5. Zur Frage der „Modernisierung“

Der Historiker Ernst Nolte stellte schon vor mehr als 20 Jahren über die ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus fest: „Zur Ganzheit zusammengefasst, bilden sie gleichwohl ein Ideengebäude, dessen Folgerichtigkeit und Konsistenz den Atem verschlägt.“ [121] Er hat recht. Adolf Hitler griff in „Mein Kampf“ eine Fülle von Strömungen seiner Zeit auf und arbeitete sie zu einer in sich geschlossenen Weltanschauung und politischen Programmatik um, deren verschiedene Teile sich mit innerer Logik miteinander verschlingen. Er betonte immer wieder die „granitene Grundlage“ der nationalsozialistischen Politik. [122] „Jede Gewalt, die nicht einer festen geistigen Grundlage entsprießt, wird schwankend und unsicher sein. Ihr fehlt die Stabilität, die nur in einer fanatischen Weltanschauung zu ruhen vermag.“ [123]

In einer idealtypischen Beschreibung des Verhältnisses zwischen „Programmatiker“ und „Politiker“ stellte er dem Programmatiker die Aufgabe, die „granitene Grundlage“ der Weltanschauung auszuarbeiten, die dann vom Politiker in die Tat umgesetzt werden musste. „Zu einer abstrakt richtigen geistigen Vorstellung, die der Programmatiker zu verkünden hat, muss sich die praktische Erkenntnis des Politikers gesellen.“ [124] Die Politik barg jedoch Gefahren in sich, da Irrtümer nicht ausgeschlossen waren. Wenn ein Politiker aber einmal in grundlegenden Fragen irrte, konnte das auch ein zweites Mal und öfter geschehen. Darum müsse er schon beim ersten schweren Irrtum die „letzte Folgerung“ ziehen und abdanken. Aus dieser Einstellung resultierte eine geradezu „panische Angst“ vor Meinungsänderungen. [125] Das machte die Weltanschauung so wichtig, denn je fundierter sie war, desto geringer war die Gefahr von politischen Irrtümern. Dann brauchte der Führer seine Anschauungen nicht mehr zu ändern, sondern nur weiterzuentwickeln. „Sein Lernen wird kein prinzipielles Umlernen mehr sein, sondern ein Hinzulernen, und seine Anhänger werden nicht das beklommene Gefühl hinunterwürgen müssen, von ihm bisher falsch unterrichtet worden zu sein, sondern im Gegenteil: das ersichtliche organische Wachsen des Führers wird ihnen Befriedigung gewähren, da sein Lernen ja nur die Vertiefung ihrer eigenen Lehre bedeutet.“ Darum verlangte Hitler, dass man Politiker erst mit 30 Jahren werden dürfe, wenn die eigene Anschauung ausgebildet war. [126]

Ein besonderer Glücksfall der Geschichte war es, wenn Programmatiker und Politiker sich in einer Person verkörperten. „Innerhalb langer Perioden der Menschheit kann es dann einmal vorkommen, dass sich der Politiker mit dem Programmatiker vermählt“. [127] Diese Verschmelzung nahm Hitler für sich selber in Anspruch. Er behauptete, dass seine Wiener Vorkriegsjahre die unerschütterliche Basis seines späteren Handelns gelegt hätten: „Wien aber war und blieb für mich die schwerste, wenn auch gründlichste Schule meines Lebens. (…) Ich erhielt in ihr die Grundlagen für eine Weltanschauung im großen und eine politische Betrachtungsweise im kleinen, die ich später nur noch im einzelnen zu ergänzen brauchte, die mich aber nie mehr verließen.“ [128]

Eine hegemoniale Programmatik

Ausgearbeitet während der Festungshaft in einem vorübergehenden Wellental der Klassenkämpfe – nach Beendigung der Nachkriegskrise und vor Einsetzen der Agrar- und Weltwirtschaftskrise – diente das Werk, wie Hitler im Vorwort formulierte, zur „gleichmäßigen und einheitlichen Vertretung“ der nationalsozialistischen Lehre. Nach seiner Entlassung aus der Festungshaft musste er zunächst die inzwischen im Zerfall begriffene Partei wieder festigen und neu aufbauen. Auch dazu diente Mein Kampf. Auf die darin niedergelegten „Grundsätze“ und „Ziele“ der Bewegung war die nationalsozialistische Bewegung und vor allem ihre Führung eingeschworen. Und von dieser in sich geschlossenen Programmatik sollte Hitler später abgeschwenkt sein und freiwillig oder unfreiwillig im Dienste des Kapitals eine ganz andere Politik verfolgt haben? Ernsthaft ist nicht zu behaupten, dass er in den ca. 20 Jahren nach der Niederschrift seines zentralen Werks ein anderes Weltbild entwickelt und umgesetzt hat.

Der Nationalsozialismus verknüpfte eine auf agrarisch-rassischen Grundlagen fußende Weltanschauung mit einer außenpolitischen Großstrategie sowie einer sozialen und politischen Programmatik, in deren Mittelpunkt der Staat stand und die ein breites Klassenbündnis ermöglichte:

  • die Bauern erhielten mit der Autarkie Schutz vor der Weltmarktkonkurrenz und damit vor der Agrarkrise; sie wurden ins Zentrum von Gesellschaft und Staat gerückt; ihren Söhnen und den Landarbeitern winkte unbegrenztes Siedlungsland im Osten;
  • dem alten Mittelstand verhieß diese Programmatik gleichfalls Schutz vor der Krise und vor der Konkurrenz der „Großen“, der übermächtigen Aktiengesellschaften wie der jüdischen Warenhäuser; die Handwerker rückten neben den Bauern ins Zentrum der Gesellschaft;
  • den Arbeitern wurde durch die Verbindung mit dem Staat staatlicher Schutz vor Unternehmerwillkür, Niederreißung der Standesschranken, gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen, Hebung des Lebensstandards geboten;
  • die neuen Mittelschichten konnten auf den Ausbau des Staatsapparats setzen bzw. sahen sich als künftige „Privatbeamte“ gesichert; alter wie neuer Mittelstand konnten außerdem direkt von einer Entfernung der Juden profitieren.

Ebenso wichtig war eine zweite Funktion dieser Programmatik. Nach dem niedergeschlagenen Münchener Putsch von 1923 hatte Hitler die Schlussfolgerung gezogen, dass eine Machtergreifung nur auf legalem Wege möglich sei. Dafür brauchte er die Zustimmung der herrschenden Klassen, und dies umso mehr, als der Rückgang der Wählerstimmen Ende 1932 signalisierte, dass die NSDAP keine eigene Mehrheit im Parlament gewinnen würde. Die Programmatik ließ auch für ein solches Zusammengehen mit den herrschenden Klassen Raum.

Im Prinzip resultierte aus der bäuerlichen Fundierung die Gegnerschaft gegen den Großgrundbesitz. Dem entsprach die Bodenreform-Forderung des Parteiprogramms, über die es regelmäßig zu Auseinandersetzungen kam. Aber schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler die „innere Kolonisation“, die auf die Enteignung von Junkergütern im Osten zugunsten der Ansiedlung von Kleinbauern hinauslief, als zwar gutgemeint, aber gänzlich unzureichend verworfen, weil damit kein „Lebensraum“ gewonnen war. [129] Der Nationalsozialismus an der Macht brauchte die Rittergüter darum nicht anzutasten und blieb seinem Hauptziel trotzdem treu. Für die Bourgeoisie war die Befürwortung des Privateigentums an Produktionsmitteln die Grundbedingung für eine Bejahung der Kanzlerschaft Hitlers. Beide Klassen zielten schließlich auf die militärische Wiedererstarkung Deutschlands und die Revision des ersten Weltkriegs, die mithilfe der nationalsozialistischen Massenbewegung näher rückte. Obwohl der Nationalsozialismus ein anderes Klassenwesen mit einer im Kern antibürgerlichen und antijunkerlichen Stoßrichtung trug, konnte er also mit beiden Klassen Kompromisse eingehen.

Der Grundirrtum des Marxismus

Die Tatsache, dass die ersten Jahre von Hitlers Kanzlerschaft die offenkundige Billigung des großen Kapitals fanden, bildete den Hintergrund, vor dem die Kommunistische Internationale den Faschismus als „offen terroristische Herrschaft der reaktionärsten Kräfte des Finanzkapitals“ betrachtete, wie der VII. Weltkongress der Komintern es 1935 formulierte. Damit beendete die Komintern politisch die Strategie des Kampfes „Klasse gegen Klasse“ und eröffnete die Möglichkeit antifaschistischer Bündnisse bis hin zu den „fortschrittlichen“ Teilen der Bourgoisie. Theoretisch war diese Definition jedoch von Anfang an falsch. Ihren Grundmangel teilte sie mit der vorangegangenen Politik „Klasse gegen Klasse“: fixiert auf die Entwicklung des Kapitals, ohne gleichzeitig seine Nichtentwicklung zu sehen, finden weder Bauern noch Handwerker noch junkerliche Großgrundbesitzer in ihr Platz, sondern existieren lediglich Bourgeoisie und Proletariat.

Um zu einem richtigen Begriff zu gelangen, musste der Marxismus von der apriorischen Festlegung auf den „bürgerlichen“ Charakter des Nationalsozialismus Abschied nehmen. Aber so wenig die deutschen Kommunisten den Nationalsozialismus lange Zeit in der Praxis ernst nahmen, so wenig nimmt die marxistische Geschichtsschreibung ihn bis heute in der Wissenschaft ernst, sondern betrachtet ihn als eine Funktion des Kapitals. Daraus resultiert eine Haltung, die Wolfgang Ruge, ein führender Faschismusforscher der vergangenen DDR, 1983 in die Worte kleidete, dass in bestimmten Situationen „einfältige, ordinäre oder gar lächerliche Personen von einer reaktionären Klasse oder Schicht vorgeschoben, gestützt und in eine Position gebracht werden, von der aus sie historische Wirksamkeit zu erlangen vermögen.“ Adolf Hitler war seiner Meinung nach durch ein „übersteigertes Geltungsbedürfnis“ getrieben und brachte so viele weitere intellektuelle und charakterliche Mängel mit, dass er schließlich für die Bourgeoisie interessant werden musste: „obskurer Schicksalsglaube auf der Basis einer erbärmlichen Halbbildung, mit Labilität gepaarte Besessenheit, Geschwätzigkeit und Schwadroniersucht als Kehrseite einer in Hektik ausartenden Tatenfurcht, mit schlauer Anpassungsfähigkeit gekoppelte maßlose Selbstüberschätzung, Skrupellosigkeit und Missachtung fremden Lebens. Diese Eigenschaften … ließen Hitler schließlich zur Gallionsfigur einer Klasse werden, die historisch abgewirtschaftet hatte und sich nur noch mit grenzenloser Brutalität und nicht mehr zu überbietender Unmenschlichkeit an der Macht halten konnte.“ [130]

Diese Einschätzung ist an Inhaltsleere und Ignoranz „nicht mehr zu überbieten“, aber nichtsdestotrotz charakteristisch für fast die gesamte marxistische Faschismusforschung. Der „historisch abgewirtschafteten Klasse“ der deutschen Bourgeoisie wird eine Größe angedichtet, die sie nicht einmal im Verbrechen besessen hat. Umgekehrt wird dem Nationalsozialismus eine eigenständige Zielsetzung abgesprochen und wird speziell Adolf Hitler, dieser „ungewöhnliche programmatische Geist“, der „zugleich eine ungewöhnliche politische Kraft“ war, [131] mit einer Geringschätzung abgetan, die es nur mit der Selbstgefälligkeit aufnehmen kann, die aus den obigen Sätzen spricht.

Wem die aus dem politischen Kampf geborene Definition des VII. Weltkongresses der Komintern allzu vereinfachend vorkam, konnte auf den Faschismusbegriff von Brandler und Thalheimer zurückgreifen, den führenden Köpfen der Kommunistischen Partei/Opposition (KPO). Sie fassten den Nationalsozialismus als „Bonapartismus“ auf und kamen damit seiner Selbständigkeit erheblich näher. Da sie das NS-Regime aber ebenfalls als – wenngleich indirekte – Herrschaft des Monopolkapitals betrachteten, führte auch diese Definition in eine Sackgasse. Als die Jugend- und Studentenbewegung zu einem Neuaufschwung auch der kommunistischen Bewegung führte, sorgte die kritische Theorie mit ihrem Satz „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen“ dafür, dass es schon aus moralischen Gründen ausgeschlossen blieb, Faschismus und Kapital voneinander zu trennen. In welcher Variante auch immer – jenseits aller sonstigen Differenzen war man gemeinsam der Überzeugung, dass „der Faschismus“ eine „Form bürgerlicher Herrschaft“ war, wie der Titel eines weitverbreitetes Buch von Reinhard Kühnl lautete, [132] der damit das ideologische Credo der Linken zusammenfasste.

Auf diesen Horizont festgelegt, konzentrierte man sich darauf, das Zusammenwirken des Kapitals mit dem Nationalsozialismus zu untersuchen, und hier gab es genug aufzudecken. Die deutsche Bourgeoisie war schon am Ende des ersten Weltkriegs unfähig gewesen, die Republik zu erkämpfen; sie musste ihr von den Arbeitern und Soldaten in den Schoß gelegt werden. Sie war am Ende der Republik unfähig, die bürgerliche Herrschaftsordnung zu verteidigen und überantwortete ihr Schicksal den Nationalsozialisten. Aber sie war an der Seite der Nazis zur Beteiligung an jedem Verbrechen fähig, wenn es einen Gewinn versprach. Weder bei der Verwertung des Vermögens der vertriebenen Juden, noch bei der Ausplünderung der besiegten Länder noch erst recht bei der millionenfachen Sklavenarbeit von Juden und Kriegsgefangenen hatte sie Skrupel, sich an den Opfern zu bereichern. Und während aus den Reihen der Arbeiterklasse Zehntausende ihren Kampf gegen die Nazis mit dem Tod bezahlten und selbst die Junkerschaft im Juli 1944 aufbegehrte, als der Krieg die ostpreußischen Rittergüter in Gefahr brachte, war die Bourgeoisie zu keiner eigenen Widerstandsaktion fähig, sondern bestand ihr Beitrag darin, sich an die Rockschöße der Junker zu hängen. Darum bot sich ein weites Feld der Entlarvung und Kritik des Kapitals, auf dem man von Sieg zu Sieg eilen konnte. Aber dem Wesen des Nationalsozialismus kam man um kein Jota näher und merkte nicht, dass man aus jeder gewonnenen Schlacht schwächer hervorging.

Bis zur Auflösung der Sowjetunion konnten die Marxisten mit der alten Faschismustheorie noch einigermaßen auskommen, wenngleich immer bescheidener, weil das rückwärtsgerichtete Wesen des Nationalsozialismus mit dem allgemeinen Niedergang, der „Stagnation und Fäulnis“ des Imperialismus erklärt werden konnte. Dagegen stehen die heutigen Marxisten vor dem Problem, nicht den Niedergang des Monopolkapitalismus, sondern den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft, das Verschwinden des Faschismus und den Untergang des Sozialismus erklären zu müssen.

Der Weg der bürgerlichen Forschung

Angesichts eines Marxismus, der sich selber zur Ideologie gemacht hatte, mussten die entscheidenden Anstöße zur wissenschaftlichen Ergründung des Nationalsozialismus aus der bürgerlichen Forschung kommen. Hier stand am Beginn die Einschätzung Hitlers als „Opportunist“, als skrupelloser, reiner Machtpolitiker ohne Moral und ohne Programm, der allen alles versprach und jede sich bietende Gelegenheit zur Machterweiterung um ihrer selbst willen nutzte. Anders konnte man sich weder die Kompromisspolitik gegenüber den unterschiedlichen Klassen und Schichten erklären, noch erst recht die scheinbar ziellose Sprunghaftigkeit in der Außenpolitik, die von den Angeboten an Großbritannien über den Moskauer Vertrag von 1939 bis zum Krieg mit der ganzen Welt führte.

Dann rekonstruierten einige westdeutsche Historiker mit Andreas Hillgruber und Dieter Hildebrand an der Spitze, dass die nationalsozialistische Reichsführung zumindest in der Außenpolitik einem „Programm“ gefolgt war, dessen Umsetzung zwar mit größter Flexibilität, ja im Zickzacklauf erfolgte, aber zum unwiderruflichen Ziel die Eroberung von Lebensraum im Osten hatte. [133] Eberhard Jäckel wies nach, dass die Kriegs- und Rassenpolitik einander bedingten und ihre Fundierung in einer geschlossenen Weltanschauung besaßen, die in „Mein Kampf“ ausgearbeitet war. Wiederum Andere wie Heinrich August Winkler oder Henry Ashby Turner schlussfolgerten, dass die Reagrarisierung das eigentliche Ziel des Nationalsozialismus gewesen sei.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik dagegen war lange Zeit eine auf der nationalsozialistischen Weltanschauung beruhende Linie nicht sichtbar. Hitler und der Nationalsozialismus galten im Gegenteil als ebenso ahnungs- wie konzeptlos und desinteressiert. Lediglich einzelne Arbeiten am Rande des Hauptstroms der Debatte deuteten darauf hin, dass das anders aussah. In diese Lücke stieß Zitelmann. Andere hatten schon vor ihm auf die „modernisierenden“ Wirkungen des Nationalsozialismus hingewiesen, sie jedoch als unbeabsichtigte Kriegsfolgen eingestuft. Nunmehr sichtete Zitelmann – was bis dahin niemand getan hatte – die offiziellen Reden und Schriften Adolf Hitlers, verglich sie mit den inoffiziellen Äußerungen im internen Kreis (Tischgespräche, Monologe im Führerhauptquartier) und maß sie punktuell an vorhandenen Forschungsergebnissen zur inneren Politik des Dritten Reichs. Dadurch konnte er nachweisen, dass der Abbau von Standesschranken, die Befürwortung der technischen Entwicklung und des Konsums ebenso wie die Gegnerschaft gegen das Bürgertum und die Förderung der unteren Klassen keineswegs bloße Propagandaäußerungen oder unwillkommene Nebenfolgen des Kriegs gewesen waren, sondern die erklärte und in Ansätzen verwirklichte Zielsetzung des Regimes, wenn auch die Umgestaltung der Gesellschaft im Großen erst nach dem gewonnenen Krieg stattfinden sollte. Insoweit war ein weiterer Schritt voran in der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus getan.

Klassenbündnisse für und gegen die „Moderne“

Aber Zitelmann war nicht in der Lage, die Ergebnisse seiner Untersuchung mit den Forschungsergebnissen in der Rassen- und Außenpolitik in Einklang zu bringen. Um einen Zusammenhang herzustellen, fiel er im Gegenteil hinter den Stand der Wissenschaft zurück, erklärte die agrarischen Züge des Nationalsozialismus für eine vorübergehende Erscheinung, spielte die Bedeutung des Rassismus herunter, nahm eine Umwertung der Kriegspolitik vor, betrachtete den Kampf mit der Sowjetunion wesentlich als Rohstoffkrieg für die Industrie, taufte die weiterhin vorhandenen Unvereinbarkeiten in „dialektische Gegensätze“ um und konnte so den Nationalsozialismus als die „totalitäre Möglichkeit der Moderne“ fassen. An dieser Stelle hat Lehmann, zu seiner Ehrenrettung sei es gesagt, den Widerspruch wenigstens benannt, der darin liegt, dass der angeblich moderne Nationalsozialismus eine „germanische“ Gesellschaftsordnung anstrebte. Das hinderte Lehmann aber nicht daran, ihn als einen „mit totalitären Mitteln vorgenommenen Aufbruch in die Moderne“ zu charakterisieren. Darum hat Grabow dem Wesen der Sache nach recht gegen Lehmann, wenn er statt dessen den agrarischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie und Politik benennt. Das Dritte Reich verkörperte in der Tat keinen neuen Zugang zur Moderne – weder in ihrer bürgerlichen noch in ihrer proletarischen Form -, sondern stellte den Versuch eines „Dritten Wegs“ jenseits davon dar.

Aber Grabow hat unrecht, wenn er die angestrebte Reagrarisierung unter der Hand als Rückkehr in die mittelalterliche Vergangenheit auffasst. Die Hinwendung zu den Bauern erfolgte unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts, d. h. der großen Industrie und der Massendemokratie. Daraus folgte ökonomisch die Kombination von agrarischer Fundierung und industrieller Entwicklung der Gesellschaft, klassenmäßig das Bündnis von Bauern und Kleinbürgern mit der Arbeiterschaft in der Programmatik und Politik des Nationalsozialismus.

In Russland wie in Deutschland wurde die Antwort auf die Herausforderungen einer Umbruchperiode in der Konzeption eines Bündnisses der entscheidenden Klassen der alten und der neuen Gesellschaft – Bauernschaft und Arbeiterklasse – gegen die herrschenden Mächte gesucht. Aber während dieses Bündnis in dem „zurückgebliebenen“ Russland unter Führung des Proletariats um den Durchbruch zum Sozialismus kämpfte, wollten die Nationalsozialisten in dem „fortgeschrittenen“ Deutschland einen bäuerlich geführten, völkischen Massenstaat gegen die Moderne errichten. Dieser Versuch ist im Vernichtungskampf mit der UdSSR gescheitert. Die Tragik der Geschichte wollte es, dass der sowjetische Arbeiter- und Bauernstaat durch die dabei gebrachten Opfer auf der Schwelle zur Moderne stehen blieb, während Deutschland durch die Niederlage den Weg in eine stabile bürgerliche Ordnung fand.