Das Dilemma des Rechtspopulismus: Mittelstand oder Arbeiterklasse?

von Kolja Wagner

Aufstieg und Krise des Front National

(März 2000) Der Rechtspopulismus ist in Europa weiterhin ein massenpolitisches Phänomen. Während in Österreich die FPÖ an der Regierung beteiligt wird, steckt der Front National in einer tiefen innerparteilichen Krise. Der Flügel um den ehemaligen Gaullisten Bruno Megret, der für das Bündnis mit der bürgerlichen Rechten eintritt, hat die Partei verlassen. Sein Gegenspieler Jean-Marie Le Pen setzt auf die Opposition gegen die „Systemparteien“ und will die soziale Frage in rassistischem Gewand weiter in den Vordergrund stellen. Beides macht ein Bündnis mit den sich in der Krise befindenden Gaullisten unmöglich. Die Probleme des FN machen das Dilemma deutlich, in dem sich der Rechtspopulismus in allen Ländern befindet.

Das Aufgreifen der sozialen Frage und der damit verbundene Erfolg bei der Arbeiterklasse führt zum Unmut der vom alten Mittelstand dominierten Parteibasis. In Deutschland sorgte die Republikaner-Basis für die Ersetzung des Populisten Franz Schönhuber durch den traditionellen Mittelstandspolitiker Käs. Ob es Le Pen nun gelingt, den FN als „rechte Arbeiterpartei neuen Typs“ zu retten, wird sich zeigen. Fest steht jetzt aber schon, dass Megrets neue Partei als Teil des konservativen bürgerlichen Lagers keine Chance bei Le Pens proletarischen Protestwählern hat. Die Geschichte des Front National zeigt nämlich den Aufstieg zur Massenpartei im Zusammenhang mit der Entwicklung eines sozialen Programms für die Arbeiterklasse.

Die Einbindung des Kleinbürgertums

In Frankreich war und ist das Kleinbürgertum bedeutend größer als in Deutschland. Der Industrialisierungsprozess schleppte sich langsam voran. Die französische Revolution schuf zusätzlich durch die Bodenreform Millionen lebensfähiger Kleinbauern. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges blieb Frankreich eine „verspätete Industrienation“ und vorwiegend agrarisch geprägt. Im Unterschied zu Deutschland entwickelte sich nach dem 1. Weltkrieg keine faschistische Massenbewegung. Aus Angst vor der Arbeiterbewegung (1848, Pariser Kommune, 1968) bildete das Kleinbürgertum in den entscheidenden Phasen einen Block mit der Bourgeoisie, aus deren Händen es 1789 schließlich das Land und die Eigentumsrechte bekommen hatte. Mit dem Ende des französischen Kolonialreiches durch die Unabhängigkeit Algeriens 1962 kamen 900.000 überwiegend rechte Siedler nach Frankreich zurück. Doch de Gaulle und seine autoritäre V. Republik konnten die Folgen weitgehend abfedern. Eine rechte Massenpartei konnte sich nicht auf Dauer etablieren.

Der 1972 gegründete Front National blieb bis 1983 eine politische Sekte. Seine Wahlergebnisse blieben unter 1 %. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Parteichef Le Pen, Ex-Offizier und Indochina-Veteran, rechte Mittelstandspolitik mit kolonialistischem Hintergrund in rechtsradikalen Soldatenorganisationen und Parteien ohne dauerhaften Erfolg betrieben. 1981 formierte sich gegen die Folgen der Liberalisierung des EG-Binnenmarktes und gegen das Schreckgespenst einer Koalition aus Sozialdemokraten und „Kommunisten“ eine kleinbürgerliche Protestbewegung. [1] Der Versuch der Regierung, die Subventionierung der katholischen Privatschulen massiv zu kürzen, brachte Massendemonstrationen hervor. Der FN stellte sich an die Spitze der Bewegung und konnte mit seinem katholischen und konservativen Programm bei regionalen Wahlen beachtliche Stimmergebnisse erzielen.

Anfangs förderte Mitterrand, damals Präsident, den FN, um das rechte Lager zu spalten. Persönlich setzte er sich für einen Fernsehauftritt Le Pens ein und führte sogar das Verhältniswahlrecht ein. [2] „Mit dem Front National bei zehn Prozent sind wir für 30 Jahre an der Regierung“, brachte Mitterrands Nachfolger Beregevoy diese Kalkulation auf den Punkt. [3] Bei den Europawahlen kam der Durchbruch für den FN. Die Partei erreichte 11 %. Die Wähler stammten überwiegend aus dem Kleinbürgertum und aus Kreisen der ehemaligen Algeriensiedler, die am Mittelmeer konzentriert sind, aber bei den Arbeitern schnitt sie unterdurchschnittlich ab. [4] In den nächsten Jahren bekam der FN ein neues Gesicht. Das alte neoliberale Wirtschaftsprogramm (Privatisierung der Staatsbetriebe, Steuersenkung und Flexibilisierung der Löhne) trat in den Hintergrund zu Gunsten eines Aufgreifens der sozialen Frage im nationalistischen Gewand. Die Stimmenergebnisse bei Wahlen stiegen nun kontinuierlich. Bei den Parlamentswahlen 1997 gewann der FN schließlich 15 %.

Die soziale Frage in rassistischem Gewand und Systemkritik

Von 1986 an entwickelte sich der FN zu einer „Anti-System-Opposition“. In der Partei existierten sehr unterschiedliche Flügel, von Monarchisten bis zu Nationalrevolutionären, doch Le Pen konnte sich durchsetzen.

Kernstück des FN-Programms ist die „preference nationale“. Die Verteilungsfrage wird völkisch gestellt. Bei Einstellungen und Sozialleistungen sollen Franzosen, bei Entlassungen Ausländer bevorzugt werden. Getrennte Sozialkassen von Franzosen und Ausländern sollen die Grundlage des Sozialsystems werden. [5] Der FN wettert auch gegen den Sozialabbau der Regierung, Arbeitslosigkeit und Zuwanderung. In Frankreich erfolgt die Massenzuwanderung aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika auf dem Boden des französischen Staatsbürgerrechts. Wie in Deutschland entstehen in den Großstädten ethnische Wohnghettos. In Frankreich haben sich dort die Konflikte so zugespitzt, dass es zu regelmäßigen Ethnoriots kommt. Diese Probleme greift der FN geschickt auf und bietet neben einem Zuwanderungsstopp auch rassistische Lösungen an. Le Pen fordert die Einführung des „Rechts des Blutes“ und die Rückführung von großen Teilen der Immigranten. [6] Da das Staatsbürgerrecht der Geburt die Zuwandererkinder zu Franzosen macht, sollen auch Einbürgerungen rückgängig gemacht werden.

Der Front National grenzte sich nach 1986 aber nicht nur von den Ausländern, sondern auch scharf von der bürgerlichen Rechten ab. „Zwischen uns und den Sozialdemokraten gibt es nur einen Sumpf, den man austrocknen muss“ [7], verkündet Le Pen. Seine wiederholten antisemitischen Ausfälle dienen auch dazu, jegliche Bündnisfähigkeit zu verhindern, und so eine Annäherung von Teilen der Partei an die Konservativen zu unterbinden. [8] Der Parteichef hat auch keine Probleme damit, bei lokalen Wahlen zur Stimmabgabe für „kommunistische“ Kandidaten aufzurufen und verhält sich bei den Stichwahlen zur Präsidentschaft meist neutral. „Weder rechts noch links – französisch“ wurde zum FN-Slogan. Besonders in der Außenpolitik geht der FN auf Konfrontationskurs zu den bürgerlichen Parteien. Der einstige Atlantiker Le Pen besuchte während des Golfkrieges 1990 Saddam Hussein, unterstützte die Annexion von Kuwait und trat gegen die französische Beteiligung am Golf auf. Seine Frau führte die pro-irakische Hilfsorganisation „SOS Enfants d’Irak“. Mittlerweile besitzt der FN enge Beziehungen zu rechten und antiamerikanischen Kräften auf der ganzen Welt vom serbischen Nationalistenführer Seselj, über die türkische Wohlfahrtspartei, bis hin zu Schirinowski in Russland. Für die Wähler ist aber die Ablehnung der EU und der Mastrichter Verträge entscheidend. Beim zentralen Projekt, dem Euro, steht der FN gegen das französische Kapital und weist immer wieder auf die sozialen Folgen für die Arbeiter und den Mittelstand hin.

Die „erste Arbeiterpartei Frankreichs“ – Dank der KPF

Der Front National ist keine Massenpartei, sondern eine straff organisierte Kaderorganisation mit ca. 50.000 Mitgliedern. [9] Die Mitgliedschaft ist zwar noch überwiegend kleinbürgerlich geprägt, doch die über drei Millionen Wähler kommen hauptsächlich aus der Arbeiterklasse. Für Le Pen ist die kleinbürgerliche Protestpartei von 1984 zur „ersten Arbeiterpartei Frankreichs“ geworden. „In der Tat handelt es sich beim FN-Votum um eine Konsequenz sozialer Phänomene. Es ist im wesentlichen städtischer Natur, mehr und mehr mit der Arbeiterschaft verbunden, eng mit der Anwesenheit von Ausländern und einer hohen Arbeitslosenquote gekoppelt und insofern Zeugnis des Fortbestehens der ökonomischen Krise und der Verschlechterung der Lebensbedingungen der mittleren Schichten.“ [10] Bei den Präsidentenwahlen 1995 wählten 30 % der Arbeiter und Arbeitslosen den FN, aber nur 7 % der Freiberufler und höheren Angestellten. [11] Gerade in den ländlichen und katholischen Regionen Frankreichs schneidet die Partei schlecht ab. Der „Westen (Bretagne, Loire), namentlich die Region Poitou-Charentes, sind für den FN noch so Diaspora, wie das französische Baskenland. Gleiches gilt für das traditionell konterrevolutionäre westliche Zentrum.“ [12] Die Wähler sind in erster Linie proletarische Protestwähler, die ideologisch nicht fest an die Partei gebunden sind. 1995 wählten 6 %, die sich als „ganz links“ und 9 %, die sich als „links“ definieren, den FN. Der Anteil bei den Wählern, die sich als „ganz rechts“ einstufen, ging von 53 % auf 36 % zurück. [13]

Der Erfolg des FN in der Arbeiterklasse wirft ein bezeichnendes Licht auf die Linke in Frankreich. Die staatstragende KPF ist selbst Teil der bürgerlichen Regierung und unterstützt sogar die Einführung des Euro. Auch große Teile der französischen Arbeiterklasse wissen, dass durch die Währungsunion soziale Standard in Frage gestellt werden. Die KPF ist auch von ihrer Position der „Null-Einwanderung“ (die durch die französische Staatsbürgerschaft in den Kolonien übrigens nie eine „Null-Einwanderung war) abgerückt und redet, wie das Kapital, einer kontrollierten Zuwanderung das Wort. Auf der einen Seite steht für die unzufriedenen Arbeiter die KPF, als Teil des zum Angriff lauernden Bürgertums, und auf der anderen der FN, der radikal und nationalistisch die soziale Frage aufwirft. So treibt die KPF immer mehr von ihnen in die Arme Le Pens. Für Le Pen ist es so leicht, diese Wählerschichten aufzufangen und den berechtigten sozialen Unmut in nationalistische und rassistische Bahnen zu lenken.

Die Positionen Le Pens spalten die Arbeiterklasse ethnisch und geschlechtlich. Statt Assimilierung will er durch Rückführung die Ghettos auflösen und die verbleibenden „Ausländer“ rassistisch benachteiligen. Frauen sollen durch einen „Mutterlohn“ an den Herd zurückgeführt werden. Die Kommunisten fordern statt dessen die Integration der Frau in die Produktion und die Einheit der Arbeiterklasse auf dem Boden der Assimilierung der ausländischen Bevölkerung. „Volle Selbstverwaltung der Sozialkassen durch die Arbeiter“ ist die beste Antwort auf die Forderung nach der „preference nationale“ und ethnisch gegliederten Kassen. Die KPF, als staatstragende Partei und traditionell glühender Anhänger der französischen Großmachtpolitik, ist nicht in der Lage, ein soziales Programm für die Arbeiterklasse zu entwickeln. Es ist zu befürchten, dass der Aufstieg des Front National als rechte Arbeiterpartei weitergeht.

Anmerkungen

  1. Bernhard Schmidt: Die Rechte in Frankreich, Berlin 1998, S. 188
  2. Die konservative Nachfolgeregierung schaffte es sofort wieder zu Gunsten des Mehrheitswahlrecht ab.
  3. Schmidt, S. 187
  4. Schmidt, S. 210
  5. Schmidt, S. 209
  6. Jean-Yves Camus: Front National – Eine Gefahr für die französische Demokratie? Bonn 1998, S. 38
  7. Camus, S. 209
  8. Le Pen ließ sich trotz seiner Sprüche gegen die „jüdische Internationale“ von hochrangigen Funktionären 1987 zum jüdischen Weltkongress nach New York einladen. Schmidt, S. 198
  9. Schmidt, S. 125. Zum Vergleich: Die KP Frankreichs hat 1996 260.000 Mitglieder.
  10. Camus, S. 210
  11. Schmidt, S. 211
  12. Camus, S. 54
  13. Schmidt, S. 211

Zuerst veröffentlicht in: Kommunistische Zeitung, 3. Jg., Nr. 10., März 2000

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Letzte Änderung: 21.03.2016