von Tausenden von Arbeitsplätzen darstelle. [36]
Die braune Massenarmee bedrohte schließlich Hitlers Bündnis mit der Großindustrie und der Junkerschaft. Den Einfluß der radikalen Mittelstandsvertreter drängte die Parteiführung zurück. Der Mittelstandsvertreter Wagener verlor im Juni seine Positionen als Leiter der „Kommission für Wirtschaftspolitik der NSDAP“ und als Wirtschaftskommissar. Im August wurde der „Kampfbund des gewerblichen Mittelstands“ aufgelöst und in die DAF eingegliedert. Die vom Mittelstand verteufelten Konsum- und Verbrauchervereine der Arbeiterbewegung wurden zur Überraschung vieler nicht aufgelöst, sondern von der DAF übernommen. Die Deutsche Arbeitsfront ließ sie bis 1941 bestehen.
Die Zerschlagung der SA
Die Unzufriedenheit in der SA nahm größere Ausmaße an. Der Ruf nach einer zweiten „Revolution“ wurde immer lauter. Schon am 26. Januar 1934 hatten Abteilungen der SA die Kaiser-Geburtstagsfeier, auf der auch hohe Offiziere der Reichswehr anwesend waren, gesprengt. [37] Im Rundschreiben der SA-Führung hieß es: „Alte Kämpfer klagen über schlechte Entlohnung und wenig nationalsozialistisches Verständnis der Arbeitgeber. Bei diesen besteht mitunter wenig Neigung zur Einstellung alter SA-Männer.“ [38] Im Rundschreiben vom Februar 1934 klagte auch Stabschef Röhm über die schlechte Stimmung in der SA. In den ersten zwei Jahren konnte das Regime keine großen Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit erzielen. Viele „alte Kämpfer“ fühlten sich betrogen.
Die SA-Führung verstand unter der zweiten „Revolution“ vor allem einen direkten Angriff auf die Junker und die Reichswehr. Das braune Massenheer sollte als Volksarmee die preußisch-aristokratische Reichswehr ersetzen. Hitler hielt von diesen Plänen nichts, da er vorerst auf das Bündnis mit der Reichswehr angewiesen war und aus außenpolitischen Gründen einen so offenen Verstoß gegen den Versailler Vertrag nicht wagen wollte. So erklärte Hitler am 6. Juni: „Die Revolution ist kein permanenter Zustand (…). Man muß den frei gewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten.“ [39] Auch die konservativen, monarchistischen Kräfte forderten ein Vorgehen gegen die SA. Vizekanzler Franz von Papen warnte in seiner Marburger Rede am 17. Juni: „Es wird viel von der kommenden Sozialisierung gesprochen… Haben wir eine antimarxistische Revolution durchlebt, um das Programm des Marxismus durchzuführen?“ [40] SA-Stabschef Röhm erwiderte auf diese Stimmen: „Wenn die Spießerseelen meinen, daß die ‘nationale Revolution’ schon zu lange dauert, so pflichten wir ihnen ausnahmsweise bei: Es wird in der Tat höchste Zeit, daß die nationale Revolution aufhört und daß daraus die nationalsozialistische Revolution wird! Ob es ihnen paßt oder nicht – wir werden unseren Kampf weiterführen. Wenn sie endlich begreifen, um was es geht: mit ihnen! Wenn sie nicht wollen: ohne sie! Und wenn es sein muß: gegen sie!“ [41] Röhm sah die Stunde der SA gekommen und rüstete auf.
Am 30. Juni startete die SS mit Unterstützung der Reichswehrführung und Hitlers ohne jegliche rechtliche Grundlage den Angriff auf die SA. Ohne daß der sogenannte „Röhm-Putsch“ überhaupt stattfand, wurde ein Blutgericht über die SA abgehalten. Die SA wurde in ihrer ursprünglichen Form zerschlagen. Sie wurde entwaffnet und eine „Säuberung“ aller wichtigen Positionen veranlaßt. Neben Röhm und Georg Strasser wurden fast alle Führungskräfte durch die SS ermordet. Über das Ausmaß der Opfer sind sich die Historiker nicht einig. Die Schätzungen gehen von 85 bis 1000 Toten aus. Die SS nutzte die Gunst der Stunde, um auch einige bürgerliche Oppositionelle zu beseitigen, die eigene Vorstellungen besaßen. So wurden die Reichswehrgeneräle von Schleicher und von Bredow sowie die engen Mitarbeiter Franz von Papens, Bose und Jung, ermordet.
Die Vorbereitung der Intrige gegen die SA lag in den Händen von Blombergs, von Reichenaus, Himmlers und Görings. Die Reichswehrführung drängte Hitler zu diesem Schritt und verlangte von ihm, sich an seine Zusage zu halten, daß die Reichswehr der „alleinige Waffenträger der Nation“ sei. Hitler, der das Bündnis mit der adeligen Reichswehrführung nur aus taktischen Gründen eingegangen war, versuchte wiederholt einen Kompromiß zwischen Reichswehr und SA herbeizuführen. Damit gaben sich aber weder Röhm noch Blomberg zufrieden. Hitler soll am 30. Juni gegenüber Rauschning sein Bedauern über den Ausgang zum Ausdruck gebracht haben: „Er habe verlangt, man solle ihm Zeit lassen, die Sache im Guten zu ordnen – aber man habe ihn zu dem wahnwitzigen blutigen Gericht gezwungen.“ [42]
Die unmittelbare Folge der „Röhmaffäre“ waren Tausende enttäuschter SA-Männer. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage des am 30. Juni verhafteten Aachener SA-Stabsführers, Dr. Klöppel: Die SA habe die Hoffnung gehabt, daß „der Führer (…) wieder den Vormarschbefehl (…) geben würde (sogenannte ‘zweite Revolution’), dann war für die ‘Reaktion’ mit einem Schlage alles verloren; verloren war dann insbesondere alles für Schwerindustrie und Agrarier (…), weil diese Kreise dann damit zu rechnen hatten, daß die sozialistischen Tendenzen des Nationalsozialismus zur Verwirklichung kamen, da die bisher hemmenden außenpolitischen Rücksichtnahmen entfielen.“ [43] Es sollte noch einige Jahre dauern, die Millionen SA-Männer wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Im Gegensatz dazu steigerte sich in der Bevölkerung nach dem 30. Juni die Beliebtheit Hitlers. Nach dem Motto „der Führer hat aufgeräumt“ freuten sich viele, die Rauf – und Trunkenbolde der SA los zu sein, und hegten Illusionen, daß jetzt Normalität und rechtliche Sicherheit wieder einkehren würden. [44]
Obwohl die Parteiführung zum Bruch mit der Reichswehr noch nicht bereit war, lagen ihre Sympathien eindeutig auf der Seite der SA. Göbbels bedauerte laut Tagebuch am 28. März 1945 in einem Gespräch mit Hitler, „daß wir im Jahre 1934 leider versäumt hätten, die Wehrmacht zu reformieren… Das, was Röhm wollte, war natürlich an sich richtig, nur konnte es von einem Homosexuellen und Anarchisten praktisch nicht durchgeführt werden. Wäre Röhm eine erstklassige Persönlichkeit gewesen, so wären wahrscheinlich am 30. Juni eher einige hundert Generäle als einige hundert SA-Führer erschossen worden.“ [45] Hitler und Goebbels verschoben 1934 die Abrechnung mit der alten preußischen Elite auf einen späteren Zeitpunkt, wenn die Machtverhältnisse günstiger waren. Mit der SA verloren sie aber eine wichtige Waffe im Kampf für den kleinbürgerlichen Massenstaat. An ihre Stelle trat die SS, deren gewaltiger Aufstieg nach dem 30. Juni 1934 langsam begann. Die SA versank in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit und hatte nur in der Reichsprogromnacht 1938 noch einen entscheidenden und blutigen Auftritt.
Gesicherte Plackerei des Mittelstandes
Wie stellte sich aber nach der mittelstandsfreundlichen Phase 1933 und der Zerschlagung der SA die konkrete soziale Lage des Kleinbürgertums dar? Die Nationalsozialisten verstanden sich zwar als kleinbürgerliche Massenbewegung, doch wollten sie keineswegs dem Handwerk den Wunsch nach einer mittelalterlichen Zunftordnung erfüllen. Hitler war der Meinung, daß das Handwerk und Kleinbürgertum nur durch die Ostsiedlung zu retten waren. Aber den Siedlungskrieg konnte man nur mit modernen Waffen führen, die nur die Großindustrie herstellen konnte. Also waren die Spielräume, die Interessen des Mittelstandes in der Phase der Aufrüstung zu bewahren, sehr begrenzt. Von dem Wirtschaftsaufschwung profitierte aber auch der Mittelstand. So wuchs der Gesamtumsatz von 1933 bis 1935 um ca. 38 %, betrug aber nicht einmal zwei Drittel des Umsatzes von 1926. [46] Die Zahl der Handwerksbetriebe lag aber 1936 mit 1,653 Millionen erheblich über den Zahlen von 1933 (1,383 Millionen) und 1926 (1,308 Millionen). [47] Das Handwerk stabilisierte sich also, obwohl der große Wohlstand nicht ausbrach. Der monatliche Gesamtdurchschnittsverdienst von Handwerksbetrieben lag im Jahr 1935 bei ganzen 1412 RM. Damit war der Verdienst vieler Meister immer noch deutlich unter Facharbeiterlohn. [48]
Auch in der NSDAP gab es Kräfte, die das rückständige Handwerk ganz beseitigen wollten. Ein Vertreter dieser Richtung war der Führer der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley. Dadurch entstanden ständig Konflikte zwischen dem Wirtschaftsminister Schacht und Ley. Ley forderte wiederholt, die Innungen aufzulösen und das Handwerk komplett der DAF zu unterstellen. Hitler, der um seine Massenbasis im Kleinbürgertum besorgt war, ließ sich davon allerdings nicht überzeugen. Einige Erfolge erzielte Ley aber trotzdem. So wurde 1936 das Ausbildungsmonopol aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte das Handwerk noch 2/3 aller Lehrlinge. [49] Das größte sozialpolitische Zugeständnis an das Handwerk blieb der Ausbau des Sozialstaates: 1938 bezog man das Handwerk in die Pflichtversicherung der Altersversorgung ein. [50]
Im großen und ganzen war es der NSDAP gelungen, das Versprechen, den Mittelstand zu erhalten, einzulösen. Die Plackerei in den wirtschaftlich rückständigen Betrieben mit starker persönlicher Abhängigkeit, schlechten Löhnen und Arbeitszeiten blieb bis zum Krieg gesichert. Eine reaktionäre und antimoderne Politik, die allerdings dazu beitrug, den Mittelstand als Bastion des Nationalsozialismus zu erhalten.