Die Tage Washingtons im Irak sind gezählt

Von Heiner Karuscheit

Vor einem „neuen Realismus“ in der US-Außenpolitik

(18. August 2008) Als die US-Administration im Frühsommer 2007 zusätzliche Truppen in den Irak schickte, war nicht gleich erkennbar, dass damit ein Strategiewechsel einher ging, der anderen Charakter trug und weiter reichende Folgen hatte, als die militärische Verstärkung vermuten ließ (siehe dazu junge Welt vom 13. November 2007: „Kriegstreiber am Golf“). Im Irak gescheitert und vor dem Scherbenhaufen ihrer globalen Vorherrschaftsstrategie der letzten Jahre stehend, war die US-Regierung gezwungen, wieder zu der Gleichgewichtspolitik früherer Jahre zurück zu kehren, wie sie in klassischer Form von dem ehemaligen Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski vertreten wird, niedergelegt in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“.

Innerirakische Gleichgewichtspolitik

Innerhalb des Irak bedeutete dies einen Schwenk von den Schiiten, auf welche die USA ihre Vorherrschaft nach ursprünglicher Planung hauptsächlich stützen wollten, hin zu den Sunniten, der früheren Hauptstütze des Saddam-Hussein-Regimes. Durch reichlich fließende Finanzmittel, politische Unterstützung und die Weitergabe von Waffen ist die US-Administration mittlerweile als Schutzpatron der Sunniten an die Stelle von Saddam Hussein getreten. In der Folge sind die Angriffe auf die US-Streitkräfte weitgehend zurückgegangen, darin eingeschlossen die Attentate der sunnitisch bestimmten Organisation „Al Kaida“, die immer mehr isoliert ist. Die meisten sunnitisch besiedelten Provinzen gelten heute als befriedet, so auch die Provinzen, wo die US-Streitkräfte in der Vergangenheit die höchsten Verluste hatten. Die militärische Führung kann sogar darüber nachdenken, einige Divisionen aus dem Irak nach Afghanistan zu verlegen, wo die Taliban immer stärker werden.

Der Politikwechsel hat auch Auswirkungen auf eine mögliche Zerschlagung des Irak, bis dato eine jederzeit abrufbare Option Washingtons zur Herrschaftssicherung. Die Sunniten waren und sind Gegner einer Aufteilung, u. a. weil die von ihnen bewohnten Provinzen in der Mitte des Landes kein Öl besitzen und sie nur mit Hilfe des Einheitsstaats am Ölreichtum partizipieren können. Ihnen zuliebe ist die weitere Regionalisierung gestoppt worden, zum Ärger der bislang engsten Verbündeten Washingtons, der Kurden.

Fortschreitender Einflussverlust Washingtons

Auf der anderen Seite hat der „sunnitische Schwenk“ die Umorientierung der Schiiten vorangetrieben. Jüngst hat die Maliki-Regierung den Abschluss eines Stationierungsvertrags über den langfristigen Verbleib von US-Truppen abgelehnt und einen festen Zeitplan für deren Rückzug gefordert. Gleichzeitig hat sie sich geweigert, das von Washington gewünschte Ölfördergesetz zu verabschieden, das den internationalen Konzernen freien Zugang zum irakischen Öl gewähren sollte. Wenn sogar die mit Geburtshilfe Washingtons amtierende und nur halb souveräne Regierung sich weigern kann, dem Hauptanliegen der Besatzungsmacht Folge zu leisten, dann demonstriert dies, wie weit der Einflussverlust Washingtons geht.

Auch die Umstellungen in der von al-Sadr geführten revolutionären Bewegung sind weiter gegangen. Nach dem Schwenk Washingtons hatte al-Sadr einen Waffenstillstand mit der konkurrierenden schiitischen SIIC-Partei (vormals SCIRI) geschlossen und die Aktionen seiner „Mahdi-Miliz“ suspendiert. Deren unkontrollierte bewaffnete Auseinandersetzungen nicht nur mit den Badr-Brigaden des SIIC, sondern auch mit sunnitischen Kräften unterminierten das von der Sadr-Bewegung angestrebte Ziel einer gemeinsamen national-irakischen Front gegen die USA und für einen zentral verwalteten Irak. Jetzt hat al-Sadr die Umwandlung der Mahdi-Armee in eine politische Bewegung bekannt gegeben und neue „Spezialkompanien“ gegründet, die als einzige den bewaffneten Kampf in seinem Namen führen dürfen.

Die heutige Lage im Irak ist also wesentlich nicht wegen der vorübergehenden Truppenverstärkung so ruhig, sondern weil die Amerikaner sich von dem Ziel einer Unterwerfung des Landes verabschiedet haben und alle politischen Kräfte dem Rechnung tragen. Die sunnitischen Stämme halten still, weil sie von den USA hofiert werden. Die Schiiten haben das Gesetz der Zahl auf ihrer Seite, das ihnen bei jeder freien Wahl die Mehrheit verschafft. Sie können bis zum Abzug der Besatzer abwarten und so lange dezenten oder – im Falle der Sadr-Bewegung – weniger dezenten Druck auf die Amerikaner ausüben. Jedenfalls wird am Ende nicht der unterworfene, US-hörige Staat stehen, der sein Erdöl den US-Konzernen ausliefert und sich als willfähriges Werkzeug für die Festigung der US-Herrschaft über den Nahen Osten benutzen lässt, wie es die Cheney-Bush-Regierung mit dem Krieg von 2003 beabsichtigt hatte.

Obama und McCain als Erben der Niederlage

Am Anfang dieses Jahrzehnts hatten die neokonservativen „Revolutionäre“ um Cheney, Rumsfeld und Bush jr. die bis dato von den US-Administrationen – zuletzt unter Bush senior und Clinton – praktizierte Gleichgewichtspolitik beendet und eine neue außenpolitisch-militärische Agenda zur Sicherung der globalen Vorherrschaft aufs Tapet gehoben. Sie beruhte auf dem Ausspielen der militärischen Macht, um durch gewaltsames „Regime-Changing“ eine neue Generation US-höriger Regimes im Nahen Osten zu etablieren, die Kontrolle der Erdölförderung zu übernehmen und so die anderen Weltmächte in Abhängigkeit zu halten.

Diese Strategie ist komplett fehlgeschlagen. Militärisch überfordert und mit ihrem „unilateralen“ Vorgehen politisch isoliert, wurde die Schwächung der eigenen Stellung so bedrohlich, dass das politische Washington nicht die Präsidentenwahlen Ende 2008 abgewartet hat, damit ein neuer Amtsinhaber den unvermeidlichen Strategiewechsel vornehmen konnte, sondern die noch amtierende Bush-Regierung dazu gezwungen war, was ihren Ruf als „Versager“ nur gefestigt hat.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat Obama hat inzwischen die Konsequenzen aus der Niederlage gezogen und angekündigt, die amerikanischen Streitkräfte innerhalb von 16 Monaten abzuziehen sowie keine dauerhaften Kampftruppenstützpunkte im Irak anzustreben. Sein Gegenkandidat McCain kann sich als Republikaner nicht ganz so offen von G. W. Bush abgrenzen, sondern offenbart seine heutigen Präferenzen lieber durch die demonstrative Nähe zu Bush senior, einem überzeugten Gleichgewichtspolitiker.

Wie auch immer der neue Präsident heißen wird – er wird im Grundsatz keine andere Strategie verfolgen als die, welche die US-Administration seit Mitte 2007 widerstrebend betreibt. In dieser Strategie ist kein Platz mehr für eine Politik gegen die „Achse des Bösen“. Sie basiert auf dem „neuen Realismus“ einer Rückkehr zur Balancepolitik (dazu auch junge Welt vom 28. und 30. Juni 2008: „Die Welt als Schachbrett“).

Mit deren Wiederaufnahme ist in alle nahöstlichen Konflikte Bewegung geraten, deren Lösung die Bush jr.-Administration auf den Tag nach der proamerikanischen Umgestaltung des Nahen Osten verschieben wollte. Israel und Syrien verhandeln über die Rückgabe der Golan-Höhen, zwischen Israel und der libanesischen Hizbollah hat ein Gefangenenaustausch stattgefunden, und die USA haben, beginnend mit der Konferenz von Annapolis, wieder die Regelung des Palästinaproblems auf die Agenda gesetzt.

Fraktionskämpfe im Iran und ein amerikanischer Testballon

Wie ist unter den gegenwärtigen Umständen das Verhältnis zum Iran zu beurteilen? Mitte Juli reiste der Staatssekretär im State Department Burns zu einem Treffen mit dem iranischen Atomunterhändler in die Schweiz. Das war ein Bruch mit der bis dahin strikt verfolgten Linie, keinen Kontakt zu iranischen Regierungsvertretern wahrzunehmen.

Aktueller Anlass war wahrscheinlich die sich zuspitzende inneriranische Auseinandersetzung zwischen der Fraktion des ehemaligen Präsidenten Rafsandjani, der im Atomstreit als kompromissbereit gilt, und der Fraktion des amtierenden Präsidenten Ahmadinejad, der die Fortführung des Atomprogramms kompromisslos verteidigt. In den letzten Wochen spitzte sich der Konflikt zu, als Ahmadinejad fünfzig hohe Politiker und Geistliche korrupter Handlungen beschuldigen ließ und ankündigte, 50.000 und später bis zu 300.000 Hilfspolizisten neu einzustellen – eine ihm persönlich ergebene Prätorianergarde aus den Armenvierteln der Vorstädte im Blick auf die erwarteten Auseinandersetzungen. Im Gegenzug ließen seine Gegner mehr als ein Dutzend Personen aus dem Umfeld Ahmadinejads verhaften, die die Anschuldigungen verbreitet hatten.

Bislang hatten die seit Jahren bekannten Differenzen die Bush jr.-Administration kalt gelassen. Ihr erklärtes Ziel war das Regime-Changing in Teheran – aber nicht von einer Fraktion zur anderen, sondern durch den Sturz des klerikalen Regimes insgesamt. Dass man jetzt einen Vertreter nach Genf schickte, zeigte erneut, dass die bisherige Politik gescheitert ist und dass man das in Washington auch weiß. Falls man jedoch die Hoffnung hegte, aus den Fraktionskämpfen Kapital zu schlagen, wurde man enttäuscht. Nicht nur Ahmadinejad und sein Genfer Unterhändler blieben hartleibig. Sie erhielten Rückendeckung von dem obersten geistlichen Führer Irans, Ajatollah Chamenei, der erklärte, dass „keine Macht der Welt uns davon abhalten kann, diese (Nuklear‑)Technologie weiter zu verfolgen“.

Abnehmende Wahrscheinlichkeit eines Kriegs gegen Teheran

Was folgt daraus für die Beurteilung der Kriegsgefahr am Golf? Israel drängt mit Macht auf einen Militärschlag gegen Teheran, da seine regionale Sonderstellung durch den Aufstieg des Iran in Gefahr ist; die Zerstörung der iranischen Nuklearkapazitäten ist bei jeder Gelegenheit das „Ceterum censeo“ der maßgeblichen israelischen Politiker. Aber ohne die USA ist ein solcher Krieg nicht zu führen, und für die Stellung der US-Administration ist nicht das iranische Nuklearprogramm als solches ausschlaggebend, selbst wenn es auf Atomwaffen abzielen sollte.

Maßgeblich sind vielmehr andere Erwägungen. Durch den Sturz Saddam Husseins haben die USA den Weg frei gemacht zur iranischen Hegemonie am Golf, die durch den Besitz von Nuklearwaffen noch verstärkt würde. Eine solche Stellung einer unabhängigen Macht in der weltpolitisch zentralen Golfregion ist prinzipiell mit dem eigenen Weltvormachtsanspruch unvereinbar. Bis vor wenigen Monaten musste man angesichts der politischen und militärischen Vorbereitungen davon ausgehen, dass es zu einem Krieg gegen den Iran kommen würde. Zwar war bereits erkennbar, dass die USA zur Gleichgewichtspolitik zurückkehrten, aber offenbar sollte der Iran zunächst militärisch geschwächt werden, um eine neue Balance am Golf herzustellen. Die von Brzezinski entworfene Globalstrategie einer weltweiten Gleichgewichtspolitik sollte sozusagen mit dem von Cheney-Bush jr. favorisierten Ausspielen der eigenen militärischen Überlegenheit gekoppelt werden (davon geht auch der Artikel Kriegstreiber am Golf aus)

Brzezinski selber, der bereits den Irak-Krieg als „historisches, strategisches und moralisches Desaster“ betrachtete, war und ist kein Anhänger der Konfrontationspolitik gegen Teheran. Wie er selber den Ausgangspunkt für eine neue Balance am Golf sieht, deutete er durch die Bemerkung an, dass „ein nuklearer Iran nicht gefährlicher als Israel“ wäre. Das bedeutet, dass seiner Auffassung nach durch die israelische Atombombe einerseits, die Aufrüstung der arabischen Verbündeten andererseits ein Gegengewicht gegen Teheran hergestellt werden kann, das den USA gestattet, die Rolle der ausschlaggebenden Kraft im Zentrum zu übernehmen.

Dazu gehört auch, Israel zur Aufgabe seiner Siedlungspolitik zu zwingen und das Palästinaproblem zu lösen, um neue Glaubwürdigkeit als Schutzmacht Arabiens zu gewinnen. Nicht auszuschließen ist sogar, dass Brzezinski mit dem Gedanken spielt, Iran anstelle Israels zum bevorzugten Partner Washingtons in der Region zu machen, wie zu Zeiten des Schah-Regimes.

Jedenfalls attackierte er den Kriegskurs der amtierenden Regierung gegen Teheran in einer Reihe von Interviews, bis dahin, dass er der Regierung offen unterstellte, sie wolle – wie schon bei den getürkten Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins – erneut einen Kriegsgrund fingieren. Eine Militäraktion gegen Teheran war in seinen Augen „katastrophal“, da sie die USA in einen sich ausweitenden Sumpf stürzen würde.

Vor einer Verschiebung des militärischen Schwerpunkts nach Afghanistan

Mittlerweile ist die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Aktion gesunken. McCain vertritt sie öffentlich nicht mehr, Obama hat Brzezinski in sein außenpolitisches Beraterteam geholt und fordert wie dieser Gespräche ohne Vorbedingung mit Teheran, und die amtierende Regierung hat durch die erstmalige Teilnahme an den Genfer Nuklearverhandlungen selber die Isolationspolitik gegenüber Iran durchbrochen.

Dass G. W. Bush von sich aus bessere Einsichten gewonnen hat, ist bei einem Mann seines Kalibers schwer vorstellbar. Eher dürfte es so sein, dass er nicht mehr über die Macht verfügt, um eine militärische Lösung durchzusetzen. Dafür spricht auch, dass der israelische Ministerpräsident Olmert soeben seinen Rücktritt angekündigt hat. Durch einen Krieg hätte er seine durch Korruptionsvorwürfe erschütterte Stellung noch halten können. Wenn aber der Krieg ausbleibt, ist seine Stellung verloren. Oder anders herum formuliert: Stünde ein Krieg im Nahen Osten vor der Tür, würde Israel seine Staatsführung nicht auswechseln.

Diese Schlussfolgerung wird durch den israelischen Verteidigungsminister Barak bestätigt. Kürzlich teilte er in einem Radiointerview mit, dass Washington die von Israel gewünschte Ausrüstung für einen Angriff auf die iranischen Atomanlagen nicht mehr liefert, keine Überflugrechte über den Irak gewährt und darüber hinaus erklärt hat, ein Angriff auf den Iran verstoße gegen amerikanische Interessen (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2008).

Durch das irakische Debakel geschwächt, gehen die USA wieder dazu über, ihre globale Vorherrschaft durch eine Politik des Ausbalancierens der konkurrierenden Mächte zu sichern. Aller Voraussicht nach wird diese Strategie die Außen- und Militäragenda der künftigen Regierung in der einen oder anderen Spielart bestimmen, gleich ob ein republikanischer oder ein demokratischer Präsident an die Macht kommt.

Auch wenn ein Krieg gegen Iran darin keinen Platz mehr haben sollte, folgt daraus nicht, dass die USA auf militärische Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele verzichten. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob sie daran gehen wollten, den Krieg um Afghanistan zu forcieren, dessen Beherrschung anscheinend als notwendig angesehen wird, um die aufsteigenden Gegenspieler Russland und China in Schach zu halten. In diesem Krieg aber ist auch Deutschland gefragt. Es könnte daher sein, dass der US-amerikanische Strategiewechsel für die Herrschenden in Berlin noch unliebsame Folgen haben wird.

Letzte Änderung: 21.03.2016