Karl-Heinz Goll
HK hat sich „dagegen ausgesprochen … angesichts des 100-Mrd.-Aufrüstungsprogramms … gleich auf die Wiederauferstehung von Militarismus, Imperialismus und Kriegsvorbereitung zu schließen“ (s. https://kommunistische-debatte.de/?page_id=2382). Er schüttet auf der Grundlage der in den „Aufsätzen zur Diskussion“ (AZD) seit Jahrzehnten gepflegten Kritik an Lenin „das Problem des Imperialismus“ – jedenfalls des deutschen – ganz mit dem Bad aus.
Schon den Terminus „Wiederauferstehung“ (von den Toten) kann ich nur so verstehen, dass es vor dem 100-Mrd. Schulden“vermögen“ nach HK´s Ansicht weder einen bundesdeutschen Militarismus noch Imperialismus noch Kriegsvorbereitungen gegeben hat. Und auch nach dem 100 Mrd.- Beschluss spricht er sich dagegen aus, auf eine Wiederauferstehung (von der vorhergehenden Nichtexistenz) „zu schließen“. Ohne hier langatmig auf eine solch verwunderliche Sichtweise zu entgegnen, sei hier zunächst auf die umfangreichen Dokumentationen der „Informationsstelle Militari-sierung“ (http://www.imi-online.de/) verwiesen.
Einen schwachen Erklärungsansatz für HK´s Lesart könnte man in dem Sachverhalt vermuten, dass die Geschäftsführung des deutschen Imperialismus in Gestalt der transatlantischen Superkoalition – Ampel+CDU/CSU – die deutsche „Sicherheit“ tief im neokonservativen Enddarm des US-Imperialismus sucht. Diese Rolle als Vasall der USA – geradezu masochistisch forciert durch die Ampel-Regierung – wird nun dem Modell Deutschland zum Verhängnis aufgrund der neokonservativen US-Strategie zur Ukraine und dem Sanktionsregime gegen Russland.
Die US-amerikanische Strategie zielt darauf ab, dass einerseits die Ukraine im Stellvertreterkrieg so lange weiterkämpfen soll, bis Russland als Machtkonkurrent am Ende ist und die USA die Hände frei bekommen gegen China. Andererseits erreichen die USA mit ihrer Strategie bewusst und mit Erfolg, dass die Konkurrenten in Europa und besonders Deutschland durch die Rückwirkungen der Sanktionen empfindlich getroffen, von Russland abgeschnitten und in noch größere Abhängigkeit von den USA gebracht werden.
Das somit angezählte „Modell Deutschland“ – in den Zeiten der Kanzlerschaften von Schröder und Merkel auf die Spitze getrieben – funktionierte im Wesentlichen folgendermaßen: Mit Europas „bestem Niedriglohnsektor“, einer programmierten Altersarmut und einer Masse auf Hartz-IV-Minimum gehaltener „Überflüssiger“, insbesondere mit billiger Energie aus Russland und einer extrem exportlastigen Industrie wurden märchenhafte Profite und Exportüberschüsse erzielt. Damit war es möglich, die „Mittelschichten“ im Konsumüberfluss bei Laune zu halten. Deutsche Kapitalexporte eroberten Europa und die Welt. Deutschland ist Nr.1 in Europa – allerdings in einer quasi in der Nachkriegs-DNA fixierten politisch/militärischen Abhängigkeit von den USA, einer aktiven Unterordnung unter deren Interessen durch die maßgeblichen Kräfte in Wirtschaft, Politik und Medien. Deutschland pflegte im „Windschatten“ der USA sein Image als Zivilmacht, als „friedlicher“ Handelsstaat.
Unter dem US-Erfüllungsgehilfen zu Guttenberg wurde die Wehrpflicht abgeschafft und die Bundeswehr quasi zur Hilfstruppe internationaler NATO-Einsätze eingeschrumpft.
Militarismus
Andererseits muss man aber die Eigendynamik des bundesdeutschen militärisch-industriellen Komplexes in Verbindung mit dem militärbürokratischen Wasserkopf der Bundeswehr beachten, die wiederum im Clinch (= Konkurrenz, zugleich Vernetzung) mit anderen europäischen und außereuropäischen Komplexen stecken, u.a. aus den USA, Frankreich, oder Israel. Die deutschen militaristischen Kreise pflegen Wunschträume, wie etwa Wolfgang Ischinger, der alte Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, der tönte: „Berlin muss dafür sorgen, dass Europa handlungsfähig wird“ und eine „deutsche Führungsrolle in der EU“ verlangte. (www.german-foreign-policy.com/news/detail/8402/).
Dem stand FDP-Lindner nicht nach, als er in der Debatte zum 100-Mrd.- Schuldenprogramm propagierte, die Bundeswehr zur „am besten ausgerüsteten Armee in Europa (zu) machen“, … „weil das der Bedeutung Deutschlands, unserer Verantwortung in Europa entspricht“. Solches dürfte sicher bei den restlichen EU- und NATO-Partnern, auch GB, etwas mehr als Stirnrunzeln und die volle Aufmerksamkeit der USA wecken. War doch deren ganze Nachkriegspolitik davon geprägt, Deutschland einzuhegen und nie wieder zu einer dominierenden Militärmacht werden zu lassen.
Man träumt auch in deutschen Regierungskreisen von einer „Europäischen Verteidigungsunion auf Augenhöhe“ besonders gegenüber den USA und China. Eine solch visionäre Hybris wird jedoch von diversen Hindernissen und inneren Konflikten durchkreuzt, insbesondere von der transatlantischen Vasallenrolle der BRD (s.o.), die den französischen Bestrebungen nach einer „strategischen Autonomie“ entgegensteht – übrigens auch einer „nuklearen Teilhabe“ an der „Force de frappe“ anstelle derjenigen am atomaren US-Potenzial. Diese Teilhabe am nuklearen „Schutzschirm“ der USA ist nichts anderes als die Garantie, dass in einem Atomkrieg mit Russland von Europa nicht mehr viel übrig bleibt. Sie wurde im Rahmen der 100 Mrd. durch die beschlossene Anschaffung von amerikanischen F35-A-Tarnkappenbombern festgezurrt. Ein wesentliches Hinderniss für eine strategische Autonomie Europas ist auch die spalterische Klaviatur der USA, mit der diese auf die bunte Interessenvielfalt der europäischen Nationalstaaten, insbesondere auf die östlichen Frontstaaten Polen, im Baltikum über Rumänien bis zum Balkan (das „neue Europa“) einwirken.
Der deutsche Imperialismus
HK nennt „Militarismus, Imperialismus und Kriegsvorbereitung“ in einem Atemzug, auf deren „Wiederauferstehung“ er bezüglich der BRD nicht „schließen“ will, also auch nicht des deutschen Imperialismus, den es nach HK´s Logik gar nicht (mehr) gibt. Das lässt auf einen verkümmerten, um nicht zusagen, bürgerlichen Imperialismusbegriff schließen. Immerhin räumt er ein: „es sei denn“ „Imperialismus“ (in Anführungszeichen!) meint „ein nebenher erwähntes Streben nach Hegemonie“.
Von Kapital- und Warenexport, dem Kampf um Rohstoffquellen und Absatzmärkte, beispielsweise den militärischen Auslandsabenteuern im Windschatten der USA, der Komplizenschaft mit Frankreichs Imperium in Westafrika, oder der zur Staatsräson erhobenen Symbiose mit dem israelischen Siedlerkolonialismus bis hin zur immer intensiveren Teilnahme am ukrainischen Stellvertreterkrieg – das alles und noch mehr ficht HK in seinem „Jenseits der Imperialismustheorie“ kaum an, lässt ihn nicht auf Imperialismus „schließen“. Auch scheint ihn dabei nicht anzufechten, dass Deutschland weltweit der viertgrößte Waffenexporteur und höchst eifrig dabei ist, Kompradorenregimes zur polizeilichen und militärischen Unterdrückung diverser ausgeplünderter Völker auf- und auszurüsten.
Die Vorgeschichte der Verabschiedung von Lenin
HK stützt sich auf den „Abschied“ von der Leninschen Imperialismustheorie, wie sie in den AZD seit Ende der 80-iger Jahre ventiliert wird. So wurden im August 22 in der „Kommunistischen Debatte“ Texte aus dem Jahr 1987 (AZD 39) wiederveröffentlicht, die damals unter dem Titel „Kapital und Monopol – Zur Kritik der Monopoltheorie bei Hilferding und Lenin“ erschienen sind. (https://kommunistische-debatte.de/?page_id=366). Diese sehr gründlichen Beiträge (132 Seiten) zu den Widersprüchen zwischen Lenins Quellen (bes. Hilferding, Hobson) und der Marxschen Theorie weisen durchaus nachvollziehbare und zutreffende Kritikpunkte auf, auch an „Schwankungen und Unsicherheiten“ Lenins selbst. Hier kann nicht detailliert darauf eingegangen werden. Insbesondere wird anhand von Hilferdings Theorie des „Finanzkapitals“ und seiner Monopoltheorie nachgewiesen, dass diese mit der Marxschen ökonomischen Theorie, auch wegen eines falschen Verständnisses von der Rolle der Konkurrenz, nicht vereinbar sind. Da Lenin seine Imperialismusschrift teilweise auf Hilferdings „Finanzkapital“ gestützt hat, schließen die Autoren, dass auch die Leninsche Theorie des Imperialismus mit der Marxschen Theorie nicht vereinbar sei. Man wirft Lenin den Begriff „Übergangskapitalismus“ vor, in dem „die Warenproduktion bereits untergraben ist und die Hauptprofite den Genies der Finanzmachenschaften zufallen; ja man meint daraus den Schluss ziehen zu müssen, „dass es (angeblich laut Lenin) nicht mehr der Wert ist, der die Produktion bestimmt und regelt“ (AZD 39/91). Oder man unterstellt Lenin, dass er mit seiner Rede vom Monopolkapitalismus die „Aufhebung der Gesetzmäßigkeiten der Warenproduktion“ behauptet habe – ziemlich wüst überspitzte Stücke an Interpretationskunst.
Marx wird also gegen Lenin ausgespielt. Dabei wird ignoriert, dass schon Marx bemerkt hat (MEW 25/454): „Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel.“ Und Engels fügte als Beispiel hinzu, dass „in diesem Zweig, der die Grundlage der ganzen chemischen Industrie bildet, in England die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation aufs erfreulichste vorgearbeitet.“ Hatte damit Lenin nicht etwa schon Vordenker?
HK setzt diesem Ausspielen Lenins gegen Marx sein Fazit obendrauf: „Es ist deshalb an der Zeit, dass wir uns verabschieden – nicht von Lenin, der an der Seite des revolutionären Proletariats den Kampf gegen den Opportunismus … der II. Internationale aufnahm, sondern von der (?) Imperialismustheorie.
Konsequenter kann man das Kind nicht mit dem Bad ausschütten.
Bevor das „Problem des Imperialismus selber“ aufgerollt wird (zumindest ein Versuch dazu), zunächst ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Umgang mit den sogenannten Klassikern:
Der „Umgang“ mit den Klassikern
Es gibt 2 Extreme, wie mit Lenin und den übrigen „Klassikern“ des Marxismus umgegangen wird: auf der einen Seite betrachtet man sie als heilige, unfehlbare Propheten, denen (fast) alles (oft einseitig verzerrt, dogmatisch bzw. idealistisch) nachgebetet wird, beim anderen Extrem sind sie solche, wie z.B. Lenin, von dessen Imperialismustheorie man sich komplett verabschieden muss, ja dem man historische Niederlagen des Kommunismus ankreidet. Sozusagen ein positiver bzw. negativer theoretischer Personenkult.
Sämtliche Klassiker des sog. ML haben sich in manchen Fragen geirrt, haben Fehler selbstkritisch konstatiert und – so möglich – korrigiert oder konnten sie nicht erkennen. Schön ist der diesbezügliche Spruch von Engels zu 50. Geburtstag von Marx:
„Was wir doch vor 25 Jahren für jugendliche Enthusiasten waren, als wir uns rühmten, um diese Zeit längst geköpft zu sein“ (MEW32/80). Engels hat selbstkritisch eingeräumt, dass sie beide, Marx und Engels sich historisch geirrt hatten: „Die Geschichte hat uns … unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung damals bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ (MEW22/515). Und Engels lag völlig daneben, als er 1895 glaubte, die SPD „stehe heute auf dem Punkt, wo sie mit fast mathematisch genauer Berechnung die Zeit bestimmen kann, in der sie zur Herrschaft kommt“ (MEW 22/250).
Lenins radikale Selbstkritik bei der Wende zur NÖP 1921 (4,5 Jahre nach der Imperialismus-Schrift – LW 33/42) ist klassisch: „… begingen wir den Fehler, dass wir beschlossen, den unmittelbaren Übergang zur kommunistischen Produktion und Verteilung zu vollziehen“. Das war alles andere als eine Kleinigkeit, war doch dieser Fehler verbunden mit einer „Niederlage, die ernster war, als irgendeine Niederlage, die uns jemals von Koltschak, Denikin oder Pilsudski beigebracht wurde, … viel ernster, viel wesentlicher und gefährlicher …“ (LW 33/44). In der Landwirtschaft hatte die radikale Ablieferungspflicht schwere Hungersnöte verschärft; sie wurde abgeschafft und durch eine Naturalsteuer ersetzt.
Die Kritik an Lenin lässt sich fortsetzen an seiner Rolle bei der „Zimmerwalder Linken“, die 1915 die noch unerledigten Aufgaben der bürgerlichen Revolution unterschätzte. Auch dazu hat Lenin 1920 sich in „Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ geäußert, was man auch als Selbstkritik im Rückblick auf Zimmerwald interpretieren kann.
Er hat beispielsweise 1919 in seiner Kritik an Bucharin präzisiert: „Reinen Imperialismus ohne kapitalistische Grundlage hat es niemals gegeben, gibt es nirgends und wird es niemals geben. … Nirgendwo auf der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er jemals existieren“ (LW 29/150). Wer will, kann auch das als eine gewisse Selbstkritik zur Imperialismusschrift betrachten.
Der Kontext 1916, Lenins Unklarheiten und der Abschied von Heiligkeiten
Die Imperialismusschrift wurde 1916 geschrieben, im 1. Weltkrieg, als sich die revolutionäre Situation abzeichnete. 1920 schrieb Lenin dazu: „Es fällt schwer, jetzt, in den Tagen der Freiheit, diese durch Rücksicht auf die zaristische Zensur entstellten, zusammengequetschten, in einen eisernen Schraubstock gepressten Stellen der Broschüre wieder zu lesen …“ (LW 22/191).
In der Tat haben gewisse Schlussfolgerungen, Unklarheiten und Überspitzungen des Textes eine Grundlage geliefert für verschiedene grundfalsche Theoreme. So für die quasi „gesetzmäßige“ Gewissheit bis in die Tage Honneckers („den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“), dass der faulende Imperialismus unmittelbar der „Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats“ sei. Das scheint heute auch nach über 100 Jahren reichlich fern. Oder eine Grundlage für die „antimonopolistische Demokratie“ der DKP, auch für die Agitation der MLPD, in der „DIE MONOPOLE“ quasi der Satan schlechthin und die „Alleinherrschaft des internationalen Finanzkapitals“ der internationale Hauptfeind des internationalen Proletariats sind. Die in Wirklichkeit „allein herrschende“ Konkurrenz der imperialistischen Staaten wie der Monopole untereinander ist dabei ultraimperialistisch weggezaubert.
Was bleibt da, wenn man wegen ihrer Fehler und Irrtümer, ihrer im Nachhinein erklärbaren Fehlprognosen den „Klassikern“ die Heiligkeit, die Eigenschaften als Wahrsager und unfehlbare Propheten absprechen muss? – – Die Marxisten müssen in selbstständiger theoretischer Arbeit mit der marxschen Methodik an die jeweils aktuellen Entwicklungen herangehen.
Das heißt auch, den heutigen Imperialismus (über Lenin hinaus) zu definieren. Dazu ein holzschnittartiger Versuch:
Imperialismus heute
Imperialismus ist heute mehr oder weniger ein Wesensmerkmal aller entwickelten kapitalistischen Staaten. Das ist in Ausmaß und Ausprägung abhängig (neben historischen, geografischen, kulturellen u.a. Bedingungen) vor allem vom jeweiligen polit-ökonomischen und militärischen Potenzial der Staaten. Imperialismus bedeutet eine umfassende politisch-ökonomische Kategorie. Im Unterschied zum Kolonialismus heißt Imperialismus heute weniger die Eroberung und Ausplünderung ferner (unentwickelter) Länder, viel mehr auch die Konkurrenz und zugleich gegenseitige Durchdringung rivalisierender kapitalistischer Länder insbesondere durch Kapital- und Warenexport sowie militärischer Machtpolitik mit Krieg als Ultima Ratio. Es herrscht (neben zeitweiligen Bündnissen, Abkommen, „Friedensordnungen“ und „Regeln“) der absolute Kampf um die Neuaufteilung von Rohstoffquellen, Kapitalanlagesphären und Absatzmärkten. Grundlage ist der Kapitalismus mit seinem Grundwiderspruch – Lohnarbeit und Kapital -, für den die inneren, nationalen Märkte zu eng sind, nicht ausreichen für seine Akkumulation, für das „Wachstum“, das dem Kapitalismus immanent ist und an Grenzen stößt, was die Reibereien zwischen den Mächten forciert.
Das Entscheidende am imperialistischen Stadium ist, dass der Kapitalismus aus seinen nationalen „Nähten platzt“. Es ist der Widerspruch zwischen der nationalen Beschränktheit und dem grenzenlosen Expansionsdrang. Kapitalistische Staaten sind die Form, der Überbau, die Existenzweise, die Conditio-sine-qua-non der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die außerhalb (national-)staatlicher Formen überhaupt nicht existieren können.
Das Kapital, auch in Gestalt des mittlerweile quasi in Echtzeit um den Globus wabernden Geldkapitals jagt (je nach Potential) über alle Grenzen hinweg nach maximalem Profit – allerdings, um eine Analogie zu bemühen: amorph wie das von Sonne, Wind und Schwerkraft getriebene Wasser (flüssig oder dampfförmig). Wie das Wasser an Physik und Topografie, an seinen Kreislauf, an Atmosphäre, Ozeane, Flüsse usw. gebunden ist, bewegt sich das Kapital in der materiellen Realität kapitalistischer Staaten, die zwecks Zurichtung, Vorhaltung und Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, mit „Innerer Sicherheit“ und Militärmacht, konkurrierende Klassenstaaten sind. Das Kapital strebt – getrieben von wachsender Produktivität nach dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – nach grenzenloser internationaler Expansion und Akkumulation, jedoch eingebannt in die jeweiligen staatlichen Formen. Dieser Expansionsdrang, dieser innere Druck auf die staatliche Organisation muss daher unbedingt durch eine mehr oder weniger expansive, aggressive imperialistische Politik der konkurrierenden Staaten gegeneinander zum Ausdruck kommen je nach dem Maß ihrer kapitalistischen und militärischen Potenziale. Und dabei führt die ungleichmäßige innere Entwicklung der Staaten verschärfend und zuspitzend auf die Konfrontationen bis zum imperialistischen Krieg, wie man das auch bei der aktuellen Gemengelage z.B. zwischen den „absteigenden“ USA, dem „prekären“ Russland und dem „aufsteigenden“ China feststellen muss.
Heute sieht man neben einer weiteren Konzentration und Zentralisation bei Großbetrieben, das Schlucken von kleinen Betrieben, eine versteckte Monopolisierung durch Kontrolle mittels verschachtelter Beteiligungen, Vorherrschen von Oligopolen bis hin zu Monopolen aber nach wie vor die Fortexistenz des „gewaltigen Untergrundes des alten Kapitalismus“ (LW 29/154 ), in Gestalt von Millionen kleiner und mittlerer Betriebe. Eine theoretische Übertreibung bis Verabsolutierung der Rolle von Monopolen lässt sich mit der komplexen Realität nicht vereinbaren. Jedenfalls ist die „nicht-monopolistische“ Bourgeoisie nach wie vor eine wesentliche Säule der Kapitalherrschaft. Gleichsam wie Förster beim Wald legen das Gesamtkapital und sein Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ heutzutage großen Wert auf „Verjüngung“, damit es neben Baumriesen (Monopolen) auch weiter viel Jungwuchs und Unterholz gibt, das systematisch durch Förderung von Existenzgründungen, Start-Ups usw. gepflegt wird. Kartell- und Anti-Monopolgesetze mögen absolute Monopole formal verhindern; tatsächlich aber bilden die jeweils Großen diverser Branchen – wie man z.B. an der Autoindustrie sehen kann, Oligopole – 2017 unter Kartellverdacht – die durch höchstentwickelten Verbandslobbyismus, das Finanzsystem sowie innigste Verflechtungen mit Staat und Politik sozusagen wie „monopolistische Komplexe“ operieren. ….. (Ausführlicheres dazu: https://kommunistische-debatte.de/wp-content/uploads/Artikel-Imp-2022-1.pdf)
HK´s Fehler
Und vor diesem Hintergrund komme ich zu dem wesentlichen Fehler, der m.E. die Haltung HK´s zur Imperialismus-Frage bestimmt. Er meint zwar, es gebe „für den Marxismus also genügend Grund, sich mit dem Zusammenhang und Widerspruch von ökonomischer Basis und politischem Überbau auseinander zu setzen.“ Selbstverständlich – nur muss man das richtig machen, diverse Staatsformen nicht als wesentlich, sozusagen fundamental-bestimmend über die kapitalistisch-imperialistischen Inhalte stellen. Aber für HK scheinen die ganz unterschiedlichen Formen staatlicher Überbauten prinzipieller, entscheidender zu sein, als das „Kapitalverhältnis über alle Veränderungen hinweg“. Beispiel: Er betrachtet Adenauer und die CDU als eine „Gruppierung der Bourgeoisie“. In Wirklichkeit waren die „nur“ eine neue Geschäftsführung der deutschen imperialistischen Bourgeoisie, die per lascher Entnazifizierung etwas gerupft aus dem Krieg herauskam und sich eine Reihe von Schafspelzen (u.a. Parlamentarismus, Kosmopolitismus, Freihandel statt Autarkie, Philosemitismus statt Antisemitismus) überstreifen musste, um unter Kontrolle und Protektion der Siegermächte, vor allem der USA, sich in antikommunistischer Kontinuität wieder zu einem Platz an der Sonne aufzurappeln. Über die Kontinuität der deutschen Bourgeoisie über den Wandel der Staatsformen hinweg hat beispielsweise Bernt Engelmann in den 70-iger Jahren eine Reihe von Büchern mit eindrucksvoller Materialfülle geschrieben.
Indem HK z.B. die „Entmachtung der Schwerindustrie“ durch Montanunion und Kartellgesetzgebung oder den Automobilsektor als neuen Leitsektor in den Vordergrund stellt, um das „Propagandabild eines … alle Zeitläufte überstehenden deutschen Imperialismus“ zu widerlegen, verkennt er die Kontinuität des Kapitals, das in wechselnder Gestalt nahezu in jede beliebige Haut schlüpft. Nur das Beispiel der Familie Quandt zeigt schon die Vielfalt: ursprünglich war das Geschäft Textil und Leder, dann die Kaliindustrie, dann Waffen und Munition, U-Boote und nach dem Krieg BMW … Dabei geht es selbstverständlich nicht (nur) um die Rolle von Familienclans, sondern in erster Linie um die Kontinuität von Kapitalien in variabler Gestalt von Firmen, Konzernen, Aktiengesellschaften.
Höchster Gipfel HK´scher Erkenntnisse sind folgende Sätze: „Die grundlegende Schwäche des (von Lenin) gewählten Erklärungsansatzes besteht darin, eine ökonomische Ursache für den (1.Welt-)Krieg zu suchen. Jedoch hatte der Weltkrieg seinen Ursprung nicht in der Ökonomie, sprich im Monopolkapitalismus, sondern in der Klassenkonstellation des Kaiserreichs, die das untergehende Junkertum die Flucht in den Krieg antreten ließ.“ HK liegt mit dieser genialen Differenzierung offenbar ganz allgemein mit dem Begriff politische Ökonomie im Hader, muss den konsequenterweise für eine „grundlegende Schwäche des Erklärungsansatzes“ halten.
Lenin wird also vornehmlich von 2 Seiten in die Zange genommen: mal wirft man ihm vor, mit seinen Feststellungen zur Ökonomie und zu Monopolen Marx zu revidieren, „der … nachgewiesen hatte, dass nicht subjektive Gewaltverhältnisse, sondern das Wertgesetz den Gesamtreproduktionsprozeß des Kapitals reguliert“ (als ob Lenin dem jemals widersprochen hätte) oder dass er mit der These von der „Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol“ die „rationelle Grundlage der politischen Ökonomie“ aufgegeben habe. Auf der anderen Seite wird Lenin bzw. dem „Marxverständnis“ seiner Verteidiger das glatte Gegenteil vorgeworfen, nämlich dass dieses Verständnis „die gesellschaftliche Entwicklung nicht als variables Produkt der Auseinandersetzung sozialer Kräfte begreift, sondern als vorgegebene Folge der Entwicklung des Kapitals, als Ergebnis nicht von Klassenkämpfen, sondern von ökonomischen Gesetzen“. So glaubt man je einen Aspekt des Ganzen aus dem Zusammenhang reißen zu können, um die Imperialismustheorie zu erledigen. Allein schon der Titel „Kritik der politischen Ökonomie“ müsste solchen Kritikern eigentlich klar machen, dass die dialektische Einheit und Widersprüchlichkeit von ökonomischen Gesetzen, von Klassenkämpfen, der Geschichte und von politischer Macht die Totalität jeglicher Gesellschaftsordnung bis hin zum Kapitalismus im imperialistischen Stadium bedeutet.
Im Leserbrief „Zu den Novemberfragen“ (AZD 93) habe ich auch schon ausgeführt, wo bei HK der Hase im Pfeffer liegt: „Heiner Karuscheit macht m.E. einen grundsätzlichen Fehler, wenn er die preußische Staats- und Gesellschaftsordnung nach 1890 als „vorbürgerlich“, „nicht von der Bourgeoisie beherrscht“ definiert (u.a. AZD 88). Er macht keinen Unterschied zwischen Form und Inhalt, zwischen Staat und Gesellschaftsordnung, die er mit einem Bindestrich vermengt. Überspitzt könnte man so die Staats- und Gesellschaftsordnung Großbritanniens als vorbürgerliche Monarchie betrachten.“
Fazit
Vor dem Hintergrund steigender Rüstungsausgaben, permanenter Kriege und „Spannungen“ der internationalen Gemengelage wird klar, wie haltlos die Thesen und Spekulationen über eine „Gegenstandslosigkeit“ des Imperialismus, bzw. eine Überholtheit des Begriffes gerade auch für Deutschland sind. Auf eine „Wiederauferstehung“ des demnach nicht vorhandenen deutschen Imperialismus gar will HK nicht „schließen“. Das bedeutet eine Regression, eine Versöhnung mit der idealistischen Gedankenwelt und Geschichtsschreibung bürgerlicher Geopolitik.
Karl-Heinz Goll, 26.08.22