Lehren des Irakkriegs

Eine Rezension zu Herfried Münkler: Der neue Golfkrieg

Von Heiner Karuscheit

Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, ist der Erste, der eine Publikation zum jüngsten Golfkrieg veröffentlicht hat (rororo 2003, 176 Seiten; 12,90 Euro). Er war so schnell dazu in der Lage, weil er sich in den letzten Jahren intensiv mit der Entwicklung der Kriegführung beschäftigt hat. Hauptkennzeichen seines soeben erschienenen Büchleins ist ein strikt historisches Herantreten, das den jüngsten Golfkrieg aus den vorangegangenen zwei Kriegen erklärt. Das macht seine Stärke – und zugleich seine Schwäche aus. Aber bevor wir zu den schwachen Seiten kommen, sollen zunächst die starken vorgestellt werden.

1. Die ungelöste arabische Hegemonialfrage

Die Ursache aller drei Golfkriege der letzten 24 Jahre sieht Münkler in der ungelösten arabischen Hegemonialfrage. Nachdem Ägypten 1978 unter Anwar el Sadat in Camp David seinen Frieden mit Israel gemacht und auf die Rolle der arabischen Führungsmacht verzichtet hatte, entstand ein Vakuum, dessen Ausfüllung auf den Irak als neue Führungsmacht zulief. (S. 83) Dieser hatte drei Jahre zuvor – 1975 – im Vertrag von Algier dem Iran die Mitkontrolle über den Schatt el-Arab, das Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris, zugestehen müssen. Die unter Druck zustande gekommene Konzession wurde vom Irak und der ganzen arabischen Welt als Nötigung durch den größeren, besser bewaffneten und mit den USA verbündeten persischen Nachbarn aufgefasst. Als in Teheran 1979 die islamische Revolution ausbrach, sah die irakische Führung die Gelegenheit gekommen, den aufgenötigten Vertrag rückgängig zu machen und den von Ägypten geräumten Platz als Vorkämpfer für die arabische Sache einzunehmen.

In dem 1980 begonnenen ersten Golfkrieg waren die irakischen Truppen allerdings nicht in der Lage, den Iran niederzuwerfen, u.a., weil die USA alles taten, damit keine Seite den Sieg davontrug. Obwohl erst kurz zuvor durch die Geiselnahme von Teheran von den islamistischen Revolutionären gedemütigt, agierten sie rational. Sie wollten „verhindern, dass einer der beiden Kontrahenten zur uneingeschränkten Hegemonialmacht in der Region aufstieg“ (S. 72), und unterstützten nach dem Motto „am besten wäre es, wenn beide verlieren“, je nach Kriegsverlauf mal die eine, mal die andere Seite. Der Friedensschluss von 1988 kam so erst zustande, als die Kriegsgegner ihre Kräfte erschöpft hatten.

Zwei Jahre später schlitterte der Irak beim Versuch, die erlittene Schlappe wett zu machen, in den zweiten Golfkrieg. Durch den Krieg hoch verschuldet, nahm seine Führung die fehlende Konzessionsbereitschaft Kuwaits bei der Förderung und Preisgestaltung des Rohöls zum Anlass, 1990 das benachbarte Scheichtum zu besetzen. Das veranlasste die USA, an der Spitze einer internationalen Truppenkoalition zu intervenieren. Sie wurden neben der erneuten Sorge vor einer irakischen Hegemonie über die Region auch von der Angst umgetrieben, der Irak würde auf militärischem Weg zum „Kontrolleur des Ölpreises“ werden (S.  94).

Aber der amerikanische Sieg unter den Fahnen der UNO blieb unvollendet, denn die alliierten Truppen verzichteten auf den Marsch auf Bagdad, und die Aufstände der Schiiten im Süden sowie der Kurden im Norden wurden von den Amerikanern nicht unterstützt. Den Grund dafür sieht Münkler nicht in der fehlenden Legitimation durch die UNO, sondern in der Befürchtung der amerikanischen Administration, ihre nahöstlichen arabischen Bündnispartner zu verlieren, wenn der Irak zerfiel. Stattdessen setzte die US-Regierung darauf, dass Saddam Hussein durch einen Militärputsch gestürzt und der Irak anschließend eine andere Politik betreiben würde (S. 110). Diese Hoffnung realisierte sich jedoch nicht, sondern das Baath-Regime konsolidierte sich erneut. So waren die vorhandenen Widersprüche weder durch den ersten noch durch den zweiten Golfkrieg gelöst, sondern bestanden weiter.

2. Das Dilemma der USA

Das Grunddilemma der USA sieht Münkler darin, dass sie seit der islamischen Revolution von 1979 im Iran über keinen starken Regionalverbündeten mehr verfügten. Die versäumte Neuordnung der Region nach dem 2.Golfkrieg brachte sie, je länger der Frieden dauerte, in eine umso heiklere Position, denn das Sanktionsregime der UNO gegen den Irak war nicht auf Dauer durchzuhalten. Vor allem Frankreich und Russland, die erhebliche Interessen im Irak hatten (Ölförderung), drängten immer mehr auf die Aufhebung der UN-Sanktionen und setzten die Amerikaner wegen des sanktionsbedingten Todes zigtausender irakischer Kinder und Erwachsener auf die moralische Anklagebank. Spätestens nach dem absehbaren Ende der wieder aufgenommenen UN-Waffeninspektionen hätten die Sanktionen fallen müssen. Dann wären auch die so genannten „Flugverbotszonen“ im Norden und Süden des Irak, die Großbritannien und die USA ohne UN-Mandat verkündet hatten, nicht mehr zu halten gewesen.

Darüber hinaus waren die Amerikaner in den ihnen nahe stehenden arabischen Staaten mit einer wachsenden Feindseligkeit konfrontiert. Ohne es zu wollen, untergrub alleine ihre Präsenz in den verbündeten Scheichtümern deren konservativ-islamische Herrschaftsgrundlagen. Es war ein wachsendes „Unbehagen der unteren Ober- und oberen Mittelschicht in den konservativen Golfmonarchien an der unaufhaltsam wachsenden politischen wie kulturellen Dominanz Amerikas in der Region“ zu beobachten. (S. 38)

Der Status quo entwickelte sich also mehr und mehr gegen Washington. Ein amerikanischer Rückzug aus der Region hätte jedoch „zur Folge gehabt, dass Saddam Hussein in der arabischen Welt als Sieger und Bezwinger der amerikanischen Weltmacht gegolten hätte, dass er seine Hegemonialpolitik, die er seit 1980 in zwei Kriegen verfolgt hat, wieder hätte aufnehmen und sich dabei auf eine Reputation bei den arabischen Massen hätte stützen können, die ihm wahrscheinlich binnen kürzester Zeit eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse in der arabischen Welt ermöglicht hätte. Saddam Hussein wäre dann mächtiger gewesen als je zuvor; militärisch zweimal gescheitert, hätte er zuletzt als der große politische Sieger dagestanden.“ (S. 112) Damit einhergegangen wäre auch eine Bedrohung des engsten US-Verbündeten in der Region, Israels, das verstärkt über einen „Präventionskrieg“ hätte nachdenken müssen. (S. 113)

Zusammengefasst war das Resultat: „Die amerikanische Irakpolitik war also in ein Dilemma geraten, in dem jeder Ausweg aus dem Status quo ebenfalls mit einer Fülle von Problemen und unerwünschten Effekten gepflastert war. In dieser Situation schien die militärische Option schließlich noch der gangbarste Weg zu sein.“ (S. 46)

3. Das militärische Kräfteverhältnis

Militärisch war die Lage für die USA selten günstig, denn der Irak war nach den beiden vorangegangenen Kriegen wirtschaftlich, politisch und militärisch geschwächt. Auch war seine Truppenführung miserabel. Den Grund dafür sieht der Autor darin, dass die herrschende Baath-Partei das Militär zwar einerseits brauchte, um eine regionale Vormachtstellung zu erkämpfen, andererseits aber wegen der prekären Herrschaftsverhältnisse die eigene Entmachtung durch einen Militärputsch fürchtete. Das hatte zur Folge, dass Saddam Hussein in den vorangegangenen Kriegen alle Operationen bis auf Bataillonsebene hinunter kontrollierte. Besonders tüchtige und auf dem Schlachtfeld erfolgreiche Offiziere wurden ihres Postens enthoben oder verschwanden unter dubiosen Umständen. (S. 86)

Die USA auf der anderen Seite waren der erste Staat, der die so genannte „militärische Revolution“, wie Münkler den Wandel der Kriegführung seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts nennt, erfolgreich bewältigt hatte. Voraussetzung dafür war die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Vietnam-Krieg gewesen, so dass „nunmehr die Söhne der politisch artikulationsfähigen amerikanischen Mittelschicht nicht länger in Kriegseinsätze geschickt“ werden mussten. (S. 143) Die an ihre Stelle tretenden Soldaten sind Berufssoldaten, die anders als Wehrpflichtige nicht mit der Gesellschaft verwoben sind. Die Bodentruppen, die regelmäßig die höchsten Verlustraten bei Kampfeinsätzen haben, rekrutieren sich vor allem aus den Unterschichten, die aufgrund ihrer „notorischen Politikabstinenz“ im politischen System der USA unterrepräsentiert sind. Auf diese Weise ist die amerikanische Armee, so Münkler, zu einer überall und jederzeit einsetzbaren Söldnertruppe geworden, ohne dass die Regierung allzuviel Rücksicht auf die „Heimatfront“ nehmen muss.

Den eigentlichen Inhalt der „militärischen Revolution“, über die der Autor bereits verschiedentlich publiziert hat, sieht er in der „elektronische(n) Kontrolle und ‚Bewirtschaftung‘ des Gefechtsfeldes“ (S. 95), gestützt vor allem auf den Einsatz der Luftwaffe, die mit neuartigen Waffensystemen ausgerüstet ist. Gegenüber anderen Ländern wird so eine „asymmetrische Kriegführung“ möglich, mit der Folge, dass „militärische Gewalt wieder zu einem politischen Instrument der einzig verbliebenen Supermacht geworden“ ist. (S. 97) Zum ersten Mal im zweiten Golfkrieg angewendet, sieht Münkler den dritten Golfkrieg als vorerst jüngsten und weiter entwickelten Praxistest für die Umsetzung dieser „militärischen Revolution.“

4. Die amerikanischen Irakpläne

Um die politischen Ziele der USA nachzuvollziehen, geht der Berliner Politikwissenschafter von der Charakterisierung der arabisch-islamischen Welt als einer „Ansammlung blockierter Gesellschaften“ aus. Den Grund dafür sieht er im sogenannten „Petrolismus“, bedingt durch die ebenso leichten wie riesigen Einnahmen aus dem Erdölexport („Renten“). Sie unterminieren das Arbeitsethos, weil alle schweren Arbeiten durch Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern ausgeführt werden. Im Innern werden Teile der Gesellschaft für ihr Wohlverhalten subventioniert, und im Äußeren sind es ganze Staaten. Gleichzeitig verfallen unter dem Einfluss des Westens die traditionellen Werte und Strukturen der arabischen Gesellschaften immer mehr. Die ganze Region versinke immer mehr im Chaos, ohne „aus eigener Kraft einen Ausweg aus der Krise zu finden.“ (S. 54)

Das Saddam-Hussein-Regime, so die Einschätzung der Amerikaner gemäß Münkler, sei ein Versuch gewesen, die arabische Selbstblockade auf militärischem Weg zu durchbrechen, indem ein Großteil der Öleinnahmen in die Rüstung ging. Die von den USA nach dem Sturz des Baath-Regimes geplante Alternative sei demgegenüber die Errichtung eines „Prosperitätsregimes“ (S. 50). Die aus dem Ölgeschäft fließenden Gelder sollten künftig in den Ausbau der Infrastruktur fließen. Als wichtigstes „Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft“ solle insbesondere der Mittelstand gefördert werden, um künftig als Garant gegen einen erneuten kriegerischen Abenteuerweg zu dienen. „Durch eine dosierte Partizipation der mittleren Schichten ist sicherzustellen, dass die Wohlstandsinteressen gegenüber erneuten militärischen Expansionsneigungen das Übergewicht behalten.“ (S. 51) An die Stelle des bisherigen „Rentiersstaats“ solle so auf Dauer ein normaler „Steuerstaat“ treten und als Vorbild für die ganze arabische Welt dienen. Dabei sei der Irak unter allen vergleichbaren Staaten der beste Kandidat. Industriell weiter als andere entwickelt, stand er vor den Golfkriegen schon auf der Schwelle zur „Ersten Welt“; der Islamismus sei hier schwächer und die säkulare Politiktradition stärker als in den Nachbarländern.

Das alles ist wohlgemerkt nicht Münklers eigene Position, sondern die von ihm diagnostizierte Auffassung der Amerikaner, die er für ernst gemeint hält. Ob die gewünschte Umsetzung unter den gegebenen Umständen allerdings gelingt, bezweifelt der Autor. Und scheitert sie, „so ist im Nachhinein auch der Krieg verloren, gleichgültig, wie erfolgreich die militärischen Operationen durchgeführt worden sind.“ (S. 64)

5. Weiterführende Fragen

Im Anschluss an die Lektüre stellen sich eine ganze Reihe von Fragen, auf welche die Veröffentlichung keine oder unzureichende Antworten gibt, sei es, weil sie nicht ihr Gegenstand sind, sei es, weil der Autor eine andere Sichtweise hat.

Das Ende des arabischen Nationalismus

Mit dem Sturz des irakischen Baath-Regimes ist auch die Bewegung des früher einmal mächtigen arabischen Nationalismus ans Ende gekommen. Ihr Programm war das einer bürgerlich geführten Revolution, welche die reaktionären Golfmonarchien stürzen und ein vereintes Arabien errichten sollte. Auch wenn Überreste der Baath-Partei im Irak weiter kämpfen sollten, ist kaum vorstellbar, dass sie noch einmal die Hegemonie über die oppositionellen Kräfte erlangen. Sollte sich ein dauerhafter Widerstand gegen das von den USA geplante Kompradorenregime entfalten, wird er sich wahrscheinlich um islamistische Kräfte herum gruppieren. Im Unterschied zur arabisch-nationalen Bewegung zielt der Islamismus jedoch weder auf die Herstellung einer bürgerlichen Gesellschaft noch auf einen arabischen Nationalstaat. Was das für die Zukunft Arabiens bedeutet, ist gegenwärtig unabsehbar.

Innere Verfasstheit der USA

Das Buch erklärt die Kriegsursachen ausschließlich aus der Entwicklung der nahöstlichen Widersprüche. Aber zum Kriegführen gehören immer zwei. Woher kommt es, dass die Neigung der Vereinigten Staaten zu militärischem Vorgehen und zum Alleingang zugenommen hat? Hat das ausschließlich mit militärtechnologischen Fortschritten zu tun und nichts mit gesellschaftlichen Entwicklungen? Bekanntlich ist die Produktivität der amerikanischen Industrie gegenüber der Konkurrenz in Europa und Asien zurückgefallen, wie sich u. a. an dem höheren Energieverbrauch in der Produktion zeigt. Das gesellschaftliche Modernisierungsprogramm, das die vorherige Präsidentschaft verfolgt hat, ist gescheitert. Wenn man im wirtschaftlichen Wettbewerb gegen die Konkurrenz aber unterlegen ist, liegt dann nicht die Versuchung nahe, auf ein anderes Feld – das militärische – auszuweichen?

Ringen um Hegemonie

Daran schließt sich die Frage an, inwieweit der Umgang mit dem Irak Teil eines übergeordneten, weltweiten Ringens um Hegemonie war bzw. weiterhin ist. Zwar äußert Münkler angesichts des gewaltigen militärischen Vorsprungs der USA die Vermutung, „dass die USA in der Konkurrenz mit dem asiatischen und dem europäischen Wirtschaftsraum ein Interesse an gelegentlichen Kriegen haben dürften, da sie auf diese Weise am leichtesten und folgenreichsten ihre Vormachtstellung festigen und unter Beweis stellen können. (…) Darum ist anzunehmen, dass dem Dritten Golfkrieg (…) weitere Kriege ähnlichen Typs folgen.“ (S.  147, 153). Bei dieser allgemeinen Feststellung belässt er es jedoch. Er macht nicht den zweiten Schritt, nämlich zu untersuchen, ob nicht ein entscheidender Grund für den letzten Golfkrieg das Motiv war, dadurch die Herrschaft über das Erdöl als heutige Hauptenergiequelle zu gewinnen, um die konkurrierenden Mächte in Abhängigkeit zu halten.

Deutschland als Schlüsselmacht der „Achse“

In Europa ist die amerikanische Irakpolitik genau so aufgefasst worden, nämlich als Teil einer umfassenden Vorherrschaftsstrategie. Daraus haben die wichtigsten Kontinentalmächte den Schluss gezogen, sich dem Krieg zu widersetzen. Andere europäische Länder mit Großbritannien an der Spitze zogen es vor, mit dem absehbaren Sieger zu gehen. Ob die „Achse“ aus Frankreich, Russland und Deutschland dauerhaft zusammenhält, hängt in erster Linie von dem Verhalten Deutschlands ab. Für die zentraleuropäische Schlüsselmacht bedeutete das „Nein“ zum Krieg eine grundlegende außenpolitische Zäsur, die sich insbesondere im historischen Vergleich zeigt. 1963 fand Adenauer bei seinem Versuch eines Zusammengehens mit Frankreich gegen Amerika durch den Elysee-Vertrag keine Mehrheit im Bundestag. Vierzig Jahre später versuchte die US-treue Unionsführung gar nicht erst, die Bündnisfrage als Hebel für den Regierungssturz einzusetzen. Sie konnte sich ihrer eigenen Abgeordneten nicht sicher sein, geschweige denn eine pro-amerikanische Mehrheit im Bundestag ausmachen. Aber wie wird es nach der nächsten Bundestagswahl aussehen?

Die Grünen als Vorreiter des Söldnerwesens

Kaum war die „Achse“ gebildet, verkündete die Bundesregierung den endgültigen Umbau der Bundeswehr zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee. Wehrpflichtige bilden nicht länger die Grundlage der Kampftruppen; sie werden nur noch eingezogen, um aus ihren Reihen Berufssoldaten zu rekrutieren. Wieder einmal zeigte sich der Krieg als „Vater aller Dinge“. Für einen nüchternen bürgerlichen Kriegsforscher wie Münkler ist klar, dass die Wehrpflicht bislang der Garant dafür war, dass die deutsche Bundesregierung – gleich welche Partei den Kanzler stellte – nur höchst zögerlich Kampftruppen ins Ausland entsandt hat, weil sie auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen musste. Dagegen sind „Söldnerverbände (…) politisch neutralisiert, denn sie haben keine Stimme, mit der sie sich Gehör verschaffen können.“ (S. 144) Eine besondere Ironie der Geschichte will es, dass gerade die „Grünen“, die bisherigen Ideologen des Pazifismus, heute die Vorreiter der Forderung sind, die Wehrpflicht endgültig abzuschaffen und eine reine Berufsarmee aufzubauen, die für jedes Abenteuer zu haben ist.

Haltung der Klassen in Deutschland

Über die außenpolitische Zäsur hinaus war die Stellung der Klassen in Deutschland zum Krieg aufschlussreich. Die Bourgeoisie war gespalten; sie ist es in der Kernfrage des atlantischen Bündnisses bis heute, wie sich an der Haltung der bürgerlichen Parteien und an den maßgeblichen Zeitungen ablesen lässt. Gegen den Krieg waren die neuen Mittelschichten, insbesondere auch das sog. „Bildungsbürgertum“. Die Gegnerschaft bis weit in bürgerliche Kreise hinein machte die Demonstrationen sozial um einiges breiter als früher, was aufmerksame Beobachter an der Kleidung der Teilnehmer festmachten.

Wo aber stand die Arbeiterklasse? Zwar hatten die Gewerkschaften gegen den Krieg aufgerufen, aber die Demonstrationen wurden nicht durch Arbeitermassen geprägt. Die große Mehrheit blieb neutral, und dafür gibt es eine naheliegende Erklärung: man war einerseits mit der SPD-Regierung und den Gewerkschaften gegen den Krieg, hatte aber andererseits die unausgesprochene Hoffung, dass sinkende Ölpreise, wie von der amerikanischen Regierung versprochen, das Autofahren wieder billiger machen würden. Überdies war die Sorge da, dass ein Streit mit den USA außer dem Welthandel auch den eigenen Arbeitsplatz tangieren würde. Solchermaßen hin- und hergerissen zwischen dem politischen Rock und dem wirtschaftlichen Hemd blieben Arbeiter und kleine Angestellte lieber zu Hause.

Sie bestätigten damit das Urteil, dass gegenwärtig keine Klasse sich so konservativ verhält wie diejenige, die als Einzige die bestehende Gesellschaftsordnung stürzen kann. Die Arbeiterklasse verteidigt nicht nur innenpolitisch den Sozialstaatskompromiss mit der Bourgeoisie bis zum bitteren Ende, sondern hält sich auch außenpolitisch lieber an das Althergebrachte. Wie vieler Niederlagen bedarf es noch, bis diese Haltung ins Rutschen gerät und der Riese anfängt, sich der selbst angelegten Fesseln zu entledigen, die ihn tausendfach an die bürgerliche Gesellschaft binden?

Alles in allem birgt der dritte Golfkrieg noch so manche Lehren. Es lohnt sich, ihn genau zu studieren.

Letzte Änderung: 21.03.2016