Der Imperialismus und der Ukraine-Krieg.

Albert F. Reiterer

Eine Fundamental-Kritik zweier wesentlicher Grundlagen

Der Beitrag von Heiner Karuscheit zur Frage des Kriegs in der Ukraine scheint mir wesentlich. Er ist geeignet, die Debatte zur linken Theorie in zwei entscheidenden Punkten weiter zu führen. Dies hier ist somit keine persönliche Kritik, sondern der Versuch, einige fundamentale Punkte anzusprechen.

(1) Politik und „Ökonomie“

Karuscheit beginnt mit dem Hinweis: Lenin berufe sich neben Hobson im Wesentlichen auf Hilferding. Der aber habe mit seinem „falschen Begriff der Konkurrenz“ die Grundlage der politischen Ökonomie ignoriert. Damit sei auch seine Imperialismus-Theorie irrig. Das mache in der Folge die Theorie Lenins unbrauchbar. Das ist nicht nur höchst abstrakt. Es umgeht auch ein ein theoretisch und politisch höchst wichtiges Unterfangen:

Der Imperialismus kann nicht ausschließlich aus ökonomischen Interessen und Gegeben­heiten erklärt werden. Das gilt für die Gegenwart noch stärker als für die Zeit, in welcher Hobson, Hilferding und Lenin die Theorie formulierten. Das hängt seinerseits mit den ökonomischen Grundlagen selbst zusammen.

Als Marx in der Tradition der Hegel’schen Geschichtsphilosophie den Historischen Materialismus entwarf, stand er vor einer Herausforderung: Er musste die von Hegel konstatierte Gesetzmäßigkeit der Geschichte realistisch fundieren, den Gang des Weltgeists durch die Geschichte durch eine analytisch klare Erklärung aus der gesellschaftlichen Basis her ersetzen – „Hegel vom Kopf auf die Füße stellen“. Die politische Ökonomie und im Besonderen die Werttheorie mussten Struktur und Prozess des sozialen, des menschlichen Handelns begründen. Dazu gehört der Äquivalenten-Tausch. Den Wert als seine Einheit teilte er in der Folge in Arbeitslohn (Wert der Arbeitskraft) und Mehrwert, als Komponenten des („gleichgewichtigen“) Gesamt-Werts.

Aber wie wird der Wert der Arbeitskraft, der Lohn, bestimmt?
Marx greift auf ein Existenzminimum-Konzept zurück, betont aber sofort: “Andererseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes ab“ (MEW 23, 185). Der Wert der Ware Arbeitskraft ist somit nicht technisch gegeben. Er bestimmt sich durch die politischen Verhältnisse, die Klassen-Verhältnisse. Es wird wohl heute kaum mehr jemanden geben, welche/r sich auf das „Existenz-Minimum“ als Lohnbestimmung berufen wird, ohne sich im Klaren zu sein, den Begriff des Minimums jeden konkreten Inhalts zu entkleiden. Damit hängt aber diese Größe erst recht wieder in der Luft. Machen wir es kurz: Der Arbeitslohn wird durch den Klassenkampf bestimmt, also
politisch, nicht technokratisch. Hier kommt der „Wettbewerb“ ins Spiel.

Wenn es eine Kritik an Marx gibt, die überfällig ist, in der Ökonomie, dann ist es seine Vernachlässigung des politischen Moments. Mit der Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft verschwindet das Moment des Klassenkampfs aus dieser Aufteilung, das politische Moment. Die versteckt sich in einem methodisch entscheidenden Vorgehen: der Auftei­lung des Gesamtprodukts in variables Kapital und Mehrwert bzw. deren Festlegung. Wir lesen im Kapital I, S. 175: „Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld in Kapital, kann also weder dadurch erklärt werden, dass die Verkäufer ihre Waren über ihren Wert verkaufen, noch dass die Käufer sie unter ihrem Wert kaufen.“ Engels wird auf diesen Punkt herumreiten. Doch halten wir fest. Methodisch könnten wir mit dem gleichen Recht sagen: Es gibt eine Klasse, die ihre Waren „über dem Wert verkaufen kann“, die Kapitalisten. Oder: Es gibt eine Klasse, die gezwungen ist, ihre Ware, die Arbeitskraft, unter dem Wert zu verkaufen. Formal ist beides gleichwertig, und wiederum gleichwertig auch dem Marx’schen Vorgehen. Unter dem Wettbewerbs-Begriff von Marx bzw. unter dessen Ablehnung verbirgt sich die Hegel’sche Orientierung, die Suche nach den „Naturgesetzen“ der gesellschaftlichen Entwicklung. Aber das Unglück ist: Damit verschwindet der Klassenkampf aus der Bestimmung des Werts der Arbeitskraft. Das aber ist wesentlich. Denn damit tritt die Politik an ihre Stelle schon in der Basis, und nur damit ist auch die weitere Entwicklung im globalen Zentrum zu erklären.

Verschwindet aber die Politik, dann verschwinden auch alle Momente, die im autonomen (nicht: unabhängigen!) Bereich der Politik neben dem unmittelbaren Profit-Interesse auch eine Rolle spielen, nämlich die Identitäten, das Prestige, die Ideologie, etc. Und damit sind wir wieder beim Imperialismus und seinen Bestimmungs-Gründen.

Der Imperialismus ist eine Struktur. Daraus wird er zu einer Ideologie in ihren teils recht unterschiedlichen Ausprägungen. Denn da gibt es die Varianten der Bourgeoisie und die nicht weniger wichtigen Varianten der Mittelschichten. Letztere sind fundamental, weil sie die Massenbasis der Bourgeoisie und der zunehmend wichtigeren Bürokratie sind. Dies ist in der Gegenwart wieder ebenso wichtig wie es am Ende des 19. Jahrhunderts war. Damals waren es die Mittelschichten und Intellektuellen, welche die Janitscharen des Chauvinismus und des Imperialismus waren. Heute greifen diese Mittelschichten vielfach wieder nach der Macht.

Dazu kommt ein weiterer wesentlicher Punkt: Wenn tatsächlich „ökonomisch kein ernstlicher Unterschied zwischen Hilferding und Lenin“ gegeben ist, wenn Lenin „dem Ökonomieverständnis der II. Internationale verhaftet“ blieb, dann stellt sich doch wohl mit höchster Dringlichkeit die Notwendigkeit, Lenin und seinen Sozialdemokratismus inhaltlich zu kritisieren. Unter Sozialdemokratismus verstehe ich die grundlegende hegelianische Auffassung von der Linearität der gesellschaftlichen Entwicklung. Bei all seiner radikalen Differenz zur Sozialdemokratie in der unbeirrbaren Verfolgung des revolutionären Ziels deckte sich diese Lenin’sche Auffassung mit dem Geschichtsbild der II. Internationale. Ich sehe dies als wesentlich. Lenins so positive Einschätzung des „Staatskapitalismus“ 1917 und 1919 hatte entscheidende Folgen für sein Sozialismus-Konzept („Elektrizität und Sowjetmacht“). Bei Lenin gibt es somit implizit nur eine denkbare Technologie. Das ist Technokratismus pur. Selbst die mainstream-Ökonomie zu Entwicklungsfragen stellt heute das Problem der „Technikwahl“. Deren Stilistik ist allerdings selbst pure Technokratie, weil es die soziale, die Klassenbasis fortlässt.

Zwar gibt es bei Karuscheit eine Anzahl von Hinweisen auf Klassenverhältnisse. Aber sie bleiben bis auf Ausnahmen abstrakt. Sie werden auch bereits im Grundansatz relativiert, durch Hinweise auf eine „bestimmte ökonomische Formation“. Die heute globalen Klassenverhältnisse müssen konkret angesprochen werden (man denke nur an die konsequente Unterstützung der deutschen Gewerkschaften für die imperialistische Politik) und, vor allem, in ihren politischen Effekten und Formen benannt werden.

Die Monopole, d. h. die Großbetriebe, die auch „Preissetzer“ sind, unterliegen ihrer eigenen Form von Wettbewerb. Dieser Wettbewerb der Monopole war zuerst ein Kampf um den Platz des Stärkeren. Sodann wurde er immer stärker – aber nicht in einer linearen Entwicklung – zum Aufbau eines realen Gesamt-Kapitalisten. Hier liegt das richtige Element der STAMOKAP-Theorie. Andere haben vom Organisierten Kapitalismus gesprochen. In diesem Kampf werden nicht zuletzt politische Mittel eingesetzt. Sicher sprach man vor gut 100 Jahren nicht von Lobbyismus. Der Ausdruck verharmlost und verunklärt auch das tatsächliche Geschehen. Und ob diese Gegenwart eine neue Epoche, ein Stadium, eine Phase ist, unterliegt der Diskussion. Ich würde es bejahen.

Die Frage der Bürokratie ist überaus wichtig. Das ist mittlerweile nicht mehr sosehr eine Frage des politischen Überbaus, sondern der ökonomischen Basis, wenn man es in diesem Schema betrachten will.

Hier muss m.E. die Imperialismus-Theorie ansetzen, und das tut Lenin auch. Die Aufteilung der Welt unter Staaten und Staatenverbände (imperialistische Mächte), aber in der Gegenwart zunehmend tatsächlich unter Kapital-Verbände, ist aus den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte her wohl doch kaum in Abrede zu stellen. Diese Staaten und supranationalen Staatenverbände waren, im etwas altmodischen Ausdruck von seinerzeit, die ideellen Gesamtkapitalisten. Doch die Ambition insbesondere der supranationalen Bürokratien geht weiter. Sie wollen zu realen Gesamtkapitalisten werden, denn sie wissen besser, was dem Gesamtkapital gut tut, als diese selbst…

(2) Imperialismus, Faschismus, Antifaschismus

Der wilhelminische Kompromiss („Reichgründungs-Kompromiss“) war ein recht typisches Arrangement in der politischen Entwicklung und nicht unbedingt eine deutsche Besonderheit. Eine sehr ähnliche Konstellation gab es im UK spätestens ab 1750. Es gab sie in Italien nach 1861. Es gab sie im Habsburgerstaat nach 1867. Nicht hingegen oder kaum gab es sie in Russland, im Zarenreich. Das ist theoretisch wichtig, weil es den üblichen Ablauf nichtrevolutionärer bürgerlicher Entwicklung („dialektisch“) kennzeichnet. Die Bourgeoisie überließ Regierung und Militär den alten Eliten. Sie konnte ziemlich sicher sein, dass diese ihre vitalen Interessen berücksichtigen würde, zumal es ja ohnehin eine Durchdringung, oft fast eine Verschmelzung, dieser Klassen als Personen-Verbände gab. Zu diesen vitalen Interessen gehörte auch die imperialistische Politik.

Imperialistische Politik war aber auch einer anderen Klasse ideologisch hochwichtig: den neuen aufsteigenden Mittelschichten und zwar insbesondere ihren Intellektuellen. Der Imperialismus und Kolonialismus gehörte zu deren ideologischem Kernbestand. Die Briten haben nicht selten den Kopf geschüttelt über die Politik der italienischen Regierung. Die war bereit, äußerst kostspielige Unternehmungen in Ostafrika ins Werk zu setzen, für Kolonien, die nahezu nichts an Gewinn brachten. Das waren nicht zuletzt die oberen Mittelschichten, welche hier im Hintergrund standen, die Enrico Corradini etc., die Präfaschisten. Doch so unterschiedlich war es für das Deutsche Reich auch nicht. Neuere Historiker (z. B. Mommsen, der Enkel) belehren uns, dass Deutsch-Südwest-Afrika wesentlich mehr kostete als es brachte, ebenso Ostafrika. Sie glauben, damit gegen die Imperialismus-Theorie zu argumentieren. Freilich: Bezahlt hat diese Politik die deutsche Bevölkerung; die Gewinne strichen einige Unternehmen ein, die in den Kolonien tätig waren. Ist dies so unterschiedlich zur Situation nach 1990 / 92 im „vereinten Deutschland“?

Aber das spricht nicht im mindesten dagegen, dass der Erste Weltkrieg – und in der Folge auch seine Fortsetzung, der Zweite Weltkrieg – ein Kampf um die Weltherrschaft zwischen konkurrierenden imperialistischen Mächten war. Denen ging es auch um Rohstoffmärkte, Absatz-Gebiete und Gelegenheit der Ausbeutung der dortigen Bevölkerungen. Also keineswegs „nicht, … sondern“, sondern „sowohl … als auch“! Gesellschaft und Politik haben immer eine Reihe von Dimensionen.

Der Hinweis auf die neuen Mittelschichten war von meiner Seite nicht zufällig. Denn ich stimme mit K. überein: Die Faschismus-Definition Stalins / Dimitroffs ist ganz ungenü­gend. Denn sie erkennt nicht, dass der Faschismus in seinen Anfängen, beim Kampf um die Macht, eine Mittelschicht-Bewegung war, insbesondere der neuen Mittelschichten. Nicht zufällig war der studentische Anteil und auch jener der Angestellten überaus hoch. Togliatti war Stalinist und Opportunist, aber auch ein kluger, analytischer Kopf. Seine „Lezioni sul fascismo“ sind gerade heute wieder lesenswert, das Beste, was über den Faschismus geschrieben wurde. Dort schildert er, wie der (italienische) Faschismus aus einer Bewegung der Mittelschichten und ihrer Erfahrung im Ersten Weltkrieg entstand, die sich nach dem Krieg selbst als herrschende Klasse wollten. Nach der Machtergreifung mit Hilfe von König und Militär freilich wurde der Faschismus genau zu dem, was Dimitroff sagte: Zur offenen terroristischen Diktatur der Bourgeoisie. Denn die Faschisten hatten die Kräfteverhältnisse falsch eingeschätzt. Das freilich verlief unter­schiedlich in Italien und im Deutschen Reich. In Italien war die Unterwerfung unter die alten Eliten, das Militär und vor allem die Bourgeoisie offensichtlich. Im Deutschen Reich wollten die Nazis tatsächlich ihre Agenda durchsetzen, was in der Katastrophe für sie und die Bevölkerung endete. Aber der wiederholte Begriff „Rassenstaat“ führt völlig in die Irre und erklärt gar nichts. Das ist die deutsche Manie, den Antisemitismus als Hauptkriterium des Faschismus zu betrachten. Den gab es in der Faschistischen Partei Italiens zwar auch, aber nicht mehr als in fast allen anderen Parteien auch. Er war drittrangig und trat erst im Bündnis mit dem Dritten Reich wirklich auf. Ganz zufällig wird es nicht gewesen sein, dass die Leib-Ideologin Mussolinis, die Redakteurin seiner eigenen ideologischen Zeitschrift, von 1923 – 1933, die Sarfatti, jüdischer Herkunft war. Erst nach der Allianz mit dem Hitlerismus setzte sie sich ab.

Die Rolle der BRD muss sorgfältig betrachtet werden. Die neue deutsche Bourgeoisie wurde von den USA in ihre Position gehoben, richtig. Aber das war doch wohl kein Zufall. Es gibt die Erzählung, dass Stalin auf die Frage nach Polen einige Zündhölzer zusammengestellt habe und das Viereck dann nach Westen verschoben habe. Genau dies ist mit dem reduzierten Deutschland der BRD passiert. Und das hatte ganz wesentliche Folgen für den Charakter der deutschen Bourgeoisie als Klasse. Das war nicht mehr dieselbe Klasse wie in der Weimarer Republik, die untrennbar mit dem Ostelbischen Grundbesitz war. Außerdem hat sie sich schnell weiter entwickelt und eine neue Stellung eingenommen. Adenauer und Erhard waren die idealen Repräsentanten dieser neuen Bourgeoisie. Es war also keineswegs so, dass es eine „gleichbleibende ökonomische Basis“ gegeben hätte. Deutschbezogen ist die Aussage: kein Land in Europa hätte eine solchen Wandel der Staatsformen erlebt wie Deutschland. Und was ist mit Italien?

Damit sind wir in der Zweiten Nachkriegszeit angelangt. Hier ist zuerst der Antifaschismus als Leitideologie der Linken zu erwähnen. Der wurde von den Kommunistischen Parteien sowohl des Ostens wie des Westens in den Vordergrund geschoben, nicht zuletzt dann in der DDR. Aber das war vor allem ein Codewort für eine neue Politik. Stalin hatte mit Teheran, Jalta und Potsdam im Wesentlichen alle seine Kriegsziele erreicht. Jetzt wollte er Ruhe, und das bedeutete vor allem Ruhe im Westen; im Osten auch: in China. Wieder können wir als bestes Fallbeispiel Italien heranziehen. Griechenland wäre eine gute Ergänzung.

Togliatti wurde zurück in die Heimat geschickt. Dort vollzog er die „Wende von Salerno“ im März / April 1944. Sein Auftrag war ganz offensichtlich: Er musste die KPI ruhig stellen. Deren Basis glaubte, nicht völlig unrealistisch, vor der Machtübernahme zu stehen. Togliatti und seine Führung hatten für die Unterwerfung unter den Westen zu sorgen und taten dies gründlich und effizient. Die Sozialdemokratisierung der KPI hat damals und keineswegs erst mit Berlinguer (dem Sekretär Togliattis) begonnen. Für diese Wende war nun der „Antifaschismus“ die Deck-Ideologie. Dass die USA bald ihrerseits nach dem Tode Roosevelts eine Wende gegen die UdSSR vollzogen, war wahrlich nicht die Schuld Stalins.

Doch nun bekamen die westeuropäischen Kommunistischen Parteien eine neue Aufgabe. Sie wurden „antiimperialistisch“. Sie sollten es verhindern, dass Westeuropa sich ganz der USA unterordnen würde. Wir wissen, dass sie damit keinerlei Erfolg hatten.

Und hier kommt wieder die BRD ins Spiel. Hoch symbolisch war die Stalin-Molotow-Note von 1952. Sie wollte die Selbständigkeit und Neutralisierung Westeuropas. Aber selbst, wenn die BRD-Regierung gewollte hätte, sie hätten es nicht gekonnt. Aber sie dachte sowieso nicht daran, darauf einzusteigen. Inzwischen hatte sich ja die Welt geteilt. Dem von der USA ökonomisch, politisch und militärisch geführten neoimperialistischen Weltsystem stand jetzt bereits ein alternatives Weltsystem gegenüber und machte ihm die totale Dominanz nicht nur strittig, sondern tatsächlich unmöglich. Das deutsche Kapital scheint mit diesem Arrangement ganz zufrieden gewesen zu sein („Westbindung“).

Die BRD war ausersehen, in diesem geschichteten neo- und superimperialistischen Weltsystem die subimperialistische Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Das hatte man schon zu organisieren begonnen, mit der Montanunion, dem Vorläufer von E(W)G / EU. Französische Planer träumten von der politischen Führung Frankreichs und dem Einsatz der deutschen „Tüchtigkeit“ (der industriellen Leistungsfähigkeit) in diesem Rahmen. Wahrscheinlich hat sich die deutsche Bourgeoisie schon damals über die Franzosen lustig gemacht.

Karuscheit erwähnt die EU erst ganz am Schluss, gewissermaßen nebenbei. Doch die EG / EU ist die neue Form, welche der deutsche Imperialismus in der Epoche der regionalisierten Globalisierung angenommen hat. Das ist das Um und Auf. Ohne das zu begreifen, können wir überhaupt nichts an der gegenwärtigen europäischen und globalen Struktur begreifen, auch nicht den Ukraine-Krieg, den Krieg der EU.

Denn inzwischen hat der neuerliche Weltherrschafts-Anspruch der westlichen Imperialismen andere Formen des Kapitalismus gegen sich, die sich ihm jedenfalls nicht auf Punkt und Beistrich unterwerfen wollen: Russland und China. Der inzwischen „heiße“ Krieg in der Ukraine ist ein inner-imperialistischer Konflikt, der aus dem Herrschafts-Anspruch der EU viel mehr noch als dem der USA entstanden ist. Die USA ist vielmehr am Pazifik, d.h. gegen China, interessiert. Der Krieg in der Ukraine ist viel stärker der Krieg der EU, wenn auch die USA, als Spitze des westlichen Systems, ebenso an einer russischen Niederlage interessiert ist.

Mir fällt ein interessanter Bericht der RAND-Korporation 2019 für das Pentagon in die Hände: „Extending Russia“, gemeint ist, wie auch der Text klar stellt, „Overextending Russia“ – wie Carter und Reagan die UdSSR zu Tode gerüstet hätten. Da ist insbesondere die derzeit laufende Strategie des hybriden Kriegs gegen Russland ziemlich im Detail vorweg entworfen. Allerdings wird auch vor den Risiken gewarnt, und ein offener Krieg in der Ukraine selbst wird unter diesen Risiken aufgezählt.

Dieser Krieg wurde begonnen (vor Jahren!) als Kampf um die Durchsetzung des westlichen Modells des Kapitalismus in einem unipolaren System, also in der westlichen Weltherrschaft. Es gehört zu den Ironien, dass dieser Kampf sofort und unmittelbar zum wesentlichsten Impuls für ein multipolares System wurde, in welchem ein größerer Teil der Welt vermutlich im (auch kapitalistischen!) Gegensystem stehen wird.

Die USA haben aber noch nicht völlig begriffen, dass das nachkolumbianische Zeitalter bereits begonnen hat. Hier hat für einmal Losurdo Recht. Dass der alte Stalinist China für „sozialistisch“ hielt, braucht uns hier gar nicht zu kümmern.

Wenn es also um die Beurteilung und Bewertung des Kriegs in der Ukraine geht, der militärischen Geschehnisse ebenso wie des westlichen Wirtschaftskriegs, ist diese strategische Situation in Rechnung zu ziehen. Der strategische Angreifer war / ist die EU (+USA). Das heißt keineswegs, sich mit der russischen Regierung („mit Putin“) zu alliieren. Es heißt aber, sich gegen die eigenen herrschenden Klassen und ihre geifernden Propagandisten in den Medien zu stellen. Dazu gehört nicht zuletzt, ihre Sprache zu vermeiden („Angriffskrieg“, etc.). Hier zeigt sich besonders deutlich, wie sehr sich fast die gesamte Linke gründlichst ins herrschende System und seine Hegemonie integriert hat.

Albert F. Reiterer, 12.09.2022