… und das Scheitern des „Berliner Alternativen Geschichtsforums“ bei seiner Erklärung
Von Heiner Karuscheit
Aus Anlass des halben Jahrhunderts, das seit dem Aufstand in der DDR vergangen ist, haben 27 PDS- oder DKP-nahe Historiker, zusammengeschlossen als „Berliner Alternatives Geschichtsforum“, eine gemeinsame Stellungnahme „Zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953“ herausgegeben (abgedruckt in den Marxistischen Blättern Nr. 3/03). Die namentlich aufgezählten Autoren sind bis auf wenige Ausnahmen alle Professoren und Doktoren. Man konnte angesichts des gesammelten Sachverstands also hoffen, in einer Frage, die für die Glaubwürdigkeit des Marxismus eine erhebliche Rolle spielt, Klarheit zu erhalten.
Unterschiedliche Revolutionsstrategien
Ausgangspunkt des Geschichtsforums ist, dass die Ereignisse des 17. Juni vor dem Hintergrund der Weltlage beurteilt werden müssen. „Die Entwicklung in der DDR bis zum Sommer 1953 war untrennbar in die damalige internationale Lage eingebettet.“ Dem kann man nur zustimmen. Jenseits dieser Feststellung fängt jedoch ein weites Feld der Beschönigung und Verkleisterung von Widersprüchen durch das Geschichtsforum an. So heißt es gleich anschließend: „Die Sowjetunion und die Führung der DDR erstrebten ein militärisch neutrales Gesamtdeutschland außerhalb der bestehenden bzw. sich bildenden Militärblöcke.“ Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit, denn tatsächlich waren die sowjetischen und deutschen Kommunisten über der Frage der Zukunft Deutschlands tief gespalten.
Ein „militärisch neutrales Gesamtdeutschland außerhalb der Blöcke“ strebte 1952/53 nur ein Teil der sowjetischen Führung an, voran Stalin und das so genannte „Parteizentrum“. Stalin hatte eine illusionslose Einschätzung des Kräfteverhältnisses sowohl weltweit als auch in Deutschland. Er ging davon aus, dass Deutschland noch nicht reif für den Sozialismus war. Hier stand nach wie vor die Vollendung der bürgerlichen Revolution an, angesichts der Spaltungspolitik Adenauers und der Westalliierten in nationaldemokratischer Form als Kampf um die Einheit Deutschland.
Die Sowjetunion hielt Stalin nach den gewaltigen Opfern im 2.Weltkrieg für zu schwach, um dem Druck durch ein vereintes Lager des Westens dauerhaft stand zu halten. Er fürchtete, dass die sowjetische Wirtschaft durch die aufgezwungene Hochrüstung überfordert würde, und setzte alles daran, den sich abzeichnenden westlichen Militärblock nicht zustande kommen zu lassen. Der entscheidende Keil für die Spaltung des „imperialistischen Lagers“ war für ihn Deutschland. In den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus“ ist diese von Stalin bis zu seinem Tod verfochtene Orientierung in den Kernpunkten nachzulesen.
Die DDR als sozialistischer Vorposten gegen „das“ imperialistische Lager
Demgegenüber vertrat ein anderer Teil der sowjetischen Führung, der vor allem in der KPdSU repräsentiert war (nicht in der Regierung) und seinen Führer in Chruschtschow fand, eine viel optimistischere Einschätzung des Kräfteverhältnisses. Dieser Teil ging davon aus, dass die Sowjetunion es mit dem ganzen Lager „des“ Imperialismus aufnehmen könne. Die „Zwei-Lager-Theorie“ wurde als Offensivstrategie im Hinblick auf den baldigen weltweiten Sieg des Sozialismus verfochten. Die Opferung der DDR, um die UdSSR zu entlasten, kam für diese Kräfte nicht in Betracht. Im Gegenteil strebten sie den schnellstmöglichen Aufbau des Sozialismus an, damit die DDR als sozialistischer Vorposten im Entscheidungskampf gegen das Lager des Imperialismus eine maßgebliche Aufgabe übernehmen könne.
Am allerwenigsten war „die Führung der DDR“ für ein „neutrales Gesamtdeutschland“. Sie war für den Aufbau des Sozialismus so schnell wie möglich, wenn nicht in ganz Deutschland (was man nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit hoffen konnte), dann wenigstens im sowjetisch besetzten Teil.
Die „Stalin-Note“ vom März 1952 brachte die Dinge ins Rollen; sie war letzten Endes der Auslöser der Ereignisse, die zum 17. Juni 1953 führten. In dieser Note der sowjetischen Regierung bot Stalin die Abhaltung freier Wahlen gegen die Neutralitätsverpflichtung des wiedervereinten Deutschland an. Wurde die Note umgesetzt, so ergab sich folgendes: die Sowjetunion nahm ein bürgerliches Gesamtdeutschland in Kauf, unter Verzicht auf ihre vorgeschobene Position in der DDR. Auf der anderen Seite fiel Westdeutschland als Stützpfeiler für das amerikanische Militärbündnis weg, und ohne das kontinentaleuropäische Schlüsselland konnten die USA sich nicht auf Dauer in Europa halten; der Druck auf die UdSSR ließ also nach. Revolutionsstrategisch bzw. auf lange Sicht bewirkte der taktische Rückzug daher eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Sowjetunion und der Kräfte des Umsturzes in Europa.
Bis heute wird ein erbitterter Historikerstreit darüber geführt, ob die Stalin-Note ernst gemeint war oder nicht, und ob sie eine reale Chance bot, die Wiedervereinigung zu erlangen und die beginnende Blockkonfrontation aufzulösen. Beide Seiten können für ihre Bewertung überzeugende Fakten ins Feld führen. Das hat einen einfachen Grund: die unterschiedlichen Fraktionen in der sowjetischen Führung vermittelten gegensätzliche Positionen zu der Note, waren aber gleichzeitig bemüht, nach außen keinen offenen Streit zu dokumentieren.
Der Übergang zum Sozialismus
Wurde die Stalin-Note umgesetzt, stand die SED vor der Gefahr, die Macht und damit die Möglichkeit zu verlieren, den Sozialismus einzuführen. Deshalb ließ die Parteiführung kurze Zeit nach der Stalin-Note, im Juli 1952, auf der 2. Parteikonferenz den Aufbau des Sozialismus beschließen, um so ein unüberwindliches Hindernis gegen die Wiedervereinigung zu errichten.
Über die Reaktion der Kommunisten in der Sowjetunion zu diesem Beschluss schreibt das Geschichtsforum: „Nach Zögern stimmte die sowjetische Führungsmacht diesem Vorhaben zu.“ Wiederum verhüllt die Wortwahl das Entscheidende, denn dem Moskauer „Zögern“ lagen heftige Auseinandersetzungen zugrunde. Es gab eine Mehrheit im Politbüro der KPdSU, welche den deutschen Sozialismusaufbau gegen Stalin befürwortete.
Die Reaktion Stalins darauf war, dass er für den Oktober des Jahres den 19. Parteitag der KPdSU einberufen ließ, auf dem das Politbüro durch ein vielköpfiges Präsidium ersetzt wurde. In seiner Rede auf dem Parteitag selber wies er die Forderung nach Übergang zum Sozialismus ausdrücklich zurück und stellte den Kommunisten stattdessen die Aufgabe, an die Spitze des Kampfes um Demokratie und nationale Unabhängigkeit zu treten. Das war eine unverhüllte Kritik an der Linie der SED und der „Linken“ in der KPdSU. Sein Tod wenige Monate später, im März 1953, verhinderte, dass der Linienkampf in aller Offenheit ausgetragen wurde, und gab den späteren Siegern die Gelegenheit, die vorhandenen Widersprüche unter den Teppich zu kehren.
Aufgenötigter Konsumverzicht
Die Folgen des Sozialismusbeschlusses der SED waren weit reichend. Zum einen wurde der Forderung nach Einheit Deutschlands der Boden unter den Füßen weggezogen, sie war von da an unglaubwürdig, denn die kommunistische Politik praktizierte das Gegenteil von dem, was die kommunistische Propaganda forderte.
Schlimmer noch waren die ökonomisch-politischen Folgen. Ökonomisch bedingte der Aufbau des Sozialismus die Verlagerung gesellschaftlicher Mittel von der Konsumgüterherstellung zur Produktion von Produktionsmitteln, um unter Kappung der Verbindungen zu Westdeutschland eine eigene schwerindustrielle Basis zu schaffen. Das lief in der nächsten Zukunft auf einen Konsumverzicht hinaus. Nun wäre eine politisch überzeugte Arbeiterklasse vielleicht zu einem solchen Verzicht bereit gewesen, tatsächlich erfuhren die ostdeutschen Arbeiter aber erst aus der Zeitung, dass ab jetzt „ihre“ sozialistische Gesellschaftsordnung errichtet wurde. Offenkundig war von der Richtigkeit des Übergangs auch im Nachhinein nur eine Minderheit in der Arbeiterschaft überzeugt. Das Geschichtsforum, das den Sozialismusbeschluss mit keinem Wort kritisiert, hüllt sich auch zu dieser massenpolitisch entscheidenden Frage in Schweigen.
Bruch mit dem Kleinbürgertum
Politisch bedeutete der Aufbau des Sozialismus den Bruch des bisherigen Bündnisses mit dem Kleinbürgertum durch Enteignung von Bauern und Handwerkern, Vorgehen gegen Intellektuelle und die Kirchen. Diese Tatsache wird vom Geschichtsforum auch festgestellt, allerdings mit der Anmerkung versehen: „Zusätzlich bot Stalins These, mit dem Aufbau des Sozialismus verstärke sich auch innerhalb des jeweiligen Landes der Klassenkampf, die Grundlage für administrative sowie sektiererische politische Praktiken.“ Diese Kommentierung hat es in sich. Die Feststellung Stalins bezieht sich auf die 30er Jahre in der Sowjetunion, aber sie im Zusammenhang mit dem Sozialismusaufbau in der DDR zu zitieren, suggeriert, dass Stalin diesen befürwortete, während das Gegenteil der Fall war.
Angesichts des auf sie ausgeübten Drucks flüchteten die Kleingewerbetreibenden und Akademiker zu Hunderttausenden nach Westdeutschland, so dass die DDR-Wirtschaft binnen weniger als einem Jahr vor dem Kollaps stand. Da die SED-Führung nicht bereit war, von ihrem Sozialismusbeschluss abzurücken, blieb kein anderer Ausweg, als die Arbeitsnormen in der Industrie zu erhöhen, um den Niedergang aufzuhalten.
Ein aufgezwungener Kurswechsel
Währenddessen war es in Moskau nach Stalins Tod zu einer vorübergehenden Machtteilung zwischen den gegnerischen Kräften gekommen. Während in der Partei Chruschtschow an die Spitze trat, wurde die Regierung von Malenkow und Berija übernommen. Ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen hielten beide den Sozialismusaufbau in der DDR für abenteuerlich und führten Ende Mai 1953 einen Beschluss des Ministerrats der Sowjetunion, d. h. der Regierung, herbei, welcher angesichts des wirtschaftlichen Desasters von der DDR-Führung einen „neuen Kurs“ forderte. Die LPGs sollten wieder aufgelöst, die Konsumgüterproduktion auf Kosten des Aufbaus der Schwerindustrie angekurbelt, Intellektuelle und Geistliche nicht länger verfolgt und die massenhaft verhängten Gerichtsurteile überprüft werden.
Das Geschichtsforum bemerkt hierzu lapidar: „Es dauerte noch Wochen, ehe die notwendigen Entscheidungen zwischen Berlin und Moskau abgestimmt waren.“ Der Ministerratsbeschluss ist in voller Länge u. a. im Anhang zu Schirdewan „Aufstand gegen Ulbricht“ abgedruckt (Aufbau-Taschenbuchverlag, Berlin 1994). In ihm wird der SED nicht nur bis in Einzelheiten der „neue Kurs“ vorgeschrieben, sondern es heißt dort, dass „Hauptursache der entstandenen Lage“ die „Beschlüsse der Zweiten Parteikonferenz der SED“ seien, nämlich die „fehlerhafte politische Linie“ des „Übergangs zum Sozialismus“. Ausdrücklich wird gefordert, diese Linie zurückzunehmen und stattdessen als Hauptaufgabe den „Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage“ zu führen.
Es ist also für jedermann nachzulesen, dass die wochenlangen Abstimmungsschwierigkeiten heftige politische Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Moskau sowie innerhalb der sowjetischen Führung zur Ursache hatten, und dass den Kern der Differenzen die Frage des sozialistischen Aufbaus bildete. Offenbar muss man schon Professor sein, um diese Auseinandersetzungen zu übersehen.
Die Reaktion der Arbeiter
Den Sozialismusbeschluss nahm die SED-Führung nicht zurück (es war ihr bekannt, dass diese Frage in Moskau umkämpft war, und sie spielte auf Zeit), aber wirtschaftlich musste sie den „neuen Kurs“ umsetzen. Das hatte zur Folge, dass alle Maßnahmen gegen Handwerker, Bauern und Intellektuelle aufgehoben und u. a. Anfang Juni für die ca. 2 Millionen Angehörigen des Mittelstandes die zunächst wegrationierten Lebensmittelkarten neu ausgegeben wurden.
Zur gleichen Zeit stellten die Arbeiter beim Blick in ihre Lohntüten massenhaft fest, dass der Lohn geschrumpft war, weil sie die erhöhten Normen nicht oder nicht vollständig erfüllt hatten. Diese Konstellation brachte das Fass zum Überlaufen: eigene Lohneinbußen, während die sowieso Bessergestellten durch neue Lebensmittelkarten begünstigt wurden, und das im Zeichen des Sozialismus! Beginnend am 15. Juni begann die Arbeiterschaft mit Protestaktionen, die schließlich am 17. Juni kulminierten. Dass die Aktionen von westlicher Seite aus ausgenutzt wurden, ist völlig unerheblich; entscheidend ist, dass die verfehlte Sozialismuspolitik der SED den Aufstand hervorgerufen hatte.
In Moskau trug der 17. Juni zum Sieg derjenigen bei, die immer schon die „Zwei-Lager-Theorie“ verfochten hatten; sie interpretierten den Aufstand als Resultat des Zurückweichens vor dem Einfluss des Imperialismus. Auf der anderen Seite zog er den bürgerlichen Kräfte in Westdeutschland, die bereit gewesen waren, auf das Angebot der Stalin-Note einzugehen, den Boden unter den Füßen weg. In der weltweiten Gruppierung der Kräfte leistete er so einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung der beiden „Blöcke“ bzw. „Lager“ und ließ damit genau die Konstellation eintreten, die Stalin befürchtet hatte.
Die Strafe der Geschichte
Zum Abschluss lassen wir das Geschichtsforum noch einmal mit einer zusammenfassenden Wertung der Fehler der SED zu Wort kommen: „Die DDR-Führung war nicht bereit, sich selbst und dem Volk gegenüber einzugestehen, dass sie teilweise die Interessen großer Bevölkerungsgruppen missachtet und über die Köpfe der Menschen hinweg regiert hatte. (…) Die fehlerhafte Praxis, die DDR-Gesellschaft im Wesentlichen administrativ zu leiten, wurde bis zu deren Ende fortgesetzt.“ Das ist wohl wahr. Allerdings gibt es für die monierte „Missachtung der Interessen großer Bevölkerungsgruppen“ und die „administrative Leitung der Gesellschaft“ einen politischen Grund, und den umgeht das Geschichtsforum in seiner Stellungnahme von der ersten bis zur letzten Zeile: das war der Beschluss zum Aufbau des Sozialismus, der das Geheimnis der verpfuschten Geschichte der DDR enthält.
Für diesen Sozialismus war die Zeit nicht reif, zumal er gegen die Nation errichtet werden musste. Er konnte nach innen nur administrativ durchgesetzt werden und war bis zuletzt auf äußere Hilfe angewiesen. Als die Sowjetunion diese Hilfe 1989 einstellte, manifestierte sich die Wahrheit des Satzes, dass sich geschichtliche Stufen nicht überspringen lassen – bei Strafe des eigenen Untergangs!
(Ausführlich und mit Nachweisen ist die hier entwickelte Darstellung nachzulesen in den Beiträgen Über das Scheitern des deutschen Kommunismus – Die DDR und die Auseinandersetzungen in der KPdSU und SED sowie Die Schlüsselkrise der 50er Jahre in der Sowjetunion – Die Auseinandersetzungen um den Aufbau des Sozialismus.)