Heiner Karuscheit

Deutschland 1914

Vom Klassenkompromiss zum Krieg

Im Mittelpunkt dieser historischen Arbeit zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs steht der Gesellschaftsvertrag, der bis zu seiner Auflösung 1909 die Beziehungen zwischen den Klassen des Bismarck-Reichs bestimmte.

Der Autor beschreibt die Konsequenzen der Doppelherrschaft, die der 1867/71 zustande gekommene Klassenkompromiss hervorbrachte:

  • Er analysiert Zusammensetzung und Programmatik der drei politisch-gesellschaftlichen Blöcke, die miteinander um die Macht rangen,
  • diskutiert das Phänomen, wieso die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie eine entscheidende Ursache für die Wendung zum Krieg war,
  • widerlegt die gängige Geschichtsschreibung, der zufolge der Krieg durch die außenpolitische Lage verursacht wurde, und
  • begründet, warum die für den Waffengang notwendige Zustimmung der SPD-Führung kein „Verrat“ war, sondern die Folge einer fehlerhaften Gesellschaftsanalyse und Revolutionsstrategie.

Vorbemerkung zum Buch

Der Krieg von 1914 bis 1918 leitete nicht nur einen Zyklus von Krieg und Revolution ein, der das Gesicht Europas vollständig veränderte. Indem die Parteien der 2. Sozialistischen Internationale auf entgegen gesetzten Seiten in den Krieg traten, war sein Beginn gleichzeitig mit der bis dahin schwersten Niederlage der Arbeiterbewegung verknüpft. Die Oktoberrevolution 1917, der Sieg der Sowjetunion 1945 und der Aufbau des Sozialismus im östlichen Deutschland schienen diese Niederlage zunächst mehr als wett zu machen. Aber als 1989 die DDR unterging und die anschließende Auflösung der Sowjetunion das „kurze“ 20. Jahrhundert mit dem Triumph des Kapitalismus zu Ende gehen ließ, stand der Marxismus erneut vor einem Trümmerhaufen, der nur diesmal um einiges gewaltiger war als 1914 – und genau so unbegriffen.

Die Beschäftigung mit diesem Problem führt zu der Fragestellung, warum das Deutsche Kaiserreich 1914 überhaupt in den Krieg gegangen ist. Wurde es vom Kapital dort hineingetrieben? Aber welches Kalkül soll dafür maßgeblich gewesen sein? Seit der Reichsgründung hatte die deutsche Wirtschaft einen unglaublichen Aufschwung genommen, Frankreich und Großbritannien überholt und zusammen mit den USA die Spitze der kapitalistischen Weltwirtschaft übernommen. Weit sicherer als durch eine militärische Auseinandersetzung konnte man den Sieg im ökonomischen Konkurrenzkampf erringen. Warum also der Krieg?

Um darauf eine Antwort zu finden, untersucht die Publikation die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die das Kaiserreich bewegten, darin eingeschlossen die Politik der SPD, ohne deren Einverständnis der Krieg nicht zu führen war.

Ausgangspunkt ist der Klassenkonflikt, der im Preußen der 60er Jahre als Verfassungsstreit ausgetragen wurde und viel harmloser wirkte als die Revolution von 1848/49, dessen Ausgang aber die Geschicke Deutschlands und Europas bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmte. Wie ist es Bismarck seinerzeit gelungen, durch die Lösung der nationalen Frage die Beziehungen zwischen den Klassen so zu gestalten, dass die monarchisch-preußische Ordnung erhalten blieb? Im Zentrum der Analyse steht dabei der Charakter des mit der Reichsgründung zustande gekommenen Gesellschaftsvertrags, auf dem der neue Nationalstaat sowohl konstitutionell als auch massenpolitisch ruhte und der eine Form der Doppelherrschaft etablierte, die alle gesellschaftlichen Kräfte herausforderte.

Nach den Gründen für den Sturz Bismarcks und einer Charakteristik des Kaisertums von Wilhelm II. geht es um die wilhelminische Weltpolitik. Wie wirkte sie sich auf das Verhältnis zu den anderen Großmächten aus, vor allem aber: welche innenpolitischen Kräfte trieben sie voran, und wie ist es nachzuvollziehen, dass ein Steuerstreit im Jahr 1909 den Reichsgründungskompromiss zerbrechen ließ?

Mit den Auswirkungen der anschließenden Krise von Gesellschaft und Staat wird auch das Phänomen diskutiert, wieso die Rechtsentwicklung der SPD maßgeblich für die Wendung zum Krieg war. Nicht weniger erklärungsbedürftig ist es, warum ausgerechnet der Reichskanzler Bethmann Hollweg, dessen erklärtes Ziel die Sicherung des europäischen Friedens war, den Weltkrieg durch seine Risikopolitik auslöste. War das ein Krieg des Industriekapitalismus um die Macht oder ein Krieg zur Aufrechterhaltung der alten Ordnung?

In diesen Kontext wird die Entwicklung der Sozialdemokratie und ihrer politischen Programmatik eingebettet, beginnend mit der Einschätzung, die Friedrich Engels von Preußen-Deutschland vertrat. Was hatte es mit dessen Hoffnung auf die Vollendung der bürgerlichen Revolution durch einen bonapartistisch herrschenden Bismarck auf sich, und was folgte daraus für die Revolutionsstrategie?

Über das „Gothaer“ und „Erfurter“ Programm hinaus werden die weiteren Strategiedebatten analysiert, in denen die führenden Sozialdemokraten nach einer Brücke zwischen den Grundsätzen der marxistischen Theorie und einer machttauglichen Politik suchten, angefangen von Bebels Katastrophentheorie über Bernsteins Reformpolitik bis zu Kautskys „Weg zur Macht“ und Luxemburgs Position. Wie beurteilten sie die gegebenen Klassenverhältnisse und wie gingen sie mit der Hegemoniefrage um, d. h. mit der Aufgabenstellung, anstelle einer aussichtslosen proletarischen Minderheitenrevolution zu einer revolutionären Mehrheitspolitik zu gelangen?

Im Hinblick auf den Krieg werden schließlich die mit dem Übergang zur Kolonial- und Weltpolitik entwickelten Imperialismustheorien erörtert. Von welchen unterschiedlichen Szenarien eines möglichen Waffengangs ging die Parteiführung aus, und wie kam es, dass sie Anfang August 1914 nach der ursprünglichen Ablehnung binnen Tagesfrist umschwenkte und einem Krieg zustimmte, den seine Urheber u. a. mit der Absicht führten, die Arbeiterbewegung niederzuwerfen? In diesem Zusammenhang wird insbesondere begründet, wieso die Zustimmung zum Krieg kein „Verrat“ der Parteiführung war, sondern das Resultat einer Revolutionsstrategie, die auf einer grundlegenden Fehleinschätzung der Klassenkräfte im Kaiserreich beruhte.

Die hiermit vorgelegte Untersuchung des deutschen Wegs in den Krieg 1914 – 1918 ist als Auftakt zu einer größeren Arbeit geplant, welche die Wechselbeziehung zwischen der Etablierung der bürgerlichen Herrschaft und dem bisherigen Scheitern des Sozialismus zum Gegenstand hat. Als nächstes wird es dabei um das Hegemonieproblem in der Republik von Weimar sowie um die NS-Herrschaft gehen.

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