Hundert Jahre russische Februarrevolution

Alfred Schröder

Der Stand der bürgerlichen und marxistischen Publizistik

Die Anzahl der Publikationen zum 100. Jahrestag der russischen Revolutionen des Jahres 1917 ist bis dato bescheiden geblieben. Zwar ist es noch etwas hin bis zum Jahrestag der Oktoberrevolution, so dass es voreilig wäre, ein abschließendes Urteil zu Umfang und Inhalt der Veröffentlichungen zu treffen. Aber bereits jetzt ist unübersehbar, dass die bürgerliche Publizistik sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit der Geschichte ihrer Klasse beschäftigen wird, zu deren Formierung und ideologischer Legitimierung der Beginn der Reformation vor 500 Jahren einen mächtigen Anstoß gab. Die Feiern und Veröffentlichungen zum sog. Luther-Jahr und dem Beginn der Reformation werden, dazu bedarf es keiner hellseherischen Gaben, auch im Oktober und November dieses Jahres den 100. Jahrestag der Revolutionen der Arbeiter und Bauern von 1917 in allen Medien deutlich übertrumpfen.1 Dies entspricht sowohl dem Zustand der Arbeiterbewegung als auch der Relevanz des Marxismus in der BRD. Die Bourgeoisie ist an der Macht und feiert ihre Geschichte.

Wenn wir unsere Darstellung mit der bürgerlichen Publizistik zum 100. Jahrestages des Revolutionsjahres beginnen, müssen wir notgedrungen den selbst gesetzten Rahmen der Februarrevolution überschreiten, da diese nur im Zusammenhang mit den nachfolgenden Ereignissen behandelt wird. Sie schafft sozusagen die Voraussetzung, die Bühne, auf der nach bürgerlicher Darstellung ein „Fanatiker der Macht“ der Weltgeschichte eine neue Richtung gab.

Drei Publikationen der bürgerlichen Presse mit einer gewissen Breitenwirkung sind zu erwähnen. Zwei davon behandeln die Februarrevolution in Russland so gut wie gar nicht und reduzieren die Oktoberrevolution auf einen bolschewistischen Putsch. Auf Grund ihrer Breitenwirkung wollen wir sie trotzdem kurz vorstellen, insbesondere da sie ein Bild der heutigen Auseinandersetzung mit dem Marxismus und den russischen Revolutionen liefern.2

Bürgerliche Presse: SPIEGEL, GEO-EPOCHE, ZEITGeschichte

Der SPIEGEL brachte in seiner Reihe Geschichte ein Sonderheft zur Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert heraus. 3 Nur der erste Abschnitt dieser Sondernummer behandelt die Vorgeschichte der russischen Revolution, das Jahr 1917 und den Bürgerkrieg. Zusammen mit vielen abgedruckten Plakaten füllt das Thema knapp 20 Seiten, dementsprechend kurz sind die Ausführungen zum Revolutionsjahr 1917. Es ist ein Text mehr feuilletonistischer Art, ohne jeden Erkenntnisgewinn und voller Ungenauigkeiten. Hier zwei durchaus symptomatische Textbeispiele:

„Endlich stimmt das ZK dem bewaffneten Aufstand zu. Und Lenin legt das Datum fest.“(S. 22) Frei erfundene Dramatik. Im ZK-Beschluss gab es keinen Termin für den Aufstand und Lenin konnte ihn auch später nicht festlegen, da der Aufstand vom Militärrevolutionären Komitee des Sowjets und nicht von der bolschewistischen Partei geleitet wurde. Richtig ist, dass er auch nach dem Beschluss wiederholt auf seine zeitnahe Umsetzung insistieren musste bis hin zum Vorabend des Aufstandes, da es in der bolschewistischen Partei ernsthafte Widerstände gegen die Machtergreifung gab.

Oder ein anderes Beispiel: „Das Bodendekret … war vor allem ein politischer Trick, um die Bauern, die mehrheitlich mit den Sozialrevolutionären sympathisierten, auf die Seite der Bolschewiki zu ziehen.“ (Ebenda) In Wahrheit war es so, dass die Sozialrevolutionäre, die im Oktober/November 1917 bereits seit sechs Monaten in der Provisorischen Regierung saßen und dort fast durchgängig das Landwirtschaftsministerium besetzt hatten, die Sympathien der Bauernschaft verloren, weil sie den „Trick“ nicht kannten, den Bauern das Land zu geben.4 Wen dergleichen erhellende Geschichtsschreibung interessiert – das Heft ist noch erhältlich.

Die zweite Veröffentlichung mit Breitenwirkung ist eine Ausgabe von GEO EPOCHE5, sogar mit einer beiliegenden DVD erwerbbar, die den bezeichnenden Titel trägt „Lenin – Fanatiker der Macht“6 und bereits im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Dem DVD-Titel recht nahekommend ist auch die Darstellung der politischen Ereignisse im genannten Heft. Die Oktoberrevolution wird auf einen Putsch reduziert.7 Der Führer der bolschewistischen Partei wird, der Lenin-Biographie von Robert Service8 folgend (dessen Buch als Leseempfehlung vorgestellt wird), als rachsüchtiger Machtfanatiker dargestellt („Lenin wollte – ohne dies ausdrücklich zu sagen – ein paar alte Rechnungen begleichen. Er wollte Rache, und die noch lebenden Mitglieder seiner Familie – sowie andere Menschen in seiner Partei – wollten dasselbe“9). Dementsprechend wird Geschichte plakativ auf die großen Männer, die sie machen, verkürzt.10 Und von diesen war Lenin nicht nur der „Radikalste der Radikalen“, sondern auch der entschlossenste, machtbesessenste, rücksichtloseste und so weiter und so fort, gegenüber den unentschlossenen, zaudernden und zögernden Kontrahenten wie Miljukow (politischer Kopf der Kadetten) oder Kerenski (Trudowik, rechter Flügel der Sozialrevolutionäre). Bei solch einer Geschichtsschreibung dienen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die materiellen Interessen und ihre politischen Ausdrucksformen nur der Untermalung und Ausgestaltung der Geschehnisse, die von den Männern im Rampenlicht bestimmt werden.

Insgesamt ist die Ausgabe von GEO EPOCHE optisch anspruchsvoller und informativer als das SPIEGEL-Sonderheft, kostet aber auch stolze 17,50 Euro (mit DVD). Dafür erhält man neben einer Fülle historischer Fotos in den entscheidenden Kapiteln zum Revolutionsgeschehen einen literarisch aufbereiteten moralisierenden Antikommunismus, wie er besonders in den Abschnitten des Krimi-Literaten Cay Rademacher hervorsticht, der auch vor grober Geschichtsklitterung nicht zurückschreckt.11

Hier ein Beispiel von vielen, die zitierbar wären: „Es ist, wenn man so will, Lenins dritter Putsch: Nachdem er bereits die Provisorische Regierung besiegt und die Sowjets unter Kontrolle der Bolschewiki gebracht hat, beseitigt er nun alle Dissidenten in seiner eigenen Partei.“ (GEO EPOCHE, S. 102) Anlass zu obigem Zitat ist der Austritt Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger aus dem Zentralkomitee der Bolschewiki (November 1917), nachdem sie dort keine Mehrheit für eine Koalition mit den Menschewiken und Sozialrevolutionären nach dem Sieg der Oktoberrevolution erreichen konnten.12 Mit ihrem Austritt aus dem ZK wollten sie die Mehrheit des ZK unter Druck setzen, die Regierung um Vertreter aller Sowjetparteien sowie Vertreter der Petrograder Stadtduma zu erweitern.13 Dieser freiwillige Austritt zur politischen Erpressung der Partei verwandelt sich unter der Feder Rademachers in die Beseitigung aller Dissidenten aus der Partei und zum dritten Leninschen Putsch innerhalb weniger Tage.

Um die Worte Cay Rademachers zu nutzen: „wenn man so will“, kann man den freiwilligen Austritt der oben Genannten aus dem ZK als Leninschen Putsch bezeichnen, kann man den freiwilligen Auszug der Menschewiki und Sozialrevolutionäre aus dem Sowjetkongress kurz zuvor ebenso als Leninschen Putsch bezeichnen. Nur, man muss es schon wollen: Lenin zu dämonisieren, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen, die Klassenkräfte zu ignorieren und die politischen Positionen der handelnden Parteien wegfallen zu lassen.

Das bietet uns ein Großteil der bürgerlichen Publizistik als Geschichtsschreibung für das breitere Publikum zum Revolutionsjubiläum. Und, was noch viel entscheidender ist, dies kann man dem Publikum bieten, weil es keine marxistische Kritik gibt, die diesen Darstellungen entgegentritt, die selbst halbwegs auf der Höhe des gegebenen Forschungstandes argumentieren, korrigieren, oder den moralisierenden und unhistorischen Unsinn entlarven kann.14

ZEITGeschichte

Von grundsätzlich anderer Art ist die Veröffentlichung der ZEIT in ihrer historischen Reihe ZEITGeschichte. Der Titel „1917 – Revolution in Russland, Kriegseintritt der USA: Ein Jahr das die Welt verändert“ benennt die zentrale inhaltliche Aussage der Publikation: Durch die russische Revolution und den amerikanischen Kriegseintritt mit einem antikolonialen Friedensprogramm wird dieses Jahr zu einem geschichtlichen Wendepunkt, der entscheidend für den weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert wird. In einer Reihe von Aufsätzen behandeln bekannte und teils renommierte Historiker die zentralen Ereignisse des Jahres mit ihrer jeweiligen Vorgeschichte und den Nachwirkungen. Fast alle Beiträge sind lesenswert und teilweise kontrovers, spiegeln den Stand der bürgerlichen Forschung wieder und geben dem Leser einen tieferen Einblick in das damalige politische und gesellschaftliche Geschehen. Bei einem Preis von 6,90 Euro fällt es leicht, hier eine Kaufempfehlung auszusprechen.

Für unser Thema von besonderem Interesse sind zwei Artikel. Manfred Hildermeier behandelt Lenin als „Genie des Augenblicks“. Obwohl am Ende des Heftes bei den Literaturhinweisen wieder der in bürgerlichen Publikationen nicht fehlen dürfende Robert Service mit seiner Lenin-Biographie angeführt wird, finden wir bei Hildermeier eine eigene, kurz gefasste politische Biographie Lenins. Bei der Beschreibung der Februarrevolution15 wiederholt Hildermeier seine bereits 198916 entwickelte Position von den „Frontgeneralen“ als „entscheidende(m) Faktor“ für den Sieg der Revolution.17 Ihre Abwendung vom Zarismus hätte die Revolution gesichert. Diese in der bürgerlichen Geschichtsschreibung verbreitete Sichtweise geht an den Tatsachen vorbei. Der – wie wir noch sehen werden – entscheidende Faktor für den Sieg war die Verbrüderung der bäuerlichen Regimenter mit den streikenden und demonstrierenden Arbeitern. Dies geschah ohne und in vielen Fällen gegen die kommandierenden Offiziere. Die zaristische Generalität war nach dem Sieg der Revolution mit einigem Zögern bereit, dem herrschenden Zaren Nikolaus II. die Abdankung nahezulegen, aber nur, um zusammen mit den führenden Köpfen der Bourgeoisie einen anderen, geeigneteren Romanow auf den Thron zu heben. Der aber war nicht zu finden.

Die Theorie von der entscheidenden Rolle der Generalität für den Sieg der Revolution dient einzig dazu, der russischen Bourgeoisie eine politische Bedeutung und militärische Macht zuzuschreiben, die sie in keinem Moment des Jahres 1917 besaß.18

Der zweite für uns interessante Artikel ist von Leonid Luks („Das kurze Jahr der Freiheit“). Er stellt unumwunden fest: „Tatsächlich blieb die Provisorische Regierung in allem was sie tat, vom Petrograder Sowjet abhängig. Sie benötigte seine Unterstützung … Unter dem Druck des Petrograder Sowjets verkündete die Provisorische Regierung am 03. März ein Manifest“, in dem sie ihr Regierungsprogramm darlegte. (S. 38) Hier wird das tatsächliche Verhältnis von Sowjet und Provisorischer Regierung auf den Punkt gebracht. Die bürgerliche Regierung und später die Koalitionsregierung waren vom Sowjet abhängig, bei dem die tatsächliche Macht (das Kommando über die Gewehrläufe) lag. Dies findet man selten und schon gar nicht bei der Linken so klar ausgedrückt. Insgesamt – bis auf seinen Schluss19 – ist der Artikel informativ und bietet dem Leser einige Anregungen zur Neubewertung der damaligen Ereignisse.

Die Februarrevolution in der linken Publizistik

Von den Marxistischen Blättern bis zur Zeitschrift
Marxistische Erneuerung

„Die Februarrevolution hatte ‚kein Glück‘ in der sowjetischen Geschichtsschreibung“, schrieb vor über 40 Jahren der Historiker David Anin bei seiner ausführlichen Besprechung der Februarrevolution. 20 Man kann ergänzen, auch bei der marxistischen Geschichtsschreibung außerhalb der Sowjetunion blieb die Behandlung der Februarrevolution „oft im Schatten … des Oktobers“21, ohne eine eigenständige Kontur zu gewinnen. Die Veröffentlichungen in der linken Presse bestätigen diese Feststellungen.

Einzig die MARXISTISCHEN BLÄTTER (Nr. 3/2017) bringen mit dem eben zitierten Aufsatz von Professor Hautmann einen eigenständigen Artikel zur Februarrevolution. Bedauerlicherweise enthält sich der Autor jedes über die offizielle marxistische Orthodoxie hinausgehenden Gedankens. So liefert er eine durchaus detaillierte, aber jede Auseinandersetzung mit strittigen Fragen vermeidende Schilderung der Ereignisse. Hier eine bei weitem nicht vollständige Auflistung der interessanten, aber von Hautmann unzureichend oder gar nicht behandelten Problemstellungen der Februarrevolution:

Warum wurden die sozialistischen Parteien von dieser Revolution so überrascht, während die bürgerlichen Kräfte sie bereits seit Monaten zu vereiteln suchten? 22
Warum wurden bei der Bildung der Provisorischen Regierung in den Verhandlungen zwischen dem Duma-Komitee und dem Sowjet alle entscheidenden Fragen (Stellung zum Krieg, Staatsform, Agrarreform), entweder gar nicht verhandelt oder bewusst offengelassen?

Die Doppelherrschaft wird bei Hautmann, wie durchgängig in der marxistischen Geschichtsschreibung (aber auch der bürgerlichen), für den Zeitraum bis Juli 1917 unterstellt, ohne sie mit mehr als der Existenz zweier sich gegenüberstehenden Körperschaften, dem Sowjet und der Provisorischer Regierung, zu belegen. Die Frage, wer real im Besitz der Macht war, wird nicht untersucht.

Die marginale Rolle der Bolschewiki in den Sowjets der ersten Revolutionsmonate wird durch die kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats der Hauptstadt erklärt23, ein Ansatz der sowjetischen Geschichtsschreibung, über den sich Anin bereits vor 40 Jahren mit Recht lustig machte.24
Die Bauernschaft wird behandelt, ohne die Dorfgemeinschaft zu erwähnen, die das Wesen der russischen Bauernschaft prägte.
Die Aprilthesen Lenins werden kursorisch vorgestellt, ohne die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen, die noch bis nach dem Oktober 1917 andauerten, auch nur anzureißen, obwohl sie die Partei mehrfach zu zerreißen drohten.

Die Kadettenpartei wird zur vorherrschenden Vertretung der russischen „Großbourgeoisie“ gemacht, obwohl ihre wirkliche Basis der liberale Landadel und die Vertreter der „freien Berufe“ in den Städten war, und diese Großbourgeoisie wird für die ganzen acht Monate bis Oktober 1917 an der politischen Macht verortet,25 obwohl die politischen Führer dieser Bourgeoisie die Regierung bereits im April auf Druck der Massen und des Sowjets verlassen mussten.26

Hautmann wiederholt in seinem Artikel alle bekannten Positionen der sowjetischen Orthodoxie, ohne eine einzige davon in Frage zu stellen. Er meidet jede Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung und entwickelt keinerlei eigenständige theoretische oder politische Position. Jahrzehnte nach der Öffnung der russischen Archive für die wissenschaftliche Forschung gibt es nicht einen Versuch zur Neubewertung der russischen Revolutionen. Wenn dies der lebendige Geist des kritischen und revolutionären Marxismus sein soll, dann ist in einer Leichenhalle mehr Leben zu finden als im Umfeld der DKP.

Und dabei ist der theoretisch so unbewegliche Hautmann noch das Beste, was die Linke in diesem Jahr zum Thema produziert hat. Die ARBEITERSTIMME (Nr. 195) druckt gleich einen 30 Jahre alten Artikel zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution nach, um zu dokumentieren, dass es zum Thema nichts Neues zu sagen gibt.27 Garniert wird dieser Artikel mit einer Rezension der Kerenski-Memoiren,28 die den Eindruck hinterlässt, dass der Rezensent sie bestenfalls durchgeblättert, aber nicht gelesen hat. Interessante Ausführungen Kerenskis zu den konterrevolutionären Umsturzplänen des Zaren (Kapitel 11) werden weder dargestellt noch hinterfragt, die Darstellung der Februarrevolution (Kapitel 13) bei Kerenski auf den Satz reduziert, dass Kerenski die Sitzung des Sowjets selten besuchte. Eine moralisierende und völlig unpolitische Rezension eines durchaus politischen Buches, angereichert mit fehlerhaften Behauptungen.29

Die ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG hat in ihrer Nummer Z. 109 vom März dieses Jahres die Diskussion zum russischen Revolutionsjahr 1917 mit zwei Artikeln von Frank Deppe und Stefan Bollinger begonnen, die jeweils in Kurzform den Inhalt ihrer für dieses Jahr geplanten Buchveröffentlichungen vorstellen.30

Deppe versucht, gestützt auf eine Untersuchung der amerikanischen Soziologin Theda Skocpol zu den drei großen Revolutionen seit 1789 (gemeint sind die französische, die russische und die chinesische Revolution) zu neuen Erkenntnissen über die russische Revolution zu gelangen. Hier ist es zu einer ernsthaften Beurteilung dieses Ansatzes zu früh, da die Veröffentlichung in Buchform noch aussteht. Es ist zu hoffen, dass der Erkenntnisgewinn über die Passagen, die uns der Artikel liefert, hinausgeht.31

Stefan Bollingers eher feuilletonistisch angelegter Artikel lässt den Leser etwas ratlos zurück. Auch nach mehrmaligen Lesen bleibt die Frage: Was wollte uns der Autor auf den 14 Seiten seines Aufsatzes mitteilen, was ist sein zentrales Anliegen, welchen neuen Gedanken haben wir in dem Artikel gesucht und nicht gefunden? Warten wir ab, ob das angekündigte Buch mehr Klarheit verschaffen kann.

Allerdings erfahren wir etwas Neues zur Februarrevolution. Gleich auf der ersten Seite des Artikels formuliert Bollinger in mehrdeutig interpretierbaren Schachtelsätzen, dass die Unruhen im Frühjahr 1917, deren Ursachen „die ’neuen‘ politischen Akteure nicht verstanden“, in deren „Ergebnis (aber) eine ‚Palastrevolution‘ der bürgerlichen Duma-Parteien (im Einklang mit den Entente-Verbündeten) möglich wurde, eine Bewegung (war), die von den Massen mit riesigen demokratischen und Anti-Kriegs-Erwartungen aufgeladen wurde.“ Diese sprachlichen Verrenkungen schaffen wenig Klarheit über die tatsächlichen Ereignisse, verdecken aber zwei wesentliche Tatsachen.

Erstens gab es sehr wohl entwickelte Pläne zu einer Palastrevolution ganz ohne Anführungszeichen, wie sie der von Bollinger zitierte englische Premier Lloyd George in seinem Kriegstagebuch beschreibt.32 Ziel dieser Palastrevolution war keineswegs der Sturz des Zarismus, sondern einzig die Beseitigung des aktuellen Zaren plus Zarin und seine Ersetzung durch ein anderes Mitglied des Romanow-Clans.

Und zum zweiten kam die Provisorische Regierung eben nicht durch eine Palastrevolution zustande, wie Lloyd George richtig feststellt: „An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats …“ Das bedeutet, dass die erste Provisorische Regierung ihr Mandat von der siegreichen Revolution erhielt und ihr politisches Programm letztendlich vom Sowjet diktiert wurde. Nur für Stefan Bollinger stellt sich dieser Vorgang völlig anders dar: „All dies ändert nichts an der Tatsache, dass es konservativ-reaktionäre Kreise waren, die in der Revolution zunächst die Macht an sich rissen, den Zaren zur Abdankung drängten und dem Volk nicht einhaltbare Versprechungen machten.“33

Wie es wirklich war (und dass „die ’neuen‘ politischen Akteure“ sehr wohl die Ursachen der Volkserhebung verstanden), soll versucht werden, in dieser Nummer der AzD nachzuzeichnen. Ins Zentrum der Darstellung rücken wir einen Augenzeugen der Februarrevolution, der sowohl bei der Gründung des Petrograder Sowjets als auch bei den Verhandlungen zur Bildung der ersten Provisorischen Regierung beteiligt war und diese Ereignisse in tagebuchähnlicher Form veröffentlichte: Nikolai Nikolajetisch Himmer, bekannter unter seinem publizistischen Namen Nikolai Suchanow. Die gekürzte deutsche Übersetzung seines „Tagebuch der russischen Revolution“ erschien 1967 im Piper Verlag München und ist heute auch antiquarisch nur schwierig erhältlich.34

Wer war Suchanow 1917? Er war ein parteiloser linker Menschewik, der auf den Boden der Zimmerwalder Erklärung stand35 und in Gorkis legaler Zeitung Letopis publizierte. Lenin beschreibt ihn folgendermaßen: „Wenn wir von dem Publizisten (…) N. Suchanow sprechen, werden sicherlich alle damit einverstanden sein, dass er nicht der schlechteste, sondern einer der besten Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie ist. Er hat eine aufrichtige Neigung zum Internationalismus, die er in den schwersten Zeiten, mitten im Wüten der zaristischen Reaktion und des Chauvinismus bewiesen hat. Er hat Kenntnisse, und ihm ist das Bestreben eigen, sich über ernste Fragen ein selbständiges Urteil zu bilden, was er durch seine lange Entwicklung von der sozialrevolutionären Ideologie in Richtung zum revolutionären Marxismus bewiesen hat.“36

Da Suchanows Tagebuch der russischen Revolution mit dem ersten Tag der Februarrevolution beginnt, ist es sinnvoll, dem Leser vorweg eine Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Situation in Russland im Winter 1916/1917 zu geben. Diese Darstellung wird dem bereits erwähnten und gerade im VSA-Verlag erschienen Buch „Das Revolutionsjahr 1917 – Bolschewiki, Bauern und die proletarische Revolution“ entnommen37 und soll es dem Leser ermöglichen, die politischen Akteure und Parteien, die Suchanow in seinem Text erwähnt, einzuordnen. Dass die Autoren dabei zu einer anderen Interpretation der Klassenkräfte und der Vorgeschichte der Februarrevolution gelangen, als die gängige marxistische Geschichtsschreibung bisher, schafft für den Leser vielleicht einen Anreiz, sich mit der Neuinterpretation des gesamten Revolutionsjahrs 1917, die in diesem Buch vorgenommen wird, auseinanderzusetzen.

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Russland im Winter 1916/1917

Aus dem Buch von Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917

»Nach Ansicht der bestinformierten und zugleich loyalsten Beobachter (gemeint sind die Gendarmerie und die Geheimpolizei mit ihren Berichten und Einschätzungen, Anm. d. V.) befand sich Russland im Oktober 1916 in einer Situation, die im Sprachgebrauch der Radikalen als ‚revolutionär‘ bezeichnet wurde.«38 Genauer gesagt, gingen ab dem November 1916 alle politischen Akteure, mit Ausnahme der sozialistischen Parteien, von der Aktualität der Revolution aus. Werfen wir deshalb einen Blick auf die Geschehnisse dieses Winters, in dem die Akteure des kommenden Revolutionsjahres ihre politischen Positionen neu bezogen.

Der Herbst/Winter 1916/1917 war ungewöhnlich kalt. Der Winter war 1916 früh gekommen, bereits im Oktober kam der erste Frost und hielt sich den gesamten Winter lang. Im Februar 1917 lag die Temperatur im Mittel bei 14,4 Grad minus. »Die Kälte wurde so schlimm, dass die Bäuerinnen sich weigerten Lebensmittel in die Städte zu fahren. Schneestürme deckten die Eisenbahnschienen mit riesigen Schneeverwehungen zu. … Die Lokomotiven kamen in dieser Eiseskälte nicht voran und mussten manchmal stundenlang im Stehen vorgeheizt werden, um den erforderlichen Dampfdruck aufzubauen. Diese klimatischen Bedingungen verschärften die ohnehin gravierenden Transportprobleme noch zusätzlich.«39

Neben der Versorgung einer millionenköpfigen Armee40 galt es, die städtischen Metropolen im Norden Russlands, allen voran die nördliche Metropole und Millionenstadt Petrograd,41 mit Nahrungsmitteln und Heizmaterial zu versorgen. Was in der Vorkriegszeit auf Grund der See- und Flussanbindung weitgehend reibungslos funktionierte, wurde mit dem Weltkrieg, der Sperrung der Ostsee und dem Dauerfrost42 des Winters zu einem ernsten Problem.

Zu dem Versorgungsproblem trat die inflationsbedingte Teuerung. Das zaristische Regime finanzierte den Krieg »auf Pump« und musste so durch die Gelddruckmaschine die finanziellen Engpässe überdecken. So wurden die Lebensmittel nicht nur durch die Versorgungsmängel knapp, sondern die Preise explodierten auch unabhängig von der versorgungsbedingten Knappheit. Bereits 1916 schnellten die Preise für Konsumgüter in die Höhe. Besonders rasant wuchsen im Spätsommer 1916 die Preise für Lebensmittel. So kostete das Brot 92%, Fleisch 138%, Butter 145% und Salz sogar 256% mehr als vor dem Krieg. Im Oktober 1916 schätzte das Polizeidepartement, dass die Löhne durchschnittlich um 100% gestiegen waren, die Preise der lebensnotwendigen Artikel hingegen um 200%.43

Im Herbst 1916 zeichnete sich immer deutlicher ein ernstes Ernährungsproblem für die Bevölkerung Petrograds und anderer Großstädte ab. Während die von Bourgeoisie und Adel frequentierten Restaurants und Lokalitäten mit allem Wünschenswerten ausgestattet waren, wurde Brot, Salz, Zucker und Brennmaterial für die einfache Bevölkerung immer unerschwinglicher. Ab diesem Herbst begannen die Schlangen vor den Bäckereien. Unvermeidlich nahmen unter diesen Bedingungen die Streiks und Arbeitsniederlegungen deutlich zu. Vielfach ging die Brotbeschaffung, zu der man stundenlang an den Bäckereien anzustehen hatte, fließend in eine Arbeitsniederlegung über. Dazu war kriegsbedingt die Arbeitszeit in allen rüstungsrelevanten Betrieben auf 10 bis 12 Stunden erhöht worden. Wie sollte unter diesen Bedingungen das Brot beschafft und wie bezahlt werden? Die zaristische Verwaltung erwies sich als unfähig, dieses Problem zu lösen und heizte so die bereits angespannte politische Situation in der Hauptstadt weiter an. Petrograd erlebte ab Herbst 1916 einen von Streikaktionen und Demonstrationen geprägten Kriegswinter. Dies war die Grundlage der eingangs zitierten Einschätzung der zaristischen Geheimpolizei Ochrana, von der sich entwickelnden revolutionären Situation.

Ein weiteres Problem reifte ganz unbemerkt von den Spitzeln der Geheimpolizei in diesem Winter in der Petrograder Garnison heran.44 Mobilisierung einer Millionenarmee hieß in Russland, den Bauern in den Waffenrock zu stecken, aus der Enge der dörflichen Verhältnisse zu reißen, ihn unter den erbärmlichsten Lebensbedingungen und fortwährend vom Tode an der Front bedroht, zu disziplinieren und zu organisieren. Dies alles geschah, ohne dass der Soldat bürgerliche Rechte besaß, von den Offizieren wurde er wie Vieh behandelt und mit erbärmlicher Ausrüstung in die Schlacht getrieben.45 Je länger der Krieg dauerte, desto unerträglicher wurden diese Verhältnisse selbst für den russischen Bauern, der viel gewohnt war. Und im Winter 1916/17 war ein Ende des Krieges weiterhin nicht abzusehen. Neue, große Offensiven waren für das kommende Jahr geplant, und für diese Offensiven waren die neu eingezogenen Rekruten in den Reservebataillonen eingeplant, von denen eine ganze Reihe in Petrograd stationiert war.

Aufgrund der enormen Verluste der russischen Armeen in den Jahren von 1914 bis 1916 war die Rekrutierung neuer Jahrgänge unumgänglich geworden.46 »Die seit Herbst 1916 eingezogenen Reservisten stammten überwiegend aus den älteren Jahrgängen, die nicht mehr damit gerechnet hatten, einrücken zu müssen, da sie nach der Militärgesetzgebung Miljutins (ein früherer zaristischer Verteidigungsminister; d. V.) ihre Schuldigkeit bereits getan hatten. … Alles Männer über 40, die ihren Dienst bereits in ihrer Jugend verrichtet hatten und die nur aufgrund mangelnder Menschenressourcen des Zarenreiches einrücken mussten. Der Widerwille, den sie ihrem Schicksal entgegenbrachten, ist mehr als verständlich, denn zum einen mussten sie ihre Dörfer just zu dem Zeitpunkt verlassen, als dort das Leben immer besser wurde, und zum anderen waren die Straßen der Hauptstadt von jungen Männern wehrpflichtigen Alters überschwemmt, die ihren Pflichten nur deshalb entronnen waren, weil sie einer anderen Schicht angehörten.47 Diese Garnisonen in den wichtigsten Städten des Reiches waren für Kriegsmüdigkeit und den Verfall an Disziplin besonders anfällig. Die Rekruten wohnten in überfüllten Kasernen und ihr größter Wunsch bestand darin, nicht an die Front gehen zu müssen.«48

Zur Sicherheit des zaristischen Systems war die Hauptstadt eigentlich mit Gardeeinheiten und gestandenen konterrevolutionären Regimentern reichlich bestückt. Doch diese Garderegimenter standen inzwischen an der Front. In Petrograd und den anderen russischen Metropolen waren ihre Kasernen nun mit den Rekruten der letzten Einberufungen gefüllt, den Reserveregimentern für die an der Front stehenden Garderegimenter. Dem Regimentsnamen nach waren diese Einheiten feste Stützen des zaristischen Systems, befleckt mit dem zweifelhaften Ruhm der blutigen Volksunterdrückung aus den Jahren 1905-1907. Im Winter 1916-1917 waren sie mit unzufriedenen Bauern aus den letzten Rekrutierungen gefüllt, die in überfüllten Kasernen zusammengepfercht wurden,49 wo sie weder vernünftig ausgebildet noch beschäftigt werden konnten. Und erst recht verspürten diese Rekruten kein Interesse, im kommenden Frühjahr/Sommer an der Front verheizt zu werden. Die Besonderheit des zaristischen Militärsystems, die Rekrutenausbildung aus Bequemlichkeit und Kostengründen in den Kasernen der Frontregimenter durchzuführen, führte dazu, dass Petrograd in diesem Kriegswinter mit 150.000 bis 180.000 Soldaten überschwemmt war, von denen die meisten Rekruten der letzten Einberufungswelle waren.

Während andere kriegsführende Länder die Ausbildung neuer Rekruten auf dem »flachen Land«, in Kasernen und auf Truppenübungsplätzen fernab der städtischen Metropolen organisierten, schuf die militärische Verwaltung der zaristischen Armee mit ihrer Inkompetenz und Gleichgültigkeit gegenüber dem einfachen Soldaten neben einer immer unruhiger werdenden Arbeiterschaft einen zweiten potenziellen Unruheherd in der Garnison der Hauptstadt.

Die politischen Lager vor der Revolution

Fest auf der Seite der politischen Reaktion standen das Zarenpaar, sein Staatsrat,50 der Verwaltungsapparat mit Polizei und Gendarmerie. Offen unterstützt und verteidigt wurde die autokratische Herrschaft des Zaren von der politischen Rechten in der Duma,51 die dort über mehr als 60 Mandate verfügte. Klassenpolitisch verkörperte diese Fraktion Teile des alten Großgrundbesitzes, Teile der Schwerindustrie und der Banken sowie den Adel der baltischen Provinzen. Hauptkraft dieses Flügels war der »Bund des russischen Volkes« (im Volksmund »Schwarzhunderter« genannt). Dieser Bund unterstützte vorbehaltlos die zaristische Autokratie und organisierte in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe antisemitische und nationalistische Pogrome. Sein Wahlspruch: »Orthodoxie, Autokratie und Volkstum« war zugleich sein politisches Programm. Gestützt auf die orthodoxe Kirche sollte die zaristische Autokratie gegen alle demokratischen oder sozialistischen Bestrebungen verteidigt werden. Unter „Volkstum“ wurde die Russifizierung der nichtrussischen Bevölkerung des Zarenreiches verstanden.

Im Umfeld des Zaren agierte der nicht unbedeutende Kreis des Petrograder Hochadels, insbesondere die Großfürsten aus der Familie der Romanows. Diese Ansammlung antiquierter, teils nichtsnutziger adliger Schmarotzer, die aber mit schöner Regelmäßigkeit gesellschaftliche Skandale produzierten, war an der Erhaltung des Zarismus als Quelle ihrer Existenz interessiert. Ab Herbst 1916 war dieser Kreis nicht nur bereit, sondern bestrebt, zur Erhaltung des Zarismus den Zaren Nikolaus II. zu opfern und durch ein anderes, der bürgerlichen Opposition und den Kriegsalliierten genehmeres Mitglied des Romanow-Clans zu ersetzen.

Als Opposition gegen die zaristische Regierung hatte sich der Progressive Block in der Duma formiert. Er bestand im Kern aus dem Bündnis von Kadetten52 und Oktobristen,53 dem sich weitere nationalistische und auch monarchistische Kräfte anschlossen. Dieser Block besaß eine Mehrheit in der Duma. Die Rednertribüne der Duma, die Bankettsäle der »besseren Gesellschaft« und nicht die Straße waren sein Kampfboden. Klassenpolitisch vertrat der Progressive Block ein Bündnis von Landbesitzern, industriellen Kapitalisten und städtischen Mittelschichten. Seine Forderung an den Zarismus war die nach einer der Duma »verantwortlichen Regierung«, während des Kriegs begrenzte man die Forderung auf eine Regierung des »gesellschaftlichen Vertrauens«.

Die russische Bauernschaft stellte die Masse des zaristischen Heeres. Die Armee war der in den Soldatenrock gesteckte russische Bauer, angeführt von Adligen und kleinbürgerlichen Berufsoffizieren. Durch die fortgesetzten Niederlagen des zaristischen Heeres zahlten die Bauern in den ersten beiden Kriegsjahren millionenfach mit ihrem Leben für die militärische Untauglichkeit der zaristischen Generäle und die Unfähigkeit der zaristischen Verwaltung, die Armee mit Waffen, Munition und Verpflegung zu versorgen. Im dritten Kriegswinter war ihre patriotische Begeisterung verflogen und der Wunsch nach einem baldigen Ende des Krieges gewann immer mehr Anhänger in den Dörfern und Garnisonen, aber auch bei den Fronttruppen.54 Ihre politische Vertretung in der Duma waren die Trudowiki, der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre, mit Alexander Kerenski als bekanntestem Redner.55

Die Arbeiter Petrograds waren das hauptsächliche Opfer der seit 1916 galoppierenden Inflation, des Hungers und der Aussperrung von Seiten der Unternehmer. Obwohl überwiegend vom Kriegsdienst befreit, da sie zur Militärproduktion benötigt wurden, drohte das zaristische Regime bei jedem Streik mit der zwangsweisen Einberufung zur Armee. Sie waren zu Kriegsbeginn weitgehend ihrer politischen Führung beraubt worden (Inhaftierung und Verbannung) und besaßen so gut wie keine Form der politischen oder gewerkschaftlichen Organisation. Ihre einzige legale Organisationsmöglichkeit während des Krieges war die Mitarbeit in den »kriegsindustriellen Komitees«, wo unter der Führung des Kapitals und unter Aufsicht von Regierungsvertretern die Arbeiter zu einer effizienteren Kriegsproduktion für den Sieg der russischen Waffen angehalten wurden. Die politische Repräsentanz dieser Arbeiter war der rechte Flügel der Menschewiki, ihr Vertreter vor Ort der Arbeiter Kusma Gwosdew, Vorsitzender der Arbeitergruppe des kriegsindustriellen Komitees und rechter Menschewik.

Der Zar geht an die Front

Verheerende militärische Niederlagen, mangelnde Versorgung der Armee und der großen Städte sowie eine anwachsende Streikwelle der Arbeiter, das war die Bilanz der zaristischen Regierung im Herbst 1916. Der Zar und seine Regierung mussten einen Ausweg aus dieser selbstverschuldeten Situation finden.

Die vermeintlich einfachste Lösung, eine Beteiligung der bürgerlichen Opposition an der Regierung, kam für den Zaren und erst recht für die Zarin nicht in Frage, denn dies wäre ein weiterer Schritt hin zur konstitutionellen Monarchie gewesen. Das war für den Zaren undenkbar, hatte er doch am Sterbebett seines Vaters geschworen, die Selbstherrschaft ungeschmälert an seinen Sohn weiterzugeben. Dies war auch die Sicht der Zarin, die ihren Sohn als uneingeschränkten Selbstherrscher auf dem Zarenthron sehen wollte. Und da sie, wie allgemein bekannt, »die Hosen anhatte«, war das Zarenehepaar ein geschworener Feind von ernsthaften Zugeständnissen an die bürgerliche Opposition.

Ganz im Gegenteil beabsichtigte man, die Uhr zurückzudrehen und die Zugeständnisse, die im Oktober 1905 unter dem Druck der Revolution und des verlorenen Krieges56 gemacht worden waren, zu kassieren. Dies bestimmte immer deutlicher das Handeln der zaristischen Regierung und wurde ab dem Moment, wo der Zar persönlich das Oberkommando über die Armee antrat und die Zarin in Petrograd »die Regierung übernahm«, immer offensichtlicher zum eigentlichen Regierungsprogramm. Der »Flirt« mit der liberalen Opposition aus dem Jahr 1915 wurde 1916 durch einen immer klarer hervortretenden Kurs der offenen Konfrontation und politischen Reaktion ersetzt.

Im Herbst 1915 hatte der Zar persönlich das Oberkommando über die russischen Streitkräfte übernommen. Er tat dies gegen die Ratschläge seiner Minister und des Romanow-Clans. Beide befürchteten, dass die zu erwartenden weiteren Niederlagen der russischen Armee nunmehr unmittelbar auf den Zaren zurückfallen würden. Der Zar dachte jedoch nicht daran, ihren Ratschlägen zu folgen, denn er hatte anderen Rat bekommen, von der Zarin und ihrem Vertrauten Rasputin. Beide forderten die Ablösung des bisherigen Oberbefehlshabers, des Großfürsten Nikolaj Nikolajewitsch, einem »in der Armee beliebten« Verwandten des Zaren.

In den Kreisen um die Zarin und Rasputin fürchtete man eine Palastrevolution, die, gestützt auf die Armee und ihren Oberbefehlshaber, den Zaren absetzen, die Zarin ins Kloster verbannen und ihren Berater Rasputin aufhängen würde.57 Der Zar würde dann durch den Großfürsten und bisherigen Oberbefehlshaber, seinen Onkel Nikolaj Nikolajewitsch oder durch seinen Bruder, den Großfürsten Michael ersetzt werden. Um diesem Putsch Legalität zu verleihen, würde der »neue Mann« die Regentschaft für den noch minderjährigen Zarensohn übernehmen.

»Als der Zar die Front übernahm (Ende August 1915), ging die Macht daheim nach Alt-Moskauer Weise an die Zarin über. Vom Herrscherpaar wurde das Reich noch immer als eine Art Familieneigentum angesehen, das man möglichst intakt dem Thronfolger bewahren müsse. Die Kaiserin übte unter Rasputins Weisungen ihren unheilvollen Einfluss auf des Zaren personalpolitische, aber auch militärische Entscheidungen aus. Innerhalb eines Jahres wechselten die Ministerpräsidenten und Außenminister dreimal, die Innenminister viermal, und so ging es fort. In der Gesellschaft und an der Front redete man vom Verrat der Zarin und ihren engen Beziehungen zu Rasputin. Unter dem Ministerpräsidenten Boris Stürmer (Januar 1916) ging die tatsächliche Gewalt in die Hände von Rasputins Hintermännern, dubiosen Polizeiagenten und Geschäftemachern, über.«58

Der Plan des Zaren

Im Herbst 1916 hatte sich die Lage an der Front stabilisiert. Die zaristische Armee war nach ihren verheerenden Niederlagen und entsprechenden Gebietsverlusten in festen Stellungen zum Stehen gekommen. Ihre Versorgung mit Waffen, Munition und Lebensmitteln hatte sich sowohl aus eigener Produktion als auch mit alliierter Hilfe verbessert. Der bürgerlichen Opposition in der Duma mussten keine weiteren Zugeständnisse mehr gemacht werden. Die vier von der Duma unterstützten Minister, die 1915 in die Regierung gekommen waren, wurden 1916 einer nach dem anderen entlassen und durch Gestalten, die Rasputins Fürsprache hatten, ersetzt. Die Semstwos,59 die die Versorgung der Flüchtlinge und Verwundeten organisiert hatten und so im Krisenjahr 1915 die Katastrophen im Hinterland abgemildert hatten, waren nun auf Grund ihrer überwiegend bürgerlich-liberalen Ausrichtung dem Zaren mehr lästig als notwendig. Der Zarismus setzte wieder offen auf Reaktion. Und die politische Rechte entwickelte für den Zarismus das entsprechende politische Programm.

Trotzki zitiert in seiner »Geschichte der russischen Revolution« ausführlich ein Papier der Rechten, das dem Zaren vorgelegt worden war. »Die Autoren der Denkschrift traten gegen jegliche Konzessionen an die bürgerliche Opposition auf… (weil) die Liberalen ›so schwach, so uneinig und, man muss offen sagen, so unfähig sind, dass ihr Sieg ebenso kurz wie unsicher wäre‹. Die Schwäche der wichtigsten oppositionellen Partei, der ›konstitutionell-demokratischen‹ (Partei), sei schon durch ihren Namen gekennzeichnet: sie nenne sich demokratisch, obwohl sie ihrem Wesen nach bürgerlich sei, während sie in hohem Maße die Partei der liberalen Gutsbesitzer darstelle, habe sie in ihr Programm die zwangsweise Bodenablösung aufgenommen. ›Ohne diese Trümpfe aus fremdem Kartenspiel‹, schrieben die Geheimräte, die ihnen gewohnte Bildersprache gebrauchend, ›sind die Kadetten nichts anderes als eine zahlreiche Gesellschaft liberaler Advokaten, Professoren und Beamten verschiedener Ressorts – nichts mehr.‹ Anders die Revolutionäre. … Die revolutionären Parteien ›dürfen auf die Sympathie der Mehrheit der Bauernschaft rechnen, die sogleich mit dem Proletariat gehen wird, wenn die revolutionären Führer ihr fremden Grund und Boden zeigen werden.‹ Was würde unter diesen Bedingungen die Errichtung eines verantwortlichen Ministeriums ergeben? ‚Die volle und endgültige Zerschlagung der Parteien der Rechten, das allmähliche Verschlingen der Mittelparteien des Zentrums, der liberalen Konservativen, Oktobristen und Progressisten – durch die Kadettenpartei, die anfangs entscheidende Bedeutung bekäme. Doch den Kadetten würde das gleiche Schicksal drohen … Und danach? Danach würde die revolutionäre Masse auf den Plan treten, die Kommune folgen, der Untergang der Dynastie, Pogrome auf die besitzenden Klassen und schließlich der Räuber-Muschik.‹60 … Das positive Programm der Denkschrift ist nicht neu, aber konsequent: eine Regierung aus unnachgiebigen Anhängern des Selbstherrscher-tums; Abschaffung der Duma; Belagerungszustand in beiden Hauptstädten; Vorbereitung der Kräfte zur Unterdrückung der Rebellion. Im Wesentlichen bildete denn auch dieses Programm die Grundlage der Regierungspolitik der letzten vorrevolutionären Monate.«61 Dies war die Agenda der offenen Konterrevolution; durchsetzen sollte sie Ministerpräsident Stürmer sowie sein späterer Innenminister Protopopow, von dem noch zu sprechen sein wird.

Es war also nicht die Stärke oder die Hartnäckigkeit, mit der die Dumaopposition auftrat, … sondern die politische und gesellschaftliche Schwäche dieser Kräfte. Neben der grundsätzlichen Ablehnung des parlamentarischen Systems durch den Zaren … würde eine weitere Zusammenarbeit mit der Dumaopposition, wie das gerade zitierte Papier richtig feststellte, die politische Rechte weiter schwächen, ohne den Zaren letztendlich vor einer Volksrevolution retten zu können. Von daher besaß der Kurs auf die bewaffnete Niederwerfung eines Volksaufstandes mit anschließender Zerschlagung der bürgerlichen Opposition eine gewisse innere Logik und wurde ab 1916 immer offener verfolgt.

Die alliierten Botschafter schlagen Alarm

Dieser Kurswechsel alarmierte nicht nur die bürgerliche Opposition, sondern ebenso die Botschafter der beiden entscheidenden russischen Kriegsalliierten, Frankreich und das Vereinigte Königreich. Beide Botschafter verständigten ihre Regierungen über den russischen Kurswechsel in der Innenpolitik, der ihrer Auffassung nach unvermeidlich einen außenpolitischen Kurswechsel herbeiführen würde, nämlich den in alliierten Kreisen so gefürchteten Separatfrieden mit den Mittelmächten. Dieser Gedankengang lag nahe, da die neuen zaristischen Minister bekannte Anhänger eines »germanophilen« Kurses waren. …

Protopopow betritt die Ministerbühne

Die Befürchtungen der alliierten Botschafter und der bürgerlichen Opposition erhielten eine weitere Bestätigung, als ein ehemaliges Mitglied des Progressiven Blocks zum Innenminister ernannt wurde, wiederum auf Empfehlung der Zarin und Rasputins. Dieser neue Innenminister, Protopopow, hatte als Dumaabgeordneter an einer Rundreise durch die Ententeländer teilgenommen. Auf der Rückreise über Schweden führte er dort Gespräche mit dem Bankhaus Warbug & Co, das als Vertreter deutscher Interessen im Ausland galt. …

Er wurde im Herbst 1916 zum neuen Innenminister ernannt und blieb es gegen alle Widerstände (der Duma und der Alliierten) bis zur Februarrevolution, während Stürmer im Sommer 1916 auch den bisherigen »ententetreuen« Außenminister ersetzte, indem er selber das Außenministerium übernahm.

So wurde Protopopow im Winter 1916/1917 zur zentralen Figur der politischen Reaktion. Er wurde verdächtigt, Anhänger eines Separatfriedens zu sein, die Unruhen im Inneren Russlands zu fördern sowie die Versorgungslage Petrograds systematisch zu verschlechtern, um einen Aufstand der hungernden Bevölkerung zu provozieren, der dann mittels Polizei und Gendarmerie niedergeschlagen werden sollte. Sollten diese Kräfte nicht ausreichen, sollten die in der Hauptstadt stationierten Truppenverbände zur Unterstützung herangezogen werden. Ziel dieser Operation war, die Streikbewegung der Arbeiterschaft durch Militarisierung der Fabriken zu brechen und dabei zugleich auch die bürgerlich-liberale Opposition der Duma zu zerschlagen. Am Ende sollte es weder eine Duma, noch eine liberale Opposition, geschweige denn eine Arbeiterbewegung geben. Kurz zusammengefasst: das gesamte Programm, wie es schon der frühere Innenminister Durnowo dem Zaren vorgetragen hatte. …

Der Progressive Block muss handeln

Der Opposition in der Duma war der politische Schwenk der zaristischen Regierung nicht entgangen. Was konnte sie tun, wenn sie die Revolution mehr fürchtete als den Erhalt der Autokratie? Wo sollte sie Kräfte gewinnen, wenn sie sich mehr vor dem Volk als vor dem Zaren und seinen Schwarzhundertern fürchtete? Da die Bourgeoise sich ihrer politischen Schwäche bewusst war, blieben ihr nur zwei Möglichkeiten zu handeln. Als erstes und vor aller Augen: Appelle, Aufrufe und Enthüllungen, um die öffentliche Meinung von der Duma-Tribüne aus und in ihrer Presse gegen die zaristische Regierung aufzubringen. Das zweite musste verdeckt geschehen, unbemerkt von der Öffentlichkeit und der zaristischen Verwaltung: die Konspiration mit den Alliierten, der Armeeführung und den Mitgliedern des Romanows-Clans für einen Staatsstreich oder eine Palastrevolution. Diese beiden Punkte wurden zum Aktionsprogramm der bürgerlichen Opposition im Kriegswinter 1916/1917.

Im August 1914 hatten der liberale Adel und das Bürgertum enthusiastisch den Kriegseintritt des Zarenreiches an der Seite der Entente gefeiert. Die bürgerliche Opposition in der Duma wurde zur »Opposition Ihrer Majestät« und hatte die Absicht, während des Krieges getreulich am Burgfrieden festzuhalten. Aber trotz dieser vorbehaltlosen Unterstützung gewährte der Zarismus keine anderen Zugeständnisse an Bourgeoisie und liberalen Adel als das Recht, sich landesweit zur Unterstützung des Krieges und Milderung der Kriegsfolgen zu organisieren und sich dabei an den Kriegsaufträgen zu bereichern. Eine ernsthafte politische Beteiligung an der Regierung oder Verwaltung des Landes schloss der Zarismus weiterhin kategorisch aus.

Nun hatte der Krieg bereits in seinem ersten Jahr die vollkommene Unfähigkeit, Korruption und Hilflosigkeit der zaristischen Militärführung und der politischen Verwaltung schonungslos aufgedeckt. Die Armee besaß zu wenige Waffen, zu wenig Munition und einzig an inkompetenter militärischer Führung mehr als genug. Darüber hinaus war die zaristische Regierung nicht in der Lage, die Millionen von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten unterzubringen und zu versorgen. Ihr Versagen an allen Fronten des militärischen, ökonomischen, administrativen Handelns war unübersehbar.

Dies veranlasste die Dumamehrheit 1915, sich zum Progressiven Block zusammenzuschließen, einerseits um den politischen Druck auf den Zarismus für eine Regierung des »gesellschaftlichen Vertrauens« zu erhöhen, anderseits aber auch, um den Zarismus in seinen Kriegsanstrengungen zu stützen. »Auf Drängen der Kadetten schlossen sich alle Dumaparteien mit Ausnahme der radikalen Rechten und Linken zum Progressiven Block zusammen. Allerdings wurde die Breite der Einheitsfront mit der Ausklammerung zentraler Probleme erkauft. Das Programm ließ nicht nur Mäßigung, sondern auch eine beträchtliche Unverbindlichkeit erkennen. Den Bauern versprach es rechtliche Gleichstellung, den Arbeitern die Wiederzulassung der Gewerkschaften, den religiösen und nationalen Minderheiten das Ende der Diskriminierung … Aber es schwieg sich über die Agrarfrage und soziale Reformen ebenso aus wie über Einzelheiten einer besseren Verfassung. Kern der Plattform und Raison d´être des Blocks war letztendlich nur eine Forderung: die nach einer ›Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens‹.«62

Der Übergang der bürgerlichen Opposition zur offenen Konfrontation mit der Regierung hatte zwei uns bereits bekannte Gründe: Erstens die Gefahr eines Separatfriedens mit Deutschland, eine Gefahr, die von der Duma und den alliierten Botschaftern heftig beschworen wurde; zweitens die nach der Ansicht des Progressiven Blocks noch viel größere Gefahr eines Staatsstreichs im Inneren als Ergebnis sozialer Unruhen, worauf die zaristische Verwaltung gezielt hinsteuerte. Diese zweite Gefahr wurde allerdings nicht von der Rednertribüne der Duma verkündet, sondern intern, in den eigenen Reihen und mit den Botschaftern der Alliierten besprochen, die dies dann getreulich ihren Regierungen meldeten.

Da man die Angst der Bourgeoisie vor der Revolution schlecht in den Mittelpunkt der öffentlichen Kritik stellen konnte, konzentrierte sich der Angriff auf die katastrophalen Fehler in der Kriegsführung und der Versorgung von Armee und Bevölkerung. Pawel Miljukows Rede im November 1916, die diese Fehler und Versäumnisse der Regierung in den letzten Jahren auflistete, endete bei jedem dieser angeführten Fehler und Versäumnisse mit der rhetorischen Frage: »War dies Dummheit oder Verrat?« Und der Saal der Duma antwortete fast einmütig: »Verrat«. …

Die Miljukow-Rede in der Duma hatte beträchtliche Auswirkungen auf die öffentliche Meinung. Obwohl eine Publizierung des Redetextes und des Dumaprotokolls in der Presse unterbunden wurde, zirkulierte der Text auf unzähligen Flugblättern im gesamten Land und damit auch im Offizierskorps. Hier stieß diese Rede ebenso wie in der Öffentlichkeit auf große Resonanz. Vermeintlich erklärte der von den Kreisen um die Zarin unternommene »Verrat« die nicht enden wollenden Niederlagen der Armee und die schlechte Versorgungslage im Inneren, so dass die Armeeführung nun ihre eigene Unfähigkeit problemlos den »deutschen Verrätern« in der zaristischen Regierung und Verwaltung anlasten konnte. …

Militäraktion oder Palastrevolution?

So brachten die Dumareden weder die proletarischen und bäuerlichen Massen hinter die Parolen des Progressiven Blocks noch bewegten sie die zaristische Regierung, vom Kurs der bewaffneten Konterrevolution im Inneren Abstand zu nehmen. Einzig die Armeeführung rückte näher an die Dumaführung heran und begann in Hinterzimmern, mit ihr und den Vertretern der Alliierten zu konspirieren.

Ein Militärputsch oder eine Palastrevolution blieben somit die letzten Möglichkeiten der bürgerlichen Opposition. …

So standen im dritten Kriegswinter Zar Nikolaus und die politisch das Geschehen dominierende Zarin ziemlich einsam da, gestützt nur noch von den Kräften der politischen Reaktion, der Polizei, der Ochrana, den baltischen Adeligen und von Teilen des alten Großgrundbesitzes sowie darauf hoffend, dass die russische Bauernschaft im Soldatenrock in ihrer Treue zum Zaren fest blieb. Die Arbeiterschaft, die bürgerliche Opposition, bedeutende Teile des Offizierskorps sowie der Romanow-Clan selbst standen im Gegensatz zum Zaren und seiner Regierung.“

(Soweit die Auszüge aus Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, Seiten 9 – 30)

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1 Am 30. Oktober 1517 soll Luther seine 95 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg befestigt haben. Der Vorgang selbst ist nicht eindeutig belegt.

2 Eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Weltanschauung und revolutionärer Theorie findet nicht statt, stattdessen wird die Person Lenins ins Zentrum gerückt und dämonisiert.

3 Russland – Vom Zarenreich zur Weltmacht.

4 Dass sie den „Trick“ auch im Januar 1918 auf der Konstituierenden Versammlung noch immer nicht kannten, obwohl Lenin ihn ja im Oktober 1917 vorgeführt hatte, sollte zu denken geben. Der „Trick“ funktionierte nämlich nur, wenn man bereit war, mit der Bourgeoisie zu brechen. Dazu war die Mehrheit der sozialrevolutionären Abgeordneten auch im Januar 1918 nicht bereit. Man wollte in der Agrarfrage noch immer einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aushandeln.
Dazu Trotzki treffend:
„Das Programm der Sozialrevolutionäre hatte stets viel Utopisches enthalten: sie wollten den Sozialismus auf der Basis der kleinen Warenwirtschaft errichten. Doch die Grundlage ihres Programms war demokratisch-revolutionär: Enteignung des Bodens der Gutsbesitzer. Vor die Notwendigkeit gestellt, das Programm zu erfüllen, verstrickte sich die Partei in Koalitionen. Gegen eine Bodenkonfiskation erhoben sich unversöhnlich nicht nur die Gutsbesitzer, sondern auch die kadettischen Bankiers: im Bodenbesitz waren nicht weniger als vier Milliarden Rubel der Banken investiert. Da sie planten, in der Konstituierenden Versammlung mit den Gutsbesitzern um den Preis zwar zu handeln, aber friedlich abzuschließen, waren die Sozialrevolutionäre eifrigst bemüht, den Muschik nicht an den Boden heranzulassen.“ (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Berlin 1960, Fischer Verlag, S. 526) Es war also weniger ein „Trick“ als vielmehr die banale pekuniäre Frage nach der Entschädigung der Landeigentümer, um das Bündnis mit der Bourgeoisie nicht zu beschädigen.

5 GEO-EPOCHE: Die russische Revolution. Hier wird in acht Kapiteln die Geschichte der handelnden Hauptakteure vom Ende des Zarismus bis Stalins Aufstieg abgehandelt.

6 Eine Ko-Produktion von Arte und ZDF. Die Produktion war bereits im Fernsehen zu sehen und wird uns sicher noch das eine oder andere Mal bis zum Jahresende gezeigt werden.

7 Das entsprechende Kapitel hat den Titel: „Der rote Putsch“.

8 Robert Service: Lenin. Eine Biographie; München 2002. Das Werk ist akribisch in allen Belanglosigkeiten und weitgehend substanzlos bei der Behandlung politischer Fragen. Wen es interessiert zu erfahren, wer aus dem Leninschen Umfeld die besten Hühnergerichte bereiten konnte (S. 365), oder welchen nirgendwo näher bezifferten Anteil an der Oktoberrevolution Frau Luise Kammerer, Frau eines Züricher Schusters hatte (S. 315-316), wird bei R. Service auf seine Kosten kommen, muss dafür aber 68 Euro zahlen.

9 Robert Service, ebenda S. 352. Das gibt natürlich eine schlüssige Erklärung für die Oktoberrevolution.

10 Die entsprechenden Kapitel stellen Stolypin, Miljukow und Lenin vor (Kapitelüberschrift: Der Radikalste der Radikalen).

11 Rademacher schreibt im DuMont-Verlag Urlaubskrimis, die in der Provence spielen und unterhaltsamer zu lesen sind als seine Ausflüge in die Geschichte. Der antikommunistische, moralisierende Grundtenor ist auch den Herausgebern des GEO-Heftes nicht entgangen, die unter den Text von Rademacher die Bemerkung setzen: „Angesichts der Gewalt der Bolschewiki bedauert es der Autor nicht wirklich, dass die meisten führenden Revolutionäre später Josef Stalin zum Opfer fielen.“ Wir würden es auch nicht bedauern, wenn der Autor künftig auf eine Umschreibung der Geschichte verzichten würde.

12 Ziel des Austritts war es, „die Freiheit zu gewinnen, den Massen unsere Ansichten darzulegen … und sie aufzurufen, unsere Forderung nach einer sofortigen Einigung über eine Regierung aus allen Sowjetparteien zu unterstützen. Offenbar hofften Kamenew und seine Mitstreiter, dass sie mit ihrem Rücktritt Unterstützung in der Partei mobilisieren könnten.“ Siehe Alexander Rabinowitch: Die Sowjetmacht, Essen 2010, S. 55. Rademacher gibt Rabinowitch als Leseempfehlung am Kapitelende an, eine Empfehlung, der wir uns nur anschließen können. Nur kommt Rabinowitch zu durchaus anderen Schlussfolgerung als unser Krimiautor bei seinem Ausflug in den Bereich der moralisierenden Historik.

13 Worum ging es inhaltlich und weshalb lohnt es sich, darauf näher einzugehen? Sozialrevolutionäre und Menschewiki versuchten vermittels der Eisenbahnergewerkschaft, die Bolschewiki zur Fortsetzung der Koalitions-Regierung mit der Bourgeoisie zu bewegen. Ihre populäre Forderung – auf die der Kamenew-Flügel in den Verhandlungen einging – war die einer sozialistischen Sowjetregierung ohne Lenin und Trotzki. Dieser Vorgang wird in fast jeder bürgerlichen Lenin-Biographie angeführt, als Beleg des kompromisslosen Machtstrebens Lenins, der nur zum Zwecke des eigenen Machterhalts der populären Forderung nach einer gemeinsamen Regierung aller Sowjetparteien eine Absage erteilt.

So populär die Forderung nach einer Regierung der Sowjetparteien bei der Arbeiterschaft im Winter 1917 war, so klar wurden aber auch schon damals die politischen Grenzen einer solchen Koalition definiert. Eine „Delegation Tausender Arbeiter der Putilow-Werke“ überbrachte den Verhandelnden zur Regierungsbildung eine Resolution. In diese Resolution „bekräftigte (man), dass die Bildung einer rein sozialistischen Regierung von entscheidender Bedeutung sei, doch müsse sie das Programm des Sowjetkongresses übernehmen, wie es in den Dekreten über Land, Frieden, Arbeiterkontrolle und die sofortige Einberufung der Konstituierenden Versammlung enthalten sei. Sie müsse sich die Notwendigkeit eines erbarmungslosen Kampfes gegen die Konterrevolution zu eigen machen, den zweiten Sowjetkongress … als einzige legitime Quelle politischer Macht anerkennen …und allen Organisationen, die nicht im Sowjet vertreten waren, die Beteiligung am ZEK verwehren.“(Rabinowitch, ebenda)

Damit war die „sozialistische Sowjetregierung“ politisch unmöglich, was Lenin und Trotzki vollkommen klar war. Auf diesem Boden waren nur die linken Sozialrevolutionäre bereit, sich an der Regierung zu beteiligen. Alle anderen Sowjetparteien suchten weiterhin den Schulterschluss mit Teilen der Bourgeoisie, in welcher Verkleidung auch immer (z. B. Vertreter der Stadtduma etc.) Der Versuch Kamenews, Sinowjews und ihrer Anhänger, die Oktoberrevolution nach rechts zu korrigieren, traf auf den entschiedenen Widerstand der proletarischen Massen der Hauptstadt. Andererseits waren Sozialrevolutionäre und Menschewiki in ihrer Mehrheit ebenso wenig bereit, sich von der Bourgeoisie zu lösen und die Beschlüsse des 2.Sowjetkongresses als Grundlage einer künftigen Regierungspolitik anzuerkennen. Im besten Fall kann man diesen Vorstoß Kamenews als politisch naiv und wirklichkeitsfremd bezeichnen, im negativsten Fall als Versuch der Liquidierung der Errungenschaften der Oktoberrevolution.

14 Den uns bisher bekannten linken Publikationen zum Thema ist augenfällig eines gemeinsam: Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Forschungstand zu den russischen Revolutionen fehlt ebenso wie eine Kritik an der Popularisierung dieser Positionen, wie sie beispielsweise im genannten GEOEPOCHE-Heft oder der diesem Heft beiliegenden Fernsehproduktion stattfindet.

15 ZEITGeschichte, S. 28

16 Hildermeier: Russische Revolutionen 1905-1921; Frankfurt/M. 1989, S. 146f

17 Zur Auseinandersetzung mit dieser Auffassung siehe Schröder/Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, S. 42

18 Im weiteren Verlauf von Hildermeiers Artikel treffen wir auf zwei uns bereits bekannte Theorien der bürgerlichen Geschichtsschreibung: Die Oktoberrevolution als „Staatsstreich“ der Bolschewiki und sozialistische Allparteienregierung, die nach dem Oktober „in der Logik des Geschehens gelegen hätte“. Zu dieser Logik siehe Fußnote 13.

19 Luks erklärt das Scheitern der „Demokratie“ aus der „Konfrontation mit einer totalitären Partei“, die die neuen Freiheiten ausnützt, um die Demokratie zu stürzen. Diesen Ansatz dehnt er dann auch auf die faschistische Machtergreifung in Italien und die nationalsozialistische in Deutschland aus. Hier triumphiert die Ideologie (Totalitarismustheorie) über die Beschäftigung mit den historischen Tatsachen. Auf dieser allgemeinen und abstrakten Ebene kann man Luks These mit der Frage konfrontieren, ob die „Demokratie“ nicht vielleicht daran scheiterte, dass sie die politischen und sozialen Interessen der Arbeiter und Kleinbürger in den genannten Ländern missachtet hat?
Konkret für Russland führt dazu Luks
Berufskollege Klaus Latzel im selben ZEITGeschichte Heft aus: „Die Provisorische Regierung … wollte nicht sehen, dass es die Gewalt des Krieges und die soziale Not im Reich waren, die große Teile der Bevölkerung zur Verzweiflung oder in den Aufstand trieben. Insofern war die Oktoberrevolution nicht nur ein Militärputsch oder ein Staatsstreich. … Um die Oktoberrevolution zu verstehen, muss man das Unvermögen der russischen Demokraten in den Blick nehmen, mit den dringenden Problemen des Landes fertig zu werden, die sich nach der Februarrevolution stellten.“ (S. 82)

20 David Anin: Die russische Revolution von 1917 in Berichten ihrer Akteure; München 1976, S. 22. Anin verwendet den Begriff „Die russische Revolution“, weil es für ihn nur eine Revolution, die Februarrevolution, gegeben hat. Im Gegensatz zur Februarrevolution, „war der Oktober eine Geheimverschwörung“ (ebenda S. 65). Dies ist, wie wir auf den vorherigen Seiten gesehen haben, eine bis heute gängige bürgerliche Interpretation der Ereignisse. Anins Publikation zur Februarrevolution ist informativ und trotz ihres Alters weiterhin empfehlenswert. Bedauerlicherweise ist sie nur noch antiquarisch zu erwerben.

21 Hans Hautmann, Marxistische Blätter, Nr. 3/2017, S. 82

22 Siehe dazu Anin, S. 49

23 „Die Mehrheit in den Sowjets stellten die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki. Das erklärte sich durch die Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterschaft während des Krieges, die die soziale Inhomogenität verstärkten. Ein nicht geringer Teil der zur Armee einberufenen Stammarbeiter wurde durch Handwerker, Ladenbesitzer und Angehörige der Dorfbevölkerung ersetzt.“ (Hautmann, S. 91) Wohlgemerkt, es ist von jener Arbeiterschaft die Rede, die gerade nach mehrtägigen Straßenkämpfen das Überlaufen der bäuerlichen Regimenter der Hauptstadt erzwungen hatte und wenige Wochen später, im April, die politischen Köpfe der Kadetten und Oktobristen zum Rücktritt aus der Regierung zwingen wird.

24 Anin, S. 52-53. Trotzkis Erklärung dieses unübersehbaren Tatbestandes hat zweifellos mehr Charme als die „kleinbürgerliche Durchsetzung des Proletariats“. Für ihn organisierten die Bolschewiki die Revolution auf der Straße, während die anderen sozialistischen Kräfte in Hinterzimmern den Sowjet zusammenschusterten. Der Charme macht die Erklärung aber nicht politisch richtiger. Es mangelte den Bolschewiki im Februar und März 1917 an organisatorischer Präsenz und an politischer Bedeutung. Dazu waren sie noch von Agenten der zaristischen Geheimpolizei durchsetzt.

25 „Durch die Februarrevolution wurde die russische Großbourgeoisie für acht Monate zur herrschenden Klasse. Ihrer politischen Einstellung nach war sie oktobristisch-kadettisch. Der oktobristische, reaktionäre Flügel vertrat primitiv-räuberische Methoden der kapitalistischen Ausbeutung, während die Kadetten die ökonomisch progressiveren Schichten der Bourgeoisie verkörperten, die die neuesten ‚europäischen‘ Ausbeutungsformen ausnützten. Diese Fraktion hatte innerhalb der russischen Kapitalistenklasse in der Kriegszeit die Dominanz inne.“ (Hautmann, S. 84) Mit dieser „ökonomistischen“ Unterscheidung trifft man die politischen Unterschiede dieser Parteien sicherlich nicht, enthebt sich aber der Aufgabe zu erklären, weshalb diese Parteien sich im Jahr 1915 zum „progressiven Block“ zusammenfanden.

26 Gemeint sind Gutschkow (Oktobrist und Verteidigungsminister) und Miljukow (Kadett und Außenminister)

27 Der Inhalt des Artikels beschäftigt sich mehr mit dem Scheitern der Sowjetunion als mit den russischen Revolutionen von 1917.

28Alexander Kerenski: Die Kerenski Memoiren, Russland und der Wendepunkt der Geschichte, Hamburg 1989

29 So behauptet der Rezensent auf S. 18 der Arbeiterstimme, dass Kerenski „im Grunde (seines) Herzen Monarchist (war).“ Beleg dafür: Kerenski habe als 13jähriger bei der Nachricht vom Tode des vorherigen Zaren geweint.

30 Frank Deppe: 1917 – 2017, Revolution und Gegenrevolution, VSA-Verlag 2017; Stefan Bollinger: Revolution gegen den Krieg, Skizzen zu Geschichte und Aktualität der Russischen Revolutionen 1917-1922 (Arbeitstitel), Eulenspiegel Verlagsgruppe 2017

31 Den genannten Revolutionen soll gemeinsam gewesen sein, „dass – in allen Fällen – die revolutionäre Krise heranreifte, weil die agrarischen Strukturen auf eine autokratische und protobürokratische Staatsorganisation prallten.“ (Z 109, S. 13). Da die agrarischen Strukturen in den drei Ländern ebenso unterschiedlich waren wie die dort handelnden Klassen oder der jeweilige Staatsapparat, ist der Vergleich von Frau Skocpol sehr gewagt und der Erkenntnisgewinn möglicherweise doch so begrenzt wie das angeführte Zitat.

32 „Die Tatsachen, die seit der Revolution ans Licht gekommen sind, klären eine Situation, die seinerzeit recht undurchsichtig war. Die Gerüchte, die überall herumschwirrten und den wohlbehüteten Mitgliedern der interalliierten Delegation zu Ohren kamen, wurzelten in dem Erdreich einer zweifellos vorhandenen Verschwörung. Die Heerführer hatten bereits faktisch beschlossen, den Zaren abzusetzen. Sämtliche Generale sollten beteiligt gewesen sein. Der Stabschef General Alexejew war sicherlich in die Verschwörung verwickelt; Russki, Iwanow und Brussilow sympathisierten mit ihr. Als dem letzteren die Frage der Absetzung des Zaren vorgelegt wurde, soll er gesagt haben: ‚Wenn ich zwischen dem Zaren und meinem Vaterlande zu wählen habe, werde ich für das letztere entscheiden.‘ Die Stimmung der Offiziere äußerte sich deutlich genug in den überschwänglichen Demonstrationen, als die Nachricht von der Ermordung Rasputins eintraf. Ein weiterer Beweis für die Verschwörertätigkeit der Heerführer ist der Umstand, dass die in Petrograd stationierten Regimenter aus jungen Rekruten bestanden, die soeben aus den Fabriken kamen und vor Unzufriedenheit schäumten, geführt von Offizieren, deren Zahl nicht ausreichte, und die zu einem großen Teil eben erst aus den Spitälern entlassen worden waren, krank, verwundet, zusammengebrochen. …
Sie (gemeint sind die Generäle, A.S.) waren entschlossen, Nikolaus den II loszuwerden. Es ist kennzeichnend, dass, als die Nachricht von dem Ausbruch der Unruhen in Petrograd das Oberste Hauptquartier erreichte und der Zar sofort in die Hauptstadt zurückkehren wollte, um das Kommando zu übernehmen, er in Pskow durch General Russki aufgehalten wurde. Die Explosion erfolgte vorzeitig – zufolge eines unerwarteten Ausbruches unter dem elenden stehenden Heer der Menschenschlangen, die ihre Not nicht mehr ertragen konnten -, bevor die militärische Zündschnur zum Abbrennen fertig war. Die Explosion sprengte den Zarismus in die Luft, zerschmetterte aber gleichzeitig das gutorganisierte Komplott der Generale. Das Feuer, das zu früh ausbrach, konnte durch die Brandstifter nicht mehr kontrolliert werden. An die Stelle eines wohlgeregelten Staatsstreiches der Generale, der vom Hauptquartier aus geleitet wurde und fest umrissenen Traditionen folgte, trat ein Aufstand des Proletariats, dessen Verlauf kein Präzedenzfall regeln konnte, außer der der Französischen Revolution.
Die Beweismaterialien, auf die ich die hier angeführten Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ursachen der Revolution stütze, entstammen fast ausschließlich offiziellen Berichten, die sich in meinem Besitz befinden.“ (David Lloyd George: Mein Anteil am Weltkrieg, Kriegsmemoiren Bd. 2, Berlin 1934, S. 308-309)

33 Z 109, S. 33

34 Der Text des Schutzumschlages des Piper Verlages macht aus Suchanow einen parteilosen Sozialisten, der „der Regierung des Zaren (angehört)“ hätte. Eine Absurdität, die dem Lektorat keine Ehre macht.

35 Im September 1915 trafen sich in Zimmerwald (Schweiz) linke Vertreter der europäischen Sozialisten und verabschiedeten mehrheitlich eine Resolution für einen sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen. Dies war die erste gemeinsame öffentliche Stellungnahme von Sozialisten und Sozialdemokraten der kriegführenden Länder gegen die vorherrschende Politik des Sozialpatriotismus. Als Friedenslosung war diese Formel allerdings unzulänglich, da sie die sog. revolutionäre Vaterlandsverteidigung, das heißt die weitere Fortführung des Krieges, zuließ.

36 LW Bd. 25, S. 297

37 Alfred Schröder/Heiner Karuscheit: Das Revolutionsjahr 1917, Hamburg 2017

38 Pipes 1992, S. 425; auf eine Literaturliste wird in den hier abgedruckten Auszügen verzichtet; sie findet sich in dem zitierten Buch.

39 Pipes 1992, S. 473

40 Russland hatte 1914 über 5 Mio. Rekruten für den Krieg einberufen. In immer neuen Rekrutierungswellen wurden bis 1917 über 15 Mio. Soldaten rekrutiert.

41 Petrograd hatte zu diesem Zeitpunkt ca. 2 bis 2,5 Mio. Einwohner; die Zahlenangaben schwanken.

42 Aber die Kälte mit ihrem Dauerfrost verschärfte nicht nur die Versorgungslage in Petrograd, sie schuf zugleich eine der praktischen Voraussetzung für den Erfolg der anstehenden Revolution. Die Stadt selbst war so angelegt worden, dass ihr politisches Zentrum jederzeit von den Vororten mit dem industriellen Proletariat abgeschnitten werden konnte, indem die Zugbrücken über die Newa und ihre Seitenarme hochgezogen wurden. Die Kälte des Februars aber ließ die Newa komplett zufrieren. Ein Hochziehen der Zugbrücken verhinderte unter diesen Bedingungen nicht mehr das Vordringen der Demonstrierenden in die Innenstadt. Das Eis der Newa war zu einer breiten »Brücke« geworden, die in den entscheidenden Tagen des Februars die Vororte mit dem politischen Zentrum Petrograds verband. Dies ist für den Verlauf der Februarrevolution von wesentlicher Bedeutung.

43 Siehe dazu Gudaitis 2004, S. 124

44 Die Ochrana durfte keine Spitzel oder Agenten im zaristischen Militär unterhalten.

45 Anschaulich geschildert in Figes 1998, Kapitel 7.

46 »Bis Anfang 1915 hatte die russische Armee bereits 1,8 Millionen Mann an Toten, Verwundeten und Kriegsgefangenen verloren. Die hohen Verluste halbierten den Kaderbestand der Vorkriegszeit … der am besten ausgebildeten Truppen. Die zwei Millionen Neurekrutierten, die sie ersetzen sollten, erhielten nur noch eine Grundausbildung von wenigen Wochen, bevor sie an die Front geschickt wurden. Auch ihre Bewaffnung blieb mangelhaft, weil die militärische Führung nur für einen kurzen Krieg geplant und den Bedarf an Gewehren und Granaten gehörig unterschätzt hatte. Das trieb die Verlustraten hoch. Die militärische Führung setzte auf zahlenmäßige Stärke. In immer neuen Mobilisierungswellen wurden schließlich über 15 Millionen rekrutiert.« (Altrichter 1997, S. 102)

47 Eine Vielzahl freier Berufe sowie große Teile der Intelligenz waren im Zarismus vom Wehrdienst freigestellt oder konnten sich ihm ohne Schwierigkeiten relativ problemlos entziehen. Die Hauptlast immer neuer Einberufungswellen trug die russische Bauernschaft.

48 Gudaitis 2004, S. 128

49 So wurden 1.000 bis 1.500 Rekruten in Unterkünften zusammengepfercht, die ursprünglich für eine Kompanie ausgelegt waren.

50 Neben der Duma das zweite Verfassungsorgan, vorwiegend mit Adligen, hoher Geistlichkeit und einzelnen Industriellen und Bankiers besetzt. Die Hälfte seiner Mitglieder wurde vom Zaren direkt bestimmt. Die Aufgabe dieses Gremiums war die Prüfung von Gesetzen. Der Staatsrat wurde regelmäßig zum Friedhof aller Gesetzesinitiativen der Duma. Die letztliche Entscheidungsmacht allerdings lag einzig beim Zaren.

51 Die Duma war ein nach Zensuswahlrecht und nationalen Beschränkungen gewähltes »Parlament« ohne tatsächliche Macht. Die letztendliche politische Entscheidung lag beim Zaren und seinem Staatsrat. Die bürgerliche Geschichtsschreibung spricht von einem Scheinparlamentarismus oder Scheinkonstitutionalismus. Die Zusammensetzung der Duma bei Ausbruch des Weltkrieges hinsichtlich der politischen Parteien war folgende: zwölf Sozialdemokraten (fünf Bolschewiki und sieben Menschewiki), zehn Sozialrevolutionäre (Trudowiki), 47 Progressisten, 57 Kadetten, 85 Oktobristen, 33 Zentristen, 20 Progressive Nationalisten, 60 Nationalisten und 64 Rechte (zumeist »Schwarzhunderter«).

52 Die Kadetten, oftmals als »Professorenpartei« verspottet, vertraten den liberalen Landadel und die Freiberufler. Sie waren die eigentliche Hauptpartei der bürgerlichen Opposition.

53 Die Oktobristen, rechts von den Kadetten und links von den Schwarzhundertern, vertraten klassenpolitisch große Teile der industriellen Bourgeoisie, der Banken sowie des konservativen Landadels und beriefen sich auf das Oktoberedikt des Zaren, mit dem er die weitgehend rechtlose Duma ins Leben gerufen hatte. Ihre Gründer, u.a. Alexander Gutschkow, verstanden sie als Stütze des zaristischen Systems.

54 1916 desertierten ca. 1,5 Millionen Soldaten aus der Armee.

55 Die Sozialrevolutionäre Partei hatte die Wahl zur IV. Duma boykottiert, weshalb nur die Trudowiki, die sich an dem Boykott nicht beteiligten, in der Duma vertreten waren.

56 Russisch-japanischer Krieg von 1904-1905 um die Mandschurei und Korea. Das zaristische Regime hatte diesen Krieg aus innenpolitischen Gründen provoziert und dann blamabel militärisch verloren.

57 Auf eine Anfrage der Zarin, ob ein Besuch Rasputins im Hauptquartier der Armee möglich sei, antwortete der Befehlshaber sinngemäß: Rasputin möge gerne kommen, er würde ihn sofort aufhängen lassen.

58 Fischer Weltgeschichte Bd. 31 (1972), S. 265

59 Gewählte »Landschaften«, in denen Vertreter des Adels, der Stadtbewohner und der Bauern Aufgaben der lokalen Verwaltung übernahmen. Sie hatten keinerlei politische Befugnisse. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich auf das Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrswesen, die Wohlfahrtspflege und die Armenfürsorge, die Industrie, den Handel und die Landwirtschaft. Die Finanzierung beruhte auf Steuereinnahmen, für die ebenfalls die jeweiligen Semstwos zuständig waren.

60 Gemeint ist der russische Bauer, der das Land des Zaren, des Adels und der Kirche beansprucht.

61 Trotzki 1960, S. 42-43

62 Hildermeier 1989; S. 129