Vorgeschichte des Nationalsozialismus – Das Scheitern der bürgerlichen Revolution in Deutschland

Heiner Karuscheit

Vorbemerkung

Sechzehn Jahre nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Russland bedeutete der Herrschaftsantritt des Nationalsozialismus in Deutschland 1933 eine schwere Niederlage für die kommunistische Weltbewegung. Zwei Jahre später definierte der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale den Faschismus als „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ bzw. kürzer als „die Macht des Finanzkapitals selbst“.

Zu diesem Zeitpunkt lag der Siedlungskrieg gegen die Sowjetunion mit der millionenfachen Vernichtung slawischer „Untermenschen“ zwecks Gewinnung von „Lebensraum“ noch in der Zukunft; dasselbe war mit der Auslöschung des europäischen Judentums der Fall. Außerdem siegte der Nationalsozialismus nur in Deutschland als dem einzigen kapitalistisch entwickelten Land, dagegen wurden weder die USA noch Frankreich oder Großbritannien faschistisch.

Es gab also mehr als nur einen Grund, darüber nachzudenken, ob die 1935 gegebene Definition geeignet war, die gesellschaftliche Realität auf den Begriff zu bringen. Doch eine tiefergehende Debatte fand bis heute nicht statt. Vielmehr wird in der Linken, speziell in den Überresten der kommunistischen Bewegung, weiterhin hartnäckig an dem Begriff des Faschismus als Herrschaftsform des Finanzkapitals festgehalten, u.a. mit der Folge, dass regelmäßig die Gefahr einer Wiederkehr des Faschismus heraufbeschworen wird.

Die Frage eines deutschen „Sonderwegs“

Wie sah und sieht es demgegenüber in der bürgerlichen Geschichtsschreibung aus? Hier gewann seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie von einem deutschen „Sonderweg“ in die Moderne an Einfluss, vertreten u.a. von Historikern wie Hans-Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler. Dieser Theorie zufolge war die NS-Herrschaft darauf zurück zu führen, dass im „Westen“ bürgerliche Revolutionen schon früh eine Demokratie hervorgebracht hatten, während in Deutschland die Revolution von 1848/49 fehlgeschlagen war und der deutsche Nationalstaat verspätet und unter Führung des preußischen Militärstaats hergestellt worden war.

Aber war Deutschland nicht 1918/19 ebenfalls zu einer Republik mit einer parlamentarischen Ordnung geworden und war damit nicht die entscheidende Besonderheit gegenüber Staaten wie Großbritannien oder Frankreich weggefallen, wie viele Kritiker argumentierten? Dieser Einwand brachte die Anhänger der Sonderwegtheorie in eine schwierige Lage, da sie wie ihre Kritiker die Entstehung der Weimarer Republik mit einem Triumph der Demokratie, d.h. einem – wenngleich späten – Sieg der bürgerlichen Revolution gleichsetzten. Wenn das aber der Fall war, wie ließ sich dann das Zustandekommen der NS-Herrschaft erklären?

An dieser Stelle verwiesen die Sonderwegvertreter auf außergewöhnliche Umstände wie die Kriegsniederlage, die Weltwirtschaftskrise oder das persönliche „Charisma“ Adolf Hitlers, um eine einigermaßen plausible Antwort zu geben. Dabei übersahen sie das Entscheidende, nämlich dass die Novemberrevolution Deutschland nur dem Schein nach auf den Weg der westlichen Nationalstaaten geführt hatte. Tatsächlich war sie dem Wesen nach fehlgeschlagen, denn von der Wirtschaft über die sozialen Verhältnisse, den Staatsapparat, das Militärwesen, die Justiz, Universitäten und die Kirchen setzte sich die alte Gesellschaftsstruktur unverändert fort, lediglich überwölbt von einer parlamentarischen Regierungsform. Das heißt: die bürgerliche Revolution war nicht nur 1848/49 gescheitert, sie scheiterte in Deutschland 1918/19 ein weiteres Mal, und die Republik ging nicht aus ihrem Sieg, sondern aus ihrer Niederlage hervor. Der deutsche „Sonderweg“ endete 1918/19 nicht – er setzte sich fort.

Wenn wir den Nationalsozialismus, seinen Weg zur Macht und den Charakter seiner Herrschaft begreifen wollen, müssen wir uns mit dem Werdegang der bürgerlichen Revolution in Deutschland auseinandersetzen.

Das Scheitern der bürgerlichen Revolution in Deutschland

Als der ostpreußische Gutsbesitzer und Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, in seiner Funktion als Reichspräsident der Weimarer Republik den Führer der NSDAP am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, tat er das auf Betreiben von Klassenkräften, denen er selber zugehörte und die das Deutsche Reich bis zur Novemberrevolution 1918 beherrscht hatten.

Gemeint ist das Bündnis von „Roggen und Eisen“ – klassenpolitisch von Junkertum und Montanbourgeoisie: auf der einen Seite die kleinadeligen Gutsbesitzer östlich der Elbe, die als Militäradel die Armee befehligten und die langjährige Herrschaftsklasse Preußens bildeten, auf der anderen Seite die Herren der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, dem Zentrum und Motor des industriellen Aufstiegs Deutschlands.

Formiert hatte sich diese Klassenkonstellation, die 1933 den kurzlebigen Parlamentarismus der Republik von Weimar zu Fall brachte, in der Revolution, die Mitte des 19. Jahrhunderts ganz Europa erschütterte.

 

1. Die Folgen der Niederlage von 1848/49

Anders als in Frankreich oder England hatte die bürgerliche Revolution, die in Deutschland 1848/49 zum ersten Mal auf die Tagesordnung trat, eine doppelte Aufgabenstellung vor sich, denn sie musste sowohl die Demokratie als auch einen Nationalstaat erkämpfen. Ihr Hauptgegner war der preußische Militärstaat, der nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich als Mitglied der „Heiligen Allianz“ von 1815 zusammen mit dem zaristischen Russland und der Habsburgermonarchie die monarchische Ordnung in Europa garantierte.

Die Revolution endete mit einer Niederlage, weil ein maßgeblicher Teil des Bürgertums, voran die emporstrebende industrielle Bourgeoisie, es angesichts der sozialen Forderungen der Massen vorzog, an die Seite Preußens zu treten, um die Volksbewegung niederzuschlagen, anstatt den Kampf um Freiheit und Demokratie weiterzuführen. Die verbindende Achse des Klassenbündnisses, das sich damals herausbildete, war das gemeinsame Interesse, die Massendemokratie abzuwehren.

a) Die Reichseinigung als Antwort auf die Revolution

Weil die deutsche Nationalbewegung sich nicht dauerhaft niederhalten ließ und die Gefahr bestand, dass sie Preußen auf Dauer überwinden würde, setzte der 1862 zum Berliner Ministerpräsidenten ernannte Bismarck in einem kühnen innen- wie außenpolitischen Manöver den preußischen Militärstaat an die Spitze der Nationalbewegung und ließ die Armee in den Einigungskriegen von 1864 bis 1870 einen kleindeutschen Nationalstaat unter Ausschluss Österreichs erkämpfen.

Die Schaffung eines großen nationalen Markts zusammen mit der Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechtswesens und einer gemeinsamen Währung verwirklichte die wirtschaftspolitischen Forderungen der Bourgeoisie, und bürgerliche Kräfte wurden an der Regierung beteiligt. Das Kaiserreich erhielt auch ein Parlament, den Reichstag, aber dieses Parlament war nicht „verantwortlich“, d.h. es konnte die Regierung nicht bestimmen und besaß keine Macht. Gleichzeitig führte Bismarck in einem besonderen Manöver das allgemeine (Männer-) Wahlrecht für die Reichstagswahl ein, was von den Kritikern der Sonderwegtheorie als Beweis für die „Modernität“ des Kaiserreichs im Vergleich zu den westlichen Nachbarländern (wo sich das allgemeine Wahlrecht erst nach dem Weltkrieg durchsetzte), betrachtet wird. Tatsächlich diente dessen frühe Einführung in Preußen-Deutschland dazu, die Bestrebungen der Bourgeoisie zu blockieren, über das Parlament an die Macht zu gelangen, denn die Bürgerlichen strebten einen „verantwortlichen“ Reichstag nur auf Basis eines Zensus-Wahlrechts wie in den westlich-bürgerlichen Ländern an, um die Einflussnahme der Massen auf das Parlament zu verhindern.

Eine überfällige demokratische Revolution

Der Reichstag war also nicht mehr als ein Feigenblatt, hinter dem sich die fortdauernde Vorherrschaft des Junkertums verbarg, das durch die militärischen Siege der von ihm geführten Armee fester im Sattel saß als zuvor. Anstatt in dem neuen Nationalstaat aufzugehen, wie es das Ziel der Revolutionäre von 1848 gewesen war, dehnte der preußische Militärstaat seine Herrschaft über ganz Deutschland aus. Nach den Worten von Karl Marx war der neue Staat „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus.“

Im Ergebnis trug die bismarcksche Reichseinigung daher einen sowohl fortschrittlichen als auch reaktionären Charakter: sie verwirklichte die eine Hälfte der Ziele von 1848: die Gründung eines Nationalstaats, und warf die andere Hälfte, die Erkämpfung der Demokratie, umso weiter zurück. Dem entsprach der eigentümliche Doppelcharakter des Kaiserreichs:
Es wurde zur stärksten Wirtschaftsmacht Europas, war führend in Wissenschaft und Technik, und seine Universitäten genossen Weltruf. Gleichzeitig war es ein Militär- und Obrigkeitsstaat, der als einziger unter den kapitalistisch entwickelten Nationen Europas durch eine halbfeudale Klasse von Großgrundbesitzern gemeinsam mit der rechtsstehenden Fraktion der Großindustrie beherrscht wurde.

Die bürgerliche Revolution war also durch die Reichseinigung nicht erledigt, sondern musste als demokratische Revolution zum Sturz der preußischen Militäraristokratie und der mit ihr verbündeten Montanbourgeoisie weitergeführt werden.

b) Ein reaktionäres Herrschaftsbündnis

Historisch war das Junkertum zum Untergang verurteilt. Die Produktionsverhältnisse auf den ostelbischen Gutswirtschaften fußten nicht auf freier Lohnarbeit, sondern trugen vorbürgerlich-patriarchalischen Charakter und setzten der Produktivitätsentwicklung Schranken. Die gutszugehörigen Landarbeiter mitsamt ihren Familien befanden sich in persönlicher Abhängigkeit von ihren „Herren“, die auf den Gütern nicht nur Arbeitgeber, sondern gleichzeitig Inhaber der unteren Gerichtsbarkeit und der Polizeigewalt waren und denen die „Gesindeordnung“ das Züchtigungsrecht gegenüber ihrem „Gesinde“ gab. Durch die Verwendung von Düngemitteln und Maschinerie waren die Erträge auf den getreideproduzierenden Gutswirtschaften bis zu einem gewissen Grad zu steigern, aber der Weltmarktkonkurrenz durch den zunehmenden Einsatz von Dampfschiffen insbesondere gegen das preiswertere Getreide der amerikanischen Farmer war man auf Dauer nicht gewachsen.

Angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs mussten die Junker sich umso mehr an die Staatsmacht klammern, die Bismarck seiner Klasse durch die Herrschaftskonstruktion des Deutschen Reichs gesichert hatte: Politisch beherrschte „ihr“ Staat Preußen als Hegemonialstaat das Deutsche Reich, während gleichzeitig ihre Herrschaft über Preußen durch das Dreiklassenwahlrecht gesichert wurde, das der konservativen Junkerpartei zusammen mit den von der Schwerindustrie bestimmten Nationalliberalen dauerhafte Mehrheiten im preußischen Landtag sicherte.

Insbesondere kommandierten sie als Militäradel die preußisch-deutsche Armee, die außerhalb der Verfassung stand. Sie war nicht nur der wichtigste innenpolitische Machtfaktor, außerdem verfügten sie damit über das Instrument, um ihre Vorherrschaft im Notfall durch einen Krieg gegen äußere Feinde zu retten.

Die Bourgeoisie

Nach der Reichseinigung versuchten die bürgerlichen Liberalen zunächst, die junkerliche Alleinverfügung über die Armee mit Hilfe des Haushaltsrechts zu brechen, um so an die Macht zu gelangen, wurden jedoch von Bismarck durch die Mobilisierung der Öffentlichkeit sowie eine Reichstagsauflösung und Neuwahlen zurückgeschlagen. Als hinzu kam, dass die SPD trotz des Sozialistengesetzes von 1878 Stimmenzuwächse erzielte, musste die Bourgeoisie befürchten, dass es ihr auf Dauer gelingen könnte, mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts über den Reichstag an die Macht zu gelangen. Deshalb erklärten die Nationalliberalen in ihrer „Heidelberger Erklärung“ von 1884, dass sie nicht länger die Verantwortlichkeit des Reichstags anstreben würden, und erkannten die außerverfassungsmäßige Stellung der Armee an, „um die bestehende Ordnung vor den Gefahren der Revolution zu schützen“.[1] Diese Eckpunkte bestimmten fortan das Zusammengehen des rechten Flügels der Bourgeoisie mit dem Militäradel: die Ablehnung einer parlamentarischen Herrschaftsordnung und die Anerkennung der Souveränität des Junkertums über die Armee.

Bismarcks Abdankung 1890 gab der Bourgeoisie die Gelegenheit, ihr wachsendes ökonomisches Gewicht auf dem Umweg über die Außenpolitik zur Geltung zu bringen, ohne das Klassenbündnis mit dem Junkertum als solches in Frage zu stellen. Unter Reichskanzler von Bülow, der den Nationalliberalen nahestand, ging das Deutsche Reich Mitte der neunziger Jahre zur sog. „Weltpolitik“, d.h. zum Imperialismus über. Es erhob den Anspruch auf ein großes Kolonialreich und ließ binnen weniger Jahre, von Wilhelm II. als „Flottenkaiser“ gefördert, eine gewaltige Schlachtflotte bauen, um der weltumspannenden Seemacht Großbritannien die Anerkennung als gleichberechtigte Weltmacht abzutrotzen.

Bürgerlicher Imperialismus

Getragen vom gesamten bürgerlichen Lager (an der norddeutschen Küste auch von Teilen der Arbeiterschaft), zielte das Imperialismusprogramm innerpolitisch auf eine Machtverschiebung zugunsten der Bourgeoisie, nicht zuletzt dadurch, dass die Marine als bürgerliche Waffengattung dauerhaft den gleichen Rang wie das junkerliche Heer einnehmen sollte. Ohne den Militäradel offen herauszufordern und ohne den Weg über den Reichstag mit seinem allgemeinen Wahlrecht gehen zu müssen, eröffnete die „Weltpolitik“ scheinbar einen Königsweg zwischen Scylla und Charybdis, zwischen Junkertum und Sozialdemokratie, um sich auf dem Umweg über die Außenpolitik irgendwie an die Macht zu schleichen.

Der Militäradel tolerierte die „Weltpolitik“ auf dem Boden des Reichsgründungskompromisses, so lange seine Alleinverfügung über das Heer und die Herrschaft über Preußen nicht in Frage gestellt wurden. Und da die Junkerpartei keinen größeren Ausbau des Heeres wollte, um dessen Zuverlässigkeit nicht durch zu viele städtisch-proletarische Wehrpflichtige zu gefährden, war die Finanzierung des Schlachtflottenbaus zunächst konfliktfrei möglich.

Die seit Ende des Jahrhunderts erhobenen Kolonialansprüche und der Bau der riesigen Schlachtflotte rückten naturgemäß ins Zentrum der deutschen und internationalen Öffentlichkeit. Da sowohl der Kanzler als auch der Kaiser die Weltpolitik vorantrieben, konnte es an der Oberfläche so scheinen, als ob bürgerliche Kräfte an der Macht wären – jedoch nur, wenn man die Natur des Klassenkompromisses von Junkertum und Bourgeoisie und die damit zusammenhängende Herrschaftsstruktur des Deutschen Reichs nicht begriff. Real änderte der Imperialismus an der gegebenen Machtverteilung nichts.

c) Ein wechselhaftes Kleinbürgertum

Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels 1847 das baldige Verschwinden der kleinen Warenproduzenten, sprich der Hauptmasse der alten Gesellschaft, durch den Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise vorhergesagt. Doch trotz ihres zahlenmäßigen Rückgangs machten Bauernschaft und städtisches Kleinbürgertum noch lange den überwiegenden Teil der Gesellschaft aus; erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg konnte das Kapital sie bis auf einen Restbestand verdrängen bzw. vollständig in seinen Kreislauf einbeziehen.

In der Zwischenzeit hielt die voranschreitende Auflösung der hergebrachten Produktions- und Lebensverhältnisse sie in einem Zustand latenter Unruhe, der sie für wechselnde politische Überzeugungen empfänglich machte. Zwischen den anderen Klassen der Gesellschaft stehend, konnten ihre Millionenmassen insbesondere in Zeiten des Umbruchs ausschlaggebend sein für die Richtung, die die gesellschaftliche Entwicklung nehmen würde.

So waren die kleinen Bürger 1848/49 die Hauptträger der nationaldemokratischen Revolution gewesen und verharrten die linken Liberalen – meist in verschiedene Parteien gespalten – auch im Kaiserreich in Opposition gegen den preußischen Militär- und Obrigkeitsstaat. Auf der anderen Seite wurde die Mehrheit des Kleinbürgertums durch die Lösung der nationalen Frage in den Klassenkompromiss von Junkertum und Bourgeoisie eingebunden, so dass sich das Kaiserreich über lange Zeit auf eine zuverlässige soziale Basis stützen konnte.

Indessen ließen die aus der Reichseinigung resultierenden Bindekräfte, je länger die Nationalstaatsgründung zurücklag, desto mehr nach. Gegen Ende des Jahrhunderts entstanden neue gesellschaftliche Strömungen im Kleinbürgertum, die sich gleichermaßen gegen die Monarchie und die Kirchen, gegen Demokratie, Liberalismus und Marxismus richteten.

Völkisch-rassistische Strömungen

Vorweg gehörte dazu die völkische Bewegung, die einen rassenbiologischen Volksbegriff in Verbindung mit einem antisemitisch-germanischen Ideengut vertrat.[2] Ihre Anhänger wiesen die Ziele und Werte der bürgerlichen Revolution als „undeutsch“ zurück und strebten einen artreinen deutschen „Rassestaat“ an. „Neu an diesem Milieu, das sich insbesondere im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges zu formieren begann, war die Verbindung von aggressivem Nationalismus, rassistischem und antisemitischem Gedankengut, unbedingter Feindschaft gegenüber der Sozialdemokratie und sozialen Ressentiments innerhalb von Bevölkerungsschichten, die ihre Position langfristig durch den rapiden wirtschaftlichen und sozialen Wandlungsprozess bedroht sahen.“[3] Politisch waren diese Strömungen wenig einflussreich, da die „Völkischen“ zersplittert waren und sich durch ein lebhaftes Sektenwesen auszeichneten. Doch mit Hilfe einer breitgefächerten Publizistik entfaltete ihr Gedankengut ideologisch eine erhebliche Breitenwirkung.

Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa brachte die voranschreitende Industrialisierung neben einer organisierten Arbeiterbewegung neue Bewegungen unter den kleinen Bürgern hervor, die sich aus der vorhandenen politischen Ordnung lösten und nach einer neuen Orientierung suchten. Regelmäßig vom Rassendenken beeinflusst, verfochten sie vielfach einen diffusen Begriff des „Sozialismus“, der nichts mit den Zielen der marxistischen Arbeiterbewegung zu tun hatte, sondern in letzter Instanz die Gleichheit der kleinen Warenproduzenten widerspiegelte. Vorreiter dieser Entwicklung war zunächst Frankreich, aber „der nationale Sozialismus blieb nicht lediglich auf Frankreich beschränkt, wenn er auch in dieser Nation zuerst seine tiefsten Wurzeln schlug (…) Diese verschiedenen nationalen sozialistischen Bewegungen wussten nichts voneinander. Jede war eine Reaktion auf eine besondere Situation. Der Umstand, dass diese Reaktionen sich so ähnlich waren, ist von Bedeutung, weil er Teil jenes in ganz Europa stattfindenden Suchens nach einer egalitären Gemeinschaft im Geiste der Nation war.“[4]

Im Umfeld dieser Bewegungen und unter ihrem Einfluss entstand Ende des 19. Jahrhunderts auch der Zionismus, der nach dem Beispiel der europäischen Kolonialmächte die Schaffung eines eigenen jüdisch-völkischen Staats forderte. In Deutschland knüpfte der Nationalsozialismus nach dem Ersten Weltkrieg an das völkische Ideengut an.

d) Die Verpreußung der SPD

Für die Entwicklung der Gesellschaft am bedeutsamsten war zunächst das mit der Industrialisierung einhergehende Wachstum des Proletariats. Es fand seine politische Vertretung in der Sozialdemokratie, deren erste Parteiorganisation, der ADAV, von Ferdinand Lassalle gegründet wurde. Dieser vertrat nicht nur eine fehlerhafte Lohntheorie (das „eherne Lohngesetz“), sondern auch Vorstellungen von einem preußischen Staatssozialismus, die das Gedankengut der entstehenden sozialdemokratischen Arbeiterpartei prägten und u.a. im Gothaer Programm von 1876 ihren Niederschlag fanden.

Anfangs durch das Sozialistengesetz ausgegrenzt, breitete sich die Sozialdemokratie nach dessen Aufhebung 1890 umso rascher aus. Doch während sich immer mehr Arbeiter in Partei und Gewerkschaften organisierten, wuchs die SPD zur selben Zeit in den Staat hinein.[5] Dabei war das Entscheidende, dass dieser Staat kein bürgerlicher Staat war, sondern ein durch das junkerliche Preußen beherrschter Militär- und Obrigkeitsstaat. Das heißt, die wachsende „Identifizierung der deutschen Sozialdemokratie mit … dem monarchisch-autoritären Staat“ hatte keine Verbürgerlichung der Partei zur Folge, sondern ihre Verpreußung.[6]

Die von Bismarck begonnene Arbeitersozialpolitik des Kaiserreichs förderte diesen Prozess. Für manche Historiker ein Beweis für die „Modernität“ des Kaiserreichs im Vergleich zum Westen (weil der Übergang zu einem Sozialstaat dort erst nach dem Weltkrieg stattfand), rührte der Unterschied in Wahrheit daher, dass der Einfluss der Bourgeoisie in den westlichen Ländern eine Sozialstaatspolitik lange verhinderte. Dagegen war es in Deutschland der vormoderne preußisch-deutsche Staat, der öffentlich-rechtliche Arbeiterversicherungen gegen Unfälle, Krankheit und zur Altersversorgung gegen die Opposition der Bourgeoisie einführte, um die Arbeiter an den monarchischen Staat heranzuführen. Schätzungsweise jeder fünfte sozialdemokratische Funktionsträger war schließlich in den Sozialversicherungen und anderen halbstaatlichen Organisationen tätig.

Getragen wurde die Entwicklung der SPD zu einer preußisch-sozialpatriotischen Arbeiterpartei nicht zuletzt von ihrem Gewerkschaftsflügel. In der betrieblichen Realität des ökonomischen Kampfes (nur) mit dem Kapital konfrontiert, erschien der Junkerstaat den Gewerkschaften im ökonomischen Kampf als potentieller Helfer gegen das Kapital. Ursprünglich schwächer als die SPD und lediglich als „Rekrutenschule“ für die Partei betrachtet, hatten die Gewerkschaften seit Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als viermal so viele Mitglieder wie die SPD – 1906 standen ca. 1,6 Millionen Gewerkschaftsmitglieder 384.000 Parteimitgliedern gegenüber. Hand in Hand damit vergrößerte sich ihr Einfluss in der Partei, bis der aus ihren Reihen stammende Friedrich Ebert 1913 die Nachfolge August Bebels als Parteivorsitzender antrat.

Grundlegende gesellschaftstheoretische Mängel

Die Integration in den Junkerstaat wurde begünstigt durch gravierende Fehleinschätzungen der Gesellschaftsstruktur des Kaiserreichs und des Charakters seiner Klassen. So untersuchten bürgerliche Gesellschaftswissenschaftler wie Max Weber oder Werner Sombart die ostelbische Agrarverfassung und kamen zu dem Ergebnis, dass die Junkergüter nichtkapitalistisch betrieben wurden. Dagegen vertrauten die Sozialdemokraten auf den (im Erfurter Programm ausführlich dargestellten) Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise und unterstellten ohne Untersuchung, dass der Kapitalismus sich auf den Latifundien durchgesetzt hätte.

Dieser Annahme zufolge hätten die Junker sich also in Agrarkapitalisten verwandelt, so dass sie keine eigenständige Klasse mehr bilden konnten, sondern zu einer landbesitzenden Fraktion der Bourgeoisie geworden waren. Deutschland musste also auf jeden Fall unter bürgerlicher Herrschaft stehen, so dass die Notwendigkeit einer nachholenden bürgerlich-demokratischen Revolution nicht nur historisch-politisch, sondern auch aufgrund der ökonomisch-sozialen Verhältnisse abwegig erschien.

Zu dieser Sichtweise gehörte, dass nicht nur die Gutsbesitzer als eigene Klasse negiert wurden, sondern auch die Millionenmassen der kleinen Warenproduzenten, obwohl sie nach wie vor die Mehrheit der Gesellschaft stellten. In der Revolution von 1848/49 mochten sie eine entscheidende Rolle gespielt haben, aber da die Epoche der bürgerlichen Revolution durch die Reichseinigung passé war, musste gemäß den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte als nächstes der Sozialismus kommen, der alleine Sache des Proletariats war und das Kleinbürgertum nichts anging – dessen Rolle war ausgespielt. Die Konsequenz war, dass das politische Tableau der Sozialdemokratie lediglich Proletariat und Bourgeoisie umfasste; Militäradel und Kleinbürgertum kamen darin nicht vor.

Die Fehlkonstruktion des Erfurter Programms

Die Fehler der sozialdemokratischen Gesellschaftstheorie kulminierten im Erfurter Programm von 1891. Während die Lassalleschen Staatsvorstellungen undiskutiert geblieben waren, hatte es in der Zwischenzeit eine Auseinandersetzung über seine Lohntheorie gegeben, mit der Konsequenz, dass die Fehler des Gothaer Programms auf ökonomischem Gebiet durch den Marxismus ersetzt wurden und der von Kautsky formulierte Grundsatzteil des Programms die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise in konzentrierter Form wiedergab.

Dagegen nahm das Programm in seinem politisch-gesellschaftlichen Teil weder eine Einschätzung der Reichsgründung noch der Klassenverhältnisse und Herrschaftsstruktur des Kaiserreichs vor. Ohne das offen auszusprechen, fußte es auf der Grundannahme, dass sich die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland mit der Bildung des Nationalstaats 1870 erledigt hätte. Auf dieser Basis war kein Raum für die Erkenntnis, dass sie als demokratische Revolution weitergeführt und abgeschlossen werden musste, bevor der Sozialismus auf die Tagesordnung treten konnte.

Zwar verlangte Friedrich Engels in seiner Kritik des Erfurter Programms, die Forderung nach einer demokratischen Republik in das Programm aufzunehmen, doch Bebel und der Parteivorstand machten dagegen strafrechtliche Bedenken geltend. Sie nahmen nicht einmal die von Engels daraufhin vorgeschlagene und für „unverzichtbar“ erklärte Ersatzformulierung in das Programm auf: „Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“. Desgleichen wurde Engels‘ Hinweis, dass zusammen mit Preußen auch die Kleinstaaterei abgeschafft werden müsse, um einen deutschen Einheitsstaat zu schaffen, komplett negiert.

In der Folgezeit erörterte Kautsky verschiedentlich das Problem der demokratischen Republik und warf die Frage auf, ob das Proletariat vielleicht nur mit Unterstützung des Kleinbürgertums an die Macht gelangen könne. Weder er selbst noch erst recht die Parteiführung vertieften diese Fragestellung jedoch.

Das sozialdemokratische Machtkonzept

Wie aber wollte die Partei an die Macht gelangen? Ein vor allem in Süddeutschland starker Parteiflügel wollte dies mit Hilfe einer bürgerlichen, demokratisch-reformistischen Politik erreichen. Eduard Bernstein, der Anführer dieser Richtung, stellte den Marxismus in Ökonomie und Philosophie in Frage, hob die Stärke und Bedeutung des Kleinbürgertums hervor und trat für eine Demokratisierungspolitik gemeinsam mit den linken Liberalen gegen die fortdauernde Vormacht des Preußentums ein. Die Durchsetzung dieser Richtung hätte aus der SPD eine bürgerlich-reformistische Arbeiterpartei gemacht, jedoch wurden ihre Positionen sowohl von dem Parteizentrum unter Bebel und Kautsky als auch von der revolutionären Linken unter Luxemburg zurückgewiesen; zwei Parteitage lehnten Bernsteins Auffassungen mit großer Mehrheit ab.[7]

Stattdessen bildete sich auf dem Boden der fortschreitenden Integration in den Bismarck-Staat ein stillschweigendes Machtkonzept heraus, das an den Staatssozialismus Lassalles anknüpfte und zur Richtschnur der Parteiführung in der Novemberrevolution wurde. Nirgends schriftlich niedergelegt, besagte es, den alten Staatsapparat nicht zu zerschlagen und durch einen neuen Staatsapparat zu ersetzen, wie Marx und Engels das gefordert hatten, sondern den heimlich bewunderten „Junkerstaat in seiner ganzen Schönheit“, wie Bebel es nur halb ironisch formulierte, zu übernehmen und in eigener Regie weiterzuführen.

Der revolutionäre Flügel der Partei unter Luxemburg und Liebknecht hatte dem wenig entgegen zu setzen, weil er die grundlegende Einschätzung des Entwicklungsstandes der Gesellschaft teilte. Ohne den Charakter der anstehenden Revolution jemals thematisiert zu haben, hielten die Linken (wie die restliche Partei) die bürgerliche Revolution für abgeschlossen und das Kaiserreich für einen bürgerlichen Staat unter der Herrschaft der Bourgeoisie. Ihre „Besonderheit“ bestand wesentlich in dem Beharren auf der Überzeugung, dass es illusorisch sei, auf friedlichem Weg zum Sozialismus zu gelangen.

 

2. Eine SPD-geführte Konterrevolution: die Niederlage von 1918/19

Die mit der Reichsgründung etablierte Herrschaftskonstruktion konnte die innenpolitische Stabilität des Kaiserreichs nicht auf Dauer sichern. Als 1909 der Reichsgründungskompromiss zerbrach, wurde eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die wenige Jahre darauf in den Großen Krieg von 1914-18 mündete, an dessen Ende die siebzig Jahre zuvor gescheiterte bürgerliche Revolution erneut auf die Tagesordnung trat.

In deren Gefolge fiel die Regierung der SPD zu, die sich indes aufgrund ihrer „Verpreußung“ nicht als Gegnerin des Bismarck-Reichs, sondern als dessen Erbin verstand. Deshalb entstand zwar eine parlamentarische Demokratie, aber hinter der republikanischen Fassade blieb nicht nur der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat erhalten; außerdem überstanden auch die ihn tragenden gesellschaftlichen Kräfte den Umsturz unbeschadet und konnten anschließend daran gehen, ihre vorherige Machtstellung zurückzugewinnen.

a) Bruch des Klassenkompromisses, Krieg um die Macht

Eine Steuerfrage – historisch immer schon ein Scheidepunkt zwischen Feudalmacht und Bürgertum – brachte 1909 den Klassenkompromiss von Junkertum und Bourgeoisie ans Ende. Die Ursache dafür war ein erbitterter Streit zwischen Konservativen und Liberalen um die Einführung neuer Steuern zur Finanzierung des Schlachtflottenbaus, der den sog. „Bülow-Block“ aus Konservativen, National- und Linksliberalen zerbrechen ließ.[8]

Die Folgen des Bruchs konnten kaum weitreichender sein: Nicht nur musste Bülow, der Kanzler der Weltpolitik, zurücktreten und wurde durch Bethmann Hollweg ersetzt, vor allem wurde der Staat unregierbar, weil im Reichstag keine zuverlässigen Mehrheiten zur Verabschiedung von Gesetzen mehr zustande kamen. Gleichzeitig nahmen die Attacken auf das preußische Dreiklassenwahlrecht zu und wurde ein Ende der außerverfassungsmäßigen Stellung der Armee gefordert. Vorläufiger Höhepunkt war die Reichstagswahl 1912, denn als Folge des Bruchs von 1909 kamen die vorher üblichen Wahlkreisabsprachen der anderen Parteien gegen die SPD nicht mehr zustande. Im Gegenteil stimmten sich jetzt die linken Liberalen mit der SPD ab, so dass diese einen überwältigenden Wahlsieg erzielte, ein Drittel der Reichstagssitze erhielt und sich die Gefahr abzeichnete, dass es zu einer Parlamentarisierung des Reichs kommen könnte.

Daraufhin versuchten Junker und Schwerindustrie zunächst, aus Anlass eines Bergarbeiterstreiks den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen, um das allgemeine Wahlrecht abzuschaffen, scheiterten jedoch an der Weigerung von Kaiser und Kanzler. Als dann noch im Gefolge der Zabern-Affäre von 1913 die souveräne Entscheidungsgewalt der Militärs über einen Truppeneinsatz im Innern beschnitten wurde, war für sie endgültig eine rote Linie überschritten: um die bisherige Herrschaftsordnung zu retten, blieb nur noch die Flucht in einen Krieg übrig.

In der Marokkokrise 1911 hatte die Bourgeoisie vergeblich versucht, die Regierung Bethmann in einen Krieg zu drängen, um ihr Ziel eines deutschen „Mittelafrika“ gegen Frankreich und Großbritannien zu erreichen. Damals hatte das Junkertum keinen Anlass gehabt, für die Bourgeoisie einen „weltpolitischen“ Krieg um Kolonien zu führen. Drei Jahre später trieben Militäradel und Bourgeoisie die Regierung gemeinsam in einen Krieg, und dem doppelten Druck konnte der zögerliche Reichskanzler Bethmann nicht standhalten. Am 14. August 1914 erklärte Deutschland dem Zarenreich den Krieg.[9]

Die Klassenkräfte im Krieg

Jenseits der gemeinsamen Siegeshoffnung verfolgten die den Krieg tragenden Klassen unterschiedliche Kriegsziele:
– Für das untergehende Junkertum war der Krieg wesentlich ein Machtsicherungskrieg, der ihre Herrschaft durch einen großen Sieg der von ihnen geführten Armee noch einmal wie 1870/71 gegen die Zeit retten sollte.
– Für die Bourgeoisie handelte es sich um einen imperialistischen Krieg, den sie in Fortsetzung ihrer Weltpolitik mit dem Ziel führte, Mittelafrika zur deutschen Kolonie zu machen sowie durch die Gewinnung der belgisch/französischen Atlantikhäfen England dauerhaft Paroli bieten zu können. Allerdings spielte die bürgerliche Schlachtflotte im Kriegsverlauf militärisch genauso eine Nebenrolle wie politisch die Bourgeoisie. Mit dem von ihm kommandierten Heer war der Militäradel sowohl militärisch als auch politisch der Herr des wesentlich zu Land geführten Kriegs.
– Die Massen des Kleinbürgertums, die zuvor begonnen hatten, sich aus der junkerlich-bürgerlichen Hegemonie zu lösen, schlossen sich im Krieg wieder den beiden Herrschaftsklassen an. Sie unterstützten die kolonialimperialistischen Ziele der Bourgeoisie; aus ihren Reihen kamen aber auch völkisch gespeiste Forderungen nach einer Erweiterung des deutschen Lebensraums im Osten.
– Die Arbeiterschaft ließ sich im Vertrauen auf „ihre“ Partei, die SPD, von der Notwendigkeit überzeugen, das Vaterland gegen den reaktionären Zarismus zu verteidigen. Dabei verfolgte die sozialdemokratische Parteiführung über ihren Sozialpatriotismus hinaus ein weitergehendes Ziel: da der Krieg ohne die Arbeiterschaft nicht zu führen war, besaß sie einen wirkungsvollen Hebel, um nicht nur ihre Staatstreue unter Beweis zu stellen, sondern auch das Tor zur Regierungsmacht zu öffnen.
– Die linke Parteiopposition um Rosa Luxemburg verurteilte die Politik der Vaterlandsverteidigung, erklärte sie aber für einen einmaligen Fehltritt der Parteiführung, den die Mitgliedermassen bald wieder korrigieren würden; deshalb sah sie keinen Anlass, die Partei zu verlassen.

Kriegsbündnis zwischen SPD und OHL

Mit Kriegsbeginn ging die sozialdemokratische Parteispitze ein faktisches Bündnis mit der Führung des Militäradels ein, der Obersten Heeresleitung (OHL), um einen Sieg der deutschen Waffen sicherzustellen. Im Rahmen dieses Bündnisses, das sie in der Novemberrevolution unter umgekehrten Vorzeichen fortsetzte (Ebert-Groener-Pakt), verhinderte sie Streiks und Unruhen in der Arbeiterschaft, förderte die Kriegsbereitschaft und trug innenpolitisch die Militärdiktatur der OHL mit.

Als Gegenleistung öffnete das „Vaterländische Hilfsdienstgesetz“ den Gewerkschaften die bis dahin versperrten schwerindustriellen Großbetriebe und beförderte sozialdemokratische Gewerkschaftsführer auf die Kommandohöhen der staatlich organisierten Kriegswirtschaft. Von der Montanbourgeoisie aufs heftigste bekämpft, wurde es als Stufe zur Regierungsübernahme von der SPD als „Kriegssozialismus“ gefeiert.

Die Parteispitze beteiligte sich 1917 auch am Sturz Bethmann Hollwegs, der mittlerweile an den deutschen Siegesaussichten zweifelte und nach der russischen Februarrevolution einen Remisfrieden mit der Entente schließen wollte. Doch die führenden SPDler gingen wie die Militärs davon aus, dass das Deutsche Reich nach dem Sturz des Zarismus einen Sieg über die gegnerische Koalition davontragen würde und unterstützten daher die OHL bei der Auswechselung des Kanzlers.[10]

Ebert als kaiserlicher Reichskanzler

Obwohl die deutsche Armee sich nach der russischen Oktoberrevolution 1917 auf den Krieg an der Westfront konzentrieren konnte, reichten die militärischen Kräfte nicht für einen Sieg. Im September 1918 forderte die OHL die Regierung ultimativ auf, einen Waffenstillstand zu schließen, weil die Front gegen die alliierten Truppen nicht zu halten sei. Im selben Atemzug verlangte sie eine Parlamentarisierung der Monarchie, um den US-Präsidenten Wilson als Friedensvermittler für einen schonenden Frieden zu gewinnen.

Als die verfassungsändernden „Oktoberreformen“ im Oktober 1918 weisungsgemäß umgesetzt wurden, war für die SPD der Weg zur Regierungsübernahme frei, weshalb die Parteiführung immer darauf beharrte, dass die Novemberrevolution überflüssig gewesen sei (nach den Worten Eberts: „ich hasse sie wie die Sünde“). Am Vormittag des 9. November 1918 ließ sich der SPD-Vorsitzende zum Reichskanzler ernennen, um die sprunghaft anwachsende Revolutionsbewegung in letzter Minute zu kanalisieren und die Monarchie unter sozialdemokratischer Führung zu erhalten.[11] Damit hatte die Parteiführung das von ihr verfolgte Ziel erreicht: mit Ebert als kaiserlichem Reichskanzler stellte sie die Regierung des Bismarck-Reichs.

Am Nachmittag desselben Tages war es jedoch mit der Monarchie und somit auch Eberts Kanzlerschaft vorbei, weil der SPD-Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann ohne Absprache mit der Parteiführung die Republik ausrief.[12] Das hieß für die SPD-Führung gemäß ihrem Machtkonzept jedoch nur, dass es ab jetzt darauf ankam, den preußisch-deutschen Staat auch in nicht-monarchischer Form unter ihrer Regierung zu bewahren. Das wiederum bedeutete, ihn gegen die Revolution zu schützen.

b) Ein revolutionär-demokratischer Umsturz

Die Revolution ließ sich durch die politischen Manöver der SPD zunächst nicht aufhalten. Von meuternden Kieler Matrosen ausgehend, fegte eine elementare Revolutionswelle die bis dahin unbesiegbar erscheinende preußisch-deutsche Staatsmaschinerie binnen weniger Tage hinweg. Endlich schien sich zu verwirklichen, was 1848/49 fehlgeschlagen war: Soldatenräte übernahmen die Herrschaft über die Armee, und Arbeiter- und Soldatenräte entmachteten den obrigkeitlichen Polizei- und Verwaltungsapparat in der Heimat. Die alten Staatsorgane existierten zwar noch, besaßen aber keine Autorität mehr.

Sozial wurde die Revolutionsbewegung hauptsächlich von Arbeitern getragen, sie mobilisierte aber auch viele Kleinbürger. Unter roten Fahnen und sozialistischen Parolen trugen ihre Ziele wesentlich demokratischen Charakter; spontane Betriebsenteignungen gab es nicht. Neben der von den Arbeiterräten vorrangig geforderten Sozialisierung der Schwerindustrie ging es um die Enteignung des Großgrundbesitzes, und wären diese Forderungen umgesetzt worden, hätten die bisherigen Herrschaftsklassen ihren ökonomisch-sozialen Rückhalt und somit ihre Machtbasis verloren. Jenseits dieser grundlegenden sozialen Maßnahmen zielte die Rätebewegung vor allem darauf, den alten Staatsapparat zu zerschlagen und das preußisch-deutsche Heer aufzulösen, um diese Brutstätte des Militarismus zu beseitigen; eine milizähnliche Volkswehr sollte an die Stelle des stehenden Heeres treten.

Diese und andere Forderungen bestimmten die Diskussionen und Beschlüsse des Reichsrätekongresses, der als Zentralversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin tagte und als Vertretung der Rätebewegung zu dieser Zeit das unbestrittene zentrale Machtorgan in Deutschland war. „Die Revolution hatte ein Programm, auch wenn es angesichts des spontanen Charakters der Bewegung nicht immer scharf formuliert war. Dieses Programm war die Abschaffung des Obrigkeitsstaats und eine tiefgreifende demokratische Umgestaltung der politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse.“[13] Dem Wesen nach war die Novemberrevolution eine demokratische Revolution, die sich gegen den preußisch-deutschen Militär- und Obrigkeitsstaat unter der Herrschaft des Junkertums und der mit ihm verbündeten Montanbourgeoisie richtete.

Ein hoffnungsvoller Aufbruch

Die von der Revolutionsbewegung verfolgten Ziele deckten sich weitgehend mit den Forderungen, die seit 1848/49 Grundbestandteil einer bürgerlichen Revolution gegen die preußische Militärmonarchie waren. Neu war die Sozialisierung der Schwerindustrie; sie entsprach der industriellen Entwicklung und hätte den Ansatzpunkt für einen späteren Übergang zum Sozialismus bilden können. Die spontane Bewegung ging also von sich aus an die Vollendung der überfälligen bürgerlichen Revolution als demokratische Revolution – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Dazu gehörte der Beschluss des Rätekongresses über die künftige Staatsform. Nur eine Minderheit stimmte für die Einführung eines Rätesystems, die große Mehrheit beschloss für den 19. Januar 1919 Wahlen zu einer Nationalversammlung, welche die Verfassung für eine parlamentarische Demokratie ausarbeiten sollte.

Trotz der Kriegsniederlage befand sich die deutsche Gesellschaft im Aufbruch, denn der jahrelange Krieg war vorüber und zusammen mit dem preußischen Militarismus schien auch der reaktionäre Obrigkeitsstaat überwunden. Die Wahlen zur Nationalversammlung verliehen dem Ausdruck. Vom Vertrauen der Arbeitermassen getragen, erhielt die SPD mit dem Bekenntnis zur Republik und zur Demokratie 37,9 % der Stimmen, das waren drei Prozentpunkte mehr als 1912. Die beiden anderen Parteien der sog. „Weimarer Koalition“, Zentrum und DDP, erhielten mit zusammen 38,3% noch einmal so viele Stimmen, so dass insgesamt mehr als drei Viertel der Wählerinnen und Wähler für die Republik stimmten. Die USPD erhielt 7,6%, während die soeben gegründete KPD an der Wahl nicht teilnahm.

Linkswendung des Kleinbürgertums

Im Gefolge der Arbeiterschaft vollzogen die Massen des Kleinbürgertums eine fundamentale Linkswendung, wofür die Deutsche Demokratische Partei stand. Im Dezember 1918 in der Tradition von 1848/49 als Nachfolgerin der Fortschrittlichen Volkspartei gegründet, forderte ihr Gründungsprogramm die vollständige Demokratisierung des Staatswesens und plädierte anstelle eines Berufsheers für ein Milizsystem auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht, um den Militarismus zu beseitigen – das war identisch mit den Forderungen des Rätekongresses.

Im Interesse der bäuerlichen und städtisch-kleinbürgerlichen Klientel der DDP verlangte das Programm darüber hinaus sowohl die Enteignung des Großgrundbesitzes und seine Verteilung an selbstwirtschaftende Bauern und Landarbeiter als auch ein Vorgehen des Staats gegen Monopole, Trusts und Kartelle, um Handwerk und Kleinhandel zu schützen.[14]

Mit diesem Programm erhielten die Linksliberalen bei der Wahl zur Nationalversammlung knapp 19% der Stimmen, viermal mehr als die rechtsliberale DVP Stresemanns (vorher „Nationalliberale“) mit lediglich 4,4%. Darüber hinaus bekam die großenteils von katholischen Bauern und Handwerkern, aber auch von Arbeitern gewählte Zentrumspartei mit einem Bekenntnis gegen das Preußentum und für die demokratische Republik knapp 20% der Stimmen. Das heißt: neben der Arbeiterschaft strebte auch die große Mehrheit des Kleinbürgertums nach dem Krieg einen grundlegenden gesellschaftlichen Neuanfang an.

c) Eine sozialdemokratisch geführte Konterrevolution

Umsetzen ließen sich die angestrebten Ziele nur durch die Arbeiterbewegung, denn auf sich allein gestellt war das demokratische Kleinbürgertum dazu nicht in der Lage – das unterschied 1918/19 von 1848/49. Mit dem Sturz der Hohenzollernmonarchie im November 1918 hatten die revolutionären Arbeiter auch bewerkstelligt, was den Kleinbürgern seinerzeit misslungen war, und somit das erste Hindernis auf dem Weg zur Umsetzung der demokratischen Revolution beseitigt.

Der Aufbruch in eine neue Zeit währte indes nicht lange, denn mit der Entstehung der Republik wurde zugleich der Grund für ihr baldiges Ende gelegt. Bewerkstelligt wurde dies von der SPD. Sie hatte die revolutionäre Bewegung zwar nicht verhindern können, aber der preußisch-deutsche Staat existierte nach wie vor, und diesen galt es nach ihrem Machtkonzept vor der Zerschlagung zu bewahren, um ihn unter eigener Herrschaft weiterzuführen.

Um dies zu erreichen, ging die SPD-Spitze zweigleisig vor:
Zum einen setzte sie sich an die Spitze der Bewegung, um diese von der Revolution wegzuleiten; mit dieser Zielsetzung bildete sie zusammen mit der USPD, der die revolutionärsten Teile der Arbeiterbewegung anhingen, am Tag nach Ausrufung der Republik eine sog. „Revolutionsregierung“ aus je drei Vertretern beider Parteien, den sog. „Rat der Volksbeauftragten“.
Zum andern setzte sie die im Krieg begonnene Kooperation mit den bisherigen Trägern des Militärstaats fort, um diejenigen Teile der Revolutionsbewegung, die sich politisch nicht neutralisieren ließen, militärisch zu bezwingen.

Rettung des untergehenden Staats

Noch am Abend des 10. November, als soeben der „Rat der Volksbeauftragten“ gebildet worden war, traf Ebert mit dem OHL-Vorsitzenden General Groener eine geheim gehaltene Vereinbarung, schnellstmöglich wieder „gesetzmäßige Zustände“ gegen die revolutionäre Bewegung herzustellen (Ebert-Groener-Pakt).

Da es aufgrund des in Auflösung befindlichen kaiserlichen Heeres nicht mehr genügend zuverlässige Truppenteile gab, stellte die OHL im Rahmen dieser Vereinbarung „Freikorps“ auf, die in der Zeit zwischen dem Auseinanderfallen der kaiserlichen Wehrpflichtarmee und dem Neuaufbau des neuen, vom Versailler Vertrag zugestandenen 100.000-Mann-Heeres die Träger der bewaffneten Macht in Deutschland waren. Das waren bis zu 400.000 Mann, deren Finanzierung von der SPD gesichert wurde und die auf Befehl des SPD-Manns Gustav Noske, des für Heer und Marine zuständigen Volksbeauftragten, die Revolutionsbewegung niederschlugen, aber auch im Baltikum gegen die Rote Armee und in den bewaffneten nationalen Auseinandersetzungen in Schlesien eingesetzt wurden.

Das Bündnis mit der OHL war für die Parteiführung naheliegend, da beide Seiten das gemeinsame Interesse einte, die bisherige Staatsordnung unter republikanischem Vorzeichen zu bewahren. Dabei waren die Sozialdemokraten überzeugt, auf dem Boden des Parlamentarismus dauerhaft die Oberhand über ihren Bündnispartner behalten zu können. Sie hatten bis dahin von Wahl zu Wahl immer mehr Stimmen gewonnen und gingen davon aus, dass sie als stärkste politische Kraft dauerhaft den Reichstag dominieren und die alten Herrschaftskräfte im Griff behalten würden. Dass sich das Kräfteverhältnis wieder umkehren könnte und der Militäradel in der Lage sein würde, den Parlamentarismus zu stürzen, lag jenseits ihres Vorstellungsvermögens.[15]

Schonung des großen Kapitals

Nicht nur der Militäradel, auch das große Kapital ging unbeschadet aus dem Novemberumsturz hervor, denn die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung unterlief die Sozialisierungsforderung des Rätekongresses durch das sog. „Stinnes-Legien-Abkommen“, das am 15. November 1918, fünf Tage nach dem Ebert-Groener-Pakt, unterzeichnet wurde.[16]

Die drohende Enteignung zwang die Schwerindustriellen lediglich, den Gewerkschaften weit über das zwei Jahre zuvor erlassene Hilfsdienstgesetz hinaus entgegenzukommen. Neben dem Acht-Stunden-Tag und der Einrichtung von Betriebsräten mussten sie die Gewerkschaften als offizielle Tarifpartner anerkennen und der Einrichtung einer „Zentralarbeitsgemeinschaft“ von Arbeitgebern und Gewerkschaften zustimmen, die eine dauerhafte Sozialpartnerschaft etablieren sollte. Für den Fall des Fehlschlags von Tarifverhandlungen wurde in dem Abkommen eine staatliche Zwangsschlichtung vereinbart.

Den Verzicht auf die Sozialisierung der Montanbetriebe begründeten SPD und Gewerkschaften mit der Wirtschaftslage nach der Kriegsniederlage, weshalb keine Zeit für gesellschaftliche Experimente sei. Aus demselben Grund wiesen sie auch die Forderung nach Enteignung des Großgrundbesitzes zurück, weil dadurch die Lebensmittelversorgung der hungernden Bevölkerung in Gefahr geraten würde. Der Übergang zum Sozialismus müsse auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

d) Weiterbestehen der alten Ordnung

Weil die spontane Revolutionsbewegung keine politische Führung mit einem tauglichen Programm besaß, war sie gegen den koordinierten Zangenangriff der neuen und alten Machthaber hilflos. Während die SPD-Führung die Räte politisch ausmanövrierte, zerschlugen die Freikorps den Arbeiterwiderstand gegen die Restauration der alten Verhältnisse militärisch, und die notwendige soziale Umwälzung unterblieb vollständig:
– Die Eigentumsverhältnisse beim Großgrundbesitz und in der großen Industrie blieben unangetastet, nicht einmal die Fürstenhäuser wurden entschädigungslos enteignet;
– in Form der Reichswehr blieb der Kern des preußisch-deutschen Militärstaats bestehen;
– der Verwaltungsapparat überdauerte den Umsturz unverändert; zur Absicherung des obrigkeitlichen Beamtenstaats ließ die SPD sogar die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ in die Weimarer Verfassung hineinschreiben;
– Staat und Kirche wurden nicht getrennt;
– Darüber hinaus verhinderten die Sozialdemokraten die Zerschlagung des Staates Preußen, die seit 1848 von allen fortschrittlichen Kräften nicht nur wegen dessen reaktionären Charakters, sondern auch wegen seiner erdrückenden Größe mit zwei Dritteln des Territoriums und der Bevölkerung des Reichs gefordert wurde. Aber während im Süden Deutschlands die Katholikenpartei dominierte, rechneten sie nach den Wahlergebnissen der Vorkriegszeit in Preußen mit dauerhaften Mehrheiten, weshalb sie das Land, das als deutscher Hegemonialstaat bis 1918 in der Hand des Junkertums gewesen war, nun als eigene Machtbastion erhalten wollten.

Es wurde also weder der alte Staatsapparat zerschlagen und ein neuer aufgebaut noch fand ein sozialer Umsturz statt – das Wesen jeder Revolution, die diesen Namen verdient. Weil sich der Übergang in die Republik auf die Erweiterung der Rechte des Reichstags sowie die Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts auf Frauen beschränkte, war „die demokratisch-parlamentarische Staatsform der Weimarer Republik … auf keine ihr entsprechende gesellschaftliche Struktur gegründet.“[17] Die alte Ordnung setzte sich in neuem Gewand fort.

Fortsetzung des deutschen „Sonderwegs“

Von Beginn an musste die Republik sich des von den Rechtskräften erhobenen Vorwurfs erwehren, sie sei ein Geschöpf der Siegermächte. Wollte sie das erfolgreich tun, hätte sie sich auf ein eigenes Geburtsrecht berufen müssen, und das konnte nur das Recht der Revolution sein. Aber den Vertretern der Republik lag nichts ferner als dies.

Aus Anlass des zehnjährigen Jahrestags der Republikgründung gab die Reichsregierung einen dickleibigen Jubiläumsband „Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918-1928“ heraus, zu dem sowohl der damalige Reichskanzler Hermann Müller von der SPD als auch der Außenminister Gustav Stresemann von der DVP ein Geleitwort beisteuerten – also sowohl ein Vertreter der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung als auch ein Vertreter des Bürgertums.[18] In den Texten wurde jeder Vergleich der Novemberrevolution mit der französischen Revolution von 1789 zurückgewiesen; zugleich stellte nicht ein Beitrag einen Bezug zur deutschen bürgerlichen Revolution von 1848/49 her. Vielmehr wurde als Kernpunkt der Novemberereignisse hervorgehoben, dass es gelungen sei, die Grundlagen des Bismarck-Reichs gegen die Revolution zu erhalten. Gustav Noske, der Schlächter der Novemberrevolution, war Autor des Beitrags, der unter dem Titel „Die Abwehr des Bolschewismus“ die Entstehung des Weimarer Staats als Ergebnis des Kampfes gegen die Revolutionsbewegung wiedergab.

Das Werk dokumentierte den Charakter der Republik als Produkt nicht einer siegreichen Revolution, sondern einer Konterrevolution. 1848/49 hatte die revolutionäre Freiheitsbewegung eine Niederlage erlitten, weil der rechte Flügel des Bürgertums gemeinsame Sache mit dem preußischen Militärstaat gemacht hatte. 1918/19 verhinderte der rechte Flügel der Arbeiterbewegung im Bündnis mit dem Junkertum den demokratisch-sozialen Umsturz – die historisch überfällige bürgerliche Revolution scheiterte ein weiteres Mal, und der deutsche „Sonderweg“ setzte sich fort.

 

3. Die Voraussetzung des NS-Aufstiegs – eine Republik ohne Basis

Das Scheitern der Revolution hatte zur Folge, dass der Staat von Weimar keine hinreichende gesellschaftliche Grundlage besaß. 1909 hatte der Bruch des Reichsgründungskompromisses eine Hegemoniekrise verursacht, aus der 1914 der Erste Weltkrieg entsprang. Da aus Krieg und Revolution kein neuer „contrat social“ hervorging, der die Verhältnisse stabilisieren konnte, setzte sich die Krise von Gesellschaft und Staat in der Weimarer Republik fort und schuf die Voraussetzungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus und seine Machtübernahme 1933.

Während sich Junkertum und Montanbourgeoisie daran machten, den Weimarer Parlamentarismus wieder zu beseitigen und ihre vorherige Machtstellung zurückzuerobern, war es insbesondere das Kleinbürgertum, das nach der Kriegsniederlage, dem Untergang des Kaiserreichs und dem Fehlschlag eines gesellschaftlichen Neuanfangs nach einer neuen Perspektive suchte und diese schließlich im Nationalsozialismus fand.

a) Wiederauferstehung von Junkertum und Bourgeoisie

Da die bisherigen Herrschaftskräfte sowohl ihre soziale Basis als auch die meisten ihrer Machtpositionen in Gesellschaft und Staat behalten hatten, unternahmen sie gleich nach dem Abflauen der Revolutionsbewegung mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch einen ersten Versuch, den neuen Staat wieder zu stürzen.

Als am 13. März 1920 Freikorpseinheiten in Berlin einmarschierten, das Regierungsviertel besetzten und die Regierung für abgesetzt erklärten, erwarteten die Putschisten, dass die Reichswehrführung an ihre Seite treten würde, weil die Ziele beider Seiten identisch waren. Doch die Weltkriegssiegermächte hatten klar gemacht, dass sie keinen Rechtsputsch dulden würden, dessen Träger den Friedensvertrag nicht anerkannten und Revanche für Versailles forderten. Und da die Alliierten militärisch weit überlegen waren, ihre Truppen das Rheinland besetzt hielten und dessen Abspaltung vom Reich drohte, blieb die Reichswehr unter General v.Seekt neutral und verweigerte auch die Berliner Ministerialverwaltung die Zusammenarbeit mit den Putschkräften.

Die Reichswehr als „Staat im Staat“

Auf der anderen Seite weigerte sich die Reichswehr gleichzeitig, die Staatsführung zu verteidigen (mit der Begründung „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“), so dass die SPD gezwungen war, wider Willen einen Generalstreik zu ihrer Rettung auszurufen, der nach einigem Zögern von USPD und KPD mitgetragen wurde, das öffentliche Leben stilllegte und die Putschkräfte zum Aufgeben brachte. Es konnte daher so scheinen, als ob die Demokratie einen Sieg davongetragen hätte, doch in Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall: Obwohl das Militär nicht mehr wie im Kaiserreich außerhalb der Verfassung stand, hatte es der Regierung den Gehorsam verweigert, ohne dass sich daraus Konsequenzen ergaben. Weder wurde v.Seekt durch einen republiktreuen General ersetzt, geschweige denn wegen Befehlsverweigerung vor Gericht gestellt. Nur wenig mehr als ein Jahr nach seinem Sturz hatte der preußisch-deutsche Militäradel also die außerfassungsmäßige Stellung des Militärs wiedererlangt und bestimmte aus eigener Souveränität über den Einsatz der bewaffneten Macht.

Als „Staat im Staat“ arbeitete die Reichswehr in den kommenden Jahren darauf hin, die Republik zu beseitigen, sobald die Umstände dies zuließen – und das bedeutete: sobald mit dem Versailler Friedensvertrag die Eingriffsrechte der alliierten Siegermächte endeten. Als dann 1925 mit Paul von Hindenburg der ehemalige Chef der Obersten Heeresleitung zum Reichspräsidenten gewählt wurde, war das Junkertum im Besitz einer zweiten zentralen Machtposition, um sein Ziel zu erreichen.

Die Bourgeoisie ohne Hegemonialkonzept

Die Politik der Bourgeoisie war mehr als zwei Jahrzehnte lang durch den Imperialismus bestimmt worden; er hatte das gesamte bürgerliche Lager unter Führung der Nationalliberalen geeint und die Gefolgschaft des städtischen Kleinbürgertums gesichert. Jetzt war nicht nur das Kleinbürgertum in der Novemberrevolution an die Seite der Arbeiterbewegung getreten, außerdem fehlten für eine Neuauflage der Imperialismuspolitik alle Voraussetzungen, da das Reich seine Kolonien abgeben musste, die Schlachtflotte zerstört war und der Versailler Vertrag den Bau neuer Schlachtschiffe verbot.

Über ein konsensfähiges neues politisches Konzept als Ersatz verfügte die Bourgeoisie nicht. Ein Flügel, der vor allem in der Chemie und Elektroindustrie zu Hause war, plädierte für einen Sozialkompromiss mit der Arbeiterschaft und einen Brückenschlag zur Sozialdemokratie, verbunden mit der Anerkennung der parlamentarischen Republik. Das hätte die „soziale Marktwirtschaft“ vorweggenommen, die nach dem 2. Weltkrieg in der Bonner Republik die bürgerliche Hegemonie über die Arbeiterschaft sicherte. Eine solche Politik war jedoch nicht mehrheitsfähig, denn gestützt auf ihr wirtschaftliches Übergewicht blieb die Montanbourgeoisie im bürgerlichen Lager tonangebend. Sie lehnte einen Klassenkompromiss mit der Arbeiterschaft ebenso ab wie den mit dem allgemeinen Wahlrecht verknüpften Parlamentarismus und kämpfte gemeinsam mit dem herrschaftsgewohnten preußischen Militäradel für die Rückkehr zu den alten Machtverhältnissen.

Sobald die Enteignungsgefahr durch die Rätebewegung vorüber war, unterlief die Schwerindustrie das Stinnes-Legien-Abkommen, stellte den Achtstundentag in Frage und sabotierte die Zentrale Arbeitsgemeinschaft, bis der ADGB sich Anfang 1924 genötigt sah, aus ihr auszutreten. Außerdem ging sie daran, das System der staatlichen Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten anzugreifen, das ihre „Herr-im-Hause“-Politik einschränkte und dem Weimarer Staat eine Stütze in der Arbeiterschaft verschaffte.

Die bürgerliche Schwäche verkörperte sich in der Partei der Nationalliberalen, die als Trägerin des Klassenkompromisses mit dem Junkertum über Jahrzehnte hinweg die bürgerliche Führungspartei gewesen war. Nach dem Ende der Monarchie unter Führung Stresemanns als Deutsche Volkspartei DVP neu gegründet, wechselte ein Teil ihres rechten Flügels zur Deutschnationalen Volkspartei DNVP über, einem Zusammenschluss der beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs. Doch trotz des Aderlasses blieben die verbliebenen Montanindustriellen in der geschwächten Partei weiterhin tonangebend. Die DVP lehnte die Republik ab und war lediglich bereit, sie als Fakt anzuerkennen, um je nach Gegebenheit auf die Regierungspolitik einwirken zu können.

 

b) Abwendung der Massen von der Republik

Während die bisherigen Herrschaftsklassen ihre Stellung konsolidierten, wandten sich die Massen von der Republik ab. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch erwies sich auch hier als Markstein, denn die Putschführer hatten nicht einfach kapituliert, sondern mit der Regierung ausgehandelt, dass das Mandat der Nationalversammlung vorzeitig beendet wurde und umgehend Neuwahlen stattfanden.

Am 6. Juni 1920 fanden diese Wahlen statt und waren für die Parteien der Republik vernichtend. Hatten sie bei der Wahl zur Nationalversammlung anderthalb Jahre zuvor 76,2% der Stimmen erhalten, so stimmten jetzt nur noch 43,6% für sie, und dabei blieb es bei allen folgenden Wahlen: es gelang der „Weimarer Koalition“ zu keinem Zeitpunkt mehr, die Mehrheit des Wahlvolks zurück zu gewinnen. Das heißt, die parlamentarische Demokratie hatte bereits nach etwas mehr als einem Jahr ihren Rückhalt in den Massen verloren und verfügte auch über keine republiktreuen Truppen. Weder politisch noch militärisch in der Lage, sich aus eigener Kraft zu erhalten, sicherten vorläufig nur die Vorbehaltsrechte der westlichen Alliierten aus dem Versailler Vertrag ihre Weiterexistenz.

Die größten Verluste erlitt die SPD, der Millionen von Arbeitern den Rücken kehrten, so dass ihr Stimmenanteil von 37,9 % auf 21,6% fast halbiert wurde. Die Wahl beendete ihren jahrzehntelangen Aufstieg und entzog ihrer Machtkonzeption auf einen Schlag den Boden, denn sie verlor damit die beherrschende Stellung im Parlament. Nur einmal noch konnte sie – auf Gnaden der DVP – in der Sondersituation von 1928 bis 1930 eine Regierung bilden, als es mit dem Young-Plan um die Demontage des Versailler Vertrags ging. Darüber hinaus konnte sie lediglich im Land Preußen durchgängig an der Regierung bleiben, bis sie 1932 auch dort entmachtet wurde.

Die SPD war jedoch keine Partei wie die anderen. Sie hatte die Weimarer Republik aus der Taufe gehoben, ihr die Gestalt gegeben und war die Staatspartei Weimars schlechthin. Durch ihre Politik in der Novemberrevolution hatte sie nicht nur ihr eigenes Grab und das der Republik geschaufelt, sondern mit der Rettung des preußisch-deutschen Militärs auch ihren künftigen Totengräber bestellt.

Niedergang der demokratischen Liberalen

Nicht nur die SPD wurde in der Reichstagswahl 1920 von der Arbeiterschaft für ihre Konterrevolutionspolitik abgestraft, auch die linksliberale DDP verlor mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft und stürzte von 18,6 auf 8,4 % der Stimmen ab, während im Gegenzug die DVP auf 14 % anwuchs. In nur wenig mehr als einem Jahr war also ein Großteil der liberalen Wähler von Befürwortern des demokratischen Umsturzes zu Gegnern der Republik geworden, so dass sich die Kräfteverhältnisse innerhalb des bürgerlich-liberalen Lagers wieder umgekehrt hatten.

Die Abwendung von der parlamentarischen Demokratie wurde durch die Inflationspolitik der Republik weiter gefördert. Viele Selbständige hatten im Krieg Kriegsanleihen gezeichnet, teils aus nationaler Begeisterung, aber auch zur Sicherung ihrer Altersversorgung. Als die kriegsbedingten Staatsschulden durch die Inflation wegschmolzen wie Butter an der Sonne, ohne dass die Republik den kleinen Anleihegläubigern einen Ausgleich gewährte, sahen sich diese im Alter der Armut ausgesetzt und hatten einen Grund mehr, sich gegen den Weimarer Staat zu wenden. Der Niedergang des linksbürgerlichen Flügels setzte sich ohne Unterbrechung fort. Bei der Reichstagswahl 1928 erhielt die DDP 4,9% der Stimmen, 1932 noch 1,0%, und 1933 stimmten ihre letzten Vertreter im Reichstag für das von Hitler eingebrachte Ermächtigungsgesetz und damit für das Ende der Republik.

In der Revolution von 1848/49 hatte das Kleinbürgertum mit seinem Kampf für einen deutschen Nationalstaat und die Demokratie die preußische Militärmonarchie an den Rand einer Niederlage gebracht, und 1918/19 focht es an der Seite der Arbeiterbewegung für die Durchsetzung einer revolutionären Demokratie. 1933 bildete dasselbe Kleinbürgertum die Hauptstütze des Nationalsozialismus, als dieser die Macht übernahm und daran ging, in Deutschland einen Staat zu errichten, der dem Rad der Geschichte jenseits des von der bürgerlichen Revolution eingeschlagenen Wegs eine andere Richtung geben sollte.

c) Rechtswendung des Kleinbürgertums

Mit dem Erstarken der Rechtskräfte lebte auch die völkische Bewegung auf. Deren Anhänger fanden sich „besonders in den urbanen und industriellen Ballungszentren, namentlich in der ‚gebildeten, hyperideologischen Mittelschicht‘. Auffallend viele Journalisten, Publizisten, Schriftsteller, Lehrer, Professoren, Beamte, Offiziere, Pfarrer, Ärzte und Rechtsanwälte standen in vorderster völkischer Reihe, als ‚Systembauer‘, Ideologieproduzenten und insbesondere als Multiplikatoren der Weltanschauung.“[19]

Anknüpfend an das Gedankengut der Vorkriegszeit stellten sie der französischen Revolution von 1789 die „Ideen von 1914“ entgegen, als sich das deutsche Volk zu Kriegsbeginn scheinbar über alle Klassen- und Standesschranken hinweg „wie ein Mann“ gegen den heimtückischen Überfall der Entente erhoben hatte. Sie machten für die Kriegsniederlage undeutsche, marxistisch-internationalistische Kräfte verantwortlich und erklärten die Republik zu einer den Deutschen aufgezwungenen Demokratie der Alliierten. „Das liberale parlamentarische System galt als eine vom Westen aufgepfropfte, der deutschen politischen Tradition fremde Verfassung, als Ausfluss der Ideen von 1789, gegen die man im Ersten Weltkrieg angetreten war und deren Durchsetzung angeblich zur dauernden Knebelung der nationalen Kraft Deutschlands führen musste.“[20] Früher randständig und insbesondere in den agrarischen Klassen verbreitet, diente der Antisemitismus nun dazu, im zersetzenden Einfluss des Judentums eine Erklärung für die Kriegsniederlage zu finden. „Der Antisemitismus wurde das entscheidende ideologische Bindeglied der verschiedenen, sich oftmals bekämpfenden nationalistischen und völkischen Gruppierungen, die gemeinsame ideologische Plattform für den Kampf gegen die parlamentarisch-demokratische Neuordnung.“[21]

Besondere Resonanz fand das völkische Ideengut in den Freikorps, die im Auftrag der SPD-geführten Regierung von Offizieren des alten Heeres aufgestellt wurden. Ein Großteil der Freikorps war vom Hass gegen die „Vaterlandsverräter“ beseelt, die dem kämpfenden deutschen Heer 1918 in den Rücken gefallen waren, und dazu wurde auch die SPD gezählt, die durch die Revolution an die Macht gelangt war. Mit diesen Freikorpsangehörigen hatten Ebert und Co. sich ihre geschworenen Feinde herangezüchtet, einen Gewalthaufen militärisch ausgebildeter und völkisch entschlossener Männer, die auf die Stunde der Abrechnung mit der Weimarer Demokratie und der SPD warteten.

Gründung der NSDAP

In diesem Milieu aus völkischen und militant nationalistischen, republikfeindlichen Gruppierungen gründete sich in München Anfang 1919 als eine von vielen gleichartigen Organisationen die Deutsche Arbeiterpartei DAP, die sich ein Jahr später in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei umbenannte und als Parteiprogramm ein 25-Punkte-Programm verabschiedete.[22]

Das Programm wandte sich zum Schutz von Handwerk und Kleinhandel gegen Trusts und die großen Warenhäuser und verlangte eine Bodenreform incl. der unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Daneben trat es für einen großzügigen Ausbau der Altersversorgung sowie der Volksbildung ein, darin eingeschlossen die staatliche Förderung der Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand. Außerdem sprach es sich gegen „Söldnertruppen“ aus, d.h. gegen das aus Berufssoldaten bestehende 100.000-Mann-Heer der Weimarer Republik, und forderte den Aufbau eines Volksheers.

Zu einem erheblichen Teil wies das Programm also Gemeinsamkeiten mit dem Gründungsprogramm der DDP auf, was auf die gemeinsame soziale Basis beider Organisationen im Kleinbürgertum verweist. Jenseits davon war es völkisch und antisemitisch ausgerichtet. Es verlangte, das „Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse“ zu schützen und den „jüdisch-materialistischen Geist“ zu bekämpfen, weshalb als „Volksgenosse“ nur gelten sollte, wer „deutschen Blutes“ sei; Juden dürften daher keine Staatsbürger sein.

Mit dieser Partei trat Adolf Hitler zunächst als V-Mann der Reichswehr in Kontakt, wurde im September 1919 Mitglied und im Juli 1921 ihr Vorsitzender. Als der junkerliche Reichspräsident diesem Mann 1933 mit Zustimmung der Bourgeoisie die Kanzlerschaft übergab, konnte der Nationalsozialismus daran gehen, in radikaler Abkehr vom Weg der bürgerlichen Revolution einen neuen Staat zu errichten – einen Rassenstaat deutscher Nation.

Die bürgerliche Produktionsweise blieb davon unberührt.

Literatur:

Baden, Max von: Erinnerungen und Dokumente, neu hrsg. von Golo Mann und Andreas Burckhardt. Mit einer Einleitung von Golo Mann; Stuttgart 1968
Breuer, Stefan: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005
Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik; Wiss. Buchges.: Darmstadt 2008
Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung; dtv: München 1970
Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert; Beck: München 2017
Käppner, Joachim: 1918. Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen: Piper; München 2017
Karuscheit, Heiner: Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg; VSA: Hamburg 2014
Karuscheit, Heiner: Die verlorene Demokratie. Der Krieg und die Republik von Weimar; VSA: Hamburg 2017
Karuscheit, Heiner / Wegner, Jörn / Wernecke, Klaus / Wollenberg, Jörg: Macht und Krieg. Hegemoniekonstellationen und Erster Weltkrieg; VSA: Hamburg 2015
Karuscheit, Heiner / Sauer, Bernhard / Wernecke, Klaus: Vom „Kriegssozialismus“ zur Novemberrevolution; VSA: Hamburg 2018
Kolb, Eberhard / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundrisse der Geschichte, Band 16); Oldenbourg: München 2013
Klönne, Arno: Die deutsche Arbeiterbewegung vor 1914 – eine Friedensbewegung? In: Heiss, Gernot/ Lutz, Heinrich: Friedensbewegungen: Bedingungen und Wirkungen, S. 136-151; München 1984
Klönne, Arno: Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte, Ziele, Wirkungen; München 1989
Longerich, Peter: Deutschland 1918-1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte; Fackelträger-Verlag: Hannover 1995
Longerich, Peter: Hitler. Biographie; Siedler Verlag: München 2015
MEW = Karl Marx und Friedrich Engels: Gesammelte Werke, Berlin 1956 ff
Miller, Susanne: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920 = Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 63, Droste, Düsseldorf 1978
Mommsen, Hans: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar; Ullstein: Berlin 2009
Mosse, George L.: Rassismus: Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts; Athenäum Verlag: Königstein/Ts. 1978
Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. Deutungen von der Weimarer Republik bis ins 21.Jahrhundert; Europa-Verlag: Berlin 2013
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II: Machtstaat vor der Demokratie; Beck: München 1998
Puschner, Uwe: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion; Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 2001
Rosenberg, Arthur: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Teil 1 und 2 in einem Band; Syndikat/EVA: Frankfurt/M 1983
Rürup, Reinhard: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19; Franz Steiner Verlag: Wiesbaden 1968

[1] Karuscheit 2014, S. 101ff

[2] Breuer 2008 und Puschner

[3] Longerich 1995, S.213; s.a. Nipperdey 1998: Machtstaat, S. 602ff

[4] Mosse 1978, S. 148, 150

[5] Karuscheit: Die SPD und der Junkerstaat; in: Karuscheit u.a. 2018

[6] Grebing 1970, S. 138f

[7] In der Linken wird der sozialdemokratische „Verrat“ an der Novemberrevolution bis heute darauf zurückgeführt, dass die SPD in der Vorkriegszeit verbürgerlicht sei, weil sich die offiziell zurückgewiesenen Positionen Bernsteins hinterrücks durchgesetzt hätten. Diese Erklärung ist auch in dem Buch “Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg“ enthalten (S. 186). Die vertiefte Beschäftigung mit dem Thema, angeregt u.a. durch die Arbeiten von Grebing und Klönne, hat den Autor zu der Erkenntnis geführt, dass die Anpassung an den Staat, dem Charakter des Kaiserreichs entsprechend, nicht die Verbürgerlichung, sondern die Verpreußung der SPD zur Folge hatte.

[8] Karuscheit 2014, S. 179ff

[9] Ein Vergleich der Ausgangslage von 1914 mit der von 1911 hat immer schon Fragen aufgeworfen. 1911 stand das Kaiserreich in der Marokko-Krise lediglich Frankreich und Großbritannien gegenüber, weil Russland erklärte, dass es einen Krieg um Kolonien nicht als Bündnisfall betrachten würde. Dementsprechend hoch wären die deutschen Siegesaussichten gewesen, weshalb die Organe der Bourgeoisie den Kanzler Bethmann auch aufs heftigste attackierten und der Feigheit ziehen. Dagegen ging Deutschland drei Jahre später in einen viel riskanteren Zweifrontenkrieg, in dem das Zarenreich auf der Seite der Westmächte stand.

Erklären lässt sich dies nur, wenn man begreift, dass der entscheidende Grund für den Krieg nicht aus der außenpolitischen Lage, sondern aus den innergesellschaftlichen Widersprüchen resultierte: die Junker waren 1911 nicht bereit zu einem Krieg, der allein im Interesse der Bourgeoisie lag. Dagegen erschien ihnen der Krieg 1914 als letzter Ausweg aus ihrer immer bedrohlicher werdenden Lage.

[10] Karuscheit 2017, S.50ff. Da nach der russischen Februarrevolution die Kriegsmüdigkeit des Volkes sprunghaft angewachsen war, stellte die SPD-Führung parallel zum Kanzlersturz die Fortführung des Kriegs noch durch ein besonderes politisches Manöver sicher: sie verabschiedete zusammen mit dem Zentrum und den Linksliberalen eine Friedensresolution des Reichstags, die einen Frieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ forderte – das war der Frieden, den Bethmann mit den Kriegsgegnern hinter verschlossenen Türen dabei war zu verhandeln. Da Bethmanns Nachfolger Michaelis statt einer Fortführung der Gespräche die Kriegsführung verstärkte und die Alliierten auf die Resolution nicht reagierten, konnte die SPD erklären, dass der Gegner die zum Frieden ausgestreckte Hand des deutschen Volkes ausgeschlagen hätte, so dass nichts anderes übrigblieb, als den Kampf fortzusetzen.

[11] Bereits am 6. November 1918 hatten sich angesichts der zunehmenden Unruhen die bisherigen und künftigen Inhaber der Macht getroffen, um über die Verhinderung der Revolution zu beraten. Max von Baden, der noch amtierende Reichskanzler, beschrieb das Verhältnis zwischen den Beteiligten wie folgt: „Gegen Mittag kamen, wie verabredet, die sozialdemokratischen Parteiführer und Gewerkschaftler in die Reichskanzlei, um sich mit dem General Groener auszusprechen: Scheidemann, Bauer, Legien, Robert Schmidt, David, Südekum, Ebert waren erschienen … Vom ersten Augenblick … war das alte Vertrauen da. Es war, als wollten die Herren sagen: Wir, die Arbeiterführer und der General, haben schon einmal im Interesse des Landes unsere Bundesgenossenschaft bewährt. Wir sind gekommen, um sie in dieser Stunde zu erneuern.“ (Baden, S. 591) Vier Tage später bekräftigte der „Ebert-Groener-Pakt“ die Bundesgenossenschaft der beiden politischen Lager.

[12] Scheidemann war ein innerparteilicher Konkurrent Eberts und rief die Republik im Alleingang aus, mit der Begründung, dass er der Ausrufung einer sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht (die kaum Resonanz fand) zuvorkommen musste. Dahinter konnte die Parteiführung anschließend nicht zurück, doch Scheidemann wurde, sobald die Umstände es zuließen, aus der Berliner Reichspolitik nach Kassel als Oberbürgermeister abgeschoben.

[13] Rürup, S.50; der revolutionär-demokratische Grundzug der Rätebewegung wird mittlerweile von der Revolutionsforschung kaum noch bestritten; vgl. Kolb/Schumann, S. 15f; Niess 2013 und Käppner 2017

[14] Gründungsprogramm der DDP: www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0002_ddp&l=de

[15] Die Zusammenarbeit der SPD-Führung mit der OHL hat immer schon Fragen nach ihrer Mitverantwortung für den späteren Untergang der Republik aufgeworfen, insbesondere nachdem die Revolutionsforschung nachgewiesen hat, dass die als Rechtfertigung angeführte bolschewistische Gefahr ein „propagandistischer Popanz“ war, wie Wolfram Wette es formulierte.

Nicht zuletzt unter dem Einfluss SPD-naher Historiker/-innen hat die Geschichtsschreibung dafür die Begründung der sozialdemokratischen „Machtscheu“ gefunden: Ebert und Co. sollen die Zusammenarbeit mit den alten Eliten gesucht haben, weil sie von der unverhofft zugefallenen Herrschaft überfordert waren (wegweisend dafür Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920; Düsseldorf 1978). Diese Erklärung negiert nicht nur die Verpreußung der SPD, sie negiert auch, dass die Parteiführung mit der Übernahme des Bismarck-Staats ein klares Machtkonzept verfolgte.

[16] Hugo Stinnes war der Sprecher der (Schwer-)Industrie und Carl Legien Gewerkschaftsvorsitzender

[17] Grebing 1970, S.155

[18] Otto Stollberg Verlag, Berlin 1928

[19] Uwe Puschner: Die völkische Bewegung; Bundeszentrale für politische Bildung =     http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/230022/die-voelkische-bewegung

[20] Hans Mommsen 2009, S.243

[21] Bernhard Sauer: Freikorps und Antisemitismus in der Frühzeit der Weimarer Republik, S.2 = http://www.bernhard-sauer-historiker.de/sauer_heft1_2008.pdf

[22] 25-Punkte-Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (24.02.1920); http://www.documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html