Gedanken zu Sozialismus und Demokratie

Von Kolja Wagner

„Demokratie ist kein Wert an sich, sondern ist nur ein Instrument zur Durchsetzung bestimmter Klasseninteressen.“ So wurde Kolja Wagner in der Debatte um die Sars-Seuche in China gerügt und sein „abstrakter Demokratismus“ angegriffen. Da er für außereuropäische Länder demokratische Rechte forderte, wurde er gleich mit Georg W. Bush in eine Reihe gestellt. Heiner Karuscheit wies daraufhin, dass er andere Ausfassungen von Marxismus habe als Wagner.

Vor diesem Hintergrund möchte ich hier ein Mal etwas grundsätzlicher mein Verständnis von Sozialismus und Demokratie darstellen. Dabei geht es hier nicht darum, einen utopischen Detailentwurf von einer möglichen zukünftigen sozialistischen Gesellschaft zu zeichnen, sondern Thesen zu den Grundzügen einer sozialistischen Demokratie zu formulieren. Nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ und der völligen Diskreditierung des Marxismus-Leninismus müssen wir die Frage nach dem Charakter der neuen Gesellschaft aufwerfen. In den entwickelten Ländern wird nie wieder eine kommunistische Massenbewegung entstehen, wenn die Massen sich unter Sozialismus nur den reaktionären und autoritären SED-Staat vorstellen können.

Demokratie und die Geschichte des Sozialismus

Marx bezeichnete die Republik als Arena, in der der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital ausgetragen wird. Demokratische Rechte sind die Luft zum Atmen für die Entfaltung einer kommunistischen Arbeiterbewegung. „Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik“ (Engels: Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891).

In diesem Sinne hatten Marx und Engels ein instrumentelles Verhältnis zur demokratischen Republik. Mit dem Sieg der Revolution sollte die Diktatur des Proletariats errichtet werden, die Marx und Engels seit 1871 in der Form der Pariser Kommune verwirklicht sahen. Mit Hilfe der Kommune könnten die Arbeiter selbst regieren. Die Vertreter sollten demokratisch gewählt werden und jederzeit abrufbar sein. Außerdem bekamen sie nur das Gehalt eines Arbeiters. In der Kommune sollten sich alle drei Gewalten vereinen – im Gegensatz zum bürgerlichen Modell der Gewaltenteilung. Auch in der Armee sollten die Offiziere vom Volk gewählt werden.

Die Übernahme der Macht durch eine Avantgardepartei sah Marx nicht vor. Im Gegenteil: Die Befreiung der Arbeiter könne nur die Sache der Arbeiter selbst sein.

Lenin übernahm das Kommunemodell in seiner Schrift „Staat und Revolution“ von 1917. Er billigte aber dem proletarischen Staat eine lange Übergangsphase, den Sozialismus, zu. Den alten Staat wollte Lenin durch einen neuen Staat ersetzen. Im Bauernland Russland sollte der Staat proletarischen Charakter haben – sprich mit der Diktatur einer kleinen sozialen Minderheit der Gesellschaft über die große Mehrheit sollte der Sozialismus aufgebaut werden. Die proletarische Industriegesellschaft musste erst noch geschaffen werden.

Das noch relativ demokratische Modell der Sowjets (die Stimmen der Arbeiter zählten mehr als die der Bauern) wurde nach dem Sieg der Oktoberrevolution innerhalb einiger Jahre durch die Einparteiendiktatur der Bolschewiki ersetzt. Lenin gestand ein, dass die Sowjets auf Grund des niedrigen Kulturniveaus der Bevölkerung nicht „Organe der Verwaltung durch die Werktätigen“, sondern „Organe für die Werktätigen“ waren, eine Verwaltung durch die fortgeschrittene Schicht des Proletariats (VIII. Parteitag der KPR (B) 1919).

Zum einen mag Russland zu rückständig für das Sowjetmodell gewesen sein. Zum anderen konnten die Bolschewiki ihre Herrschaft nicht demokratisch legitimieren, weil in den Bauernsowjets die Sozialrevolutionäre die Mehrheit hatten. Das Industrialisierungsmodell Stalins, die Mittel für den Aufbau der Schwerindustrie aus den Bauern zu pressen, konnte sowieso nur gegen die dörfliche Gesellschaft mit der Gewalt des Staates durchgesetzt werden. Kontrolle von unten, gesellschaftliche Debatten, innerparteiliche Demokratie usw. wurden auf der Schlachtbank der vermeintlichen historischen Notwendigkeit geopfert. Dinge, wie Gewaltenteilung, Rechtsstaat und individuelle politische Rechte, die nicht nur auf dem Papier existierten, hielt die KPdSU Stalins sowieso nur für bürgerlichen Plunder. Wieso sollte die Macht eines Parteikaders eingeschränkt werden, wenn seine Methoden dem Aufbau des Sozialismus dienlich sind, lautete die Logik.

Stalin machte bei der marxistischen Staatstheorie einen dialektischen Salto Mortale. Seiner Meinung nach führe der lange Weg zur Abschaffung des Staates nur über seine Stärkung (siehe Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag 1934). Selbst im Kommunismus würde der Staat noch bestehen bleiben, wenn die Revolution noch nicht weltweit gesiegt habe (siehe Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag 1939).

Stalins These, dass sich mit zunehmenden Aufbau des Sozialismus der Klassenkampf verschärfe, war nur eine ideologische Rechtfertigung für die „Große Säuberung“ (siehe Stalin: Über die Mängel in der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler 1937). Man führte keinen Klassenkampf gegen die schon längst enteigneten Kapitalisten, sondern jagte „Volksfeinde“, „Spione“ und „Schädlinge“.

Bei der Industrialisierung in der Sowjetunion wurde der Staat zum Haupthebel. Mit der Vorstellung in einem entwickelten Land diese Politik durchzuführen, scheiterte schon Walter Ulbricht in der DDR. Die Staatsmacht war nach seinen Vorstellungen alles, die Unterstützung der Massen nur zweitrangig. Spätestens seit dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 konnte sich die SED nur mit Hilfe des sowjetischen Militärs an der Macht halten.

In den nach dem 2. Weltkrieg gegründeten Volksdemokratien etablierten die KP’s einen Scheinparlamentarismus nach bürgerlichem Vorbild. Mitbestimmung und Kontrolle von unten wurden zur reinen Farce.

Demokratie im Kapitalismus: Beschränkung von Macht

So demokratisch ein bürgerlicher Staat auch ist, er garantiert für den Erhalt der kapitalistischen Produktionsweise und wird sie notfalls mit Gewalt verteidigen. Der Staat dient sozusagen als ideeller „Gesamtkapitalist“ – manchmal auch gegen konkrete Interessen des Kapitals.

In einer bürgerlichen Demokratie können die Bourgeoisie und ihre Vertreter ihre Politik nur durchsetzen, wenn sie dafür die relevanten parlamentarischen Mehrheiten gewinnen. Dazu müssen oft mit den in das System eingebundenen Vertretern der verschiedenen Klassen Kompromisse geschlossen werden. Weder die Unternehmerverbände noch die Bundesregierung können ihre Politik in der Gesellschaft eins zu eins umsetzen. In sofern wird die politische Macht des Kapitals durch die bürgerliche Demokratie beschränkt.

Pressefreiheit, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, unabhängige gesellschaftliche Organisationen beschränken auch die Macht der Personen, die sie ausüben. Ein Richter, Regierungsbeamter oder Kapitalist kann bürgerliche Politik machen, gute oder schlechte, er kann die Bürger aber nicht nach Belieben schikanieren oder eine Willkürherrschaft ausüben. Das halte ich für einen Wert an sich – auch unabhängig von der Frage der Verbesserung der Kampfbedingungen der Arbeiterklasse. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, dass Menschen nicht gefoltert, verschleppt oder ermordet werden können. Übertreten Machthabende den gesetzlichen Rahmen so erfährt meistens die Öffentlichkeit davon, und der Druck zwingt zur Veränderung.

Wer heute behauptet, Demokratie sei kein Wert an sich, der hat die moderne bürgerliche Gesellschaft schon so verinnerlicht, dass er sich das Leben in einer Diktatur nicht mehr vorstellen kann.

Außerdem sind diese zivilisatorischen Errungenschaften nicht nur die Voraussetzung für die Entfaltung einer kommunistischen Bewegung, sondern Grundlage für jeden gesellschaftlichen Fortschritt ab einem bestimmten Entwicklungsniveau. Ohne Pressefreiheit, unabhängige Wissenschaft und Forschung, Zivilgesellschaft, freien Internetzugang und gesellschaftliche Diskussionen wird auch die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft gehemmt. In diesem Sinne sind demokratische Rechte keine Frage der Moral, sondern Voraussetzung für die Entwicklung jeder modernen Gesellschaft.

Demokratie im Sozialismus/Kommunismus: Selbstregierung

Alle gerade aufgezählten Werte sind in der heutigen Gesellschaft stark eingeschränkt. Die „Volksvertreter“ werden nur alle vier Jahre gewählt. In vielen Bereichen der Gesellschaft wie Schule, Universität, Armee und Betrieb gibt es zwar keine despotische Willkürherrschaft, aber auch keine Demokratie. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und von Grund und Boden ist die Voraussetzung einer vollständigen Demokratisierung aller Bereiche der Gesellschaft. Erst wenn die Macht der Unternehmer gebrochen ist, können Betriebe und Büros von den Arbeitern und ihren Vertretern demokratisch selbst geleitet werden. Erst wenn der bürgerliche Staatsapparat abgeschafft oder zerschlagen und seine Elite entmachtet wurde, kann auch die Armee und Verwaltung radikal demokratisiert werden. Sozialismus ist also die Voraussetzung für eine vollständige Demokratisierung.

Dann ist eine Entwicklung der Kunst, Forschung und Wissenschaft nicht nur von staatlicher Bevormundung, wie in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch von den Kapitalinteressen befreit. Nach der Enteignung der Mediengiganten würde die Presse vielfältiger und demokratischer werden. In diesem Sinne vollendet der Sozialismus die Ideale der bürgerlichen Revolution.

Welches konkrete Modell der sozialistischen Demokratie am besten geeignet ist, muss heute offen bleiben. Es sollte aber das Modell sein, was:

  1. Die Macht der gewählten Vertreter so weit wie möglich einschränkt.
  2. Die Selbstregierung des Volkes ermöglicht.
  3. Eine Restauration der alten Ordnung gegen den Willen der Mehrheit verhindert.
  4. Und trotz umfassender Selbstbestimmung noch eine gewisse Effektivität gewährleistet.

Die schrittweise Ausdehnung der Selbstverwaltung auf dem Boden des gesellschaftlichen Eigentums ist der Weg zum Kommunismus. In dieser Gesellschaft werden Staat und Klassen nicht mehr existieren.

Revolution und Sozialismus als bewusster Akt der Massen

Die klassischen Leninisten werden jetzt einwenden, dass die Massen zu einer solchen Selbstregierung nicht in der Lage sind. Sie werden im Sog der Umwälzung entweder zu weit nach links oder rechts driften und dadurch die Existenz der neuen Ordnung gefährden. Demokratische Freiheiten würde die Konterrevolution nutzen, deshalb muss die Partei für das Proletariat die Diktatur ausüben.

Diese Theorie mag auf die Minderheitenrevolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts zutreffen. Engels schrieb 1895: „Haben sich die Bedingungen geändert für den Völkerkrieg, so nicht minder für den Klassenkampf. Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten“ (Engels: Einleitung zur Einzelausgabe von Marx „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“). Mit dieser Einschätzung lag Engels zu früh.

In der heutigen Massengesellschaft ist es eine Illusion zu glauben, man könne die Massen überrumpeln, den Zivilisationsgrad der bürgerlichen Gesellschaft zurückdrehen und eine leninistische Parteidiktatur errichten. (Unter leninistischer Parteidiktatur verstehe ich: Unterwerfung aller Ebenen der Partei und Parteipresse unter ein Politbüro, Fraktionsverbot, Parteitage als reine Rituale der Macht, Einsetzung der Funktionäre von oben, Durchsetzung aller Bereiche und Ebenen der Gesellschaft durch staatlich bezahlte Parteisekretäre. Die Führung der Partei kontrolliert alle Gebiete der Gesellschaft von der Kunst bis zum Gericht. Alle gesellschaftlichen Organisationen befinden sich im „Transmissionsriemen“ der Partei.) In Deutschland wird der Sieg der Revolution nicht möglich sein, wenn die Kommunisten, wie die Bolschewiki in Russland 1922, nur ein „Tropfen im Volksmeer sind“.

Die Politik des Überrumpelns war selbst bei den Bolschewiki mit großen Opfern verbunden. Sie gaben den Bauern und der Dorfgemeinde erst das Land, um dann später doch halbstaatliche Kollektive einzuführen und ihnen das Getreide zu Billigpreisen abzunehmen. Zu glauben, die heutige Gesellschaft so zu „überrumpeln“, ist eine kindische Illusion. Selbst die russischen Bauern der 20er Jahre konnte der Staat nur „überrumpeln“, indem er Millionen nach Sibirien verfrachtete oder verhungern ließ.

Eine sozialistische Umwälzung muss im 21. Jahrhundert ein bewusster Akt der Massen sein. Sie müssen wissen, warum und wofür sie kämpfen. Wenn die Mehrheit der Gesellschaft keinen Sozialismus will, so hat er keine Chance, weil dieses System nur auf der aktiven und bewussten Mitarbeit der Menschen beruhen kann und nicht auf Gehorsam oder stupider Passivität. Wenn sich auf dem Boden der Selbstregierung und der gesellschaftlichen Produktionsmittel eine Mehrheit gegen den Sozialismus abzeichnen sollte, dann sollte keine „Erziehungsdiktatur“ einer Minderheit errichtet werden, sondern nach dem Scheitern ein neuer Versuch gestartet werden.

Das sich selbst aufhebende Proletariat braucht keinen autoritären Staat

Für Marx und Engels war die Pariser Kommune die Diktatur des Proletariats. Das Proletariat solle notfalls gewaltsam den Kapitalisten die Produktionsmittel entreißen und den Widerstand der alten Klassen unterdrücken. Durch diesen Akt würde das Proletariat sich und den Staat selbst aufheben. Engels schrieb im „Anti-Dühring“: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat.“ „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat.“

Im Moment, wo Produktionsmittel und Grund und Boden gesellschaftliches Eigentum sind, hören die alten Klassen der Gesellschaft auf zu existieren. Damit gibt es weder Bourgeoisie noch Proletariat. Alle Mitglieder der neuen Gesellschaft sollten dann die gleichen Rechte und Pflichten (noch im Rahmen des „bürgerlichen Rechtshorizonts“) haben. Um Restaurationsversuche von Mitgliedern der ehemaligen herrschenden Klasse zu verhindern, braucht man keine Diktatur, meine ich.

Nach dem Sieg der Revolution können auch die ehemaligen Herrschenden so lange für den Kapitalismus reden, schreiben, demonstrieren und Parteien gründen wie sie wollen. Ihre finanziellen Mittel werden nach der Enteignung beschränkt sein. Wenn eine solche konterrevolutionäre Bewegung das System bedroht, an dem die Mehrheit noch festhalten will, kann man durch Gesetze und Verfassung die Bewegungsfreiheit von ehemaligen Kapitalisten einschränken.

In diesem Punkt kann man sich die heutige bürgerliche Gesellschaft zum Vorbild nehmen. Sie kann heute auch gut mit Kommunisten leben, solange sie die Herrschaft des Kapitals nicht gefährden. Die Staaten des „realen Sozialismus“ handelten anders und versuchten paranoid jede unabhängige Zuckung der Gesellschaft zu unterdrücken und schlugen auch gegen völlig einflusslose Gegner mit erbarmungsloser Härte zu.

In der heutigen bürgerlichen Gesellschaft könnte Gewalt und Terror gegen das Volk im Falle der Bedrohung des Systems eingesetzt werden. In den Staaten des realen „Sozialismus“ wurde der Terror institutionalisiert, und der Staat verhängte gegenüber der Gesellschaft faktisch ein permanentes Kriegsrecht.

Die Macht der gewählten Vertreter im künftigen Sozialismus muss aber auch gegenüber den Feinden beschränkt sein. Kein Mensch sollte im Namen des Klasseninteresse des Proletariats verschleppt, gefoltert, gedemütigt oder ermordet werden. Der Sozialismus sollte auf den Menschenrechten aufbauen und sie vervollkommnen. (Ich beziehe mich hier auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der UNO“ vom 10. Dezember 1948, http://www2.amnesty.de/internet/ai-theme.nsf/db2320ec1f478ab641256737002b1008/d61d310dc6ab8c27c1256a6300425a4b?OpenDocument)

Nur ein „Menschenrecht“ wird es nicht geben: Den Privatbesitz an Produktionsmitteln und Grund und Boden.

Friedliche oder gewaltsame Revolution?

Wenn man sich die Revolution als bewussten Akt der Massen vorstellt, so scheidet ein Putsch aus. Im langen Prozess des Kampfes und der Umwälzung, der schon in der bürgerlichen Gesellschaft beginnt, können die Massen lernen und ihr Bewusstsein durch die Praxis verändern. So können wir schon einen Teil der Fähigkeiten lernen, die die Gesellschaft zur Selbstregierung braucht. Dieser Lernprozess im Kampf kann eine Erziehungsdiktatur der Partei ersetzen, durch die mit Hilfe von Repressionen, Propaganda und Erziehung den Massen das revolutionäre Bewusstsein im Nachhinein eingetrichtert werden soll.

Ob ein solcher Prozess friedlich oder gewalttätig abläuft, hängt von den konkreten historischen Bedingungen ab. Eine Revolution als Resultat eines Krieges nimmt blutigere Formen an als in Friedenszeiten. Wenn die Armee gewonnen werden kann, bleiben Tote vielleicht erspart. Sich eine Revolution in Deutschland als Bürgerkrieg zwischen Bundeswehr und Roter Armee vorzustellen, ist sowieso altbackene Revolutionsromantik. Eine friedliche Revolution hätte einige Vorteile: Gewaltsame Revolutionen und Bürgerkriege prägen auch meistens die neue Ordnung repressiv. Oft bringen sie Menschen an die Spitze der Bewegung, die zwar die Kunst des Krieges und des Aufstandes beherrschen, aber für die friedliche Aufbauphase wenig geeignet sind. Manche von ihnen treten auch 40 Jahre nach der Revolution nur im Guerillaanzug vor die Kamera. Eine friedliche Umwälzung würde außerdem eine extreme gesellschaftliche Polarisierung verhindern. Ein Privilegierter der alten Gesellschaft kann sich eher mit seiner Entmachtung abfinden, wenn er weiß, dass er nicht auch noch erschossen wird und eine neue Chance bekommt.

Mit friedlicher Umwälzung ist hier keineswegs ein Weg zum Sozialismus auf dem Boden des Grundgesetzes und einer Zweidrittelmehrheit im Parlament gemeint. Zu friedlichen Kampfformen könnten auch Streiks, Boykotte, ziviler Ungehorsam oder Befehlsverweigerung gehören.

Im Prozess der langen Umwälzung transformieren sich die Menschen in der revolutionären Bewegung selbst. Nicht zu einem selbstlosen und asketischen kommunistischen Wunderwesen ohne jegliche Eigeninteressen wird der Mensch, sondern er erwirbt die Fähigkeit seine Interessen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Weniger Staat, mehr Demokratie

Die Web-Site http://www.communismus.de vertritt die Position, dass der Sozialismus als Übergangsepoche eine Erfindung Lenins sei. Das Proletariat brauche den Staat nur in der Revolution, in der Staat und Klassen aufgehoben werden.

Es gibt aber auch bei Marx und Engels an vielen Stellen Hinweise auf eine Übergangsetappe. „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsmittel in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ Ebenso heißt es bei Marx in der „Kritik des Gothaer Programms“ der SPD von 1875: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“

Sicher sind verschiedene Lesarten von Marx möglich. Stützt man sich in erster Linie auf „Bürgerkrieg in Frankreich“, kann man vertreten, dass der Staat in der Revolution durch die Kommune ersetzt wird und damit abstirbt. Andere Stellen, wie die oben angeführten, weisen eher auf eine lange Übergangsepoche in Marx Vorstellungen hin.

Traditionelle Leninisten können gegen den „communismus“ einwenden, dass die Produktionsmittel nicht auf einen Schlag vergesellschaftet werden können. Auch in der Übergangsepoche bestehen Teile des Kleinbürgertums noch weiter, daher brauche das Proletariat, bzw. die Partei, den Staat noch, um die Gegner zu unterdrücken und auch die rückständigen Teile des Proletariats zu erziehen.

Auch in einem entwickelten Land wie Deutschland ist die Vorstellung von der sofortigen Abschaffung des Staates utopisch. Würde man mit einem Schlag Bauern, Kleineigentümer und Häuslebauer enteignen, würde die neue Ordnung Millionen Feinde haben. In der Übergangsphase wird deshalb wohl eine Mischung aus Plan und Markt bestehen. Ob aus der Notwendigkeit der Übergangsetappe eine Diktatur eines autoritären und repressiven Staates abgeleitet werden kann, bezweifele ich.

Die Parole der Diktatur des Proletariats halte ich propagandistisch für unklug. Die neue Gesellschaft wird nicht weniger Demokratie bringen, sondern mehr, und zwar nicht nur für die Arbeiter, sondern für Alle, die bereit sind mitzuarbeiten. Die Enteignung der Kapitalisten kann zwar gewaltsame Formen annehmen, braucht man dafür aber wirklich einen repressiven Apparat von Medienkontrolle, Sprechverboten, Polizeistaat und Geheimdiensten? Wenn man wie Engels unter der Diktatur des Proletariats ein Modell wie die Pariser Kommune versteht, kann man auch von der Demokratie des Proletariats sprechen.

Soziale und politische Gleichheit statt staatliches Kastensystem

Stalin sagte: „Der neue Staat ist keine Demokratie für alle. Es muss ein Staat sein, auf neue Art demokratisch – für das Proletariat und auf neue Art diktatorisch – gegen die Bourgeoisie.“ In der Sowjetunion besaßen weder die Arbeiter noch die ehemaligen Kapitalisten irgendwelche demokratischen Rechte. Wie soll der „neue Staat“ überhaupt festlegen, wer das Recht zur Meinungsäußerung, Pressearbeit, Organisations- und Demonstrationsfreiheit, sowie Studienbesuch usw. hat und wer nicht?

In China ließ die Partei nach 1949 die Klassenzugehörigkeit in den Pass stempeln. Bis Ende der 70er Jahre galt die Klasseneinteilung, die während der Bodenreform von 1949/50 vorgenommen wurde, für die ganze Familie. Ein Kind eines ehemaligen Grundbesitzers, was 20 Jahre nach der Bodenreform geboren wurde, war also ein Grundbesitzerkind. Es konnte nicht studieren und wurde bei der staatlichen Verteilung benachteiligt. Menschen mit Bauernpass konnten ihre Scholle und Dörfer nicht verlassen.

Soll man nach der Revolution in Deutschland auch eine Klassenuntersuchung durchführen und jedem seinen Status in den Pass stempeln? Petra Bach hat mit ihrer Klassenanalyse gezeigt, wie schwer es ist, in Deutschland die großen Übergänge zwischen den Klassen abzugrenzen. Bis heute haben wir keine klare Definition zur Abgrenzung der Mittelschichten vom Proletariat.

Ich meine, es reicht festzustellen, dass die Gesellschaft in zwei Hauptklassen zerfällt: Die Proletarier, die um Leben zu können, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen, und die Kapitalisten, die durch die Ausbeutung von Lohnarbeitern genug verdienen, um selber nicht arbeiten zu müssen. Dazwischen gibt es selbstständige Kleinunternehmer, die sowohl sich selbst „ausbeuten“ als auch Lohnarbeiter beschäftigen. Alle anderen Abstufungen wie produktionsferne Mittelschichten, Beamte oder „Lumpenproletariat“ sind zwar wichtig, um die Gesellschaft besser zu verstehen, aber nicht dazu geeignet, den Menschen Etiketten wie reaktionär oder revolutionär zuzuteilen.

Woher stammt denn eigentlich das Bedürfnis, Proletariat, Lohnarbeiter und Mittelschichten klar voneinander abzugrenzen? Ökonomisch-theoretisch lässt es sich sowieso nicht im Voraus bestimmen, welche Teile der Lohnabhängigen revolutionärer als andere sind. In Russland trennten einen Industriearbeiter in Petrograd und einen Landarbeiter in Sibirien Welten. In Deutschland sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schichten der Lohnabhängigen eher gering.

Da das klassische Industrieproletariat kaum mehr ein Viertel der Gesellschaft ausmacht, kann eine proletarische Revolution nur eine Volksrevolution aller Lohnabhängigen sein. Sich schwerpunktmäßig auf die „Blaumänner“ in der Industrie zu konzentrieren, heißt sich auf eine Minderheit der Gesellschaft zu orientieren.

Durch die Enteignung des großen Kapitals wäre die Bourgeoisie als Klasse liquidiert. Danach muss man nicht in den Pass stempeln, wer „lupenreiner Proletarier“, „produktionsferner Mittelschichtler mittleren Bewusstseins“, „Intellektueller akademischer Weltfremdheit“ oder „mittlerer Kleineigentümer zweiten Grades“ ist. Auf der Grundlage der sozialistischen Demokratie haben alle die gleichen Rechte und Pflichten. Bei Meinungsfreiheit oder Wahlrecht bedarf es keiner Quotenregelung. Sind die finanziellen Schranken durch die neue Gesellschaft erst ein Mal beseitigt, können auch Kinder von Arbeitern studieren und in die höchsten Posten aufsteigen, wenn sie dafür gewählt werden. Erst durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel wird eine wirkliche Gleichberechtigung geschaffen.

Für die Politik der permanenten sozialistischen Umwälzung müssen in der ganzen Gesellschaft Mehrheiten gewonnen werden. Die in der Übergangsphase noch bestehenden Kleineigentümer können ihre Stimme erheben, aber sind prozentual zu wenig, um diesen Prozess ohne gesellschaftliche Unterstützung aufhalten zu können. Zwischen Sozialismus und Kommunismus steht keine chinesische Mauer. Der Prozess der Vergesellschaftung und der Übernahme staatlicher Funktionen durch die sich selbst regierende Gesellschaft ist ein permanenter Prozess.

Keine „Partei neuen Typs“

Marx schrieb: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennte Interessen.“ (Manifest der Kommunistischen Partei) Bei dem von mir beschriebenen Modell von Revolution und Sozialismus, bedarf es keiner Avantgardepartei, die die Massen „überrumpelt“ und in ihrem Namen eine Diktatur ausübt. Eine Erziehungsdiktatur scheidet aus, wenn die Umwälzung auf dem bewussten Willen der Mehrheit der Gesellschaft beruhen soll. Kommunisten sollten sich aber trotzdem organisieren, um eine ständige politische und theoretische Debatte zu führen und in die Kämpfe unterstützend einzugreifen. Jede zentralistische Hierarchie, Festlegung der „Wahrheit“ per Mehrheitsbeschluss, sowie Ausschluss von „Rechts- und Linksabweichlern“ würde die Debatte und den Erkenntnisprozess behindern.

Bisher hat jede Form der „Partei neuen Typs“, egal ob in Russland oder Deutschland, letztendlich immer die innerparteiliche Demokratie erstickt. Sie war vielleicht geeignet, um Russland aus den Angeln zu heben, aber ist der modernen Gesellschaft nicht angemessen.

Eine offenere und demokratischere Form der Partei ist besonders in der Phase wichtig, in der eine Massenbewegung noch nicht die ganze Gesellschaft mitreißen kann. Dieser Partei können sich alle anschließen, die vom Kommunismus überzeugt sind – unabhängig von sozialer oder nationaler Herkunft.

Darüber hinaus ist eine gewerkschaftliche Massenorganisation notwendig, aber nicht ausreichend. Große Teile der Gesellschaft, in Städten sogar oft Mehrheiten, stehen außerhalb des Arbeitsprozesses.

Als Fazit: Die demokratischen Rechte sind nicht nur ein Mittel im Klassenkampf, sondern schützen auch das Individuum vor der Willkür des Staates. Der Sozialismus sollte auf den zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft aufbauen. Durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und von Grund und Boden wird die Grundlage für die Demokratisierung aller Bereiche der Gesellschaft und die Selbstregierung des Volkes geschaffen. Erst der Sozialismus macht wirkliche Demokratie möglich. Der Sozialismus ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur allseitigen politischen, ökonomischen und sozialen Befreiung des Proletariats und damit der ganzen Menschheit von Ausbeutung, Entfremdung und Unterdrückung.

Anmerkungen

Äußerungen vom Marx und Engels über die Diktatur des Proletariats, in: MEW 7, S. 89 – 90, MEW 19, S. 28, MEW 18, S. 160, MEW 36, S. 11f, MEW 18, S. 630, MEW 22, S. 235

Letzte Änderung: 21.03.2016