Auf dem Weg zum Sozialismus?

Felix Wemheuer

Kritische Anmerkungen zu den Unterstützern der heutigen KP China in der westlichen Linken

Seit dem Ende der Kulturrevolution 1976 und dem Niedergang der westeuropäischen ML-Bewegung haben sich viele Linke lange nicht mehr für die Entwicklung in China interessiert. In den letzten 15 Jahren häufen sich allerdings linke Publikationen zum Charakter der Volksrepublik (VR).1 Mittlerweile ist China eine politische und wirtschaftliche Großmacht. Während mit dem chinesischen „Wirtschaftswunder“ im Westen lange nur Sweatshops und Billigwaren verbunden wurden, investiert das chinesische Kapital heute auf allen Kontinenten. Selbst in Deutschland kauft es im großen Stil Unternehmen auf. Laut den Plänen der chinesischen Regierung soll die VR zum 100. Jahrestag ihrer Gründung, 2049, ein hochentwickeltes Industrieland sein. „Der Spiegel“ rief sogar die westliche Welt dazu auf, endlich aufzuwachen, da China schon jetzt die Nummer Eins sei.2 Die gegenwärtige Verschiebung der globalen Machtverhältnisse können auch Linke in Europa nicht ignorieren. Allerdings gehen die Einschätzungen zum Charakter der VR weit auseinander: Theodor Bergmann sieht das Land auf dem Weg zum Sozialismus (siehe die Buchbesprechung von Erwin Mauer in dieser Ausgabe der AzD). Der bekannte marxistische Geograph David Harvey hingegen reihte 2005 auf dem Titelbild seines Buches „Kleine Geschichte des Neoliberalismus“ Deng Xiaoping in eine wenig schmeichelhafte Ahnengalerie zusammen mit Ronald Reagan, Margaret Thatcher und dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet ein.3

Heute ist China wieder zur Projektionsfläche linker Wünsche im Westen geworden. In diesem Aufsatz werde ich mich mit den Autoren kritisch auseinandersetzen, die meinen, die VR sei auf dem Weg zum Sozialismus oder stelle eine progressive Alternative zum westlichen Kapitalismus dar. Eine Analyse der Positionen der Kritiker des „chinesischen Kapitalismus“ wird an anderer Stelle erfolgen. Eine umfassende Bewertung der Mao-Ära (1949-1976) wird in diesem Aufsatz nicht geboten. Ich beziehe mich jedoch auf diese Zeit und auch auf Vergleiche mit der Sowjetunion, falls sie in den Argumenten der Autoren eine wichtige Rolle spielen. Am Ende lege ich dar, wie ich Kapitalismus definiere und den (staats)kapitalistischen Charakter der VR bewerte.

 

Auf der Suche nach einer sozialistischen Perspektive

In den Verlagen VSA und PapyRossa, den Tageszeitungen „Junge Welt“, „Zeitschrift Sozialismus“ und „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ sowie aus dem Umfeld der DKP (Deutsche Kommunistische Partei), der „China Study Group Europe“ und der Partei „Die Linke“ sind eine Reihe von Beiträgen erschienen, die Chinas Weg als eine Art „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) wie in der Sowjetunion der 1920er sehen. Diese Autoren glauben, der KPCh (Kommunistische Partei Chinas) gelinge es durch Koexistenz staatlicher und privater Eigentumsformen, Markt und Plan sowie einer kontrollierten Öffnung zum Weltmarkt zunächst die „Produktivkräfte zu entwickeln“. Das Fernziel einer vollentwickelten sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft habe die Partei noch im Blick. Diese Autoren betonen, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft einen viel längeren Zeitraum in Anspruch nehme, als die Gründerväter der Sowjetunion und der VR annahmen; also nicht einige Jahrzehnte, sondern mehr als 100 Jahre. Einige dieser Autoren sehen im Scheitern der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Mikroelektronik in den 1970ern im sozialistischen Ostblock den Grund für dessen Untergang 1991. China habe hingegen die zentrale Bedeutung eines Technologietransfers aus den fortschrittlicheren kapitalistischen Ländern erkannt. Probleme der langen „Übergangsperiode“ wie die soziale Spaltung der Gesellschaft, Korruption der Kader oder Umweltzerstörung werden zwar erwähnt, jedoch als unvermeidliche Nebenprodukte der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, die die KPCh eindämmen wird oder zumindest sollte.

Deng als chinesischer Bucharin?

Seit mehreren Jahrzehnten vertritt Theodor Bergmann unbeirrt die Position, dass in China der Sozialismus aufgebaut werde. Letztes Jahr verstarb der ehemalige Professor für vergleichende Agrarwissenschaft im Alter von 101 Jahren. Seit 1929 stand er der KPD/Opposition nahe, die in den Richtungskämpfen der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) Nikolai Bucharin unterstützte, der die NÖP fortführen wollte. Bergmann reiste seit 1978 regelmäßig in die VR. Bezogen auf die Geschichte der KPCh unterstützte er die Politik von Liu Shaoqi und Deng Xiaoping. Schon 1982 gab er „Ausgewählte Schriften und Materialen“ von Staatspräsident Liu auf Deutsch mit heraus. Bergmann sah in Liu einen Vertreter einer schrittweisen Transformation der Landwirtschaft durch Genossenschaften sowie einer rationalen Wirtschaftsplanung.4

Im Gegensatz dazu habe Mao Zedong eine „voluntaristische“ Linie vertreten und fälschlicherweise Zwangskollektivierung, verschärften Klassenkampf und Massenkampagnen befürwortet. Besonders die internationale „Selbstisolierung“ durch die Autarkie-Ideologie der Maoisten habe China vom Technologietransfer mit den fortschrittlichen Ländern abgeschnitten. Bergmann schrieb die Geschichte der VR als „Kampf zweier Linien“, allerdings mit umgekehrter Zuordnung wie bei den Maoisten, laut denen Liu und Deng die falsche, „revisionistische“, Linie vertreten hätten. Selbst in seinem letzten Buch von 2017 analysierte Bergmann die chinesische Gegenwart noch nach dem altbekannten Muster „Bucharinismus versus Stalinismus“. Maoismus erschien ihm als chinesische Form des Stalinismus. Bergmann nannte sich „kritischer Kommunist“, scheint aber seit Ende der 1920er eisern an seinen Positionen festzuhalten. Sein Buch „Der chinesische Weg“ liest sich über weite Strecken wie eine Zusammenfassung der Absichtserklärungen der KPCh. „Kritisch“ hinterfragt Bergmann die Darstellungen seiner chinesischen „Informanten“ nur selten.

Unterschiede zwischen der chinesischen „Reform und Öffnung“ und der sowjetischen NÖP sind offensichtlich. Lenin sprach 1921 vom „Staatskapitalismus“ als Fortschritt für das rückständige Russland.5 Die KPCh nennt das gegenwärtige System „Sozialismus mit chinesischer Besonderheit“ bzw. „sozialistische Marktwirtschaft“. 2013 hat die Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPCh sogar die Position, dass China staatskapitalistisch sei, als schädliche und zu bekämpfende Auffassung definiert.6 Russland führte 1921 die NÖP auf Grund des Scheiterns des „Kriegskommunismus“ (1919-1920), des Aufstandes in Kronstadt und des Abflauens der revolutionären Welle in Westeuropa ein. Es gab in Russland aber durchaus eine revolutionäre Arbeiterklasse und Jugend, die eine radikale Umwälzung der Gesellschaft anstrebte. Die Kommunistische Internationale sollte noch zu einer weltweiten Bewegung mit Millionen von Mitgliedern werden. Im Fall von China sind nach 1978 sowohl im Land als auch weltweit sozialrevolutionäre Kräfte marginalisiert. Außerdem hat die wissenschaftliche Forschung gezeigt, dass die sowjetische NÖP weit weniger erfolgreich war als es sich die Reformkommunisten der 1980er vorstellten. 1921 wurde Russland von einer schweren Dürre getroffen. Darauf folgte eine ländliche Hungersnot mit Millionen Toten. Die Strategie, die Sowjetunion durch ausländisches Kapital zu entwickeln, zeigte wenig Resultate und war spätestens seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 unrealistisch. Sicherlich erschien nach dem Desaster der Kollektivierung (1928-1931) unter Stalins Führung und der darauffolgenden Hungersnot im Nachhinein die Fortführung der NÖP als Alternative oder zumindest als kleineres Übel.7 Das ist aber kein Grund, die sowjetische NÖP noch im 21. Jahrhundert als tragfähiges Modell für den Sozialismus zu preisen.

Hauptwiderspruch zwischen chinesischer Nation und Imperialismus

Der italienische Philosophieprofessor und Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, Domenico Losurdo, feiert den Aufstieg Chinas als Überwindung der „kolumbianischen Epoche“, sprich einer von Weißen und westlichem Imperialismus dominierten Welt. Der KPCh sei es nach 1978 gelungen, einen Weg zu finden Unterentwicklung und Armut zu überwinden. Bei seiner Chinareise 2010 beeindruckte Losurdo die Fähigkeit der „chinesischen Genossen“ zur Selbstkritik. Ihnen seien die sozialen und ökologischen Probleme des Landes bewusst. Ein Grundgedanke von Losurdo ist, dass die Klassenfrage Chinas seit dem 20. Jahrhundert in erster Linie eine nationale Frage des Überlebens der chinesischen Nation in einer imperialistischen Umwelt sei. Die chinesische Führung versuche den Drahtseilakt, sich zwecks Technologietransfers in den Weltmarkt zu integrieren, ohne dabei in Abhängigkeit zu den westlichen Mächten zu geraten. Den heutigen Linken im Westen wirft Losurdo eine pro-imperialistische Haltung vor, weil sie einseitig die Kämpfe der chinesischen Arbeiter für höhere Löhne unterstützen („Ökonomismus“) oder sogar einen Regimewechsel befürworten würden.8 Mit dem Begriff des „Ökonomismus“ bezieht sich der Autor auf Lenin, der in „Was tun?“ (1902) argumentierte, dass der Kampf der Sozialdemokratie über gewerkschaftliche Forderung für höhere Löhne hinausgehen müsse. Losurdo interpretiert die Kritik am „Ökonomismus“ in die Richtung, dass die chinesischen Arbeiter ihre Bedürfnisse denen der Exportnation unterordnen sollten: „Die (berechtigten) direkten Lohnforderungen dürfen das strategische Ziel nicht gefährden, ein Land zu stärken, das mit seiner schieren ökonomischen Entwicklung den Plänen des Imperialismus — oder des ‚Hegemonismus‘, wie unsere chinesischen Gesprächspartner diplomatischer zu sagen pflegen — im Wege steht.“9

Der KPCh gelinge es nicht nur gegenüber den Arbeitern, die langfristigen nationalen Interessen durchzusetzen, sondern auch gegenüber den Privatunternehmern. Losurdo schreibt: „Dem aufmerksamen Beobachter kann eigentlich nicht entgehen, dass die Privatunternehmen, angesichts ihrer subalternen ökonomischen, politischen und sozialen Position, stimuliert, gedrängt und gezwungen sind, mehr als der Logik des Maximalprofits einer anderen und höheren Logik zu gehorchen: der des immer breiteren und tiefergehenden wirtschaftlichen Fortschritts sowie der Stärkung der nationalen Technologie. Letztlich erweisen sich die Privatunternehmen, durch eine Reihe von Vermittlungen, als dem ‚Marktsozialismus‘ unterworfen oder untergeordnet. Und daher sind die moralisierenden Predigten, die eine gewisse West-Linke nicht müde wird an die chinesische KP zu richten, teils überflüssig, teils unbegründet und haltlos.“10 Kritik an dem chinesischen Weg sei zwar erlaubt, die Linke sollte sich jedoch darauf einigen, dass China sich nicht auf dem kapitalistischen Weg befinde und eine fortschrittliche Kraft bei der Überwindung der imperialistischen Weltordnung darstelle.

Meiner Meinung nach gehört die VR zu den größten Gewinnern der „amerikanischen Weltordnung“ seit 1991 und der neuen globalen Arbeitsteilung mit der Auslagerung von Teilen der Industrieproduktion in den globalen Süden, da diese Entwicklungen China den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichten. Die KPCh tritt heute als Verteidiger des „Freihandels“ und der Spielregeln des globalen Kapitalismus auf. In Afrika ist China massiv am sogenannten „Land Grabbing“ beteiligt und vor allem an der Rohstoffsicherung interessiert. Richtig ist, dass sich die VR militärisch bisher zurückgehalten hat, Ansatzpunkte für eine alternative Weltordnung sind in ihrer Außenpolitik meiner Meinung nach nicht vorhanden.

Losurdo kommt interessanterweise nicht aus einer bucharinistischen Strömung. 2012 erschien auf Deutsch seine Verteidigungsschrift Stalins.11 In diesem Buch sieht Losurdo die Errungenschaften der Sowjetunion vor allem in der nationalen Frage. Die Oktoberrevolution habe eine Kolonialisierung des Landes durch den Westen verhindert. Viel Schaden habe allerdings der „Voluntarismus“ und „Anarchomessianismus“ der frühen 1920er angerichtet. Damals hätten viele Bolschewiki geglaubt, sie könnten die bürgerliche Familie, Nationalitäten und den Staat in naher Zukunft zum „Absterben“ bringen sowie die Weltrevolution militärisch exportieren. Der späte Stalin habe dann, so Losurdo, wichtige Lehren gezogen und mit „abstraktem Universalismus“, „Kosmopolitismus“ sowie „absoluter Gleichmacherei“ im Verteilungssystem Schluss gemacht. Als realpolitischer Staatsmann habe Stalin den Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Aufbau Russlands verschoben.12 Losurdo bringt es fertig, sowohl Stalin als auch die Führung der KPCh der Reform-Ära als nationalkommunistische „Realpolitiker“ im Kampf gegen die Unterwerfung ihrer Nationen durch den Imperialismus zu feiern. Als roter Faden zieht sich durch seine Bücher zu China und Russland, dass Klassenkampf und soziale Transformation der Gesellschaft der nationalen Frage untergeordnet werden müssen. Eine korporatistische Einbindung von Arbeit und Kapital in den Staat „im nationalen Interesse“, die er in der heutigen VR China sieht, erinnert im besten Fall an die zweite österreichische Republik nach 1945 und im schlimmsten Fall an den italienischen Faschismus. Richtig ist, dass sich die Gründerväter der UdSSR und VR die Einführung des Kommunismus zu einfach vorstellten. Man sollte deswegen aber nicht generell alle Versuche, Geschlechter- und Familienverhältnisse, ethnische Zuschreibungen und nationale Grenzen zu überwinden, als „Anarchomessianismus“ verwerfen.

Kapitalistische Basis, sozialistischer Überbau?

Helmut Peters, ehemaliger Sinologieprofessor und Diplomat in der DDR, ist weniger euphorisch bezogen auf die gegenwärtige Entwicklung der Volksrepublik als Bergmann und Losurdo. Er betitelt sein Buch von 2009 dennoch: „Die Volksrepublik China: Aus dem Mittelalter zum Sozialismus: Auf der Suche nach der Furt“.13 Peters analysiert chinesische Originalquellen und gibt nicht einfach die Positionen der Regierung wieder. Mit Bergman teilt er, den Sieg der chinesischen Revolution von 1949 als großen Fortschritt zu sehen, die Mao-Ära jedoch als „voluntaristischen“ Irrweg. Peters sieht die Entwicklung der Reform-Ära ab Anfang den 1990ern kritisch. Die Führung habe damals die Schlussfolgerung gezogen, um die Produktivkräfte schneller zu entwickeln, einen Markt nach kapitalistischem Muster zuzulassen. Wie Lenin 1921 habe Deng 1992 geglaubt, das Land könne Arbeitsproduktivität und technisches Niveau nur durch ein Lernen vom entwickelten Kapitalismus erhöhen. Um die Marktmechanismen zu regulieren, habe Deng zwei notwendige Voraussetzungen gesehen: Den Erhalt des Machtmonopols der Partei sowie der führenden Rolle des Staats- über den Privatsektor. Die Freisetzung der Marktlogik sei bezogen auf die Entwicklung der Produktivkräfte sehr erfolgreich gewesen, es drohe jedoch der Verlust einer sozialistischen Perspektive, so Peters. Man könne zwar die Triebkräfte des Marktes staatlich regulieren und nutzen, allerdings nicht ihren grundlegenden Charakter verändern. Sprich die Marktwirtschaft in China sei nicht „sozialistisch“ wie es die KPCh behauptet. Peters nennt dazu drei Gründe: „Erstens. Die KP Chinas setzt auf die Triebkräfte der kapitalistischen Wirtschaftsweise; diese sind jedoch organisch mit dem Prozess der Realisierung des Kapitals verbunden. Zweitens. Kapital agiert im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft; die Nutzung von Kapital in den Größenordnungen der Politik der KP Chinas setzt deshalb die Anpassungsfähigkeit der Marktwirtschaft in China an die moderne internationale Marktwirtschaft des Kapitals voraus. Drittens. China betreibt in zunehmendem Maße Kapitalexport und beteiligt sich am internationalen Finanzinvestment, um seinen Bedarf an natürlichen Ressourcen und moderner Technik abzudecken und vom internationalen Kapitalverkehr zu profitieren. Das erfordert von China, sich in den Regeln der kapitalistischen Weltwirtschaft zu bewegen.“14

An der Politik der KPCh seit den frühen 1990ern kritisiert Peters: „Deng erkannte nicht, dass die Nutzung der Triebkräfte des neuen Wirtschaftssystems die Anpassung auch des staatlichen Eigentums an die Gesetze und Regeln der Marktwirtschaft (z. B. die freie Verfügung des selbstständigen und unabhängigen Marktsubjekts über das Eigentum, die Existenz des doppelt freien Lohnarbeiters, das Streben nach Maximalprofit) bedingt. Er unterschätzte auch den Einfluss dieser Marktwirtschaft auf die Gesellschaft und die noch ungefestigte sozialistische Perspektive Chinas.“15 Eine ähnliche Kritik trägt Peters auch an den Plänen zur Wirtschaftsreform der Regierung unter Xi Jinping von Ende 2013 vor, dass die Parteiführung die Gefahren, die von Marktwirtschaft und ausländischem Kapital ausgehen, unterschätzen würde. Eine vollständige Durchsetzung der kapitalistischen Kräfte und eine Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft chinesischen Typs seien heute möglich.16

Peters knüpft an einen chinesischen Wissenschaftler an und spricht von einer „kapitalistischen Basis“ und einem „sozialistischen Überbau“ in der VR. Es entsteht der Eindruck, dass Peters glaubt, die Regierung könne China wieder stärker in Richtung Sozialismus führen, wenn sie nur wolle. Dem Autor ist durchaus die Transformation der Klassenverhältnisse in China bewusst. Warum die KPCh selbst von diesem Wandel unberührt bleiben soll, ist mir ein Rätsel. Die mit dem Staat eng verbundenen „roten Kapitalisten“ haben riesige Vermögen und Eigentum angehäuft. Sie dürften wenig Interesse daran haben, es wieder zu verlieren. Das Vermögen der Familie des ehemaligen Premierministers Wen Jiabao wird zum Beispiel auf ca. 4,3 Milliarden US-Dollar geschätzt.17

Fraglich ist auch, ob die Führung um Deng die Notwendigkeit der Schaffung einer Klasse von „freien Lohnarbeitern“ wirklich nicht erkannt hatte. Seit den 1980ern wurde in den offiziellen Medien immer wieder von der Notwendigkeit der „Zerschlagung der eisernen Reisschüssel“ gesprochen, sprich die Abschaffung der lebenslangen Anstellung und Versorgung der Arbeiter in den Staatsbetrieben. Das bedeutete wohl nichts anderes, als die Arbeitskraft wieder zu kommodifizieren und einen Arbeitsmarkt zu schaffen. Bezogen auf das Kapital mag Deng naiver gewesen sein. 1985 verkündete er, dass durch die Reformpolitik auf keinen Fall eine neue Kapitalistenklasse entstehen solle.18

Alternative zum Liberalismus: Die nichtkapitalistische Marktwirtschaft

Eine Gruppe von Autoren gesteht ein, dass Chinas Entwicklung mit klassischen Vorstellungen von Sozialismus nichts mehr zu tun habe. Sie hoffen aber, dass die VR eine Alternative zum Neoliberalismus und zur US-dominierten Welt darstelle könne. Seit den 1980ern wurde in weiten Teilen der Welt der sogenannte „Washington-Konsens“ etabliert, der Freihandel, Deregulierung der Wirtschaft und Finanzmärkte sowie die Privatisierung von staatlichen Leistungen beinhaltet. Der „Beijing-Konsens“ setze hingegen auf eine staatliche Regulierung von Märkten im Interesse der Allgemeinheit, Zähmung von kapitalistischen Einzelinteressen, gemischte Eigentumsformen sowie eine friedliche Außenpolitik.19 Mittlerweile haben Länder des globalen Südens bei der Aufnahme von Krediten Alternativen zum IWF (Internationalen Währungsfonds), der von den USA dominiert wird.

Der verstorbene Weltsystemtheoretiker Giovanni Arrighi, Professor an der John-Hopkins-Universität, knüpft an die Debatte um „ReOrient“ an.20 Der Begriff bedeutet, dass China bis in das 18. Jahrhundert das Zentrum der Welt war und diese Position erst im 19. Jahrhundert durch die industrielle Revolution und das Eindringen des westlichen Kolonialismus und Japans verlor. Der gegenwärtige Aufstieg Chinas sei daher nicht Neues, sondern ein Wiederaufstieg. Arrighi glaubt, dass die späte Qing-Dynastie auf ihrem Höhepunkt im 18. Jahrhundert schon ein Gegenmodell zum westlichen Liberalismus darstellte. Das Tributsystem unter chinesischer Hegemonie hätte einen 500-jährigen Frieden (12. bis 18. Jahrhundert) in Asien geschaffen. Im Vergleich dazu sei die US-Hegemonie über Asien seit 1945 fragil und habe in Korea und Vietnam zwei blutige Kriege mit verursacht. Während Bergmann die friedliche und defensive Außenpolitik der VR auf deren sozialistischen Charakter zurückführt, sieht Arrighi schon in der Qing-Dynastie ein nicht-imperialistisches Reich, dass zwar symbolischen Tribut von Vasallenstaaten einforderte, jedoch diese nicht wirtschaftlich ausgebeutet hätte.21

Arrighi baut zumindest auf der Forschung der letzten Jahrzehnte auf, die den Abstieg Chinas nicht auf das 15. Jahrhundert, sondern das 19. Jahrhundert datieren. Mit der Auswahl von Beamten durch Prüfungen, einer hoch kommerzialisierten Landwirtschaft im Yangzi-Delta, einem komplexen System der Hungerhilfe durch Getreidespeicher sowie sozialstaatlichen Elementen war China lange „moderner“ als der Westen. Dass China 1949 eines der ärmsten Länder der Welt war, lag also keinesfalls an seiner generellen Rückständigkeit, sondern war Resultat vom Niedergang des Qing-Imperiums 1911 und Jahrzehnten von Krieg, Besatzung und Bürgerkriegen. Obwohl Arrighi aus einer anderen Theorieschule als die KPCh-Führung kommt, gibt es erstaunliche Parallelen zum offiziellen Narrativ der chinesischen Regierung vom „friedlichen Wiederaufstieg“ Chinas.

Das Wirtschaftssystem der Qing habe laut Arrighi mit dem der Reformpolitik unter Deng nach 1978 gemein, dass es eine „nichtkapitalistische Marktwirtschaft“ sei. Der Staat würde verhindern, dass Privatpersonen zu großen Reichtum anhäufen bzw. eine Klasse von Kapitalisten Einfluss auf die Regierung bekommen würden. Arrighi argumentiert: „Man kann einer Marktwirtschaft beliebig viele Kapitalisten hinzufügen, solange der Staat ihren Klasseninteressen nicht unterstellt ist, bleibt die Marktwirtschaft nichtkapitalistisch.“22 Damit knüpft Arrighi an eine These von Fernand Braudel an, der einen ähnlichen Zustand für die Geschäftswelt im Europa des 16. Jahrhunderts ausgemacht habe. Warum leitet Arrighi den Charakter einer Gesellschaft nicht aus den Produktionsverhältnissen ab, sondern daraus, ob eine bestimmte Klasse sich den Staat unterstellt hat?

Die in China traditionelle Verbindung von Landwirtschaft und handwerklichem Kleingewerbe würde sich auch in der Entwicklungsstrategie der 1980er wiederfinden. Arrighi behauptete außerdem noch im Jahr 2007, dass in China auf dem Land eine dezentralisierte Akkumulation ohne Enteignung des Bodens der Bauern stattfinden würde.23 Das scheint nicht der Realität zu entsprechen. Laut offiziellen Statistiken verloren bis 2005 40 Millionen Bauern ihr Land. Jährlich kommen mehrere Millionen hinzu. Laut einer Schätzung von Sally Sargeson haben bis 2008 allein 88 Millionen Bauern durch Enteignung ihr Land verloren.24 Arrighis Thesen sind innovativ, aber teilweise unhaltbar, wenn man die soziale Umwälzung in China betrachtet.

 

Die VR China: Eine (staats)kapitalistische Gesellschaft

Im letzten Teil dieses Aufsatzes werde ich meine eigenen Auffassungen darlegen, ob China „kapitalistisch“ ist.

Offensichtlich gibt es Elemente im chinesischen Modell, die nicht zum westlichen Neoliberalismus passen wie die starke Rolle des Staates in Industrie und Finanzwesen. Der Staat finanziert seine Investitionen unter anderem durch gewinnbringende Monopole. Die VR hat sich außerdem bisher relativ gut von internationaler Währungsspekulation abgeschirmt, indem der Wechselkurs der Währung Renminbi zum Dollar weiterhin vom Staat festgelegt wird. Es gibt Beschränkungen, Geld aus China ins Ausland zu transferieren. Weiterhin existieren Fünfjahrespläne, die makroökonomische Entwicklung strategisch planen und technische Innovation nicht nur „sich selbst regulierenden Märkten“ und Unternehmergeist überlassen. Die Zentralregierung hat keinerlei Skrupel, große Ressourcen in „Zukunftstechnologien“ wie Gentechnik, künstliche Intelligenz oder Digitalisierung zur Überwachung der Bürger zu investieren. Wie das Beispiel der Solartechnik zeigt, werden Produkte notfalls staatlich subventioniert, um Konkurrenten auf dem Weltmarkt in den Bankrott zu treiben. Außerdem gibt es in der VR kein Privateigentum an Grund und Boden. In der Stadt ist der Boden Staatseigentum und auf dem Land Kollektiveigentum, das heißt, der Boden wird von den Dorfregierungen verwaltet und den Bauernfamilien zur Nutzung übergeben.
Sozialistisch ist die chinesische Gesellschaft deshalb allerdings nicht.

Definition von Kapitalismus und „ursprünglicher Akkumulation“

Teil des Problems der linken Debatten um den Charakter der VR scheinen mir die unklaren Definitionen von Kapitalismus zu sein. Man kann gerne „über Marx hinausgehen“, sollte aber erst mal mit dessen Definitionen anfangen. Meiner Meinung dreht sich die Debatte um China viel zu sehr um die Frage des Marktes. Der Zweck der Produktion im Kapitalismus ist die Generierung von Mehrwert für das Kapital durch die Ausbeutung von Lohnarbeit. In „Das Kapital“ nennt Marx viele Beispiele dafür, dass es Märkte fast in jeder Gesellschaft gab wie im alten Rom, das deshalb noch lange nicht kapitalistisch war. Mehrfach betont Marx in allen drei Bänden von „Das Kapital“, dass die „Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln“ die entscheidende Voraussetzung für die Herausbildung einer kapitalistischen Gesellschaft sei. Für Marx hat der Kapitalismus die Tendenz zu Kommodifizerung der Arbeit, sprich dass Lohnarbeit die dominante Form der Beschäftigung wird. Marx sprach von einem „doppelt freien Lohnarbeiter“, der einerseits kein Eigentum an Produktionsmitteln besitzt, anderseits seine Arbeitskraft aber nicht an einen bestimmten Herrn oder Herrin verkaufen muss. Er oder sie ist zwar den ökonomischen Zwängen des Marktes ausgesetzt, aber nicht einer persönlichen Herrschaft unterworfen wie ein Sklave oder Leibeigener.

Klassenverhältnisse werden auch in der Produktion selbst reproduziert. Marx schrieb: „Der kapitalistische Produktionsprozess, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozess, er produziert nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen den Lohnarbeiter.“25 Eine Fabrik produziert daher nicht nur ein Auto als Ware und macht damit Gewinn, wenn es Käufer auf dem Markt gibt, sondern auch ein Klassenverhältnis, indem der Lohnarbeiter arbeitet und der Kapitalist sich den Mehrwert aneignet. Von daher ist es abwegig „kapitalistische Mechanismen“ als rein technische und neutrale Elemente zur „Entwicklung der Produktivkräfte“ zu sehen und zu glauben, man könne gleichzeitig verhindern, dass die dazu gehörigen Klassenverhältnisse nicht reproduziert werden würden. Diese Illusion hatten einige Parteiführer im China der 1980er.

Sicher hatte Marx in der Regel bei seinen Ausführungen Privatkapitalisten vor Augen. Im 3. Band von „Das Kapital“ zeigte er jedoch, dass in Form des modernen Bankenwesens gesellschaftliches Geld konzentriert wird und Kapitalisten Kredite aufnehmen, um zu investieren. Aktiengesellschaften stellen für Marx eine Form der Vergesellschaftung der Produktion da, wenn auch nicht der Aneignung, die weiterhin privat bleibt.26 Durch die Aktiengesellschaft würden Eigentum und Leitung des Betriebs generell getrennt werden. In Folge hätten die Kapitalisten überhaupt keine gesellschaftlich notwendige Funktion mehr inne.

Vereinfacht könnte man sagen, dass die juristische Form des Eigentums keine entscheidende Rolle spielt, um die Frage nach dem kapitalistischen Charakter der Produktion zu beantworten. Produktionsverhältnisse sind dann kapitalistisch, wenn Lohnarbeit von Kapital eingesetzt wird, um Mehrwert zu generieren und diese Form der Arbeit die Gesellschaft dominiert. Engels machte sich Gedanken zum modernen Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“. Seine Ausführungen passen meiner Meinung nach auch zum heutigen Staatskapitalismus in China: „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften und Trusts noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften und Trusts liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“27 Die Lösung sah Engels in einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel. In China ist interessanterweise der Staatskapitalismus aus der Umwandlung der Arbeitseinheiten der Mao-Ära hervorgegangen, in denen es zumindest in den Kernbelegschaften keine „freie“ Lohnarbeit gab.

An anderer Stelle habe ich ausführlicher ausgeführt, dass die Entwicklung in China seit 1978 als „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ verstanden werden kann. Marx schrieb zum englischen Fallbeispiel im letzten Kapitel des 1. Bands von „Das Kapital“: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form.“28. Marx betonte in diesem Prozess die zentrale Rolle des Staates. Er schrieb über England, Spanien, Holland, Portugal und Frankreich: „Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.”29 Ironischerweise geht der Prozess der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in China in einem noch schnelleren Tempo vonstatten, da der Staat über Grund und Boden verfügen kann. Er ist in der Lage, Millionen Menschen für Industrieprojekte, Sonderwirtschaftszonen oder Stadtentwicklung einfach umzusiedeln. Kommerzialisierung der Bodenrechte und Landwirtschaft werden durch die Zentralregierung „treibhausmäßig“ gefördert, ohne Grund und Boden zu privatisieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der chinesische Kapitalismus von europäischen Entwicklungswegen.

Atemberaubend ist das Tempo der Reduzierung des Anteils der Landbevölkerung. In der Ära vor 1978 unterband die Regierung durch das hukou-System zumindest zwischen 1962 und Ende der 1970er Jahre effektiv Landflucht und Urbanisierung. Diese Haushaltregistrierung (hukou) unterteilte die Bevölkerung in „Agrar-“ und „Nicht-Agrar-Haushalte“. Das Verhältnis von Stadt- zu Landbevölkerung blieb mit 20 zu 80 Prozent relativ konstant. Ohne Erlaubnis der Behörden konnten Bauern weder die Dörfer verlassen noch in die Städte übersiedeln. Gingen die Bauern ohne Erlaubnis in die Städte, hatten sie weder legalen Zugang zu Lebensmittelrationen noch zu Wohnraum. Die Auflösung der Volkskommune Anfang der 1980er stellte die Mobilität der ländlichen Arbeitskräfte her. Allein zwischen 2002 und 2015 sank der Anteil der Landbevölkerung an der Gesamtbevölkerung von 62 Prozent auf 43 Prozent. Insgesamt reduzierte sich der Prozentsatz von Arbeitskräften in der Landwirtschaft von 70 Prozent 1978 auf 28 Prozent 2015. 30 Dieser Prozess ist nicht nur Resultat der Pull-Faktoren des städtischen Arbeitsmarkts, sondern auch des gezielten Urbanisierungsprogramms der Regierung.

Man kann die zentralen Aspekte der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ in China seit 1978 zusammenfassen als die Auflösung und Proletarisierung der alten Staatsarbeiterklasse sowie die Herausbildung einer neuen Klasse der „Bauern-Arbeiter“, bei deren zweiten Generation seit den 2000ern der Bezug zur Landwirtschaft deutlich abgenommen hat. „Bauern-Arbeiter“ bedeutet, einen ländlichen hukou zu haben, aber hauptsächlich in der Stadt zu arbeiten. Offiziell waren 2014 379 Millionen Menschen als „Bauern“ registriert, von denen ein großer Teil entweder überhaupt nicht oder nur teilweise in der Landwirtschaft involviert war. 253 Millionen Menschen der sogenannten „fließenden Bevölkerung“ arbeiteten im selben Jahr über sechs Monate abseits des Ortes ihrer hukou-Registrierung. Davon ist die große Mehrheit ländlicher Herkunft. In der Generation von Menschen mit ländlichen hukou im Alter zwischen 16 und 35 Jahren sollen nach einer Statistik von 2012 87 Prozent Vollzeit außerhalb der Landwirtschaft arbeiten.31 Diese Zahlen erscheinen ausreichend, um eine Tendenz der Durchsetzung der Lohnarbeit bei der zweiten Generation der „Bauern-Arbeiter“ als zentrale Verdienstquelle zu zeigen.

Abermillionen Bauern werden jedes Jahr landlos. Es entstehen kapitalistische Großbetriebe als Pächter und eine Klasse der Lohnarbeiter auf dem Land. Seit 2008 ist es möglich, dass agroindustrielle Großunternehmen das Nutzungsrecht von Tausenden Bauern für 20 oder sogar mehr Jahre pachten. Besonders in der Produktion von Fleisch, Meeresfürchten und Obst für die urbanen Konsumenten steigt der Anteil der Lohnarbeit deutlich. Durch die von der Regierung forcierte Kommerzialisierung der Landwirtschaft nimmt die Bedeutung der bäuerlichen Selbstversorgung ab. Sally Sargeson hat sogar argumentiert, dass in China Subsistenzbauern (peasants) als Klasse in Zukunft dem Untergang geweiht seien.32

Mein Verständnis der „ursprünglichen Akkumulation“ in China soll nicht heißen, dass Kleinbauern oder Lohnarbeit in den Städten in Kombination mit Subsistenzwirtschaft auf den Dörfern in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten komplett verschwinden werden. Die KPCh war seit Gründung des Staates 1949 mehrfach gezwungen, gegenüber den Bauern Zugeständnisse zu machen.33 Allerdings sind die Bauern mittlerweile nicht mehr die Mehrheit, sondern eine Minderheit der Bevölkerung. Durch die Schwächung ihrer Subsistenzwirtschaft und dörflichen Gemeinschaften haben sie an Möglichkeiten eingebüßt, sich Plänen des Staates und Zwängen des Marktes zu entziehen.

 

Offene Fragen

Wie schon mehrfach betont, hat der chinesische Kapitalismus auch seine Besonderheiten, da er aus der Revolution von 1949 und dem Scheitern eines klassischen staatssozialistischen Modells hervorgegangen ist. In China vollziehen sich die klassischen Paradigmen der westlichen Modernisierungstheorien (Urbanisierung, Kommerzialisierung, Differenzierung, von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, vom peasant zum farmer usw.), trotz der Abwesenheit von Privateigentum an Grund und Boden unter Führung eines Staates, der auch in strategisch wichtigen Branchen der Wirtschaft die „Kommandohöhen“ kontrolliert. Im Fall von China ist noch zu beantworten, ob man von verschiedenen Sektoren wie „privatkapitalistisch“ und „staatskapitalistisch“ sprechen sollte oder das ganze System als „Staatskapitalismus“ bezeichnet. China unterscheidet sich heute grundlegend von der sowjetischen Staatswirtschaft der 1970er, wo es weder Privatkapitalisten noch „freie Lohnarbeiter“ gab. Der Begriff „Staatskapitalismus“ trifft meiner Meinung nach für die Sowjetunion deshalb nicht zu.

Um den Charakter der VR genauer zu verstehen, ist sowohl eine Debatte um die marxschen Kategorien von Kapitalismus als auch eine Untersuchung der konkreten sozialen Prozesse in China nötig. Viele Forscher haben bisher entweder zu den Arbeitskonflikten in den Städten oder zur Umwälzung auf dem Land geforscht. Es gibt bisher nur wenige Versuche, die Klassenverhältnisse der Gesellschaft als Ganzes zu analysieren.

Jörg Goldberg argumentiert, dass im globalen Süden gegenwärtig Formen des Kapitalismus entstehen würden, in denen es keine Bourgeoisie im marxschen Sinne gebe. Nach Marx bedeute das eine Klasse, die nicht nur die Produktionsmittel besitzt und Lohnarbeiter beschäftigt, sondern auch auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene durch Bündnisse politische Hegemonie herstellen könne.34 Damit stellt sich auch die Frage, ob Kapitalismus und bürgerliche Gesellschaft identische Begriffe sein müssen. Eine Zivilgesellschaft (politische Partizipation der Bürger), gesichertes Privateigentum oder der Rechtsstaat in Form von Gewaltenteilung sind in der VR bisher nur in Ansätzen vorhanden. Es ist vielleicht an der Zeit, die Idee aufzugeben, dass Kapitalismus und liberale Demokratie zusammengehören. Auch die Entwicklungen in Russland, Osteuropa und der Türkei zeigen, dass der autoritäre Kapitalismus als Modell für die Zukunft auf dem Vormarsch ist.

Dennoch gibt die Entwicklung in China auch Anlass zu Hoffnung, da es Kämpfe und Widerstand gibt, besonders durch die junge Arbeiterklasse, die über 200 Millionen Menschen umfasst. Dass sich auch die KPCH immer wieder zu Mao positionieren muss, zeigt, dass weder das Erbe der Revolution von 1949 noch das der kulturrevolutionären Rebellion von 1966/67 tot ist. Das gilt für die emanzipatorischen Elemente dieses Erbes genau sowie wie für die reaktionären. In diesem Sinne erscheint die Zukunft Chinas offen.

 

Literatur

Arrighi, Giovanni: Adam Smith in Beijing: Die Genealogie des 21. Jahrhunderts; Hamburg: VSA-Verlag 2008

Bergmann, Theodor, Menzel, Ulrich und Menzel-Fischer Ursula (Hrsg.): Liu Shaoqi. Ausgewählte Schriften und Materialien. Band 2; Stuttgart: Edition Cordeliers 1982

Bergmann, Theodor: Der chinesische Weg. Versuch, eine ferne Entwicklung zu verstehen; Hamburg: VSA-Verlag 2017

Deng Xiaoping Wenxian, di san quan [Ausgewählte Werke von Deng Xiaoping, Band 3]; Beijing: Renmin chubanshe 1993

Dillmann, Renate: China. Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht; Hamburg: VSA-Verlag 2009

Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; Berlin: Dietz Verlag 1988

Frank, Andre G.: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter; Wien: Promedia 2016

Goldberg, Jörg: Die Emanzipation des Südens: Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt; Köln: Papyrossa 2015

Goldberg, Jörg: „Die Bourgeoisie und der Kapitalismus in den Ländern des Südens“, in Felix Wemheuer (Hrsg.): Marx und der globale Süden; Köln: Papyrossa 2016, S. 170-201

Harvey, David: Kleine Geschichte des Neoliberalismus; Zürich: Rotpunktverlag 2007

Li, Minqi: „The Rise of the Working Class and the Future of the Chinese Revolution“, Monthly Review, Vol. 63, No. 2, 2011, https://monthlyreview.org/2011/06/01/the-rise-of-the-working-class-and-the-future-of-the-chinese-revolution/, aufgerufen am 13.2.2018

Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band; Berlin: Dietz Verlag 1961

Marx, Karl: Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation; Berlin: Dietz 1986

Losurdo, Domenico: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende; Köln: Papyrossa Verlag 2012

Losurdo, Domenico: Eine aufschlussreiche Reise nach China. Bemerkungen eines Philosophen„, Marxistische Blätter, 11.11 2010
https://linksnet.de/artikel/26101, aufgerufen 13.2.2018

Losurdo, Domenico: „China und das Ende der ‚kolumbianischen Epoche‘“, Marxistische Blätter, Nr. 3 2017a, S. 52-62

Losurdo, Domenico: Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg; Köln: Papyrossa Verlag 2017b

Peters, Helmut: Die Volksrepublik China: Aus dem Mittelalter zum Sozialismus. Auf der Suche nach der Furt; Essen: Neue-Impulse-Verlag 2009

Peters, Helmut: „Das Kapital und die ‚sozialistische Marktwirtschaft‘ in der Volksrepublik China“, in: Marlies Linke, Thomas Sablowski, Klaus Steinitz (Hrsg.): China: Gesellschaftliche Entwicklung und globale Auswirkungen, Manuskripte Neue Folge, Rosa Luxemburg-Stiftung, Berlin 2015

Peters, Helmut: „China: Wohin tendiert die ‚allseitig vertiefte Reform‘?
Pluralisierung gesellschaftlicher Kräfte und Vormarsch des Privatkapitals“, Marxistische Linke, 2014, http://www.kommunisten.de/news/analysen/5202-wohin-geht-china-zu-einem-modernen-kapitalismus-oder-zum-sozialismus, aufgerufen 14.2.2018

Sargeson, Sally „The Demise of China’s Peasantry as a Class”, The Asia-Pacific Journal, No 14, 2016, http://apjjf.org/-Sally-Sargeson/4918/article.pdf, aufgerufen 3.9.2017

Walker, Kathy Le Mons, „From Covert to Overt: Everyday Peasant Politics in China and the Implications for Transnational Agrarian Movements“, Journal for Agrarian Change, Vol. 8, No. 2 and 3 (2008), S.462-488

Wemheuer, Felix: Der Große Hunger: Hungersnöte unter Stalin und Mao; Berlin: Rotbuch Verlag 2012

Wemheuer, Felix: „Die Waffen der Schwachen: Alltäglicher Widerstand der chinesischen Bauern in der Ära der kollektiven Landwirtschaft (1953–1982)“, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2007), S. 11–31

1 Siehe zum Beispiel die Schwerpunkt-Nummern der Zeitschrift „Das Argument“ Nr. 268 (2006) und Nr. 296 (2012) sowie kritische Anmerkungen zur linken China-Debatte siehe Dillmann, 2009, S.370-378.

2 Der Spiegel, 46/2017.

3 Deutsche Übersetzung: Harvey, 2007.

4 Bergmann/Menzel/Menzel-Fischer (Hrsg.), 1982, S. 312-316.

5 LW, Band 32, S. 345-346.

6 “Document 9: A ChinaFile Translation”, 8.11.2013, http://www.chinafile.com/document-9-chinafile-translation, aufgerufen 13.2.2018.

7 Zu den Hungersnöten von 1921 und 1931-1933 siehe: Wemheuer, 2012, S.46-94.

8 Losurdo, 2017a, S. 52-35, S.60-61.

9 Losurdo, 2010.

10 Losurdo, 2010. Auch Losurdos Buch, indem er den Mainstream der westlichen Linken attackiert, hat Kapitel zu China, 2017b, S.266-288; S.304-314.

11 Kritische Besprechung siehe: Felix Wemheuer, Familienmensch Stalin, Jungle World, 24.1.2013 https://jungle.world/artikel/2013/04/familienmensch-stalin (aufgerufen 13.2.2018).

12 Losurdo, 2012, S.137

13 Peters, 2009.

14 Peters, 2015, S. 19-20.

15 Peters, 2015, S. 20.

16 Peters, 2014.

17 Li, 2011.

18 Deng, 1993, S.123.

19 Diese Positionen werden zum Beispiel vertreten von Goldberg, 2015, und Losurdo 2017b, S.304-314.

20 Deutsche Übersetzung: Frank, 2016.

21 Arrighi, 2008, S.391-298.

22 Arrighi, 2008, S.412.

23 Arrighi, 2008, S.451-453.

24 Walker, 2008, S.472; Sargeson, 2016.

25 MEW, Band 23, S.604.

26 Marx, 1961, S.655.

27 Engels, 1988, S.88.

28 Marx, 1986, S.8-9.

29 Marx, 1986, S. 52.

30 http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2016/indexeh.htm , aufgerufen, 3.September 2017.

31 Sargeson, 2016.

32 Sargeson, 2016.

33 Siehe: Wemheuer, 2007, S. 11–31.

34 Goldberg, 2016, S. 181.