Wahlen ohne sozialistische Alternative

– Zu den Märzwahlen 2006 in der Bundesrepublik –

Von Petra Bach

Für den 26. März 2006 waren mit den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie den Kommunalwahlen in Hessen die ersten Wahlen nach den Bundestagswahlen terminiert, die 2005 die zweite Koalition von Christ- und Sozialdemokraten in der Bundesrepublik an die Macht gebracht hatten.

Den bürgerlichen Politikern war nur zu klar, dass sich an diese Probe auf das Exempel der großen Koalition eine zwei Jahre währende Periode ohne entscheidende Wahlen anschließen wird. Bis dahin sind mit den Landtagswahlen im September 2006 in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zwei kleinere Länder zur Wahl aufgerufen, in denen zudem die PDS an der Regierung beteiligt ist. Hier kann es aus Sicht der Koalition also nur besser werden – was angesichts der staatstragenden Politik der PDS in diesen Ländern äußerst wahrscheinlich ist.

Dem entsprechend unterlag die zum politischen Kernbestand der großen Koalition gehörende Fortsetzung der Demontage des westdeutschen Sozialstaats einem Moratorium. Die Pläne zur „Gesundheitsreform“ sollten erst nach dem Wahltag aus Ulla Schmidts Schublade gezogen werden. Innerkoalitionäre Streitigkeiten sollten ebenso in Grenzen gehalten werden.

Diese Strategie der Merkel und Müntefering ging vordergründig auf. Machtpolitisch kam die große Koalition aus diesen Wahlen sogar gestärkt heraus: Mit dem Ausscheiden der FDP aus den Regierungen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt kann sie im Bundesrat nun über die Stimmen zweier weiterer Länder verfügen. Und die prozentualen Wahlergebnisse hatten nicht zu Konstellationen geführt, die die zerbrechliche Balance zwischen den beiden Parteien gefährdeten.

Wesentlich interessanter waren diese Wahlen allerdings als Stimmungsbarometer der Bevölkerung: Wie würde das Wahlvolk auf die zweite große Koalition und deren Programm reagieren?

Die erste große Koalition von 1966 hatte zur viel zitierten „Stärkung der politischen Ränder“ geführt. Wahlerfolge der NPD auf Länderebene auf der einen Seite, die Studentenbewegung und nicht zuletzt die wilden Septemberstreiks auf der anderen Seite, markieren die angstbesetzten Erinnerungen der bürgerlichen Politiker an die erste große Koalition. Insofern war von erstrangigem Interesse, ob auf der einen Seite Republikaner, DVU und NPD, auf der anderen Seite WASG und Linkspartei Stimmengewinne erzielen würden.

Niedrige Wahlbeteiligung

Tatsächlich blieben deren Stimmengewinne jedoch weit hinter den Befürchtungen des Bürgertums zurück. Das entscheidende Ergebnis der Märzwahlen war stattdessen die außergewöhnlich niedrige Beteiligung der Bevölkerung, die gleich in mehreren Ländern Negativrekorde erreichte. Die Stimmenbilanz der Rechten, aber auch der Linken steht in keinerlei Verhältnis zu diesem Einbruch der Wahlbeteiligung (siehe Tabelle).

Hierzu finden sich in der bürgerlichen Presse zwei Interpretationen. Die erste besagt, die Bevölkerung habe diese Wahlen als reine Landtagswahlen begriffen. Diese seien bekanntermaßen immer von geringerem Interesse für den Wähler, außer dieser wolle die Wahlen zum „Abstrafen“ der jeweiligen Bundesregierung nutzen, was gerade nicht der Fall gewesen sei. Aufgrund des Kuschelkurses der großen Koalition habe darüber hinaus keine Polarisierung zwischen den großen Parteien stattgefunden, die üblicherweise Vorraussetzung für ein höheres Wählerinteresse sei.

Diese Interpretation legt nahe, das politische Leben sei seinen normalen Gang weiter gegangen. Im Großen und Ganzen sei der Wähler mit der großen Koalition eher zufrieden. Vielmehr habe sich nun sein sehnlicher Wunsch nach weniger unnützem Politikerstreit und mehr durchgreifenden Taten erfüllt. In der Tat mag sich das Wahlverhalten eines Teiles der Wähler, und damit ein Teil der Wahlenthaltung, auf diese Weise erklären. Aber erklärt dies das gesamte Ausmaß der Wahlenthaltung?

Bereits die Bundestagswahlen 2005 stellten mit 77,7 % einen bemerkenswerten Negativrekord bezüglich der Wahlbeteiligung auf: Auch wenn angesichts der zuletzt doch ziemlich ausgeprägten politischen Polarisierung selten darüber geredet wurde – es handelte sich um die niedrigste Beteiligung an Bundestagswahlen seit der Gründung der Bundesrepublik.

1949 hatten die ersten Wahlen im noch keineswegs gefestigten Weststaat unter Beteiligung von 78,5 % der Wahlberechtigten stattgefunden. Mit einer Beteiligung von 91,1 % erreichte das demokratische Institut der Bundestagswahl 1972 seinen letzten Höhepunkt, bezeichnenderweise beeinflusst von Willy Brandts Versprechen „Mehr Demokratie wagen“. Eine Wahlbeteiligung, fast so niedrig wie 2005, hat es nur einmal gegeben, 1990 (77,8 %) als dem Oppositionskandidaten Lafontaine niemand mehr geglaubt hatte, die im Westen ungeliebte Kohlsche „Wiedervereinigung“ noch irgendwie abwenden zu können (http://www.wahlrecht.de/ergebnisse/bundestag.htm).

Wie auch immer – die für die politische Klasse weniger beruhigende Interpretation dieser Vorgänge besagt, dass eine wachsende Wahlverweigerung Ausdruck von Protest und Abwendung zunehmender Teile der Bevölkerung von den etablierten Parteien und ihrer einvernehmlich betriebenen Politik à la Agenda 2010 ist.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. März 2006 findet sich eine Karikatur, auf der sich Merkel und Müntefering über ein verendetes Tier namens „Wahlbeteiligung 26.3.“ hinweg selbstgefällig „Auf uns“ zuprosten. Frau Merkel hält dabei einen Wegweiser mit der Aufschrift „Reformen“ unter dem Arm. Das Schild weist rechts aus dem Bild heraus und deutet den weiteren Weg der beiden Wahlgewinner an.

In diesem Licht sollen vor allem die absoluten Stimmenergebnisse der Märzwahlen noch einmal im Zusammenhang darstellt und neu gelesen werden (siehe Tabelle). Die Ergebnisse werden jeweils den vorausgegangenen Wahlen auf gleicher Ebene gegenübergestellt, um dem Vorwurf zu entgehen, dass Bundestagswahlen nicht mit Wahlen auf niedrigerer Ebene vergleichbar seien. Die prozentualen Stimmergebnisse werden als im Großen und Ganzen bekannt voraus gesetzt und gehen im Übrigen aus den angegebenen Quellen hervor.

Überall das selbe Bild

Von allen vier Wahlländern war in Baden-Württemberg mit gut 7,5 Millionen die größte Anzahl von Menschen zur Wahl berechtigt. Hiervon machten nur knapp 4 Millionen Menschen durch eine gültige Stimmabgabe Gebrauch. Stimmen verloren vor allem SPD, CDU und Republikaner (die Reihenfolge der genannten Parteien entspricht hier, wie im Folgenden, jeweils dem Stimmenverlust bzw. -gewinn). Stimmen gewannen vor allem WASG, Grüne, FDP und NPD. Die große Koalition wurde nur von 36,5 % der Wahlberechtigten bestätigt. (http://www.statistik-bw.de/Wahlen/Landtagswahl_2006/Land.asp)

Nicht uninteressant ist ein Blick auf die Wahlentscheidung nach Altersgruppen (alle diesbezüglichen Angaben nach: http://www.forschungsgruppe.de/Ergebnisse/Wahlanalysen/Newsl_LTW06.pdf). Die relative Stabilität der CDU lässt sich auf ihre überdurchschnittlichen Erfolge in der Altersgruppe ab 60 Jahren zurückführen (55 % anstatt durchschnittlich 44 %). Auch die WASG erreichte bei jüngeren Wählern bis 44 Jahren gerade knapp Durchschnittswerte, während sie ab 45 Jahren schon für 5 % der Wähler interessant war. Umgekehrt erreichten Sonstige, darunter sicherlich in erster Linie die rechten Parteien, bis 29 Jahre 8 % und bis 44 Jahre immerhin noch 6 %.

In Hessen waren gut 4,5 Millionen Menschen zur Wahl berechtigt. Hiervon machten nur knapp 2 Millionen Menschen durch eine gültige Stimmabgabe Gebrauch. Stimmen verloren vor allem SPD, CDU, Republikaner, Grüne und FDP. Stimmen gewannen vor allem unabhängige Wählergruppen, Die Linke, WASG, NPD und DKP. Die große Koalition wurde nur von 31,8 % der Wahlberechtigten bestätigt. (http://www.statistik-hessen.de)

In Rheinland-Pfalz waren gut 3 Millionen Menschen zur Wahl berechtigt. Hiervon machten nur 1,75 Millionen Menschen durch eine gültige Stimmabgabe Gebrauch. Stimmen verloren vor allem CDU, SPD, FWG, Republikaner, Grüne und FDP. Stimmen gewannen vor allem WASG und NPD. Die große Koalition wurde nur von 44,7 % der Wahlberechtigten bestätigt. (http://www.wahlen.rlp.de/ltw/wahlen2006/land/index.html?mode=hideMenu)

Auch in Rheinland-Pfalz erreichte die CDU vor allem die über 60jährigen, während die jüngeren Wähler sich überdurchschnittlich für die Wahl der Sonstigen entschieden, was von der Forschungsgruppe Wahlen leider nicht weiter differenziert wird.

Das Statistische Landesamt Rheinland-Pfalz stellt Wahlanalysen zur Verfügung, die etwas detaillierter Aufschluss über das Profil der Wähler der WASG geben. Demnach gibt es einen positiven statistischen Zusammenhang mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Protestanten, Arbeitslosen und Arbeitern an der Bevölkerung. Gleichzeitig liegen die regionalen Schwerpunkte der WASG überwiegend dort, wo traditionell die SPD viele Wählerstimmen erringt (vor allem im Landkreis Kusel). (http://www.statistik.rlp.de/analysen/wahlen/wahlnachtanalyse-lw2006.pdf sowie http://www.statistik.rlp.de/analysen/wahlen/kurzfassung.pdf)

Aufschlussreich ist die Analyse der Wahlbeteiligung durch das Statistische Landesamt. Demnach ist die Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich in Gebieten mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen, einer hohen Bevölkerungsdichte und einem hohen Anteil an Einpendlern. Eine überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung findet sich in Gebieten mit einem hohen Anteil an Angestellten, Auspendlern und Beschäftigten in der Landwirtschaft. Damit dürfte zumindest für Rheinland-Pfalz zweifelsfrei belegt sein, dass Wahlenthaltung kein politisches Desinteresse, sondern die politische Haltung bestimmter sozialer Schichten ausdrückt.

In Sachsen-Anhalt waren gut 2 Millionen Menschen zur Wahl berechtigt. Hiervon machten 0,9 Millionen Menschen durch eine gültige Stimmabgabe Gebrauch. Stimmen verloren vor allem CDU, FDP, SPD und Die Linke. Stimmen gewannen vor allem DVU, Grüne, Republikaner und MLPD. Die große Koalition wurde nur von 25,4 % der Wahlberechtigten bestätigt. (http://www.statistik.sachsen-anhalt.de/wahlen/lt06/index.html)

Auch in Sachsen-Anhalt sind die über 60jährigen immer noch die verlässlichste Basis der CDU. Es sollte zu denken geben, dass Vergleichbares für die Linke gilt: Ab einem Alter von 45 Jahren erreicht die Linke überdurchschnittliche Werte, darunter sind die Werte deutlich, bei den Jungwählern dann stark unterdurchschnittlich. Stattdessen entschieden sich 10 % der Jungwähler bis 29 Jahre für die DVU.

wahlen2006

Zusammenfassung

Es lässt sich zusammenfassen, dass die große Koalition in allen vier Ländern, in denen am 26. März 2006 Wahlen stattfanden, das Vertrauen der Wähler noch weiter verloren hat als die Parteien dieser Koalition es in den Bundestagswahlen 2005 schon verloren hatten. In keinem Land ist diese so genannte „große Koalition“ auch nur durch die Hälfte der Wahlberechtigten legitimiert worden. Während sie in Sachsen-Anhalt gerade einmal ein Viertel der Wahlberechtigten beeindruckte, lag ihre durchschnittliche Attraktivität in diesen Wahlen bei einem guten Drittel der Wahlberechtigten (siehe Tabelle). Während die SPD lediglich 14 % der Wahlberechtigten erreichte, brachte es die CDU immerhin noch auf ein gutes Fünftel der Wahlberechtigten. Die Analyse der Alterstruktur dieser Wähler gibt allerdings Aufschluss darüber, dass ein Großteil davon das Rentenalter bereits erreicht hat. Eine zukunftsfähige Basis ist dies sicherlich nicht.

Ferner hatten auch die anderen Parteien, die die Agenda 2010 mitgetragen haben – Grüne und FDP – wenig Erfolg von bundespolitischer Bedeutung zu vermelden, obwohl sie der Form nach Oppositionsparteien sind. Zwischen den in Baden-Württemberg als liberal wahrgenommenen Parteien FDP, SPD und Grünen fand nicht zum ersten Mal ein reger Wählertausch statt. Diesmal traf er Ute Vogt. Die Stimmengewinne der Grünen in Sachsen-Anhalt wiegen dagegen den dortigen Totalabsturz der FDP bei weitem nicht auf.

Die entscheidende Frage bleibt jedoch, wann aus diesen Unmutsbekundungen der Bevölkerung auch machtpolitische Folgen resultieren. Und dies hängt ganz offensichtlich vom Auftreten einer tatsächlichen politischen Alternative ab. Allein rechte Parteien und die politische Linke vermochten in diesen Wahlen Stimmengewinne zu erzielen. Diese zweifellos vorhandenen Gewinne blieben jedoch weit hinter den Befürchtungen der deutschen Bourgeoisie zurück. In keinem Fall hat es für einen tatsächlichen machtpolitischen Einflussgewinn gereicht.

Die Stimmenbilanz der rechten Parteien ist sogar deutlich negativ. Dies ist maßgeblich den Verlusten der Republikaner in den alten Bundesländern geschuldet. Diese Partei hatte es lange Zeit mit einem Kuschelkurs von Rechts gegenüber den bürgerlichen Parteien versucht und ist daran gescheitert. Rechts von den Republikanern steht nun mit der NPD im Westen eine Partei anderen Kalibers bereit, während im Osten DVU und Republikaner immer schon ein anderes Profil hatten. Alles deutet darauf hin, dass diese Parteien für die Jugend von höchstem Interesse sind.

Auch wenn die Stimmenbilanz der politischen Linken positiv ist: Wenn sich in einer Zeit der großen Koalition weitere 1,2 Millionen Menschen für ihren ganz individuellen Wahlboykott entscheiden, während die Linke gerade einmal 160.000 Stimmen mehr erzielt, kann dies keine Erklärung für die selbstzufriedenen Erfolgsmeldungen des Herrn Bartsch hergeben. Beschämend ist, dass die Partei Die Linke, die in Sachsen-Anhalt vermutlich deshalb Stimmen verloren hat, weil sie dort bereits als potentielle Regierungspartei wahrgenommen wird, sich stattdessen nun zu einem weiteren Bündnis mit einer Partei der großen Koalition anbiedert.

Es kommt hinzu, dass auch die Parteien der Linken ihr Potential offensichtlich bei den älteren Wählern finden. Der Jugend bieten sie anscheinend keine Perspektive. Das deutet nicht darauf hin, dass sich – ohne eine Änderung des politischen Profils dieser Parteien – in diesen Wahlen eine bessere Zukunft angekündigt hätte.

Letzte Änderung: 21.03.2016