Der Krieg um Jugoslawien und seine Lehren

Der „deutsche Krieg“ und die „amerikanische Niederlage“ – Der Krieg aus der Sicht der „antideutschen Linken“

Von Alfred Schröder
Der NATO-Krieg gegen das noch verbliebene Rumpfjugoslawien trug eine Reihe neuer und bemerkenswerter Züge. Während die bürgerliche Presse – hier vor allem die FAZ – die „Neudefinition“ des bürgerlichen „Völkerrechts“ durch die von den USA geführte NATO-Kriegsallianz durchaus kontrovers debattierte, scheiterte die bundesrepublikanische Linke bei ihrer politischen Standortbestimmung. Ihr gelang es nicht, das Problem des Selbstbestimmungsrechts der Völker – hier des albanischen Volkes – im Zusammenhang mit der NATO-Aggression gegen Jugoslawien richtig zu bewerten. Die DKP und Teile der PDS verweigerten den Albanern das Recht auf nationale Selbstbestimmung, da dies auf dem Balkan nur zu „Völkergemetzel“ führe und der „antideutsche Flügel“ der Linken, die Zeitungen konkret, Junge Welt etc., verweigerten es den Albanern aus Prinzip, da in diesen Blättern Nationalismus nur dann akzeptabel ist, wenn er sich gehörig „antideutsch“ herausputzt. Wie dies die Zeitschrift konkret politisch umsetzte, soll zuerst dargestellt werden.Da der serbische Nationalismus sich in seiner eigenen Presse konsequent „antideutsch“ und „antifaschistisch“ vermarktete, wurde er von Gremliza und Elsässer auch als solcher in der konkret verkauft. Jürgen Elsässer beschreibt seine Methode den serbischen Nationalismus als „Antifaschismus“ zu verkaufen so: „Diese Methode führt dazu, sich auch heute und auch auf dem Balkan die Sichtweise der Opfer und Gegner des deutschen Nationalismus, nämlich der Jugoslawen und Serben, zu eigen zu machen.“ (Jürgen Elsässer, in konkret, Friedensausgabe 7/99) Diese Methode wurde konsequent in den vorausgegangenen „Kriegsnummern“ der Zeitschrift konkretumgesetzt und erlaubt uns, den letzten Jugoslawienkrieg in einem ganz anderen Licht zu sehen, als es die Tatsachen bisher nahelegten.

Bei der Operation „Wüstensturm“ (Angriff auf den Irak) vor acht Jahren war die Zeitschrift konkretin Deutschland als amerikanischer „Jubelperser“ für eine deutsche Kriegsbeteiligung aktiv. Die damalige Friedensbewegung wurde als „deutschnationale Sammlungsbewegung“ denunziert, der konkret-Autor W. Porth forderte gar „Atombomben“ auf Bagdad, und die allgemein als „zu lasch“ kommentierte Kriegführung der USA gegen den Irak verärgerte das „antifaschistische“ Kampfblatt der sog. „radikalen Linken“. Zu ihrer Position gelangte konkret durch die konsequente Anwendung der bereits zitierten Elsässer-Methode, die Aneignung der „Sichtweise der Opfer und Gegner des deutschen Nationalismus“, die in diesem Fall an die Seite Israels und der USA führte. So übersetzte konkret im letzten Golfkrieg die amerikanische und israelische Kriegspropaganda in die Sprache der deutschen „radikalen Linken“.

An der proamerikanischen Propagandatätigkeit hat sich bis heute nichts geändert. Der neuerliche Jugoslawienkrieg schuf allerdings ein Dilemma. Nun führten die USA unübersehbar an der Spitze der NATO-Staaten Krieg gegen Jugoslawien. Wie konnte dieser Krieg nun korrekt aus „Sichtweise der Opfer und Gegner des deutschen Nationalismus“, in diesem Fall also der Amerikaner und Serben interpretiert werden? J. Elsässer besorgte die amerikanische „Weißwaschung“ und enthüllte die deutsche Kriegsschuld. „Die Deutschen haben den Krieg provoziert“ ( konkret 7/99) und die Amerikaner in „die Falle von Rambouillet“ ( konkret 5/99) gelockt. Aber damit nicht genug. Nicht nur, dass der Schwanz in diesem Fall mit dem Hund (und mit was für einem „dicken Hund“) gewedelt hat, der Schwanz hat am Ende des Krieges sogar dem Hund das Futter weggefressen.

Wer es nicht glauben will, H. Gremliza, Herausgeber der Zeitschrift konkret, erklärt es der staunenden Öffentlichkeit: „Deutschland versucht, die Amerikaner, die es in diesen Krieg hineinmanövriert hat … diplomatisch auszuspielen – daher Frau Albrights Wut auf Fischer und seinen ´Friedens´plan … Denn der kleinste Preis, ein Friede nach deutschem Plan, wäre zugleich der für die Amerikaner höchste: die notarielle Beurkundung, daß nach der Sowjetunion die USA der zweite Verlierer der weltpolitischen Wende geworden sind.“ (Gremliza im Leitkommentar der konkret 6/99 „Zweite Kriegsausgabe“) Nicht nur, daß die USA von Deutschland sozusagen wider Willen in den Krieg getrieben wurden, sie haben ihn im Frieden auch noch gegen Deutschland verloren. Hier ist, zumindest journalistisch, eine Revanche für zwei verlorene Weltkriege geglückt. Und das wirklich Überraschende an dieser Entwicklung: so gut wie kein Mensch in Deutschland oder in den USA hat etwas davon bemerkt, wie die USA für deutsche Interessen in den Krieg gelockt und im Frieden um die außenpolitische Beute ebenfalls von Deutschland geprellt wurden. Gegen das Duo Schröder/Fischer an der Spitze der deutschen Politik erscheinen die Bismarcks, Bethman-Hohlwegs und Ribbentrops der Geschichte als außenpolitische Dilettanten. Hier haben wir eine Kostprobe, zu welchen „Erkenntnissen“ man mit der Elsässer-Methode gelangen kann.

Vom „Völkerkrieg“ zum „Kabinettkrieg“

Während dieser Flügel der sog. „radikalen Linken“ die Wirklichkeit konsequent auf den Kopf stellte, hatte der Rest der Linken seine liebe Not, eine Standortbestimmung zwischen Selbstbestimmungsrecht und NATO-Aggression zu finden. Das wesentlich Neue dieses Krieges, die weltgeschichtlich bedeutende Umwälzung nach fast 200 Jahren europäischer Geschichte angefüllt mit Kriegen und Revolutionen, wurde dabei vollständig übersehen.Seit der französischen Revolution wurden die Kriege in Europa unter zunehmender Einbeziehung der Massen in das Kriegsgeschehen geführt. An die Stelle der früheren Söldnerheere trat die Wehrpflicht bis hin zum Volksaufgebot und Partisanenkrieg. Der Krieg, vor der französischen Revolution eine Sache der Herrschenden und der Militärs, war in Europa nur noch möglich bei Einbeziehung des Volkes. Nur wem es gelang, das Volk für seine Kriegsziele zu gewinnen, wer es mobilisieren und bewaffnen konnte, war kriegsfähig. An die Stelle der „Kabinettkriege“ der früheren Jahrhunderte traten die Völker- und Bürgerkriege der vergangenen zwei Jahrhunderte. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts, die in Europa zur Einbeziehung der Gesamtheit der Bevölkerung in das Kriegsgeschehen führte.

Diese Entwicklung des Kriegswesens, vom Söldnerheer zum Aufgebot der gesamten wehrfähigen männlichen Bevölkerung, erfährt in den letzen Jahren eine Umkehrung. Im Jugoslawienkrieg wurde diese Umkehrung auf der Natoseite augenscheinlich. Dieser Krieg war von Seiten der NATO seinem Wesen nach bereits ein „Kabinettkrieg“, geführt allein von den Herrschenden und den Militärs, umgesetzt von Berufssoldaten unter Ausschluß der Volksmassen.

„Stell Dir vor, es ist Krieg und keinen interessiert es“, so müßte der Brechtspruch für heute abgewandelt werden. Dieser Krieg fand auf dem Balkan und in der Presse statt, mit dem Leben und Arbeiten der Bevölkerung in den kriegführenden zentraleuropäischen Staaten hatte er nichts zu tun. Nachdem sich diese Erkenntnis durch den Verlauf der ersten Kriegswochen der Bevölkerung aufgedrängt hatte, nahm das Interesse der Öffentlichkeit an der ungeheuerlichen Tatsache, daß Deutschland im Kontext der NATO wieder einen Angriffskrieg auf dem Balkan führte, kontinuierlich ab.

Deutschland ist wieder „kriegsführungsfähig“, tönte die Linke. Aber sie begreift bis dato nicht, daß der Krieg dabei ist, nach über zweihundert Jahren seine Erscheinungsform grundlegend zu ändern. Galt es seit der französischen Revolution, die Massen für den zu führenden Krieg zu gewinnen, so verkündet der Jugoslawienkrieg für das kommende 21. Jahrhundert: Krieg ist auch ohne Einbeziehung der Volksmassen wieder führbar. Die Niederlage der amerikanischen Wehrpflichtarmee in Vietnam (weil Soldaten und Bevölkerung diesen Krieg nicht mehr führen wollten), gaben in den USA den Anstoß zur Umstrukturierung ihrer Armee. Das Ende der Blockkonfrontation beschleunigte das Ende der Massenheere in Europa (siehe Frankreich, Spanien, Deutschland), und die Entwicklung der Waffentechnik verlangt nach Spezialisten, verkünden die Militärs und Politiker, um die Umstrukturierung der Heere zu Söldnerarmeen zu beschleunigen. Der „moderne Krieg“ soll als „technologischer Krieg“ der „Spezialisten“ geführt werden, unter Ausschluß der Massen.

Sollte diese Entwicklung Realität werden – und im Jugoslawienkrieg war sie bereits Realität – so hat dies mit Sicherheit weitgehende Auswirkungen auf die innere Verfassung der bürgerlichen Staaten Zentraleuropas. Das allgemeine Wahlrecht war das natürliche Produkt der sich durchsetzenden allgemeinen Wehrpflicht der vergangenen Jahrhunderte, seine künftige Einschränkung nach dem Muster der angelsächsischen Republiken USA und GB (Mehrheitswahlrecht), die die allgemeine Wehrpflicht immer als Fremdkörper ihrer Staatsverfassung betrachteten, wird damit mehr als wahrscheinlich. Ein neues Zeitalter der „Kabinettkriege“ um Einflußsphären, Handelsverträge und Rohstoffe kündigte somit der letzte Jugoslawienkrieg als mögliche künftige Außenpolitik der führenden kapitalistischen Staaten für das beginnende 21. Jahrhundert an, eine autoritäre Form der „angelsächsischen Republik“ erscheint als mögliches innenpolitisches Pendant. Das ist die erste und wichtigste politische Schlußfolgerung, die aus dem Jugoslawienkrieg zu ziehen ist.

Der serbische Nationalismus und der Zerfall Jugoslawiens

Vor dem NATO-Überfall auf Jugoslawien war die Linke an der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Albaner im Kosovo gespalten. Die DKP, Teile der PDS und die „antideutsche Linke“ stritten den Albanern das Recht auf nationale Selbstbestimmung ab. Bei der „antideutschen Linken“ wurde dies nach der Elsässer-Methode begründet, und da es sich bei „Jugoslawen und Serben“, offenkundig im Gegensatz zu den Albanern, um „Opfer und Gegner des deutschen Nationalismus“ handelte und die Zerschlagung Jugoslawiens sowieso das Ziel des deutschen Imperialismus sei, galt es für diesen Flügel der Linken, den serbischen Nationalismus bei dem Versuch der Aufrichtung seiner Vorherrschaft über Jugoslawien propagandistisch zu unterstützen.Man bemerkte nicht, daß Milosevics Versuch, die staatliche Einheit des zerfallenden Jugoslawien aufrechtzuerhalten, die Errichtung der serbischen Vorherrschaft über die anderen Staatsvölker beinhaltete. „Titos Jugoslawien“, das auf dem Boden der politischen Gleichberechtigung der verschiedenen Staatsvölker bei gleichzeitiger ökonomischer Alimentierung der unentwickelteren Regionen durch die entwickelteren existierte, konnte aufgrund der wachsenden inneren Widersprüche nicht erhalten werden. Statt dessen versuchte Milosevic, Titos Jugoslawien über die Belebung des serbischen Nationalismus in das alte Jugoslawien der Zwischenkriegszeit zu verwandeln, in das Jugoslawien der serbischen Militärdiktatur über die anderen südslawischen Völker. Dazu – und nicht weil er selbst ein serbischer Nationalist ist – spielte Milosevic die nationalistische Karte, und zwar zuerst dort, wo es am gefahrlosesten und für die serbische Innenpolitik am wirkungsvollsten erschien, im Kosovo. Er raubte dem Kosovo die Selbstverwaltung und begann vor einem Jahrzehnt eine Politik massiver nationaler Unterdrückung der albanischen Bevölkerung. Mit dieser Politik wurde Milosevic in Serbien mehrheitsfähig und der zu Lebzeiten Titos unterdrückte serbische Nationalismus in Jugoslawien erneut hoffähig. In Deutschland war es wiederum die Zeitschrift konkret, die das entsprechende Pamphlet der serbischen Akademie der Wissenschaften, das Milosevics Politik die ideologische Grundlage verschaffte, verbreitete.

Bekanntlich scheiterte Milosevics Versuch, Jugoslawien mit dem Militärstiefel unter serbischer Oberhoheit zusammenzuhalten, gegenüber den ökonomisch entwickelteren Regionen Slowenien und Kroatien. Das sog. Friedensabkommen von Dayton beendete diese Phase der jugoslawischen Zerfallskriege mit einem von der USA diktierten „Frieden“ in Bosnien. Damit aber trat der Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklung, die Unterdrückung der albanischen Bevölkerung durch das serbisch dominierte Rumpfjugoslawien, wieder deutlicher in den Vordergrund. Über ein Jahrzehnt war der albanische Widerstand im Kosovo von der amerikanisch-britischen Marionette Rugova auf den Weg des zivilen Ungehorsams, des gewaltlosen Protests festgelegt worden. Das Kosovo sollte politische Verhandlungsmasse speziell der amerikanischen Außenpolitik bleiben. Der Sturz des amerikanisch-britischen Kriminellenregimes von Berisha in Albanien durch einen Volksaufstand entfachte den bewaffneten Widerstand der Kosovoalbaner gegen die serbische Vorherrschaft. An die Stelle Rugovas trat die UCK, an die Stelle des zivilen Ungehorsams der bewaffnete Kampf. Der albanische Aufstand wies den politischen Weg (bewaffneter Kampf) und gab ihm über die Plünderung der Waffenlager der albanischen Armee auch die entsprechende materielle Grundlage.

„Die albanische Regierung Sali Berishas (bis 1996) war eine korrupte Diktatur, die Wahlen fälschte und die Oppositionsführer ins Gefängnis steckte, die aber der US-Politik nützlich war, weil sie die Grenze zu Jugoslawien geschlossen hielt und die nationalistischen Hoffnungen der Albaner im Kosovo und in Mazedonien nicht unterstützte. Mit dem Volksaufstand, der Berisha stürzte, wurde der albanische Staat zertrümmert, seine Sicherheitskräfte lösten sich auf und die Waffen wurden von der Bevölkerung übernommen. … Dies eröffnete eine Chance für die UCK im Kosovo … Die Offensive der UCK wurde besonders im Kosovo wie auch in Mazedonien von der albanisch-stämmigen Bevölkerung positiv aufgenommen, wo die nationalen Hoffnungen der Albaner lange unterdrückt worden waren. Die UCK-Offensive im Kosovo begann im Februar 1998 und war sehr effektiv.“ (Peter Gowan, Die NATO und die Balkantragödie, in Z Nr. 38, S. 76-77)

Damit aber war sowohl die westliche, besser die amerikanische Jugoslawienpolitik mit der Marionette Rugova, die das Kosovo ruhig zu halten hatte, gescheitert, wie schon zuvor Milosevics Jugoslawienpolitik am Widerstand der Slowenen, Kroaten und Bosnier gescheitert war. Milosevic hatte die nationale Frage ins Zentrum der Balkanpolitik gerückt und die anderen südserbischen Völker des ehemaligen Jugoslawiens mit Krieg überzogen, nun kam sie über das Kosovo mit umgekehrten Vorzeichen nach Serbien zurück. Das albanische Volk nahm die Balkanpolitik in seine bewaffneten Hände und stellte die USA und Milosevic vor die Tatsache eines bewaffneten Volkskrieges in Jugoslawien.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und seine „multikulturellen“ Kritiker

Unzweifelhaft hat das albanische Volk – wie alle Völker der Balkans, einschließlich des serbischen – das Recht auf eine eigene staatliche Existenz. Unzweifelhaft war es aufgrund der serbischen Politik der nationalen Unterdrückung im Kosovo richtig, diesen Kampf des albanischen Volkes zu unterstützen. Erscheinen die politischen Konstruktionen der „antideutschen Linken“ zum Jugoslawienkonflikt eher lächerlich (selbst ein sog. „radikaler Linker“ wie Thomas Ebermann bemerkte zu Elsässers und Gremlizas Artikeln: „Ich habe herzlich gelacht“, konkret 7/99), so wirkte das verlegene Gestammel der DKP zur Frage des Selbstbestimmungsrechts der Albaner geradezu widerwärtig. „Progressive Begriffe von gestern wie ´Selbstbestimmungsrecht´ – als es um Antikolonialismus ging – werden heute in ihrer Auswirkung ins Gegenteil gewandelt … Besonders wichtig für Friedensbewegte und Linke ist, nicht an umdefinierten Begriffen festzuhalten, sondern die Prinzipien auf die Tagesordnung zu setzen, die diesen Begriffen in der Vergangenheit zugrundelagen. Nicht ethnisch und national, sondern Völkerverständigung und Internationalismus.“ (UZ vom 29.05.1999, S. 7) Hier wird die linke Sympathie für das Schlagwort von der multikulturellen Gesellschaft dafür genutzt, gegen die Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen Front zu machen. Dieses Recht sei nur „gestern“ fortschrittlich gewesen, heute seien es „Völkerverständigung und Internationalismus“.Zur Völkerverständigung und zum Internationalismus gehören aber unabdingbar die Gleichheit der politischen Rechte aller beteiligten Völker und Nationen. Und dort, wo diese Gleichheit mit Füßen getreten wird, führt der Weg zur „Völkerverständigung“ und zum „Internationalismus“ über die Herstellung dieser gleichen Rechte durch die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Nationen. Dort, wo die Unterdrückung „ethnisch und national“ herrscht, wird der Widerstand gegen diese Unterdrückung notwendig national sein. Erst ein Ende dieser Unterdrückung ermöglicht eine „Völkerverständigung“ zwischen den betroffenen Nationen. Die Argumentation der UZ gegen das Selbstbestimmungsrecht ist nicht nur eine peinliche Distanzierung von der eigenen Vergangenheit (Lenins Definition des Sebstbestimmungsrechtes ist „von gestern“), sondern ein ebenso peinlicher Verstoß gegen die politischen Tatsachen und die formale Logik.

Der Hauptfeind steht weiterhin im eigenen Land

So richtig die Unterstützung des albanischen Kampfes um das Selbsbestimmungsrecht war, so wenig aber durfte die Linke nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien für dessen Niederlage im Krieg gegen die NATO eintreten. Indem die NATO und allen voran die USA die nationale Unterdrückung im Kosovo zum Vorwand eines Krieges gegen Jugoslawien machten, um sowohl die albanische Widerstandsbewegung als auch die Balkanfrage wieder in ihre Hand zu bekommen, galt es für die Niederlage der eigenen Bourgeoisie, die den USA in dieses Kriegsabenteuer folgte, einzutreten. „NATO raus aus dem Balkan, Deutschland raus aus der NATO, NATO raus aus Deutschland, Für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker auf dem Balkan“ – das war die einzig mögliche politische Position. Ihr politischer Kern ist, daß der Hauptfeind weiterhin im eigenen Land steht und daß der nationale Befreiungskampf der unterdrückten Völker die Kommunisten in den Metropolen der westlichen Welt nicht an die Seite ihrer Unterdrücker führen darf. Ihre Niederlage ist die Voraussetzung unserer künftigen Siege.Unter den Bedingungen eines Natokrieges gegen Jugoslawien geben deshalb Parolen wie „Serbien muß sterben“ und „Dieses Serbien muß untergehen, wie das nationalsozialistische Deutschland untergegangen ist“ (Kommunistische Zeitung Nr. 8/99, S. 8) eine fehlerhafte Orientierung. Sie können dazu dienen, dem Natokrieg eine positive Legitimation zu geben, indem sie ihm unterstellen, mit der jugoslawischen Regierung ein überlebtes, reaktionäres Regime zu beseitigen und – gewollt oder ungewollt – einer progressiven Entwicklung auf dem Balkan den Boden zu bereiten. Genau dies aber war weder der Anlass der NATO-Aggression noch wird dies seine direkte Folge sein. Der NATO-Überfall hat einzig den serbischen Nationalismus, den er zu bekämpfen vorgab, gestärkt. Nur die Niederlage der NATO – und nicht die Niederlage Jugoslawiens – hätte die Möglichkeiten für künftige progressive Entwicklungen, sowohl auf dem Balkan, wie in den NATO-Staaten eröffnet.

Mit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien haben sich die Bedingungen aller Völker des Balkans, künftig über ihr politisches Schicksal selbst zu entscheiden, verschlechtert. Nun wird über die Zukunft des Balkans im NATO-Hauptquartier in Brüssel beraten und in Washington entschieden. Insbesondere aber haben sich die Bedingungen des albanischen Freiheitskampfes verschlechtert. Der albanische Aufstand hatte die Jugoslawienpolitik aus den Händen Milosovics ebenso wie aus denen der USA entwunden. Der Natokrieg hat sie dorthin zurückgebracht.

Das Kosovo ist heute praktisch NATO-Protektorat und diese NATO hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß für sie das Kososvo Bestandteil Jugoslawiens ist und zukünftig auch bleiben soll (bis eventuell neue aussenpolitische Interessen der USA den Völkern des Balkans auch neue Grenzen verordnen). Das Kosovo und die UCK wurden durch den Krieg wiederum zum Spielball und zur Manövriermasse amerikanischer Balkanpolitik, deren nächstes Ziel die Einsetzung einer proamerikanischen jugoslawischen Regierung ist. Dort, wo sich der nationale Befreiungskampf mit der NATO und den USA verbindet, wird er eine abgeleitete Größe der imperialen Politik der USA und verliert jeglichen fortschrittlichen Charakter. Dies ist die zweite wesentliche Lehre des jugoslawischen Krieges.

Eine ökonomistische Verballhornung des Marxismus

Eine Version der Ursachen dieses Krieges haben wir bereits zu Beginn dieses Artikels vorgestellt: Deutschland habe die USA über die geschickt gestellte Falle von Rambouillet in den Krieg getrieben und am Schluß um die Beute (welche Beute, blieb in den Artikeln allerdings immer offen) betrogen. Bezeichnenderweise fühlen sich die Erfinder dieser Theorie verpflichtet darauf hinzuweisen: „Auf dem Balkan haben die USA ökonomisch keine Karten, die stechen.“ (Jürgen Elsässer in konkret, Friedensausgabe 7/99) In ihrer Logik hatten die USA deshalb auch keinen Grund, einen Krieg gegen Jugoslawien zu führen. Sie mußten von J. Fischer dorthin getrieben werden.Dies sei bei Deutschland natürlich gänzlich anders. Schon zu Beginn der jugoslawischen Zerfallskriege verkündeten Teile der deutschen Linken, daß der Krieg um Slowenien und Kroatien im Interesse von „Bogner, Boss und TUI“ (SoZ vom 15.08.1991) geführt würde, wobei allerdings das Touristikgeschäft im ehemaligen Jugoslawien noch heute unter dem „deutschen Sieg“ leidet. Ob die Ergebnisse für die deutsch-östereichische Textilindustrie von Bogner und Boss besser ausgefallen sind, hat uns die SoZ bis heute nicht verraten. Dies hindert die Linke allerdings nicht darin, weiterhin hartnäckig ökonomische Gründe für die deutsche Balkankriegsbegeisterung zu suchen, von Bogner, Boss und TUI bis hin zu den Rohstoffen des Nordkosovo.

„Der Balkankrieg, so ist zu hören, ist Ergebnis einer Intrige, mit der das von Bismarck 1871 gegründete und von Hitler zeitweilig erweiterte Deutsche Reich seine nie vergessenen Ziele weiterverfolgt. In Rambouillet sei es Ribbentrops Nachfolger Josef Fischer sogar gelungen, die US-amerikanische Aussenministerin Albright in den Dienst seiner Politik zu stellen. Zu meinem Verdruß wird als Beleg für eine solche Weltsicht zuweilen ein Buch herangezogen, das ich seit Jahren mit dem besten Gewissen empfehle (und auch in Zukunft weiter propagieren werde): Reinhard Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945.“ (Georg Fülberth, in konkret Nr. 6/99)

Georg Fülberth teilt die zitierte Auffassung der konkret-Autoren Elsässer und Gremliza durchaus nicht. Für Fülberth hatte der letzte Jugoslawienkrieg hauptseitig politische Gründe und sein Ziel war die Sicherung der amerikanischen Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Er benennt aber mit Opitz´s Werk vollständig richtig die theoretische Grundlage, die die verschiedenen Flügel der Linken miteinander verbindet, jenen Ansatzpunkt, den die „antideutsche Linke“ mit der DKP bei allen anderen Differenzen gemeinsam hat: Die von R. Opitz und dem gesamten, inzwischen gescheiterten, osteuropäischen Marxismus verfochtene Anschauung, daß es immer eine direkte Verbindung zwischen den Strategien und ökonomischen Interessen des „Kapitals“ und der Aussenpolitik des jeweiligen Landes gibt.

Zwar trifft dies bei den im Zitat bemühten historischen Beispielen von Bismarck und Hitler durchaus nicht zu – so hielt Bismarck die vermeintlichen Interessen des deutschen Kapitals auf den Balkan bekanntlich nicht für ausreichend, auch nur „die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers“ zu opfern, und Hitler bevorzugte ein Abkommen mit dem serbischen Königtum über die Neutralität Jugoslawiens gegenüber einer militärischen Eroberung, trotz der von Opitz „belegten“ Europastrategien des deutschen Kapitals – nur hat dies bis dato noch keinen „Marxisten“ veranlasst, von dieser Art ökonomistischer Verballhornung des Marxismus Abstand zu nehmen. Der Krieg bedarf für fast jeden Flügel der deutschen Linken einer ökonomischen Fundierung, eines konkreten Interesses des „Kapitals“.

„Deutsches Interesse ist u. a. die ethnische Parzellierung Jugoslawiens. Vom Wiederaufbau will man profitieren, auf dem neuen deutsch-europäischen Hinterhof Balkan einen Absatzmarkt finden und Billigstarbeitskräfte.“ Als Jugoslawien „als der letzte NATO-resistente Balkanstaat es auch noch wagte, billige Weltbankkredite auszuschlagen, wurden die Menschenrechte der Kosovo-Albaner/innen entdeckt.“ (Jutta Ditfurth, in konkret 7/99)

Nicht anders Heinz Stehr, Parteivorsitzender der DKP, der in der UZ zustimmend den Standpunkt der jugoslawischen Kommunisten zu den Kriegsursachen erläutert: „Sie gehen davon aus, daß einer der Hauptgründe ist, daß sie bisher gegen diese ´Neue Weltordnung´ Widerstand geleistet haben. Sie haben zum Beispiel die Einführung der Marktwirtschaft nicht akzeptiert. Nach wie vor ist die wichtigste Eigentumsform gesellschaftliches oder genossenschaftliches Eigentum. Das gilt für die Produktion, aber auch für Grund und Boden.“ (UZ vom 02. Juli 1999) Hier haben wir die Durchsetzung der „Marktwirtschaft“ und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gegenüber den Überresten ehemaliger „sozialistischer Planwirtschaft“ als Kriegsursache. Wie auch immer, von den nordalbanischen Bodenschätzen über die immer gleichen „Europastrategien des deutschen Kapitals“, das Ausschlagen von IWF-Krediten, die Beschaffung billiger Arbeitskräfte bis hin zur Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung – der Linken ermangelt es nicht an allerlei haarsträubenden Geschichten über die Gründe des „Kapitals“ für den vorerst letzten Jugoslawienkrieg. In Wirklichkeit erklärt kein einziges der angeführten Zitate den konkreten Krieg. Alle genannten Gründe existieren seit acht bis zehn Jahren, seit dem Zerfall der bipolaren Weltordnung, ohne einen Natokrieg gegen Jugoslawien hervorgerufen zu haben.

Überhaupt ist jeder konkrete Krieg Produkt der inneren und äußeren Politik der beteiligten Mächte, er ist eine „Fortsetzung dieser Politik mit anderen Mitteln“. Aus dieser Politik muss er erklärt und hergeleitet werden. In den jeweiligen Staaten müssen die „ökonomischen Interessen“ und „Strategien“ des „Kapitals“ eine konkrete politische Gestalt annehmen. Dabei entpuppt sich dann „das Kapital“ als eine Ansammlung sehr unterschiedlicher Interessen. Diese unterschiedlichen Interessen finden ihre politischen Fürsprecher, Denkschulen, politischen Parteien und suchen in einer parlamentarischen Demokratie die ihrer Konzeption entsprechenden Parteien- und Klassenbündnisse, die eine gesellschaftliche Akzeptanz und parlamentarische Mehrheit ermöglichen. Die hier beschriebene Entwicklung unterliegt auf jeder ihrer Stufen einer Eigengesetzlichkeit, die die letztendliche konkrete Politik eines Landes, durchaus nicht direkt aus irgendwelchen „Kapitalstrategien“ herleitbar macht. Die Außenpolitik eines jeden Landes steht dabei in bestimmten historischen Traditionen, die sich – siehe Deutschland – auch manchmal grundlegend ändern, ist an bestehende Bündnissysteme angelehnt, ist abhängig von der geographischen Lage, der ökonomischen und militärischen Potenz des jeweiligen Staates, und wird als konkrete Politik von der jeweils amtierenden Regierung formuliert.

Wenn es darum geht, eine konkrete Politik herzuleiten, die Ursachen für eine bestimmte politische Handlung aufzuzeigen, erweisen sich die Begrifflichkeiten von „dem Kapital“, „den Kapitalstrategien“, dem „Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis“ und dergleichen mehr als leere Abstraktionen. Um vom konkret existierenden einzelnen Kapital, das in jedem anderen konkreten Einzelkapital erst einmal nur seinen Konkurrenten erblickt, zu einer „Politik des Kapitals“ zu gelangen, bedarf es nicht nur einer ganzen Reihe nichtökonomischer Zwischenstufen; der Begriff selbst erweist sich als unzulänglich, da am Ende dieses Prozesses keine Zusammenfassung der Interessen aller Einzelkapitale steht, sondern etwas qualitativ anderes, ein über viele Zwischenstufen vermittelter Konsens zwischen den unterschiedlichen Kapitalinteressen und der Gesamtausrichtung der Politik der gegeben bürgerlichen Gesellschaft.

„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.“ (Engels an Joseph Bloch, 21./22.09.1890, MEW Bd. 37, S. 463; alle Hervorhebungen im Original)

Wer immer unter den heutigen politischen Bedingungen einen konkreten militärischen Konflikt direkt aus „dem ökonomischen Interesse des Kapitals“ an der Durchsetzung der „Marktwirtschaft“, an „billigen Arbeitskräften“, an der „Ablehnung von IWF-Krediten“ etc. herleitet, der hat den Marxismus auf das Niveau einer inhaltsleeren Allerweltsweisheit reduziert: Letztendlich steht hinter allem ein ökonomisches Interesse. Mit dieser Platitüde kann man allerdings keine Politik machen. Und damit kommen wir zur dritten Schlußfolgerung aus dem Jugoslawienkrieg: Wer konkrete Politik aus „dem Kapital“ oder den „Strategien und Interessen des Kapitals“ herleitet, hat weder den Marxismus verstanden noch ist er politikfähig.

Eine politische Interpretation des Jugoslawienkrieges

Werfen wir im Gegensatz zu den ökonomistischen Verflachern des Marxismus einen Blick auf die Zielsetzung der amerikanischen und deutschen Aussenpolitik im vergangenen Jahrzehnt, also seit dem Ende der bipolaren Weltordnung, die allseits eine Neuformulierung der Aussenpolitik erfoderlich machte, so enthüllen sich die vermeintlichen ökonomischen Interessen „des Kapitals“ an der Durchsetzung der „Marktwirtschaft“ auf dem Balkan als ein Ringen um politische Eigenständigkeit bzw. Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Der Zerfall der bipolaren Weltordnung vergrößerte den aussenpolitischen Handlungsspielraum aller westeuropäischen Staaten, im besonderen aber die Rolle und Bedeutung der inzwischen wiedervereinigten BRD. Zugleich führte der Zerfall des Warschauer Paktes die NATO, Garant der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gegenüber dem Sozialismus und Instrument amerikanischer Vorherrschaft über Europa, in eine Legitimationskrise.Die zukünftigen Aufgaben der NATO bedurften einer neuen Definition. Für die USA sollte die NATO auch in Zukunft ein Instrument ihrer Vorherrschaft über Europa bleiben. Alle NATO-Reformen und -Erweiterungspläne der USA aus den letzten Jahren spiegeln dieses Interesse wider. Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien ist somit aus der Kontinuität amerikanischer Europa- und NATO-Politik zu interpretieren. „Ein militärischer Angriff auf Jugoslawien durch die NATO hat natürlich weitreichende gesamteuropäische politische Konsequenzen, weit bedeutender für die Staatsinteressen aller großen Mächte, als das – für sie anscheinend bedeutungslose – Schicksal der Albaner im Kosovo. Ein Erfolg außerhalb des Rahmens der Zustimmung des UN-Sicherheitsrates würde garantieren, daß kein kollektives Sicherheitssystem in Europa – durch die Hintertür eines russischen Vetos im Sicherheitsrat – geschaffen würde. Und es würde die Einheit der Allianz besiegeln – zu einem Zeitpunkt, da die Einführung des Euro, ein Ereignis von möglicherweise globaler politischer Bedeutung, sie auseinanderreißen könnte.“ Dementsprechend betonte Clinton am Vorabend des Krieges einem Bericht der Washington Post zufolge, daß „eine starke US-Europäische Partnerschaft alles (sei), worum es bei dieser Kosovo-Angelegenheit gehe.“ (Peter Gowan, Die NATO und die Balkan-Tragödie, in Z Nr. 38, S. 80-81, Hervorhebung im Original)

Die USA führten diesen Krieg zur Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft in Europa, zur Verhinderung der Etablierung anderer europäischer Sicherheitssysteme (beispielsweise unter Einbeziehung Rußlands – OSZE), die sich in Konkurrenz zu der unter amerikanischer Hegemonie befindlichen NATO entwickeln könnten und die Eigenständigkeit der europäischen Staaten und hier insbesondere der BRD stärken könnten.

Und wie erklärt sich die deutsche Politik vor diesem Hintergrund? „Dieser Krieg ist – mit allen bekannten Unzulänglichkeiten – von der NATO unter amerikanischem Oberbefehl geführt und gewonnen worden. … Wer allerdings glaubt, das deutsche Engagement entspringe einem genuinen Atlantizismus, der irrt. Deutschland konnte sich diesem Krieg in Kosovo nicht einfach entziehen, ohne zum Paria zu werden. Aber die Regierung Schröder lässt inzwischen keinen Zweifel daran, dass sie sich künftig nicht mehr in amerikanische Kriege verwickeln lassen will, sondern im europäischen Verbund, wo die deutsche Stimme ein ungleich grösseres Gewicht hat, die politischen und militärischen Entscheidungen suchen will.“ (Hans Rühle, NZZ vom 02.08.1999. Hans Rühle war Chef des Planungsstabes im Bonner Verteidigungsministerium.)

Zugleich aber konstatiert der Autor „dass die deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik rhetorisch-politisch auf eine auch militärisch weitgehend selbständige europäische Verteidigungsidentität zielt, während faktisch-militärisch die Abhängigkeit von den USA immer grösser wird.“ (ebenda) Hier spricht der Autor die Diskrepanz zwischen den politischen Wünschen (nicht nur der deutschen Regierung) und ihren militärischen Möglichkeiten an. Die europäischen Staaten allein hätten den Luftkrieg gegen Jugoslawien nicht führen können. Ihn als Landkrieg zu führen, hätte diesem Krieg beim momentanen Zustand der europäischen Armeen seinen Chararakter als Kabinettkrieg genommen (ohne Einbeziehung der Massen und ohne größere Verluste), hätten ihn damit politisch unmöglich gemacht. Zwischen dem europäischen und deutschen Wunsch nach größerer politischer und militärischer Eigenständigkeit gegenüber den USA und der realen militärischen Potenz existiert ein momentan nicht überbrückbarer Graben. Diesen Graben haben die USA ihren europäischen Verbündeten im Jugoslawienkrieg in aller Deutlichkeit aufgezeigt: Die USA bleiben die militärische und politische Vormacht in der Welt und in Europa. Sie bestimmen damit über Krieg und Frieden auch in Europa.

Wer mit dem „deutschen Frieden“ auf dem Balkan also wen über den Tisch gezogen hat, wird die Zukunft zeigen. Die Katzbalgerei um politische Einflußsphären in Europa wird mit Sicherheit in eine neue Runde gehen. Und dies führt uns zur vierten Schlussfolgerung aus dem Jugoslawienkrieg: Der Zerfall der bipolaren Weltordnung hat die Widersprüche zwischen den führenden kapitalistischen Staaten weiter anwachsen lassen. Mit der Umstrukturierung ihrer Armeen zu Söldnerbanden wächst die Wahrscheinlichkeit, daß diese Konflikte in den kommenden Jahren kriegerischen Charakter annehmen.

Ob die deutsche Linke dazu künftig mehr zu sagen weiß, als „Durchsetzung der Marktwirtschaft“ und die immer gleichen „Europastrategien des deutschen Kapitals“ zu enthüllen, ist bei der von ihr gepflegten ökonomistischen Verflachung des Marxismus zu bezweifeln. Politikfähig ist diese Art von „Marxismus“ zu keiner Zeit.


Zuerst veröffentlicht in: Aufsätze zur Diskussion (AzD), 21. Jg., Nr. 68, August 1999. Information und Bestellformular …

Letzte Änderung: 21.03.2016