SARS und Marxismus

Von Heiner Karuscheit

Vorbemerkung

Entgegen der getroffenen Absprachen hat Kolja Wagner seine Diskussionsbeiträge für die Veröffentlichung inhaltlich umgeschrieben, u. a. zu dem von ihm so genannten „leninistischen Parteistaat“. Auch wenn meine Kritik deshalb für den Leser an der einen oder anderen Stelle nicht mehr so „passend“ erscheint, habe ich keine Veranlassung, daran auch nur ein Wort zu ändern. Kolja Wagner mag seine Formulierungen nachträglich schönen wie er will: an seinem Marxismusverständnis hat sich nichts geändert – es ist nicht das meine.


Hallo Kolja,

Ausgangspunkt der bisherigen Auseinandersetzung war deine Behauptung, dass die schnelle Ausbreitung von SARS in China durch die fehlende Pressefreiheit und den „leninistischen Parteienstaat“ verursacht worden sei. Alfreds Kritik an dieser Position hast du mit deiner Antwort „Letzte Worte zu Sars“ zurückgewiesen. Ich bin wie du der Auffassung, dass es nicht lohnt, die Debatte um SARS zu vertiefen, weil längst weiter gehende Fragen im Vordergrund stehen. Deswegen nehme ich auch nicht zu SARS Stellung, sondern zu diesen Fragen, die letztlich grundlegende Unterschiede im Verständnis des Marxismus und der heutigen Aufgaben von Kommunisten offenbaren.

Noch einmal zum „leninistischen Parteienstaat“

Zunächst will ich noch einmal auf die bereits von Alfred angerissene Frage des „leninistischen Parteienstaats“ eingehen, der deines Erachtens nicht nur die Ursache für die schnelle Verbreitung von SARS (qua fehlender Pressefreiheit) war, sondern der gesamten Entwicklung in China und insbesondere der von dir geforderten Demokratie entgegensteht. Was für einen Staat meinst du damit?

Meinst du den Staat der 20er Jahre in der Sowjetunion, der noch am ehesten mit dem Namen Lenins in Verbindung gebracht werden kann, als eine weit gehende Diskussions-, Versammlungs- und Pressefreiheit herrschte, ausgenommen die Überreste des Adels und der alten Bourgeoisie?

Oder meinst du den Staat, der sich unter Stalin in den 30er Jahren im Zeichen der sprunghaften Industrialisierung und Kollektivierung herausbildete, als die Gewalt zu einer ökonomischen Potenz wurde, und dessen zentralisierende Funktionen noch einmal durch die Notwendigkeiten der Kriegsführung gegen NS-Deutschland verstärkt wurden?

Aber was ist aus diesem Staat geworden? Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre gab es bekanntlich eine weichenstellende Auseinandersetzung über den weiteren Aufbau des Sozialismus. Dabei standen sich, sehr verkürzt gesprochen, der Staatsapparat mit Stalin an der Spitze (gestützt auf eine leistungsbereite „Stachanow“-Minderheit von Werktätigen in Industrie und Kolchos) und die Parteimehrheit (die sich insbesondere auf die Mehrheit der Arbeiter in der Schwerindustrie stützen konnte) gegenüber. Der von dir verteufelte „leninistische Parteienstaat“ wies also das Phänomen auf, dass „Partei“ und „Staat“ in der gesellschaftlichen Realität auseinander fielen, ja sogar gegeneinander standen.

Ebenso ist bekannt, dass die von Chruschtschow angeführte Parteimehrheit schließlich den Sieg davontrug, was nicht nur das Ende des sozialistischen Aufbaus, sondern auf längere Frist den Zerfall der produktiven Grundlagen der Gesellschaft nach sich zog. Auf dem Boden dieses neuen „leninistischen Parteienstaats“, wie er durch die Annäherung von Parteiorganisation und Staat unter Chruschtschow entstand, war kein weiteres Zusammenwachsen der verschiedenen Nationalitäten möglich, sondern nahm die Selbständigkeit der einzelnen Sowjetrepubliken mehr und mehr zu (du würdest es wahrscheinlich „Demokratie“ nennen). Nur auf dieser Grundlage war 1991 die alles in allem erstaunlich reibungslose Aufteilung der Sowjetunion in verschiedene unabhängige Staaten möglich. Dem Kern der Sache nach war also die „monolithische Geschlossenheit“ von Partei und Staat, die dir im Hinterkopf herumspukt und der Chimäre vom „leninistischen Parteienstaat“ zugrunde liegt, in der UdSSR erst ab den 60er Jahren vorhanden – und zugleich nicht vorhanden.

Mao: das machen wir anders als Moskau

Oder nehmen wir China. Um deine Auffassung von der Länder und Zeiten übergreifenden Kontinuität eines ewig gleichen „leninistischen Parteienstaats“ zu untermauern, schreibst du: „Dass China nach 1949 das Kader- und Staatssystem mit allem drum und dran von der Sowjetunion kopierte, darauf hat sogar Mao verwiesen.“ Der Hinweis auf Mao ist richtig – nur hast du vergessen hinzuzufügen, dass Mao die Feststellung von der Übernahme des sowjetischen Modells als Fehler der ersten Jahre bezeichnet, um sich davon abzugrenzen (die von Helmut Martin herausgegebene Zusammenstellung von Aussagen Mao Zedongs: „Das machen wir anders als Moskau“, Rowohlt 1975, breitet auf über 100 Seiten Maos Kritik am sowjetischen Weg aus). Bekanntlich konnte Mao sich gegen die Anhänger des sowjetischen Wegs in der KP Chinas durchsetzen (was dich an anderer Stelle nicht hindert, seine Politik als Quelle allen Übels in China zu brandmarken). Was soll also die abgeschnittene Zitierung von Mao Zedong, wenn die vollständige Aussage auf das genaue Gegenteil eines identischen sowjetisch-chinesischen „leninistischen Parteienstaats“ hinausläuft? Willst du uns für dumm verkaufen?

Was übrig bleibt an Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Staaten, sind Trivialitäten wie Gewaltmonopol, Bürokratie, Verwaltungsapparat, bestimmte Formen der Verschränkung von Partei und Staat etc, die Stoff für viele Universitätskolloquien bieten, aber mehr auch nicht. Wissenschaftlich ist dein „leninistischer Parteienstaat“ eine leere Abstraktion ohne historisch-konkreten Inhalt, von etwa der gleichen Qualität wie der Begriff „Stalinismus“, wofür er nur ein Synonym ist. Auf seine eigentliche Funktion hat schon Alfred verwiesen: er ist ein politischer Kampfbegriff aus der Klamottenkiste des Antikommunismus, der zu nichts anderem diente (und augenscheinlich immer noch dient), als alle Versuche des vergangenen Jahrhunderts, eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, zu diffamieren.

Wer soll der Träger einer demokratischen Entwicklung in China sein?

So ablehnend du dem „leninistischen Parteienstaat“ gegenüberstehst, desto überzeugter vertrittst du das von dir propagierte Gegenbild einer (bürgerlichen) Demokratie in China. Wer soll aber der Träger einer demokratischen Entwicklung in dem Riesenreich sein? Die in den vergangenen Jahrzehnten entstandene Bourgeoisie hat mit Sicherheit keinerlei Interesse an einer demokratischen Umwälzung. Die Regierungspolitik „Wirtschaftliche, aber keine politischen Freiheiten“ kommt den Interessen dieser Bourgeoisie meiner Meinung nach aufs vortrefflichste entgegen, aus einem einfachen Grund: Der ablaufende Prozess der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, der damit einhergehende Umsturz der überkommenen Verhältnisse, die soziale Entwurzelung von Millionenmassen chinesischer Bauern und Arbeiter, die nach deinen eigenen Worten „größte Umwälzung der Klassenverhältnisse in der Menschheitsgeschichte“ (wenn sie es denn ist) bedingt mit Notwendigkeit, dass die Massen so weit wie irgend möglich aus der Politik herausgehalten, von den Möglichkeiten politischer Einflussnahme ferngehalten werden müssen.

Du selber schreibst in einer Arbeit hierzu: „In China könnte aber auch die Klassenkonstellation eintreten, die zum Bündnis der schwachen Bourgeoisie mit dem autoritären Staat gegen die Arbeiter und Bauern führt. Aus Angst vor diesen Bewegungen (der Bauern und Arbeiter, H. K.) könnten sich die Unternehmer und die Mittelschichten an den Staat wenden. Schließlich nutzt es den Unternehmern, dass es in China kein Streikrecht und keine unabhängigen Gewerkschaften gibt und dass sie mit den rechtlosen Wanderarbeitern über billige Arbeitskräfte verfügen.“ Diesen Ausführungen kann ich nur zustimmen, bis auf die Tatsache, dass die benannte Klassenkonstellation nicht irgendwann eintreten könnte, sondern dass sie seit Jahren existiert und den chinesischen Staat trägt (siehe Anmerkung)

Fraktionen der Bourgeoisie und die Frage des Rechtsstaats

Bei einer näheren Beschäftigung mit dem Thema müssten die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie genauer untersucht werden. Wahrscheinlich gibt es einige Unterschiede zwischen der großen Bourgeoisie und der Masse der mittleren und kleinen Kapitalisten. Zur Bourgeoisie dürfte auch eine Minderheit von Bauern gehören, die mittlerweile in der einen oder anderen Art und Weise über größere Landflächen verfügen und Formen der Lohnarbeit einsetzen (z. B. in Form der Familienproduktion).

Gleichzeitig haben die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie eine unterschiedliche Nähe zum Staat. Während die Geschäfte der einen durch Korruption und „illegale“ Praktiken blühen, sitzen die anderen nicht so dicht an den staatlichen Fleischtöpfen, woraus unterschiedliche Haltungen zur Einführung eines Rechtsstaats resultieren. Vielleicht gibt es irgendwann ein überwiegendes Interesse entscheidender Teile der Bourgeoisie an rechtsstaatlichen Verhältnissen, um dauerhaft die für eine reibungslose Reproduktion des Kapitals notwendige Sicherheit zu haben. Die Durchsetzung solcher Rechtsverhältnisse hätte allerdings mit einer demokratischen Revolution wenig zu tun (manchmal habe ich bei deinen Arbeiten den Eindruck, dass du die Forderung nach einem Rechtsstaat bereits für bürgerlich revolutionär hältst). Und ob dieser Schritt gelingt, ist noch eine ganz andere Frage, hat doch das China von heute mit der sich auflösenden Feudalordnung des alten Europa wenig gemein. Leider habe ich zu den ganzen gesellschaftlichen, sozialen Verhältnissen, die einen Marxisten vorrangig interessieren sollten, aus deiner Feder bisher wenig gefunden.

Wie dem auch sei: dass irgendein Teil der Bourgeoisie sich gegen Partei und Staat aufstellt, wenn die Massen in Aufruhr geraten und es Spitz auf Knopf geht, erscheint mir abwegig.

Zu den sozialen Inhalten einer bürgerlichen (?) Revolution

Kommen wir damit zu den gesellschaftlichen Kräften, die für eine demokratische Revolution in Betracht kommen, und das sind Arbeiter und Bauern (die Intellektuellen vernachlässige ich, weil a) du selber ihnen keine revolutionäre Potenz beimisst, und b) sie letztlich nur im Rahmen der Bewegung der Hauptklassen eine Rolle spielen können). Welchen sozialökonomischen Inhalt soll eine demokratische Umwälzung haben? Der Marxismus betrachtet die Demokratie nicht als Selbstzweck, sondern als politische Form, in der bestimmte Klasseninteressen zur Geltung gebracht werden. Damit stellt sich die Frage, für welche materiellen Interessen die oppositionellen Klassenkräfte eintreten, denn nur dann werden sie den politischen Umsturz wollen.

Die alte Arbeiterklasse, hauptsächlich in der Schwerindustrie zu Hause, tritt für die Sicherung bzw. Wiederherstellung ihrer „angestammten Rechte“ ein, sprich lebenslanger Arbeitsplatz, Wohnung und soziale Sicherung, das alles organisiert durch die bisherigen Staatsbetriebe, um deren Erhalt sie mit allen Mitteln kämpft. Die neue Arbeiterklasse dagegen, die in den Privatfabriken der neuen Bourgeoisie arbeitet, hat keine „angestammten“ Rechte, für deren Erhalt sie kämpfen kann. Sie tritt für menschenwürdige Arbeitsbedingungen, höhere (oder auch nur: sichere) Löhne, sozialen Schutz bei Alter und Krankheit etc. ein (auf der Website WELT IN UMWÄLZUNG finden sich sehr detaillierte Darstellungen der gegenwärtigen Lebensumstände sowohl der „neuen“ als auch der „alten“ Arbeiterklasse mitsamt den daraus resultierenden sozialen Kämpfen).

Möglicherweise kommen beide Fraktionen der Arbeiterklasse in der Forderung nach Streikrecht und der Zulassung unabhängiger Gewerkschaften zusammen. Aber mehr als nur eine formale Kampfeinheit wird dies nicht sein, denn die Organisation ist kein Selbstzweck, sondern dient der Durchsetzung bestimmter (hier sehr unterschiedlicher) materieller Ziele. Schon allein bei näherer Betrachtung der verschiedenen Teile der Arbeiterklasse zeigt sich, wie schwer es sein dürfte, die divergierenden Interessen zusammenzubringen und eine hegemoniale Programmatik (unter wessen Hegemonie?) für eine (bürgerliche? demokratische? sozialistische?) Revolution zu entwickeln.

Die Bauern als „fortschrittliche Kraft“?

Erst recht stellt sich dieses Problem, wenn man zu den Bauern übergeht, die nach wie vor die Mehrheit des chinesischen Volkes darstellen und über eine nicht unwichtige revolutionäre Tradition verfügen. Deine Auffassung hierzu tut sich in der Zwischenüberschrift deiner Antwort auf Alfreds Kritik kund: „Die Bauern als fortschrittliche Kraft“. Näher führst du dazu aus, dass nach deiner „eigenen Erfahrung es die Bauern und nicht die Studenten (sind), die sehr unzufrieden mit dem politischen System sind und politische Freiheiten und rechtsstaatliche Sicherheit wollen.“ Unterstellt, es ist so, wie du schreibst – welchen Gebrauch wollen die Bauern von den „politischen Freiheiten“ machen? Welche ökonomisch-sozialen Ziele verfechten sie, zu deren Durchsetzung sie „politische Freiheiten“ verlangen? Die Antwort liegt auf der Hand: sozial können sie gar nicht anders als für Erhalt und Verbesserung ihrer gegebenen Produktions- und Lebensverhältnisse einzutreten. Das bedeutet Schutz der agrarischen Kleinproduktion, und da musst du einem marxistisch gebildeten (oder auch nur mit einem gesunden Menschenverstand ausgestatteten) Menschen schon erklären, wieso dieses Interesse die chinesische Bauernschaft zu einer „fortschrittlichen Kraft“ macht.

Zu einer anderen Auffassung über die (notwendig sich ergebenden) Ziele der chinesischen Bauernmassen kann man nur gelangen, wenn man wie du vertritt: „Die meisten (Bauern) haben erkannt, dass die Landwirtschaft keine Zukunft hat und setzen alles daran, dass ihre Kinder etwas anderes lernen.“ Das soll offenbar heißen, dass 600 Millionen chinesische Bauern nicht mehr entsprechend ihren sozialen Interessen handeln, sondern für den Untergang der eigenen Lebensgrundlagen eintreten, um sich für den geschichtlichen Fortschritt (bzw. was du dafür hältst) aufzuopfern, damit künftige Generationen die Sonne genießen können. Das ist eine wahrhaft wurzelhafte Erweiterung des Marxismus – sie ist nicht nur blanker Idealismus, sondern schlichtweg absurd.

Von daher macht es einen Sinn, wenn du über den sozialen Inhalt einer bürgerlichen Revolution in China so gut wie nichts ausführst bzw. den agrarischen Massen unterstellst, sie hätten keine bäuerlich-sozialen Interessen mehr. Auf dieser luftigen Grundlage lässt sich nämlich umso großzügiger über die reine Demokratie fabulieren. Deshalb musst du dir auch den Vorwurf gefallen lassen, dass du dich mit deinen Forderungen nach Demokratie als solcher auf das Niveau eines George W. Bush begibst. Der Unterschied dürfte indes sein, dass George W. Bush weiß, wovon er redet (bzw. seine Berater es wissen): für sie ist die Forderung nach Demokratisierung Kernpunkt einer Strategie, China in innenpolitische Krisen zu stürzen, um seinen unerwünschten Aufstieg zu verhindern. Diese Krisen werden wahrscheinlich so oder so kommen, und mir ist, offen gestanden, schleierhaft, was an ihrem Ende anderes stehen soll als der (mindestens vorübergehende) Zerfall des Landes, verbunden mit der Entstehung von warlords und mehr oder weniger selbständigen Regionen, wie das alles aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bekannt ist. Das dürfte der reale Inhalt der inhaltsleeren Phrase vom chinesischen Drachen werden, dessen Brüllen Europa erzittern lassen soll – mit dem kleinen Unterschied, dass auf absehbare Zeit keine revolutionär-marxistische Perspektive in Aussicht steht.

Jenseits des Marxismus

Dass es sich bei deinen Positionen nicht um verunglückte Gedankengänge handelt (wie ich zeitweise dachte), zeigen deine Vorwürfe gegen unsere bisherigen Veröffentlichungen. Du kritisierst, dass in den Untersuchungen zur Sowjetunion, insbesondere in dem Buch Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus „Fragen von Bürokratie, Parteiaufbau, politisches System usw. kaum behandelt“ werden, und vertrittst, dass man „die Geschichte des Sozialismus mit einer Reduzierung auf Klassenverhältnisse, Charakter der Bauernschaft, Parteistrategie nicht ausreichend klären kann.“ Genau hier liegt des Pudels Kern. Selbstredend gehört zur vollständigen Darstellung einer Gesellschaftsordnung nicht nur die Untersuchung ihrer materiellen Basis, der Klassen und ihrer Kämpfe, sondern auch ihres Überbau; bestreiten könnte das nur ein Esel.

Aber es geht um etwas anderes: dir passen die Ergebnisse unsere Klassenuntersuchungen nicht. Da du sie jedoch nicht widerlegen kannst oder willst, weichst du stattdessen in den gesellschaftlichen Überbau aus und entdeckst das Wesen der Dinge in „Bürokratie, Parteiaufbau, politisches System“. Auf diese Weise kannst du sowohl den „leninistischen Parteienstaat“ als Urheber aller Übel des Sozialismus ausmachen als auch die chinesischen Bauern als Träger des Fortschritts, weil sie angeblich nicht mehr für ihre sozialen Interessen eintreten, sondern für die reine Demokratie. Beides zeigt, dass du mittlerweile politisch ebenso weit vom Marxismus entfernt stehst wie erkenntnistheoretisch vom historischen Materialismus. Ich kann die von dir vertretenen Positionen nur als bürgerlich-idealistisch, wenn nicht reaktionär bewerten.

Anmerkung

In deinem Artikel China als neues Schlachtfeld einer sozialen Revolution? von 2002, der zur Vorbereitung des China-Seminars im Februar 2003 diente, steht allerdings noch etwas völlig anderes. Dort heißt es über die neuen bürgerlichen Schichten: „Vielleicht werden es gerade diese neuen Mittelschichten sein, die zur treibenden Kraft einer demokratischen Bewegung werden. Da sie wirtschaftlich als Unternehmer und Konsumenten (…) selbst entscheiden können, werden sie eines Tages vielleicht auch die politische Mitbestimmung, sprich bürgerliche Republik, einfordern.“ Durch welches Wunder außer durch die Kraft deiner Feder die Bourgeoisie (die du hier als „Unternehmer“ zu den neuen Mittelschichten rechnest) binnen eines Jahres von einer potenziell revolutionären zu einer konterrevolutionären Kraft geworden ist, wird uns verschwiegen.

In demselben Artikel schreibst du (gegen den Autor Karl gerichtet, der die Auswirkungen der ursprünglichen Kapitalakkumulation in China beschrieben hat): „Die Gewinner des chinesischen Wirtschaftswunders sind nicht nur eine kleine Minderheit, sondern Hunderte Millionen Menschen. In den Städten befinden sich breite Schichten im Konsumrausch. Fast jeder Chinese isst, kleidet, lebt und wohnt heute besser als vor den Reformen von 1979.“ Wer die Veröffentlichungen von „wildcat“ auf der Web-Site Welt in Umwälzung oder die von Alfred zitierten Schilderungen des Elends, in dem SARS sich ausgebreitet hat, liest, ist immer schon zu einem anderen Urteil über die segensreichen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung auf die Massen in China gekommen.

Du selber weist in deinen „letzten Worten zu Sars“ Alfreds Vorwurf, „ich würde das Elend der kapitalistischen Modernisierung vertuschen und hätte in den letzten zwei Jahren nur Ideologie produziert“, als „rein demagogisch“ zurück. Demagogie sicherlich, es fragt sich nur, wer hier demagogisch ist bzw. – wie kurz soll das Gedächtnis deiner Leser sein?

Letzte Änderung: 21.03.2016