Von der WASG zur Partei DIE LINKE

– Eine kurze Aufweichung der bürgerlichen Hegemonie

Von Heiner Karuscheit

Will man sich über die Stellung zur neuen Partei „Die Linke“ Klarheit verschaffen, ist es sinnvoll, einen Blick zurück auf die kurze Geschichte der WASG zu werfen. Sie war bislang unbestrittener Bezugspunkt derjenigen, die sich um die Linke Zeitung herum gruppieren und heute über die künftige Ausrichtung des Netzwerk Linke Opposition (NLO) debattieren.

Aufweichung der bürgerlichen Hegemonie

Gegründet wurde die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ als Verein am 3. Juli 2004 in den Auseinandersetzungen um die „Agenda 2010-Politik“ der rot-grünen Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Hartz-IV-Demonstrationen. Der entscheidende Anstoß zu ihrer Entstehung kam aus den Gewerkschaften heraus, an der Spitze der Schweinfurter IGM-Bezirksbevollmächtigte Klaus Ernst. Die Gründung dokumentierte in verschiedener Hinsicht eine Aufweichung der bürgerlichen Hegemonie über die Gesellschaft.

Zum einen war der Brückenschlag zwischen gewerkschaftlichen Kräften und der Arbeitslosenbewegung ein Novum, denn die Gewerkschaften mit der Facharbeiterschaft als Kern sind traditionell auf eine ständisch beschränkte Interessenpolitik festgelegt. Zum zweiten zeigten sich die Gewerkschaften gespalten; als organisierte Träger der bürgerlichen Hegemonie innerhalb der Arbeiterschaft sind sie unter der Fahne der „Sozialpartnerschaft“ auf die Klassenkooperation mit dem Kapital eingeschworen und per Satzung auf die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ verpflichtet. Schließlich richtete sich die WASG-Gründung gegen die beiden Volksparteien, die diese Hegemonie gesamtgesellschaftlich organisieren – insbesondere gegen die SPD.

Zwar machte die WASG nie ein Hehl daraus, dass man auf dem Boden der Sozialpartnerschaft steht und vom Klassenkampf nichts hält. Man kritisierte lediglich, dass die Gewerkschaftsführung zu willfährig gegenüber dem Agenda-Kurs der rot-grünen Bundesregierung sei und den Arbeitgebern zu große Zugeständnisse mache. Im Kern wollte und will man zurück zu den goldenen Jahrzehnten, als die „Arbeit“ innerhalb der gegebenen Klassenkooperation mit dem Kapital mehr Gewicht hatte und der „Anteil am Kuchen“ für die abhängig Beschäftigten größer war.

So moderat auch immer die Kritik war – in der Frontstellung gegen die Sozialdemokratie und den gewerkschaftlichen Anpassungskurs markierte sie einen Riss in der Hegemonie über die Massen, besser gesagt, in den jahrzehntelang eingespielten Formen dieser Hegemonie. Man konnte die Hoffnung hegen, dass hier ein Ansatz zur künftigen Radikalisierung vorlag, der die Verhältnisse vielleicht in Bewegung bringen konnte. Da die neue Organisation außerdem innerparteiliche Spielräume gewährte, sahen Teile der Linken die Chance, aus ihrem Sektendasein heraus zu kommen und Massenwirksamkeit zu entfalten, ohne ihre Grundüberzeugungen aufgeben zu müssen.

Die zwiespältige Wirkung der NRW-Wahl

Im Mai 2005 fand die Landtagswahl in NRW statt. Sie führte nicht nur zu einem Regierungswechsel von der SPD zur Union, sondern bescherte der im Januar zur Partei umgegründeten WASG aus dem Stand heraus 2,2 % der Stimmen. Dieselbe Wahl, die der „Wahlalternative“ einen so kräftigen Auftrieb gab, setzte jedoch eine Kettenreaktion in Gang, die die Bedingungen der eigenen Fortentwicklung gründlich umgestaltete.

Zunächst sorgte Gerhard Schröder, durch den Verlust der SPD-Bastion NRW zum Handeln gezwungen, mit seinem Rücktritt als Kanzler für vorgezogene Bundestagswahlen im September 2005. Die Union unter ihrer Spitzenkandidatin Angela Merkel trat zu diesen Wahlen mit einem explizit „marktwirtschaftlichen“ Programm an, das Schröders Agenda-Politik noch zu toppen versprach. U. a. sollten der Kündigungsschutz weiter gelockert, die Krankenversicherung auf „Kopfpauschalen“ umgestellt und insgesamt die Rahmenbedingungen für die Profitmacherei drastisch verbessert werden – das alles mit dem Versprechen, dadurch Arbeitsplätze zu schaffen. Umsetzen wollte man dieses „neoliberale“ Programm gemeinsam mit der FDP. Die Repräsentanten einer sozialen Ausrichtung der Marktwirtschaft wie Horst Seehofer oder Norbert Blüm, die vor einem Verlust des Status als Volkspartei warnten, wurden ins Abseits gestellt.

Den krönenden Abschluss dieser Orientierung bildete die Berufung des Steuerprofessors Paul Kirchhof kurz vor der Wahl in das „Kompetenzteam“ der Kanzlerkandidatin. Über das offizielle Wahlprogramm der Union hinaus forderte er den Übergang der Rentenversicherung zum Kapitaldeckungsverfahren. Mit dieser Auslieferung der Altersversorgung an das Kapital setzte er zwar nur den von SPD-Riester eingeschlagenen Weg fort, aber gerade diesen Punkt hatte die Union wohlweislich nicht in ihr Wahlprogramm aufgenommen, weil sie um seine Sprengkraft wusste.

Seine Ungeschicklichkeiten gaben der SPD, die bis dahin weniger als 30 % der Stimmen zu erwarten hatte, die unverhoffte Chance, sich gegenüber der Union kurzfristig erneut als „sozial“ zu profilieren. Nach den Erfahrungen der vergangenen Regierungsjahre wirkte ihr Auftritt zwar nicht besonders glaubwürdig, reichte aber aus, um wenigstens 34,2 % der Stimmen zu holen – und vor allem der Union zu schaden (die Wahlanalysen in der Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 51-52/2005 arbeiten sowohl das „Glaubwürdigkeitsdefizit“ der SPD heraus als auch den raschen Meinungsumschwung durch Kirchhofs Äußerungen).

Zusammen gaben nur noch 53,1 % der Wahlberechtigten den Volksparteien ihre Stimme – der tiefste Wert seit 1949 und ein Warnzeichen, dass das Vertrauen in den bürgerlichen Politikbetrieb weiter zurückgeht.

Eine soziale Rückwende der Union

Die Union wurde mit 35,2 % aus allen Blütenträumen gerissen. Die angestrebte Koalition mit der FDP hatte keine Mehrheit im Bundestag, und nach der innerparteilichen Lage der Dinge kam eine „Jamaika-Koalition“ unter Einschluss der Grünen nicht in Betracht. Um an die Macht zu kommen, blieb nur das Zusammengehen mit der SPD. Wollte man in diesem großen Koalitionsstück aber dem Konkurrenten nicht die Rolle des Ritters von der sozialen Gestalt überlassen und selber in der Schurkenrolle untergehen, musste man sich von den marktradikalen Zielen verabschieden.

Ein solcher Politikwechsel war umso mehr geboten, weil das Wahlergebnis die christlichen Landesfürsten in Stellung brachte, die um ihre häuslichen Mehrheiten fürchteten. Während in Bayern die CSU den Sozialpolitiker Horst Seehofer wieder aus der Versenkung holte, entdeckte in NRW der frisch gebackene Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die soziale Frage neuerdings als unverzichtbar für die Fortexistenz der CDU als Volkspartei. Die christdemokratische Kanzlerkandidatin vollzog also nur mit staunenswerter Geschmeidigkeit die Wende nach, die ihr der Meinungsumschwung in der Parteiführung vorgab.

Da auch die SPD ohne Schröder keine Probleme hatte, auf eine Fortsetzung der Agenda-Politik im bisherigen Tempo zu verzichten, kam eine Regierung der großen Koalition zustande, die sozialstaatliche Eingriffe nur mehr schrittweise und in gemäßigter Form vorsieht (wie bei der Rente mit 67). Im Wesentlichen waren und sind beide Seiten darauf bedacht, dem politischen Konkurrenten nicht den sozialen Vortritt zu lassen. Die jüngste „Gesundheitsreform“ ist auf diesem Mist gewachsen.

Das prominenteste Opfer des sozialpolitischen Rückzugs war der Mittelstandsvertreter Friedrich Merz, zeitweise Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag. Er war eine treibende Kraft hinter der neoliberalen Umorientierung der CDU-Politik gewesen und sah sich jetzt von allen Seiten düpiert. Konsequenterweise erklärte er vor kurzem seinen Rückzug aus der Politik mit der Begründung, dass er weder die Gesundheitsreform noch die nordrhein-westfälische Regierungspolitik seiner Partei mittragen könne.

Radikalisierung oder Regierungsbeteiligung

Die Wiederentdeckung des Sozialen durch die Parteien der großen Koalition erschwerte die bislang bequeme Oppositionsrolle der Linken. Ausschlaggebend für die Wahlerfolge war die Kritik an der neoliberalen Agenda-Politik von SPD und Union (und Grünen natürlich) gewesen; durch die Kandidatur der WASG auf den geöffneten Listen der PDS hatte man bei der Bundestagswahl 2005 gemeinsam sogar 8,7 % der Stimmen geholt. Wollte man sich nach dem sozialpolitischen Zurückrudern der großen Koalition jetzt weiter profilieren, musste man radikaler werden. Man musste den bisherigen Schmusekurs gegenüber den Gewerkschaften aufgeben und vor allem gegenüber der „Schwesterpartei“ PDS klare Grenzen ziehen.

Weder durfte man die Auslieferung kommunaler Wohnungen an das Kapital wie in Dresden noch den Stellenabbau und sozialen Sparkurs wie in der Berliner Koalition tolerieren. Man durfte also nicht nach dem Motto des „kleineren Übels“ irgendeine Spielart neoliberaler Politik mittragen, sondern hatte im Gegenteil mehr „Systemopposition“ zu betreiben, wie es die „Rechten“ seit geraumer Zeit vormachen. Wenn unumgänglich, musste man dafür auch einen Bruch mit der Linkspartei in Kauf nehmen. Mit einem solchen Kurs war zwar erst einmal keine Regierungsbeteiligung zu machen, aber angesichts der zunehmenden Wahlenthaltung und Frustration insbesondere in den unteren Schichten auf Dauer ein stabiler Rückhalt und schlussendlich auch ein größerer Stimmenanteil zu gewinnen.

Diese Kursänderung war mit einer Führung aus gestandenen Gewerkschaftsfunktionären und Oskar Lafontaine nicht zu machen. Im Hinblick auf das Wählerpotenzial im Osten wollte diese Führung im Gegenteil die rasche Verschmelzung mit der PDS, um zu Regierungsbeteiligungen zu kommen. Das bedeutete, sich nach allen Seiten kompromissfähig zu geben, und das Gründungsdokument der gemeinsamen Partei DIE LINKE (DL) spiegelt die daraus resultierende Haltlosigkeit wider. Die „Programmatischen Eckpunkte“ bestehen im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung wohlmeinender, möglichst wenig konkreter Aussagen und Versprechungen, vom „Richtungswechsel in der Politik“ über die Verurteilung von „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ bis zu einem Plädoyer „für Demokratisierung, Geschlechtergerechtigkeit und ökologischen Umbau“ – alles wunderschöne Begriffe, die mittlerweile fast zur Allgemeinbildung gehören und von denen einiges auch im Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der CDU zu finden ist.

Ein Programm der Unverbindlichkeit

Da es zu diesem Thema bereits genügend Kritiken gibt, sei hier nur beispielhaft die Außenpolitik angeführt, und zwar in dem Punkt, der sowohl grundsätzlich als auch aktuell von größter Sprengkraft ist. Statt klipp und klar den Austritt Deutschlands aus der NATO zu fordern (womit die maßgebliche Grundlage für die Auslandseinsätze der Bundeswehr beseitigt und die NATO am Ende wäre), steht im Gründungsdokument der klassische Satz „Militärbündnisse wie die NATO wollen wir überwinden“ (Kapitel III,8: Internationale Politik). Damit ist der unbedarfte Leser beruhigt und man selber auf nichts festgelegt, denn schließlich hat man sich ja nur zu gutem Willen verpflichtet. Davon abgesehen fragt sich, welche sonstigen Militärbündnisse – vielleicht in Ozeanien? – die wirkungsmächtige neue Partei „überwinden“ will. Unverbindliche oder sinnentleerte Aussagen derselben Machart sind der rote Faden, aus dem das ganze Gründungsdokument gewebt ist.

Nur wenn man nach den sozialen Zielgruppen der DL sucht, findet sich eine der wenigen Stellen, an denen die Eckpunkte konkret werden. Die insbesondere von Oskar Lafontaine umworbenen Rentner werden nicht benannt (was ein Versehen sein kann), dafür aber u. a. „Selbständige und sozial orientierte Unternehmerinnen und Unternehmer“ (Kapitel IV: Für einen Richtungswechsel). Offenkundig haben die Unternehmer, die im Osten als OWUS (Offener Wirtschaftsverband von Klein- und Mittelständischen Unternehmern, Freiberuflern und Selbständigen) eine wichtige soziale Stütze der PDS bilden, hier die Hand der gemeinsamen Programmgruppe geführt. Wie mit dieser Zielgruppe allerdings die „Überwindung des Kapitalismus“ erfolgen soll (Überschrift zu Kapitel III), wird sicher noch geklärt werden.

Bei diesem Programmdokument ist es ziemlich gleichgültig, ob darin das Wort Sozialismus auftaucht oder nicht. Genau so unerheblich ist es, dass in der „Schlussbemerkung“ des abschließenden Kapitels V „einige Fragen“ benannt werden, die „weiter diskutiert“ werden sollen. Dieses Placebo nutzt so wenig wie es schadet. Die neue Partei ist nicht einmal im reformistischen Sinne konsequent, geschweige denn, dass sie Ansätze zu einer Aufbrechung der sozialen Friedhofsruhe bieten würde. Im Gegenteil ist die kurze Geschichte der WASG ein Lehrstück, wie stabil – und flexibel – die bürgerliche Hegemonie über die Massen nach wie vor ist.

Bei einer näheren Beschäftigung mit der Entwicklung der WASG beantwortet sich deshalb die Frage von selbst, ob man als revolutionärer Marxist in der Partei DIE LINKE mitarbeiten kann oder nicht.

Letzte Änderung: 21.03.2016