Um den Sozialstaatskompromiss

Von Heiner Karuscheit

Seitdem die damalige Regierung Kohl zwecks Sicherung ihres Wahlsiegs die deutsche Wiedervereinigung aus den Sozialkassen finanzieren ließ, sind die sozialen Sicherungssysteme in Bedrängnis. Da sich die Wirtschaftslage seither nicht grundlegend gewandelt hat und die Arbeitslosen ebenso wie die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals zunehmen, wachsen im Arbeitgeberlager die Klagen über zu hohe Lohn(neben-)kosten wegen der steigenden Versicherungsbeiträge. Unter anderem wird regelmäßig der Rückzug aus der „paritätischen“ Finanzierung (Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen in gleicher Höhe) gefordert. In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 14. März, dem Tag der „Reformrede“ Schröders, machte Norbert Blüm, unter Helmut Kohl langjähriger CDU-Minister für Arbeit und Soziales, auf die Gefahren aufmerksam, die bei einem Rückzug der Arbeitgeber aus dieser Finanzierungsform entstehen können.

Für Blüm ist es keine Frage, dass der Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung „betriebs- wie volkswirtschaftlich ein Lohnkostenbestandteil“ ist, sprich den Lohnabhängigen gehört. Aber seine Einzahlung in die Versicherungskassen durch das Kapital gibt die Rechtfertigung dafür, dass die Arbeitgeber gleichberechtigt an den Institutionen des Sozialstaats beteiligt sind. Auf diese Weise wird die Klassenkooperation institutionalisiert, die für Blüm der eigentliche Kernpunkt ist: „Die paritätische Selbstverwaltung der Sozialversicherung ist der ‚Sitz im Leben‘ unserer partnerschaftlichen Sozialkultur. Die gemeinsame Verantwortung erzog die ‚Klassengegner‘ zu ‚Sozialpartnern‘. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag sind ein Symbol der Kooperation. So etwas zerstört man nicht leichtfertig.“

Die Sorgen Blüms betreffen die soziale Basis der deutschen Nachkriegsrepublik. Sie beruht auf dem Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der seine Form im Sozialstaat gefunden hat. In der Weimarer Republik war dieser „contrat social“ von ausschlaggebenden Teilen der Bourgeoisie (insbesondere aus der Schwerindustrie) noch verweigert worden, ebenso aber auch von großen Teilen der Arbeiterklasse. Erst nach zwölfjähriger Herrschaft der Nationalsozialisten (die ihn u. a. im Blick auf den geplanten Krieg erzwangen) und im Gefolge der Niederlage von 1945 waren die Voraussetzungen gegeben, um in (West-)Deutschland den Sozialstaat zu errichten, der auf dem Boden einer „sozialen Marktwirtschaft“ die „Sozialpartnerschaft“ der antagonistischen Klassen praktiziert, organisiert durch den Staat und getragen auf Seiten des Kapitals durch die Arbeitgeberverbände, auf Seiten der Arbeiterklasse durch die Gewerkschaften.

Über die Versicherungsbeiträge hinaus machen sich im Lager des Kapitals seit einigen Jahren Strömungen bemerkbar, die diesen „Gesellschaftsvertrag“ insgesamt aufkündigen wollen, um den historisch entwickelten Preis der Arbeitskraft mit Macht herunterzudrücken. Allerdings finden sie (noch) keine Mehrheiten. Mehr als rhetorische Kraftakte, die nur von der Linken für Ernst genommen werden, gibt es bislang aus den Führungsetagen der Arbeitgeberverbände nicht. Man scheut den offenen Klassenkampf nicht weniger als die Gewerkschaften, deren heutige Daseinsberechtigung mit der Sozialpartnerschaft steht und fällt; deshalb handeln beide Seiten in den Tarifrunden mit allen Mitteln Kompromisse aus.

Stattdessen soll der Staat tun, wozu man selber nicht den Mut hat: er soll den Preis der Arbeitskraft durch Einsparung bei den Lohnnebenkosten senken. Dieses Ansinnen kommentiert Blüm so: „Es wird wieder ‚geruckt‘. Mutproben werden verlangt. Vom Zehnmeterturm springen, ohne die Wasserhöhe im Becken geprüft zu haben – das sind Helden! Die beliebteste Ruckmethode ist allerdings, andere zum Springen aufzufordern. ‚Heulen und Zähneknirschen‘ erwartet mutvoll Arbeitgeberpräsident Hundt von der Schröder-Rede (…) ‚Doch nicht bei uns‘, muss man sich hinzudenken.“

In der CDU ist es gegenwärtig insbesondere der Merkel-Konkurrent Merz, der als Sprecher der Forderungen nach einer deutlichen Lohnminderung und der Entmachtung der Gewerkschaften auftritt. Paradoxerweise ist die von ihm befürwortete Konfrontationspolitik vorerst durch den CDU-Sieg bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen gestoppt worden. Die CDU gewann die Wahl, weil Arbeiter und kleine Angestellte – soweit sie nicht der Wahl fernblieben – scharenweise von der SPD überliefen. Der Wahlausgang demonstrierte also, dass Wählermehrheiten in Deutschland nach wie vor nur mit einer „sozialen“ Politik zu gewinnen sind, mit der Folge: „Die gewerkschaftsfeindliche Linie von Merz (…) kann deshalb nicht zur allgemeinen CDU-Linie werden: Nichts wäre dümmer, als Schröder die Wähler aus dem Arbeitnehmerlager wieder zuzutreiben. Deshalb hat Merz trotz seiner großen Beliebtheit bei Unternehmern im In- und Ausland einstweilen keine Chance, an die Spitze der Fraktion zurückzukehren.“ (FAZ 18. März 2003)

Der Hinweis auf die schlechte Position von Merz verdeutlicht, dass es in beiden Volksparteien nach wie vor keine Mehrheiten für die Aufkündigung des Sozialstaatskompromisses gibt. Die Entscheidungen drehen sich darum, wie ein sozialverträglicher Abbau von Ansprüchen erfolgen kann, und hierbei gibt es je nach Klientel und Tradition unterschiedliche Konzepte. Deshalb hat Schröder am 14. März auch nicht die „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede gehalten, die einige schon herbeifabuliert hatten.

Er hat Einschnitte angekündigt, die das Lohnarbeitsverhältnis von zwei Seiten aus betreffen: zum einen sollen Dauer und Höhe des Bezugs von Arbeitslosengeld und –hilfe eingeschränkt werden, um durch Druck auf die Arbeitslosen das Lohnniveau von unten her abzusenken. Da dieses Vorgehen primär gegen die außerhalb des Produktionsprozesses Stehenden gerichtet ist, wird sich der pflichtgemäße Protest der Gewerkschaften in Grenzen halten.

Zum zweiten hat die Regierung zur Reduzierung der Lohnnebenkosten eine Lösung ähnlich wie bei der „Riester-Rente“ gefunden. Indem das Krankengeld aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen herausgenommen wird und die Lohnabhängigen es künftig alleine finanzieren müssen, gehen die paritätisch aufgeteilten Krankenversicherungsbeiträge für die Arbeitgeber zurück. Das heißt, der vom Kapital zu zahlende Preis der Arbeitskraft sinkt, ohne dass die paritätische Selbstverwaltung der Sozialkassen – in den Worten Blüms: der „Sitz im Leben“ der institutionalisierten Klassenzusammenarbeit – angetastet wird.

Wie lange sich ein solcher Kurs fortsetzen lässt, bleibt allerdings offen. Den außenpolitischen Grundpfeiler der deutschen Nachkriegsrepublik, das Bündnis mit der amerikanischen Hegemonialmacht, hat der Irak-Krieg soeben binnen weniger Wochen zum Einsturz gebracht. Bis dahin waren bestenfalls geringfügige, mit bloßem Auge kaum auszumachende Risse zu erkennen. Geht der wirtschaftliche Niedergang weiter, kann es sein, dass irgendwann auch der innere Grundpfeiler dieser Republik, der sozialpartnerschaftliche „Gesellschaftsvertrag“ zwischen den antagonistischen Klassen, schneller zerbirst, als heute vorstellbar ist.

 

Letzte Änderung: 21.03.2016