Asiatische, feudale oder kapitalistische Gesellschaft?

Vorbemerkung zur Neuveröffentlichung

Der hier neu veröffentlichte Aufsatz stammt aus dem von Heiner Karuscheit und mir veröffentlichten Buch „Von der Oktoberrevolution zum Bauernsozialismus – Aufsätze über die Klassenkräfte an den Wendepunkten der russisch-sowjetischen Geschichte“ von 1993. Der Text ist somit über dreißig Jahre alt und spiegelt damit nicht den heute gegeben Forschungsstand zur russischen und sowjetischen Geschichte wider. Heiner und ich haben zu diesen Themen 2017 ein weiteres Buch „Das Revolutionsjahr 1917“ im VSA-Verlag veröffentlicht, in dem wir unsere Positionen von 1993 weiterentwickelt und teilweise präzisiert haben.

Da die Veröffentlichung von 1993 vergriffen und auch antiquarisch kaum erhältlich ist, wird hier der Teil zur Geschichte Russlands und den damit verbundenen Fragen zur „asiatischen“ oder „feudalen“ Prägung Russlands neu veröffentlicht, der im Buch von 2017 nicht weiter behandelt wurde. Zu diesem Teil des Buches gab es in der Vergangenheit Nachfragen und Bezugnahmen.

Der Text wird im Wesentlichen unverändert wiedergegeben, korrigierte Begrifflichkeiten bzw. Überleitungen sind in eckige Klammern gesetzt und so für den Leser kenntlich gemacht. Weiterhin wurden Zwischenüberschriften zur Gliederung des Textes eingefügt.

Zwei Kapitel des Ursprungstextes wurden gekürzt bzw. ganz gestrichen („Einige Bemerkungen zur weiteren Entwicklung des Moskauer Staates“ und „Die Stalinsche Definition des Feudalismus“), da sie entweder zu kursorisch oder weitgehend eine unnötige Wiederholung von bereits behandelten Themen beinhalteten.

Dafür wurde ein Einschub aus meinem Artikel in den AzD Nr. 90 von Oktober 2019 aufgenommen und entsprechend kenntlich gemacht. Der Einschub wird dem deutlich älteren Text von 1993 beigefügt, um die dort offen gelassene Frage nach dem Ursprung der russischen Dorfgemeinde und die Positionen von Marx und Engels herauszuarbeiten. Zugleich macht dieser Einschub deutlich, dass die Herausbildung von Leibeigenschaft und Dorfgemeinde zeitlich später stattfand als in meinem Text von 1993 dargestellt. Zur Neuveröffentlichung dieses dreißig Jahre alten Textes schien es mir sinnvoll, den Leser auf die Mängel und Unzulänglichkeiten des damaligen Textes gerade in der zentralen Frage – der russischen Dorfgemeinde und ihrer Entstehungsgeschichte – aufmerksam zu machen und auf den aktuelleren Forschungsstand hinzuweisen.


Meine Ausführungen in den AzD Nr. 90 stützen sich dabei hauptsächlich auf die 2003 veröffentlichten Studien von Carsten Goerke zum „Russischen Alltag“ in drei Bänden sowie Manfred Hildermeier, „Geschichte Russlands“, München 2013.

Ebenso möchte ich den an diesen Themen interessierten Leser auf eine weitere Veröffentlichung aus dem Jahr 2003 hinweisen:
Michael Mitterauer, „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“, C.H. Beck, München 2003. Hier wird die Frage des europäischen Sonderwegs auch im interkulturellen Vergleich behandelt und deutlich umfassender als in meinem Text dargestellt.

Alfred Schröder
Juli 2022

I. Gorter, Pannekoek, Wittfogel und Dutschke – die „asiatische“ Interpretation der russischen Revolution

„Selbst wenn man annehmen würde, dass es einer Handvoll von Revolutionären gelänge, dank einer besonderen Konstellation der Umstände die Macht infolge eines Staatsstreichs zu übernehmen, so könnten sie doch angesichts der ungenügenden Entwicklung des russischen Kapitalismus keine sozialistische Ordnung herbeiführen.“ Das Ergebnis einer solchen Umwälzung, schrieb Plechanow prophetisch in „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ (1885), wäre ‚“eine politische Missgeburt nach dem Muster des alten chinesischen oder persi­schen Reichs, also ein Wiederaufguss des zaristischen Despotismus auf kom­munistischer Grundlage.“1

Da die russische Oktoberrevolution gänzlich andere Ergebnisse zeitigte als ihre politischen Führer sie erhofft hatten, wurde sie unvermeidlich Zielscheibe von Kritiken im Geiste der zitierten „Prophetie“ Plechanows. An die Stelle der europäischen Revolutionen, die die russische Erhebung hätten „vollenden“ sol­len, waren ja im 20. Jahrhundert die national- und sozialrevolutionären Bewe­gungen der „Völker des Ostens“ getreten. Gehörte damit Russland und seine Revolution gar nicht zur Entwicklungsgeschichte des europäischen Kontinents, sondern vielmehr zu der Asiens? War die Geschichte Russlands wie auch spä­terhin die der Sowjetunion keineswegs durch die Orientierung an der europäischen Geschichte zu verstehen, sondern nur als eine spezifische Erscheinung der asiatischen Gesellschaftsstruktur und Geschichte zu erfassen?

War der europäisch geprägte russische Marxismus – sicherlich von seinen Vertretern gänzlich ungewollt, aber durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt – gezwungen, Führer einer „asiatischen“ Revolution zu werden, die auf dem Boden „asiatischer Produktionsverhältnisse“ unvermeidlich zur Aufrichtung einer „asiatischen Despotie“ führen musste? Dieser Gedanke wurde wiederholt in die Debatte über den Charakter der russischen Gesellschaft und die Entwicklung der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution hineingetragen. Ihre theoretisch prominentesten Vertreter – zumindest im deutschsprachigen Raum – sind Karl A. Wittfogel und Rudi Dutschke. Vorläufer dieser Interpretation waren in der politischen Debatte die beiden „Linkskommunisten“ der zwanziger Jahre, Gorter und Pannekoek. Im Folgenden sollen ihre jeweiligen Gedanken kurz vorgestellt werden, um anschließend die Realitätstauglichkeit dieser Ansätze an der russischen Geschichte zu überprüfen.

Gorter und Pannekoek

Zu Beginn der zwanziger Jahre, nach dem Ende des sog. „Kriegskommunismus“, der Zerschlagung des Kronstädter Aufstands und der sich abzeichnenden Niederlage der westeuropäischen Arbeiterbewegung bei ihrem revolutionären Ansturm gegen die alten Mächte, formierte sich im euro­päischen Marxismus eine linke Strömung der Kritik am Bolschewismus. Einen interessanten Gedanken formulierte der holländische Rätekommunist Herman Gorter in seinem „Offenen Brief an den Genossen Lenin“:

„Wenn man vom Osten Europas her nach Westen wandert, überschreitet man an einer gewissen Stelle eine ökonomische Grenze. Sie läuft von der Ostsee zum Mittelmeer, ungefähr von Danzig nach Venedig. Diese Linie scheidet zwei Welten voneinander. Denn westlich dieser Linie herrscht das Industrie-, Handels- und Finanzkapital, fast absolut (…) Östlich dieser Linie besteht weder diese riesige Entwicklung des konzentrierten Industrie-, Handels-, Transport- und Bankkapitals noch seine fast absolute Vorherrschaft, noch infolgedessen der festgefügte moderne Staat. Es wäre ein Wunder, wenn die Taktik des revolutionären Proletariats westlich dieser Linie dieselbe sein würde wie die im Osten.“2

Gorters Schlussfolgerungen für die „Taktik“ sollen uns im Folgenden nicht weiter interessieren. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation, „die ökonomische Grenze“, die Europa trennt und seinen Worten nach sogar „zwei Welten voneinander (scheidet)“, bleibt in seinem Text auf die obige Passage beschränkt. Näheres über die Grundlagen dieser Spaltung erfahren wir bei seinem Kampfgefährten Pannekoek, der ihre Ursache in dem asiatischen Charakter Russlands ausmacht. „Russland ist nicht nur der östliche Teil Europas, sondern – nicht nur geographisch, sondern auch ökonomisch-politisch – in viel höherem Maße der westliche Teil Asiens. Das alte Russland hatte mit Europa wenig gemeinsam; es war das am weitesten nach Westen liegende jener politisch-wirtschaftlichen Gebilde, die Marx als „Orientalische Despotien“ bezeichnete und zu denen alle großen und alten Riesenreiche Asiens gehörten. In ihnen erhob sich auf der Grundlage des Dorfkommunismus eines überall nahezu gleichartigen Bauerntums eine unbeschränkte Fürsten- und Adelsmacht, die sich außerdem auf einen relativ geringen, aber wichtigen Handelsverkehr mit einfachem Handwerk stützte.“3 Gorter konstatiert „zwei Welten“ in Europa, ohne näher auf ihre Geschichte und die Geschichte ihrer sozialökonomischen Struktur einzugehen. Warum gab es diese beiden unterschiedlichen Entwicklungen in Europa, die Gorter feststellt und die mit den Ereignissen des Jahres 1917 eine erneute Bestätigung erfahren hatten?

Pannekoek verweist auf einen asiatischen Charakter Russlands in seiner sozia­len und politischen Struktur. Den Unterschied zwischen der östlichen und der westlichen Hälfte des eurasischen Kontinents definiert er folgendermaßen: In den Ländern Westeuropas „hat die alte bürgerliche Produktionsweise und die damit zusammenhängende hochentwickelte bürgerliche Kultur vieler Jahrhun­derte dem Denken und Fühlen der Volksmassen völlig ihren Stempel aufge­prägt. Dadurch ist der geistige und innere Charakter der Volksmassen hier ganz anders als in den östlichen Ländern, die diese Herrschaft bürgerlicher Kultur nicht kannten. Und darin liegt vor allem der Unterschied in dem Verlauf der Revolution im Osten und im Westen. In England, Frankreich, Holland, Italien, Deutschland, Skandinavien lebte vom Mittelalter her ein kräftiges Bürgertum mit kleinbürgerlicher und primitiv kapitalistischer Produktion; indem der Feudalismus zerschlagen wurde, wuchs auf dem Lande ein ebenso kräftiges, unabhängiges Bauerntum empor, das auch Meister in der eigenen kleinen Wirtschaft war. Auf diesem Boden entfaltete sich das bürgerliche Geistesleben zu einer festen nationalen Kultur, vor allem in den Küstenstaaten England und Frankreich, die voran in der kapitalistischen Entwicklung schritten. Der Kapitalismus im 19. Jahrhundert hat mit der Unterwerfung der ganzen Wirtschaft unter seine Macht und mit der Hineinziehung der fernsten Bauernhöfe in seinen Kreis der Weltwirtschaft diese nationale Kultur gesteigert, verfeinert und mit seinen geistigen Propagandamitteln, Presse, Schule und Kirche, fest in die Köpfe der Massen eingehämmert. (…) Ganz anderes Material und andere Traditionen fand der Kapitalismus vor, als er in die östlichen Länder Europas eindrang. Hier, in Russland, Polen, Ungarn, auch in Ostelbien, war keine kräftige bürgerliche Klasse, die von altersher das Geistesleben beherrschte; die primitiven Agrarverhältnisse mit Großgrundbesitz, patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus bestimmten das Geistesleben.“4

Wir finden hier bereits fast den gesamten theoretischen Ansatz von der „ideologischen Hegemonie“ A. Gramscis5 vorweggenommen, der die europäi­sche kleinbürgerliche Linke in den vergangenen 20 Jahren faszinierte und ihren Übergang zum Reformismus legitimieren sollte. Im Gegensatz zu Gramsci versuchte Pannekoek, seinen Gedanken auch materialistisch zu begründen. Im Westen Europas fuße die „ideologische Hegemonie“ der Bourgeoisie auf der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise, die insbesondere die Agrarverhältnisse umgestaltet habe, während dieselben im Osten „primitiv“, vom „patriarchalischem Feudalismus und Dorfkommunismus“ bestimmt gewesen seien. Dementsprechend schwach sei dort auch die „ideologische Hegemonie“ der Bourgeoisie, dementsprechend leicht die „ideologische Hegemonie“ für das Proletariat zu erringen.

So interessant und mit der Oberfläche des gesellschaftlichen und politischen Lebens durchaus übereinstimmend Pannekoeks Ansatz erscheint, so ist er doch theoretisch unbefriedigend. In ein und derselben Arbeit bezeichnet er die Verhältnisse in Russland einmal als „asiatisch“, Russland als „asiatische Despotie“; ein andermal kennzeichnet er sie als „patriarchalische(n) Feudalismus“, ohne diese Wirtschafts- bzw. Herrschaftsform näher zu bestimmen. Ursache dieser theoretischen Oberflächlichkeit ist das gemeinsame Anliegen Gorters und Pannekoeks, ihre taktischen Schlussfolgerungen für den politischen Tageskampf theoretisch zu legitimieren. Ein weitergehendes theoretisches Interesse an der Frage der europäischen, russischen oder asiatischen Gesellschaftsstruktur lag bei beiden Autoren nicht vor. Beide, Gorter wie Pannekoek, vertieften ihren zitierten theoretischen Ansatz daher auch nicht weiter, da – in einer Zeit revolutionärer Massenkämpfe – ihr Interesse verständlicherweise hauptseitig den Fragen der Taktik und nicht der marxistischen Theorie galt.

Wittfogel und die asiatische Produktionsweise

Was Gorter und Pannekoek nur konstatierten, versuchte Karl A. Wittfogel theo­retisch zu begründen. Wittfogel und später in seinem Gefolge Rudi Dutschke brachte mit dem Gedanken einer „asiatischen Produktionsweise“ und der „asiatischen Despotie“ das Problem einer andersgearteten russischen Gesell­schaft zurück in die theoretische Debatte. Wittfogel hatte die sog. „hydraulischen Gesellschaften“ näher untersucht, in denen der Staat direkt aus der Stammesgesellschaft hervorwächst und eine unabdingbare Notwendigkeit der Produktion (Wasserregulierung etc.) darstellt. In Russland war – wie wir noch sehen werden – die Staatsbildung keine Voraussetzung der agrarischen Produktion, ebenso wenig wie der Staat direkt aus der Stammesgesellschaft hervorwuchs. Wittfogel selbst rechnet daher den ersten russischen Staat, den „Kiewer Rus“ (etwa 880 bis 1169), zur „frühfeudalen und feudalen Welt Europas.“6

Trotzdem sucht er sein Modell der „hydraulischen Gesellschaften“ der großen Flusskulturen, auf Russland zu übertragen. Ansatzpunkt hierfür bietet ihm die 240jährige Mongolenherrschaft (1240 bis 1480) nach dem Untergang des „Kiewer Rus“. Sie habe den asiatischen Despotismus und die „agrarmanageriale Gesellschaft“ – bei Wittfogel nur ein anderer Ausdruck für seine „hydraulische Gesellschaft“ – auch in Russland eingeführt. So sei in Russland die asiatische Despotie ohne die natürlichen Voraussetzungen der hydraulischen Gesellschaften entstanden. In Wittfogels Worten: „Alle historisch bedeutsamen Agrardespotien, die keine hydraulischen Funktionen erfüllen, scheinen von hydraulischen Gesellschaften ihren Ausgang genommen zu haben. (…) In diesem Falle verwenden und übertragen die Eroberer organisatorische und fiskalische Methoden der hydraulischen Staatskunst, obwohl sie selbst kaum Landwirtschaft treiben – nicht einmal in hydraulischer Form. Als Nomaden können sie unter Umständen diese Methoden auf Gebiete übertragen, die von den politischen und kulturellen Grenzen der nächsten größeren hydraulischen Zone weit entfernt sind. In der Eroberung Russlands durch die Mongolen geschah beides.“7

Die Mongolen werden so bei Wittfogel zu Begründern einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung in Russland, der „marginal-agrarmanagerialen Gesell­schaft“. Dieses neue Wortungetüm bedeutet einzig, dass in Russland weder die natürlichen noch die gesellschaftlichen Voraussetzungen der „hydraulischen Gesellschaften“ anzutreffen waren, die Entstehung eines vergleichbaren Gesellschafts- und Staatstypus aber der Randlage (marginal) zu eben jenen „hydraulischen Kulturen“ geschuldet war, wobei die besagten Mongolen die Vermittlerrolle spielten.

Wittfogels Argumentation fehlt eine nähere Beschäftigung mit den konkreten Fakten der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Russlands. Seine These, dass Russland sich von einer feudalen Gesellschaft europäischen Typs (zwischen 900 und 1200) zu einer asiatischen Gesellschaft vermutlich chinesi­schen Typs (von 1240 bis 1989) entwickelte, ist zweifelsfrei originell, stimmt aber, wie wir im Weiteren noch sehen werden, mit den Fakten der russischen Geschichte nicht überein.

Rudi Dutschke und der „asiatische Feudalismus und -Kapitalismus“

Während Wittfogel wenigstens die sog. „hydraulischen Gesellschaften“ unter­sucht hatte und seine Ergebnisse m.E. unzulässig auf die von ihm nicht unter­suchten russischen Verhältnisse übertrug, versuchte Rudi Dutschke, die Klassiker des Marxismus im Lichte der Wittfogelschen Analysen zu interpretieren. Ausgangspunkt hierfür bildete ihm die Marxsche Schrift „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“,8 die in den osteuropäischen Werkausgaben von Marx und Engels nicht enthalten ist. Marx schreibt hier: „Im blutigen Schlamme mongolischer Sklaverei, nicht in der rohen Pracht der Normannenzeit, steht die Wiege Moskaus, und das moderne Russland ist nichts anderes als eine Umgestaltung Moskaus.“9 Von dieser mit Marxscher Autorität fundierten mongolischen Gründung des modernen Russlands leitet Dutschke im Kontext von Wittfogel die asiatische Prägung der russischen Wirtschafts- und Staatsverhältnisse her.

Das Fehlen der entscheidenden Faktoren der asiatischen (hydraulischen) Gesellschaften in Russland versuchte Dutschke durch die Einführung zweier neuer Begriffe zu lösen. An die Stelle der asiatischen Produktionsweise tritt bei Dutschke die halbasiatische, in Form des „asiatischen Feudalismus“ und des „asiatischen Kapitalismus“.10 Der sozialökonomische Inhalt jener neu aufgefun­denen Gesellschaftsformationen (asiatischer Feudalismus, asiatischer Kapita­lismus) bleibt dabei weitgehend im Dunkeln. Über die Beschäftigung mit den Werken von Marx, Engels und Lenin hinaus hat sich auch Dutschke keineswegs die Aufgabe gestellt, die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands in einem konkreten Vergleich zu den Verhältnissen im Westen Europas zu untersuchen. Dutschke beabsichtigte, aus dem „halbasiatischen“ Charakter Russlands die seines Erachtens fehlerhafte Leninsche Parteitheorie zu erklären, die für ihn die Quelle aller Fehlentwicklungen im revolutionären Marxismus bildete. Dieser ideologisch eingeengte Ansatz Dutschkes und seine Beschränkung auf eine Interpretation verschiedener Textstellen von Marx und Lenin machen seine Arbeit für die Bestimmung des konkreten Charakters der russischen Verhältnisse weitgehend wertlos.11

Dutschkes Versuch, die Auffassung von Marx und Engels zu den gesellschaftli­chen und politischen Verhältnissen in Russland zu rekonstruieren, führte ihn aber zu der interessanten Feststellung: „Beide konnten sich in letzter Konsequenz die Kategorie des Kapitalismus und der kapitalistischen Produktionsweise wie auch den Begriff des Feudalismus nur unter westeuropäischen Verhältnissen vorstellen.“12 Warum Marx wie auch Engels sich den Feudalismus und die kapitalistische Produktionsweise nur unter den westeuropäischen Verhältnissen „vorstellen“ konnten, wie Dutschke es formuliert, diese Frage verfolgt er nicht weiter. Hier aber wäre ein erster Ansatz für eine Lösung der Frage nach dem Charakter der russischen Gesellschaftsordnung zu finden gewesen. Dutschke aber begnügt sich mit jenen von ihm selbst nicht näher spezifizierten Begriffsneuschöpfungen des „asiatischen Feudalismus“ und des „asiatischen Kapitalismus“.

Aufgrund ihrer mangelnden Beschäftigung mit den wirklichen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Russlands können weder Wittfogels noch Dutschkes Arbeiten die Frage des Charakters der russischen Gesellschaftsfor­mation befriedigend klären. Ihr Verdienst besteht darin, den Blick erneut auf eine möglicherweise andere ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Russlands als Westeuropas gelenkt zu haben. Weiterhin trugen sie dazu bei, an die Auffassungen von Marx und Engels über die Unterschiedlichkeit der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung Westeuropas gegenüber dem Rest der Welt zu erinnern, die der offizielle Marxismus der osteuropäischen und asiatischen Staatenwelt weitgehend ignorierte.

Die sowjetische Geschichtsschreibung

Welche Gesellschaftsformation ist nun bestimmend für das vorrevolutionäre Russland? Die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung lässt hier keinen Zweifel aufkommen. So lesen wir in einem populären Dreiteiler „Geschichte der UdSSR“: „Die für die feudalen Verhältnisse charakteristischen gemeinsamen Züge im Leben der Völker, die das heutige Gebiet der UdSSR besiedelten, zeichneten sich mehr oder weniger deutlich gegen Mitte, besonders aber gegen Ende des 1. Jahrtausends ab. Transkaukasien und Mittelasien, die mit den Weltzentren der Sklavenhaltergesellschaft des antiken Europas und des Orients am engsten verbunden waren, gingen als erste, im 4. – 6. Jh., zur Feudalordnung über. Der altrussische Feudalstaat bildete sich später heraus – in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends u. Z., d.h. ungefähr zur gleichen Zeit wie die westeuropäischen Feudalstaaten.“13

Dieses Geschichtsbuch legt uns somit nahe, dass die russische Geschichte am Ende des Altertums mit der westeuropäischen Geschichte weitgehend parallel verlief. Ebenso wie im Westen des eurasischen Kontinents habe sich auch in Russland im 10. Jahrhundert eine feudale Gesellschaftsordnung herausgebildet. Hier wird – ganz in Übereinstimmung mit dem Marxismus-Kritiker Wittfogel – der „Kiewer Rus“ als feudale Staatsgründung begriffen. Ein Zurückbleiben Russlands hinter der Entwicklungsgeschwindigkeit des Westens wird dem 250jährigen Tatarenjoch angelastet. Deshalb bilde sich in Russland erst verspätet, im 19. Jahrhundert, die kapitalistische Produktionsweise als vorherrschende heraus. Die Bauernbefreiung des Jahres 1861 wird zumeist als entscheidendes Datum angeführt. Auch an dieser Stelle finden wir eine Übereinstimmung in der Argumentation – diesmal nicht mit Wittfogel, sondern mit Dutschke, für den das Jahr 1861 ebenfalls das Jahr des Umschwungs vom „asiatischen Feudalismus“ zum „asiatischen Kapitalismus“ darstellte.

Die hier kurz skizzierte Entwicklungsgeschichte Russlands ist mit gewissen Abweichungen Gemeingut fast aller marxistischen Strömungen. Erst seit einiger Zeit, bedingt durch den Zerfall der Sowjetunion, entwickelt sich eine neue Debatte über den Charakter der russischen Gesellschaft vor der Oktober­revolution. Wesentliche neue Gedanken sind bisher in dieser Debatte nicht auszumachen.14

Letztlich reduziert sich die Besonderheit Russlands in der bisherigen marxisti­schen Sicht auf jene durch das Tatarenjoch bedingte Verlangsamung der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Auffassung hält aber weder den gesellschaftlichen noch den politischen Tatbeständen der russischen Geschichte stand. Weder war die normannische Staatsgründung des „Kiewer Rus“ feudal, noch kann man den Begriff der Feudalität umstandslos auf die zweite Staats­gründung, den Aufstieg Moskaus zur vorherrschenden Macht in Russland, anwenden.

Wenn aber weder im ersten Jahrtausend, noch am Ausgang des Mittelalters (um 1500) in Russland eine feudale Gesellschaft bestand, dann muss zweifelsfrei für Russland von einem anderen als dem westeuropäischen Entwicklungsweg ausgegangen werden. Diese Problemstellung gilt es im Folgenden zu untersuchen.

Der „Kiewer Rus“ – ein Feudalstaat?

Wir hatten weiter oben geschrieben, dass in der Antwort auf die Frage, weshalb Marx wie Engels die Feudalität als etwas spezifisch Westeuropäisches begriffen haben, „ein erster Ansatz für eine Lösung des Problems nach dem Charakter der russischen Gesellschaftsordnung zu finden gewesen“ sei. Dies gilt es nun näher darzulegen und dabei zu entwickeln, warum die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus die feudale Gesellschaftsordnung als westeuropäisches Phänomen begriffen.

Marx definierte die Entstehung der Feudalität als einen spezifisch westeuropäi­schen Prozess, als er in dem Zusammentreffen von germanischer Heeresverfassung mit römischer Agrarkultur ihre eigentliche Geburtsstunde sah. „Die Feudalität“, schrieb Marx, „war keineswegs aus Deutschland fertig mitgebracht, sondern sie hatte ihren Ursprung von Seiten der Eroberer in der kriegerischen Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst, und diese entwickelte sich nach derselben durch die Einwirkung der in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte erst zur eigentlichen Feudalität. Wie sehr diese Form durch die Produktivkräfte bedingt war, zeigen die gescheiterten Versuche, andre aus altrömischen Reminiszenzen entspringende Formen durchzusetzen.“15

In derselben Arbeit entwickelt Marx diesen Gedanken an anderer Stelle noch etwas ausführlicher. Auch diese Passage wollen wir im Folgenden zusammen­hängend anführen, da der offizielle osteuropäische Marxismus mit dieser Argu­mentation Marxens „auf Kriegsfuß“ steht: „Wenn das Altertum von der Stadt und ihrem kleinen Gebiet ausging, so ging das Mittelalter vom Lande aus. Die Vorgefundene dünne, über eine große Bodenfläche zersplitterte Bevölkerung, die durch die Eroberer keinen großen Zuwachs erhielt, bedingte diesen veränderten Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu Griechenland und Rom beginnt die feudale Entwicklung daher auf einem viel ausgedehnteren, durch die römischen Eroberungen und die anfangs damit verknüpfte Ausbreitung der Agrikultur vorbereiteten Terrain. Die letzten Jahrhunderte des verfallenden römischen Reichs und die Eroberung durch die Barbaren selbst zerstörten eine Masse von Produktivkräften; der Ackerbau war gesunken, die Industrie aus Mangel an Absatz verfallen, der Handel eingeschlafen oder gewaltsam unterbrochen, die ländliche und städtische Bevölkerung hatte abgenommen. Diese vorgefundenen Verhältnisse und die dadurch bedingte Weise der Organisation der Eroberung entwickelten unter dem Einflusse der germanischen Heerverfassung das feudale Eigentum. Es beruht, wie das Stamm- und Gemeindeeigentum wieder auf einem Gemeinwesen, dem aber nicht wie dem antiken die Sklaven, sondern die leibeigenen kleinen Bauern als unmittelbar produzierende Klasse gegenüberstehen. Zugleich mit der vollständigen Ausbildung des Feudalismus tritt noch der Gegensatz gegen die Städte hinzu. Die hierarchische Gliederung des Grundbesitzes und die damit zusammenhängenden bewaffneten Gefolgschaften gaben dem Adel die Macht über die Leibeignen.“16

War das Altertum geprägt von seinen bedeutenden Städten, die zugleich Zentren des Handels, der Produktion und des politischen Lebens waren, geht für Marx das europäische Mittelalter „vom Lande aus“. Damit wurden Ackerbau und Viehzucht sowie das Grundeigentum die Angelpunkte sowohl für die Produktion als auch für das politisch-militärische Leben. Die „industrielle“ Produktion des Altertums verfiel mit den Städten, ebenso der Handel, der sich auf Überreste des Fernhandels reduzierte. Der Bauer betrieb Subsistenz­wirtschaft. Weder hatte er eine nahegelegene Stadt zu versorgen, noch lieferte eine Stadt ihm Güter für den eigenen Bedarf.

Das politisch-militärische Leben der Gesellschaft – im Altertum städtisch organisiert – verlagerte sich nun auf das Land, wurde an den Grundbesitz gebunden. Diese Entwicklung vollzog sich – im Gegensatz zum Altertum – „auf einem viel ausgedehnteren (…) Terrain“, welches durch die Verbreitung der römischen Agrikultur „vorbereitet“ war. Auf diesem Terrain siedelte der erobernde germanische Bauer neben römischen Kolonen. Beide waren sesshaft und betrieben eine individuelle Wirtschaft mit unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen zum jeweiligen Grundherrn.17

Die germanische Heeresverfassung, die nach Marx neben den „vorgefundenen Verhältnissen“ die Herausbildung des feudalen Eigentums begründete, kannte das Volksaufgebot (den Heerbann) und die Gefolgschaft des Fürsten. Mit der Sesshaftwerdung des germanischen Bauern verfiel der Heerbann und reduzierte sich das militärische Aufgebot auf die fürstlichen Gefolgschaften sowie die neu entstandenen Großgrundbesitzer und ihre Dienstleute. In einer reinen Agrargesellschaft konnte nur der weitgehend arbeitsfreie Landbesitz die ökonomische Grundlage des Heerwesens bilden. Die ehemaligen Gefolg­schaften wurden für ihren Kriegsdienst mit Land „belehnt“, der ehemals freie germanische Bauer zu Abgaben und Arbeiten für den Kriegerstand verpflichtet.18 Mit dem Niedergang des Heerbanns begann daher auch der Verfall der bäuerlichen Freiheiten bis hin zu Formen der Leibeigenschaft.

Als weitere Besonderheit der europäischen Feudalität führt Marx die Herausbil­dung der mittelalterlichen Stadt an. „Zugleich mit der vollständigen Ausbildung des Feudalismus tritt noch der Gegensatz gegen die Städte hinzu.“ Während im Altertum die Stadt das gesellschaftliche und politische Zentrum des umliegenden Landes darstellte, somit zum Lande hin offen war, stand die mittelalterliche europäische Stadt dem Lande abgeschlossen, mit Mauern und eigenem Recht gegenüber.19 Da die Feudalität vom Lande ausging, bildete die Stadt einen Fremdkörper in dieser Gesellschaft. Allerdings gewann die europäische Stadt jene Bedeutung, die sie in einen offenen Gegensatz zur feudalen Gesellschaft bringen sollte, erst mit der „vollständigen Ausbildung des Feudalismus“. Aber nur im mittelalterlichen Europa bildete die Stadt einen Gegensatz zu der sie umgebenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung, bildete sie einen eigenen Rechts- und Herrschaftsraum aus.

Betrachten wir nun die russischen Verhältnisse im 8. und 9. Jahrhundert, um zu einer Antwort auf die Frage zu gelangen, inwieweit eine Herausbildung feudaler Verhältnisse dort zu diesem Zeitpunkt möglich war. Wir werden dabei sehen, dass der in den beiden Marxzitaten beschriebene Prozess, der zur Herausbildung der westeuropäischen Feudalität führte, sich in Russland so gar nicht vollziehen konnte, da sowohl die natürlichen wie die gesellschaftlichen Verhältnisse von grundlegend anderer Art waren.

Die Normannen, die im 9. Jahrhundert ihren Eroberungszug in Russland begannen, trafen auf keinen durch die antike Welt geprägten Entwicklungsstand der Produktivkräfte, wie ihn die Germanen im Römischen Reich vorfanden. Roger Portal schreibt dazu: „Man ist sich heute darin einig, dass schon im 8. Jahrhundert die slawischen Gemeinwesen Osteuropas agrarischen Charakter hatten, wobei betont werden muss, dass der Ackerbau im Süden von größerer Bedeutung war. Der Ackerbau als Grundlage aller Tätigkeit prägte das Gesicht dieser Gesellschaft. Imkerei, Fischerei oder Jagd (speziell auf Pelztiere) waren selten ausschließliche Quelle des Unterhalts, sondern im allgemeinen zusätzliche Einkünfte, sie begründeten sogar Reichtum und bis zu einem gewissen Grad auch soziale Unterschiede. Der Ackerbau blieb dagegen primitiv, auf der Stufe der Brandrodung, die eine Art Nomadentum mit Feldbau mit sich brachte (…) „20 Derselben Auffassung über den Entwicklungsstand der russischen Agrikultur zur Entstehungszeit des „Kiewer Rus“ ist Richard Pipes, der auch die „Waldbrandwirtschaft“ als grundlegende Methode der Bodenbearbeitung anführt.21 Beide Autoren sehen diese Form der Agrikultur bis zum 15. bzw. 16. Jahrhundert als die in Russland vorherrschende Form; in abgelegeneren Regio­nen sei sie bis ins 19. Jahrhundert anzutreffen.

Auch die natürlichen Bedingungen der agrarischen Produktion unterscheiden sich in Russland grundlegend von denen Westeuropas. „Als erstes Faktum ist festzuhalten, dass die geographischen Bedingungen in Russland der individuel­len landwirtschaftlichen Betätigung ungünstig sind. Es scheint eine allgemeine Regel zu geben, die besagt, dass nördliches Klima kollektiver landwirtschaftlicher Arbeit zuträglich ist. (…) Dass dies so ist, hat viele Gründe, die aber letzten Endes alle mit der Kürze der landwirtschaftlich nutzbaren Zeit zusammenhängen. (…) Der unabänderliche Umstand, dass in Russland alle Feldarbeit innerhalb von vier bis sechs Monaten getan werden muss, verlangt große Arbeitsintensität und bewirkt die gemeinsame Nutzung menschlicher, tierischer und materieller Hilfskräfte. Ein einzelner russischer Bauer, der mit seiner Frau, seinen minderjährigen Kindern und ein paar Pferden seinen Grund bewirtschaftet, kann es angesichts der klimatischen Bedingungen in der Waldzone einfach zu nichts bringen; er braucht die Hilfe seiner verheirateten Kinder und seiner Nachbarn. In der südlichen Zone Russlands wird der Druck, gemeinschaftlich zu arbeiten, etwas geringer; das erklärt, warum vor der Revolution die meisten Einzelgehöfte (chutora) sich in der Ukraine und im Kosakenland fanden. Der kollektive Charakter der Bodenbewirtschaftung in Russland beeinflusste die Struktur der bäuerlichen Familie und des Dorfes.“22

Der durch den Untergang des römischen Reiches vorgefundene Entwicklungs­stand der Produktivkräfte wie auch die klimatischen Bedingungen ermöglichten in Westeuropa die Herausbildung eines individuell wirtschaftenden Bauernstandes, der um die Jahrtausendwende bereits seit mehreren Jahrhunderten sesshaft war und eine Mehrfelderwirtschaft im Wesentlichen auf dem Boden der Kleinfamilie23 betrieb. Diesem „westeuropäischen Bauern“, so unterschiedlich sein Entwicklungstand in den verschiedenen Regionen Westeuropas war, stand zu dieser Zeit ein noch immer der Brandrodung und dem Nomadentum verhafteter russischer Bauer gegenüber, dessen Produktionsbedingungen ihn an die Sippe bzw. später die Großfamilie und die Dorfgemeinde banden. Seine Produktionsweise und seine Produktionsinstrumente (Hacke, späterhin der „Socha“, eine Art primitiver Hakenpflug „der das Erdreich nur aufschürfte, statt es umzupflügen“)24 entsprachen dem Stand der germanischen Stämme zur Zeit Cäsars und Tacitus,25 nicht aber dem der westeuropäischen Bauern zur Zeit Karls des Großen (768 – 814) oder der sächsischen Könige (916 – 1024).26

Produktionsweise und Produktivkräfte der russischen Bauerngemeinden zur Zeit des „Kiewer Rus“ weisen Parallelen mit der Zeit der sich auflösenden germanischen Stammesgesellschaften auf, nicht aber mit der sich nach der Völkerwanderung in Westeuropa etablierenden Feudalordnung. Diese Form der landwirtschaftlichen Produktion ist in Russland bis ins 16. Jahrhundert vorherrschend geblieben; die Produktionsinstrumente änderten sich nicht und speziell der Socha blieb „bis weit ins 19. Jahrhundert das Grundwerkzeug des russischen Bauern“.27 Der Entwicklung, die die agrarische Produktion im Westen Europas im Zeitalter der Feudalität erfährt, steht die fast vollständige Stagnation der russischen agrarischen Wirtschaftsweise bis ins 16. Jahrhundert gegenüber.

Das „Reich der Städte“

Der sesshafte, mit seiner Familie individuell wirtschaftende Bauernstand bildet die Grundlage der europäischen Feudalgesellschaft. Das Verhältnis Bauer/Grundherr ist konstitutiv für die Feudalgesellschaft. Insofern spricht Marx mit Recht davon, dass die Feudalität im Gegensatz zum Altertum vom Lande ausgeht. Die Staatsgründung des „Kiewer Rus“ ging allerdings nicht vom Lande aus, sondern wie im Altertum von den Städten, konkret von jenen russischen Handelsstädten, die entlang einer Fernhandelsstraße Byzanz mit der Ostsee verbanden. Der Eroberungszug der Normannen bewegte sich von Norden nach Süden genau entlang dieser Handelsstraße. „Derselbe magische Zauber, der andere nordische Barbaren zu dem Rom des Westens zog, zog die Wareger nach dem Rom des Ostens. Gerade die fortwährende Verlegung der russischen Hauptstadt – Rurik legte sie nach Novgorod, Oleg zurück nach Kiew, und Svjatoslav sucht sie in Bulgarien zu errichten – beweist zweifellos, dass die Invasoren ihren Weg erst suchten und Russland nur als Durchgangsstation betrachteten, von der aus sie nach einem Reich im Süden auf die Suche gehen wollten.“28

Grundlage der normannischen Herrschaft war die Oberhoheit über diese Städte. So spricht V. Gittermann in seiner dreibändigen „Geschichte Rußlands“ auch bezeichnenderweise vom „Kiewer Rus“ als „Reich der Städte“.29 Aufstieg und Fall dieses Reiches hingen engstens mit der Entwicklung der Handelsverbindung nach Byzanz zusammen. Als Byzanz während des vierten Kreuzzugs (1203/04) erobert wurde, führte dies zu einem drastischen Rückgang des russischen Handels. „Kiew verlor seinen Glanz und begann zu verfallen“, beschreibt Gittermann30 die Rückwirkungen der Kreuzzüge auf den russischen Handel mit Byzanz. Diese für einen Feudalstaat völlig untypische Entwicklung ist ein weiteres Indiz dafür, dass der normannische Staat des „Kiewer Rus“ keine feudale Grundlage besaß, sondern dass der Kern dieses Gemeinwesens die Herrschaft über eine Handelsstraße war.31 Mit der Unterbrechung der Handelsstraße zerfiel der Staat des „Kiewer Rus“. Die nachfolgende Eroberung durch die Mongolen traf nur noch auf Überreste des „Reiches der Städte“.

Die europäische Feudalität dagegen begann ihren Siegeszug auf den Ruinen der Städte des Altertums, und am Ausgang des europäischen Mittelalters steht die Brechung der eigenständigen politischen Macht und Bedeutung der euro­päischen Städte durch den Aufstieg der modernen Nationalstaaten. Ganz anders die Entwicklung in Russland. Hier bildeten die Fernhandelsstädte die Grundlage der ersten Staatsbildung. Das Ende der alten Fernhandelsstraße Ostsee – Byzanz ließ die Bedeutung der russischen Städte schwinden und leitete damit auch den Niedergang des Kiewer Staates ein. Die mongolische Eroberung trug mit dazu bei, die wirkliche Ursache des Niedergangs der ersten Staatsgründung auf russischem Boden zu verschleiern.

Das „Reich der Dörfer“

Das Ende des „Kiewer Rus“ war auch das Ende des „Reiches der Städte“. Es begann eine neue Etappe der russischen Geschichte, das „Reich der Dörfer“. Gitterman beschreibt diese Entwicklung wie folgt: „Jetzt rodete man vor allem den Wald und widmete sich einer mit primitiven Mitteln betriebenen Landwirt­schaft. Zur selben Zeit, da in Florenz und Venedig, in Paris und Lyon, in Augs­burg und Köln Handwerkerzünfte und Kaufmannsgilden die Entwicklung West­europas maßgeblich zu beeinflussen begannen, wurde das altrussische Reich der Städte durch ein Reich der Dörfer abgelöst, das russische Volk somit, nach einer kurzen Blüte der Geldwirtschaft, auf die tiefere Stufe der Naturalwirtschaft zurückversetzt.“32 Dieses „Reich der Dörfer“ entsprach aber dem tatsächlichen Entwicklungsstand der russischen Gesellschaft. Sie war agrarisch und naturalwirtschaftlich geprägt. Die Geldwirtschaft des „Kiewer Rus“ war ein durch den Fernhandel geprägter Fremdkörper jenseits der slawischen Ackerbaugemeinden, die ihren Tribut in Form von „Getreide, Pelze(n), Honig, Wachs“ abzuliefern hatten. Die Naturalwirtschaft war auch im „Kiewer Rus“ die „vorherrschende Wirtschaftsform“.33

Das „russische Volk“ wurde somit nicht – wie Gittermann beschreibt – „auf die tiefere Stufe der Naturalwirtschaft zurückversetzt“; es hatte auch zur Zeit des „Kiewer Rus“ mit der Geldwirtschaft, die sich auf den Fernhandel und einzelne Städte beschränkte, nichts zu schaffen gehabt. Die russische Gesellschaft und ihre Staatlichkeit waren mit dem Zerfall des „Kiewer Rus“ zu ihren natürlichen Grundlagen zurückgekehrt: agrarische Subsistenzwirtschaft auf großfamiliärer und vermutlich dorfgemeinschaftlicher Grundlage ohne ernstzunehmenden staatlichen Überbau. Die Grundlagen für eine neue russische Staatlichkeit schufen erst die Mongolen durch die Einführung eines einheitlichen Steuersystems.

Weder die Entwicklung der Agrarwirtschaft noch das Gesicht der Bauernschaft oder der Städte in Russland weisen somit Parallelen mit der Entwicklung West­europas in der Zeit zwischen 800 und 1200 u. Z. auf. Vielmehr können wir nun sehen, dass die Differenzen deutlich überwiegen. Dies trifft auch auf einen dritten Punkt, die Organisation des Staats- und Heerwesens, zu. Der sich in Westeuropa herausbildende Feudalstaat hat in der individuellen Bauernwirtschaft seine ökonomische Grundlage. Otto Hintze schreibt dazu:

Staat- und Heerwesen

„Der Bauer, der kein bloßer Viehzüchter mehr ist, sondern seine Ackerwirtschaft zu besorgen hat, verwächst mit seiner Scholle; er wird unabkömmlich und also für den regelmäßigen Kriegsdienst ökonomisch unbrauchbar; er entwöhnt sich – mit wenigen Ausnahmen – überhaupt der Waffenführung; er wird unkriegerisch und bedarf des Schutzes, ganz besonders in unruhigen Zeiten. (…) Der alte fränkische Heerbann wird verdrängt durch einen neuen berufsmäßigen Kriegerstand von berittenen, hochausgebildeten Einzelkämpfern, wie sie dem damaligen Bedürfnis der Kriegsführung und der Fechtweise, namentlich seit dem Auftreten der Sarazenen, entsprachen. Dieses Kriegertum beruht auf einem typischen Privatvertrag, dessen notwendig zusammenhängende Elemente ein persönliches und ein dingliches Rechtsverhältnis sind: die Vasallität und das Benefizium.“34

Die Vasallität bezeichnet Hintze im Folgenden zurecht als eine Abwandlung der altgermanischen freien Gefolgschaft. Es ist ein Dienstverhältnis, das auf dem Grundsatz gegenseitiger Treue beruht und dem Mann, neben dem Schutz durch den Herrn, auch den standesgemäßen Lebensunterhalt gewährt. Der Vasall erhält seinen Lebensunterhalt entweder am Hofe seines Herrn oder durch die Zuteilung eines Lehensgutes. „Ein solches Lehensgut, an dem kein volles Eigentum des Vasallen besteht, heißt Benefizium oder in der Volkssprache Feudum.“35 Dieses Lehenswesen bildete die Grundlage der feudalen Kriegsverfassung. „Die Grundherrschaft war von jeher die ökonomische Basis für die privilegierten Stände. Der Ritter konnte nicht als Bauer leben und arbeiten, sein Feudum war eine kleine Grundherrschaft von vier bis sechs Hufen, auf denen die Arbeit durch abhängige Leute verrichtet wurde. Die Grundherrschaft (…) ist das neue und charakteristische für die feudale Wirtschafts- und Sozialverfassung. (…) Die grundherrlich-bäuerliche Wirtschaftsweise hatte für das Mittelalter eine ähnliche Bedeutung wie die kapitalistische für die neuere Zeit. Sie bildet die ökonomische Seite des Feudalismus und ist sein zähester und dauerhaftester Bestandteil gewesen „36 In der Folge führte die Grundherrschaft zur Aneignung obrigkeitlicher Rechte, deren wichtigstes die Rechtsprechung war.

Das hier von Otto Hintze gezeichnete Bild der westeuropäischen Feudalität fin­den wir so in Russland nicht wieder. Roger Portal beschreibt die Organisation des Staats- und Militärwesens des „Kiewer Rus“ folgendermaßen: „Die Fürsten sind umgeben von ihren Mannen, ihren Bojaren, der druzina, die die verschie­denen Verwaltungsaufgaben wahrnimmt und aus der sich ihr Rat zusammen­setzt. Die Bojaren haben sich aus freien Stücken den Fürsten verpflichtet; sie können sie verlassen, wann es ihnen gut scheint. Außerdem sind am Anfang die Bojaren noch keine Großgrundbesitzer; sie bilden eine bewegliche militärische Einheit, für deren Lebensunterhalt der Fürst sorgt und die nicht an einen festen Wohnsitz gebunden ist.”37

Was Roger Portal schildert, erinnert an die germanischen Gefolgschaften aus der Zeit der Völkerwanderung. Diese bewaffneten Einheiten, durch Schwur mit ihrem jeweiligen Heerführer verbunden, ernährten sich durch Krieg und Plünderung bei benachbarten Stämmen. Das germanische Volksaufgebot, noch immer die Grundlage der kriegerischen Macht der germanischen Stämme, wurde dagegen nur zu defensiven Aufgaben, der Verteidigung des eigenen Territoriums aufgeboten. Genauso verhielt es sich beim Heerbann des „Kiewer Rus“.

Das Heer der Kiewer Fürsten bestand aus zwei ganz verschiedenen Teilen – oder konnte zumindest aus ihnen bestehen: aus der fürstlichen Gefolgschaft und aus dem Aufgebot des Volkes (…) Fürst und Gefolgschaft waren miteinander sicher durch einen Eid, vermutlich durch einen regelrechten Vertrag verbunden. Da die Gefolgschaft in unmittelbarer Umgebung des Fürsten am Hofe lebte, stellte ihr Unterhalt in Friedenszeiten, wenn sie zahlreich war, ein schwieriges Problem dar. Nur bei ständigen Angriffsunternehmen mit reicher Beute war die Entlohnung der fürstlichen Truppe sichergestellt.

Das Volksaufgebot stand nicht in der unmittelbaren Verfügungsgewalt des Fürsten, sondern wurde von der altrussischen ‚Volksversammlung‘ einberufen und dem Fürsten jeweils aus besonderem Anlass und für einen besonderen Zweck zur Verfügung gestellt (…) Es lag in der Natur dieser doppelten Heeresorganisation, dass die Fürsten Angriffskriege vorzugsweise mit ihrer Gefolgschaft, mitunter verstärkt durch angeworbene Freiwillige aus dem Volke, führten, während das Volksaufgebot mehr zu defensiven Aufgaben im Falle drohender Gefahr herangezogen wurde.“38

Womit wir es beim Militärwesen des „Kiewer Rus“ zu tun haben, ist die klassi­sche Form der germanischen Gefolgschaften.39 Insofern hier Vasallität auftritt, handelt es sich um ein „Vasallentum ohne Lehen, oder Lehen, die nur in Tribut bestanden“.40 Von einer feudalen Verfasstheit des Staatswesens oder des Heeres kann nicht die Rede sein.41 Die Gefolgschaft des „Kiewer Rus“ oder der Waringer lebte von dem Tribut des eroberten Landes, ohne – wie es im Westen Europas geschah – eine neue gesellschaftliche Ordnung zu errichten. So wenig sich im Kiewer Russland der individuell wirtschaftende, sesshafte Bauer herausbildete, so wenig bildete sich zu dieser Zeit oder in den folgenden Jahrhunderten ein feudaler Ritterstand heraus. Das Heerwesen des „Kiewer Rus“ verharrte bei den militärischen Gefolgschaften einerseits und beim slawischen Volksaufgebot andererseits. Zusammengehalten wurde dieses Staatswesen durch das gemeinsame Interesse der Gefolgschaft an der Bereicherung durch den Byzanzhandel und der Eintreibung des Tributes. Beides bildete die ökonomische Grundlage der Gefolgschaften, die den Staat des „Kiewer Rus“ geschaffen hatten. Mit dem Wegfall ihrer wichtigsten ökonomischen Grundlage, dem Byzanzhandel, waren auch die Gefolgschaften nicht mehr zusammenzuhalten und zu ernähren. Der von ihnen geschaffene Staat des „Kiewer Rus“ musste zerfallen.

Resümee

Wir haben nun die Bauern, die Städte und die Kriegerkaste des „Kiewer Rus“ etwas näher betrachtet. In allen drei Bereichen sind wir auf grundlegende Unterschiede zu der Entwicklung in Westeuropa gestoßen. Bei der Fülle dieser Unterschiede von einer weitgehend identischen Gesellschaftsordnung sprechen zu wollen, ist wissenschaftlich unhaltbar. Die normannische Staatsgründung in Russland war nicht feudal, sie bildete auch im Laufe der kommenden Jahrhunderte keine feudalen Grundzüge heraus. Sie zerfiel mit dem Niedergang der alten Fernhandelsstraße Byzanz – Ostsee, ohne eine progressive Entwicklung der slawischen Ackerbaugemeinden und ihrer Produktionsweise bewirkt zu haben. Da sie nicht an dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte des untergegangenen römischen Imperiums anknüpfen konnte und erheblich ungünstigere klimatische Bedingungen vorfand, vermochte die Normannenherrschaft weder im agrarischen Bereich zum individuell wirtschaftenden Bauern vorzustoßen, noch im militärischen Bereich zum gepanzerten Ritter, noch im staatlichen Bereich zu dem Personenverbandsstaat der klassischen Feudalität.

Während sich in Westeuropa vom 10. Jahrhundert an sowohl die Ackerbau­technik42 wie die Rolle und Bedeutung der Städte rasch entwickelten, finden wir in Russland einerseits Stagnation (in der Agrarwirtschaft) und andererseits ab dem 12. Jahrhundert einen rapiden Niedergang der Städte. Der „Kiewer Rus“ hat somit nicht, wie die Feudalität in Westeuropa, eine progressive Entwicklung der Gesellschaft eingeleitet. Die russische „Gesellschaft“ (soweit es hier möglich ist, von einer „Gesellschaft“ zu sprechen) blieb, entsprechend dem Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte und den klimatischen Verhältnissen der Region, eine „Gesellschaft“ nomadisierender, slawischer Ackerbauergemeinden, die sich von Brandrodung zu Brandrodung durch das Riesenland bewegten und aus sich selbst heraus zu keiner progressiven Entwicklung fähig waren.

Es bedurfte erst eines neuerlichen äußeren Anstoßes, um die vollständige Stagnation der russischen Verhältnisse aufzubrechen. Der Mongoleneinfall schuf, wie wir weiter unten sehen werden, die Möglichkeiten zu einer neuen russischen Staatlichkeit jenseits dieser Ackerbaugemeinden. Insofern bildete der Mongolensturm keinen Einschnitt in eine bis dahin progressive gesellschaftliche Entwicklung, wie uns die sowjetische Geschichtsschreibung suggeriert, sondern trotz ihrer zerstörenden Momente geht aus der Mongolenherrschaft der erste Anstoß zu einer progressiven Entwicklung Russlands hervor.43

Der Aufstieg Moskaus – ein verspäteter Sieg der Feudalgesellschaft?

Für die osteuropäisch-marxistische Geschichtsschreibung, die bereits zum Zeitpunkt der Existenz des „Kiewer Rus“ feudale Verhältnisse in Russland vorfand, versteht es sich von selbst, dass das mittelalterliche Russland eine weitergehende feudale Entwicklung erfährt. So stellt die bereits zitierte „Geschichte der UdSSR“ bereits für das 14. Jahrhundert und trotz der Mongolenherrschaft eine „weitere Entwicklung des Feudalismus“ in Russland fest.44

Während sich die bürgerliche Geschichtsschreibung weitgehend einig darin ist, der Kiewer Staatsgründung einen feudalen Charakter abzusprechen, fällt ihr Urteil über die zweite russische Staatsgründung, den Aufstieg Moskaus zur zentralen Macht in Russland, erheblich differenzierter aus. Otto Hintze beispielsweise macht im Moskauer Russland „Feudalismus im vollen Sinne, als System, wenn auch mit starken Abweichungen und Besonderheiten aus“.45 In ähnlicher Weise argumentiert Günther Stökl: „Und was den Feudalismus betrifft, so lässt sich nicht leugnen, dass die Verhältnisse im nachmongolischen Russland in manchem Vergleiche nahelegen: (…) Aber es ist sicher, dass in Russland die feudale Ordnung nicht annähernd so differenziert und durchentwickelt war wie im Westen, dass sie im allgemeinen der rechtlichen Festlegung entbehrte. Aufgrund der Ähnlichkeiten lässt sich für das nachmongolische mittelalterliche Russland vielleicht von einem Feudalismus besonderer, russischer Art sprechen, aber gemessen an dem abendländischen Modell halten die Unterschiede den Ähnlichkeiten zumindest die Waage.“46

Die Ähnlichkeiten sieht Stökl in der Existenz einer „mehrstufigen Hierarchie der Vasallen und der fürstlichen Beauftragten“, die weitgehend dem westeuropäi­schen „Benefizium“ und der „Commendatio“ entsprochen hätten.47 Hintze sieht die Gemeinsamkeiten in der Existenz eines „Kriegsadels“, der von arbeitsfreien Renten lebt, die hörige Bauern produzieren.48

Während die [sowjetisch geprägte] Geschichtsschreibung eine durchgängig feudale Entwicklung Russlands spätestens seit dem 10. Jahrhundert konstatiert, die angeführten bürgerlichen Historiker mit gewissen Einschränkungen ab dem 16. Jahrhundert eine Herausbildung feudaler Verhältnisse nicht ausschließen wollen, Wittfogel gar für das Ende des 1. Jahrtausends eine feudale und ab dem 13. Jahrhundert eine asiatische Gesellschaftsordnung in Russland ausmacht, verficht der Verfasser die Position, dass die russischen Verhältnisse weder asiatisch noch feudal waren. Vielmehr handelt es sich bei der russischen Gesellschaft um slawische Ackerbauern, die unter den Bedingungen des kontinentalen Klimas produzierten. Ohne wie die Germanen an das ökonomische und kulturelle Erbe des römischen Reiches anknüpfen zu können, gelang es diesen Ackerbaugemeinden aus eigener Kraft nicht, zur Weiterentwicklung ihrer Gemeinwesen und zur Staatsbildung fortzuschreiten.

Die Elemente zur Staatsbildung mussten diesen Gemeinwesen von außen aufgezwungen werden, zuerst – und, wenn wir von der Entstehung der orthodoxen Kirche absehen, weitgehend folgenlos für die russische Gesellschaft – durch die Normannen, später mit weitergehenden Folgen durch die Mongolen.

Aber weder schufen die Normannen einen germanisch-feudalen Staat auf russischem Boden, noch die Mongolen einen asiatischen Staat. Vielmehr schuf der im Gefolge der Mongolenherrschaft entstehende Moskauer Staat einen Heeres- und Verwaltungsapparat jenseits der slawischen Ackerbaugemeinden, der diese zur Sesshaftigkeit zwang und damit Möglichkeiten zu einer weitergehenden gesellschaftlichen Entwicklung eröffnete. Dieser Staat aber musste immer im Gegensatz zu den bäuerlichen Gemeinwesen stehen, und in dem Moment, wo dieser die russische Gesellschaft fortwährend modernisierende Staat gezwungen wurde, den Bauern zur Grundlage seiner Heeresverfassung zu machen, hatte seine letzte Stunde geschlagen.

Die Tatarenherrschaft und die Steuer

Um zu einem näheren Urteil über diese Einschätzungen zu gelangen, ist es notwendig, einen kurzen Blick auf die weitere ökonomische und gesellschaftli­che Entwicklung Russlands unter der Tatarenherrschaft zu werfen. Die mongolische Eroberung zerstörte den Rest der noch verbliebenen Stadtkultur des „Kiewer Rus“. Gittermann beschreibt dies folgendermaßen: „Wenn die Urkunden und Chroniken des 13. Jahrhunderts auch im oberem Wolga-Becken neue ‚Städte‘ erwähnen, so handelt es sich dabei um Siedlungen, die zur Abwehr mongolischer Horden befestigt worden waren, deren Einwohner jedoch in stark überwiegender Mehrheit dem Ackerbau oblagen. Diese Fortifikationen Susdal-Russlands wiesen zu jener Zeit noch keine Mauern aus Stein auf; sie bestanden vielmehr aus Baumstämmen und aufgeschütteten Erdwällen. Steinerne Stadtbefestigungen wurden, mit Hilfe ausländischer Architekten, erst später gebaut. Sogar im 17. Jahrhundert besaß das moskowitische Reich, nach Kotoschichin, kaum 20 Ortschaften, die mit eigentlichen Mauern umgeben waren.“49

Das von Gittermann gezeichnete Bild bestätigt den vollständigen Untergang der russischen Städte. Der Mongoleneinfall beendete den Niedergangsprozess dieser einstigen Handelsstädte durch ihre fast vollständige Zerstörung.50 Der Rus wurde zu einem „Reich der Dörfer“, zu einer reinen Agrargesellschaft. Das darüber errichtete mongolische „Staatswesen“ reduzierte sich auf die militärische und steuerliche Oberhoheit der Tataren.

Neu an der mongolischen Herrschaft, sozusagen transferiert von den „hydraulischen Gesellschaften“, wie Wittfogel es behauptet, war die Einführung einer allgemeinen Geldsteuer zum Unterhalt des tatarischen Heeres. Was somit an „asiatischer Produktionsweise“ und „asiatischer Despotie“ von den Mongolen nach Russland transferiert wurde, reduzierte sich auf die Einführung einer allgemeinen Geldsteuer. Eine Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur Russlands fand unter der mongolischen Herrschaft selbst noch nicht statt. Die Einführung einer allgemeinen Geldsteuer legte aber den Grundstein für die spätere Veränderung der Agrar-, Heeres- und Staatsverfassung unter Iwan III. (1462-1505), Iwan IV. (1533-1584) und Boris Gudonow (1587-1605).

Diese Geldsteuer aus einem fast reinen Agrarstaat herauszupressen, war in der Tat eine „Modernisierung“ der russischen Verhältnisse, die auf Dauer nicht ohne Auswirkungen auf die Agrarverfassung bleiben konnte. Solange der Bauer nomadisierend war, besaß er die Möglichkeit, sich seiner Steuerpflicht zu entziehen. Sein Grundherr, der Bojar, wurde darum von den Mongolen für die Aufbringung der Steuer verantwortlich gemacht. Nur wer den russischen Bauern sesshaft machte, konnte dauerhaft auf gesicherte Steuereinkünfte rechnen. Sesshaft machen bedeutete aber zugleich, die persönliche Freiheit der bäuerlichen Großfamilie aufzuheben und ihre Produktionsweise umzugestalten; sie zu zwingen, von der Brandrodung zur Mehrfelderwirtschaft überzugehen.

Während die Mongolen die Form der agrarischen Produktion in Russland nicht veränderten und daran auch kein Interesse besaßen, gaben sie mit der zwangsweisen Einführung einer von allen Haushalten zu entrichtenden Geldsteuer letztendlich den entscheidenden Anstoß zur späteren „Modernisierung“ der russischen Verhältnisse durch die Moskauer Großfürsten. Deren Aufstieg begann im Schoße der Tataren.

Der Aufstieg Moskaus

Moskau diente sich den Tataren sowohl als Steuereintreiber wie als Denunziant von Unabhängigkeitsbestrebungen anderer Fürstentümer an. Der Lohn für diese Dienste bestand in einem stetigen Machtzuwachs des Moskauer Fürsten auf Kosten der anderen russischen Bojaren.51 Mit dem Zerfall des Mongolenreiches, dem Auftreten Timurs und innermongolischer Stammeskriege, kam für Moskau der Zeitpunkt, die Tatarenherrschaft abzuschütteln. Die Beibehaltung der allgemeinen Tatarensteuer wurde die eigentliche Grundlage der neuen Machtstellung Moskaus und des vom Moskauer Fürstentum geschaffenen russischen Staates. Sie ermöglichte es dem Moskauer Großfürsten, Ansätze eines stehenden Heeres zu bilden und in Kriegs- und Krisenzeiten größere Truppenaufgebote unter Waffen zu halten. Bereits unter dem Tatarenjoch hatte er das Eintreiben dieser Steuer genutzt, um Land zu annektieren sowie zu kaufen und so sein Territorium auf Kosten anderer Bojaren beständig auszudehnen. Gestützt auf die militärische Macht wurde diese Politik nach der Abschüttelung der Mongolenherrschaft fortgesetzt. Insofern ist der Marxschen Feststellung, dass die Staatsgründung des modernen Russlands „in blutigem Schlamme mongolischer Sklaverei, nicht in der rohen Pracht der Normannenzeit“52 ihre Grundlage hat, zuzustimmen.

Mit den letzten Überresten der russischen Handelsstädte zerstörte die Mongo­lenherrschaft jegliche Möglichkeit zur Herausbildung eines städtischen Bürger- und Kleinbürgertums. Der Fernhandel lag nicht mehr wie zur Zeit des „Kiewer Rus“ in russischer, sondern in europäischer Hand. War die Grundlage des „Kiewer Rus“ die Herrschaft über eine lukrative Handelsstraße von der Ostsee nach Byzanz gewesen, so eröffnete die Mongolenherrschaft eine neue Han­delsstraße vom Schwarzen Meer nach China und Indien. Diesmal war sie militärisch gesichert durch die Mongolen, die hierfür Tributzahlungen bean­spruchten, und ökonomisch in der Hand der venezianischen und genuesischen Kaufleute. Der Siegeszug der Gesellschaften westeuropäischen Typs dokumentiert sich in dieser Tatsache. Der Osten des eurasischen Kontinents war ökonomisch bereits in einen von Westeuropa bestimmten Handelsprozess einbezogen.

Die handwerkliche Produktion, Grundlage für die Entstehung eines städtischen Kleinbürgertums in Westeuropa, vollzog sich in Russland im Rahmen der Groß­familie oder der Dorfgemeinde. „Da der Bodenertrag im ’Reich der Dörfer’ nur spärlich war, musste der Bauer sein Einkommen durch gewerbliche Nebenbe­schäftigung zu vermehren suchen. Während des langen Winters fand er dazu auch die nötige Zeit. Unter Ausnützung der lokalen Verhältnisse befasste er sich mit der Ausbeutung wilder Bienenvölker (Zeidlerei), mit Bastschälen und Bastflechten, mit Leinweberei, mit Salzsieden und Teergewinnung, mit der Herstellung von Schlitten, Bottichen, Eimern, hölzernen Löffeln, eisernen Nägeln und mit ähnlichen Zweigen der Hausindustrie, deren Erzeugnisse auf lokalen Märkten von Zeit zu Zeit sich absetzen ließen. Sozusagen alle handwerklichen Arbeiten, deren der bäuerliche Haushalt bedurfte, wurden schlecht und recht von der Dorfbevölkerung selbst besorgt. Dass sich unter solchen Verhältnissen ein besonderer Handwerkerstand – geschweige denn gar ein städtisches, über Gewerbemonopole verfügendes Zunftwesen – nicht zu entwickeln vermochte, liegt auf der Hand.“53

Insofern besiegelte die tatarische Eroberung eine Entwicklung, die sowohl durch den Stand der Produktivkräfte als auch durch die klimatischen Verhältnisse Russlands und die ackerbauliche Struktur der slawischen Stämme vorgegeben war. Das Reich des „Kiewer Rus“, diese glänzende normannische Periode russischer Geschichte, war ein Fremdkörper innerhalb der Geschichte dieser slawischen Agrargesellschaft. Das Neue und Weitertreibende der Tatarenherrschaft, die Einführung der Geldsteuer, war eine der Grundbedingungen zur Schaffung eines staatlichen Überbaus über einer Agrargesellschaft, die aus sich heraus nicht zu eigener Staatlichkeit fähig gewesen wäre.

Eine „feudale Gesellschaft“?

Inwiefern kann man nun davon sprechen, dass dieser neugeschaffene Moskauer Staat eine feudale Grundlage besaß? Stökl sah, wie wir anführten, Ähnlichkeiten mit der westeuropäischen Lehenspyramide, Hintze sah diese Ähnlichkeiten in der Existenz eines von arbeitsfreien Renten lebenden „Kriegsadels“. Die von beiden Autoren aufgezeigten Parallelen mit der westeuropäischen Entwicklung stimmen jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung überein.

Zur Zeit des Niedergangs der Tatarenherrschaft war es in Russland noch immer üblich, dass der einzelne Bojar sich den Fürsten (Großbojaren) frei wählen konnte, in dessen Dienst er trat. „Und zwar“, wie Stökl selbst schreibt, „unabhängig davon, in welchem Fürstentum sein erblicher Grundbesitz lag. Sein Dienst galt als freiwillig und war nicht mit dem Grundbesitz als Verpflichtung verbunden.“54 Sein erworbenes Stück Land verpflichtete ihn gegenüber dem Fürsten, von dem er es erhalten hatte, zu nichts außer gewissen Abgabepflichten. Der Grundbesitz eines russischen Bojaren war zu dieser Zeit faktisches Allod. Dies bedeutete in Russland, dass es freies Eigentum des jeweiligen Besitzers war, dass er es vererben und veräußern konnte und dass keinerlei Lehnsverpflichtungen im westeuropäischen Sinne an den Landbesitz geknüpft waren.

Was wir hier noch antreffen, sind Überreste des germanisch-normannischen Gefolgschaftswesens, keineswegs aber die Herausbildung einer Lehenspyramide im westeuropäischen Sinne. Verleihung von Land gegen dauerhafte Dienst- und Treuepflicht gegenüber dem Lehensgeber, diese typische Einrichtung der westeuropäischen Feudalität, bildete in der russischen Gesellschaft des 15. Jahrhunderts eine Ausnahmeerscheinung. Benefizium und Commendatio, ohne Treueverhältnis zum Lehensgeber, sind eine Erfindung Stökls. Seine Beweisführung ermöglicht die Anwendung des Begriffs der Feudalität auf jedwede Gesellschaft mit hierarchischer Struktur und Vergabe von Steuer- und Landrechten. Mit Recht schreibt Richard Pipes: „Was finden wir in Russland? Von Vasallentum, in seinem eigentlichen Sinn, nichts. Man erwartete von der russischen Grundbesitzerklasse, den Bojaren, dass sie Kriegsdienste leisteten, aber es wurde von ihnen nicht verlangt, dies für einen bestimmten Fürsten zu tun. In der Beziehung zwischen dem Fürsten und dem Bojaren fand sich keine Spur wechselseitiger Verantwortung.“55

Hintze bindet die Herausbildung einer russischen Feudalität an die Einrichtung der pomestje, eines nicht erblichen Dienstadels, der Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts vom Moskauer Zarentum geschaffen wurde. Dieser Dienstadel sollte die Grundlage der schweren Reiterei des russischen Heeres bilden und war zugleich eine Waffe des Zaren im Kampf gegen die Großbo­jaren. Die Landzuteilung an den Dienstadel erfolgte auf Kosten der Großbojaren, deren ökonomische und politische Macht durch die Wegnahme bzw. Umverteilung ihrer Territorien gebrochen wurde. Dieser Prozess wurde unter Ivan IV. zum Abschluss gebracht, indem er den Grundbesitz an die Dienstleistung band und eine große Anzahl der Bojarengeschlechter liquidierte. „Grundbesitz und Dienstleistung, in Russland traditionell getrennt, wurden nun voneinander abhängig. In einem Land, das nur Allodialeigentum gekannt hatte, gab es fortan nur noch dienstbedingten Grundbesitz. Das Lehen, im mittelalterlichen, ‚feudalen‘ Russland unbekannt, erschien unter den Auspizien der absoluten Monarchie.“56

Was Hintze in Russland als Entstehung der Feudalität ausmacht: die Schaffung eines Dienstadels, wird deshalb von Richard Pipes mit Recht ganz anders beurteilt. Er schreibt: „Der dienstbedingte Grundbesitz, wie er in Russland in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts aufkam, war keine feudale, sondern eine anti-feudale Einrichtung, von der absoluten Monarchie in der Absicht eingeführt, die Klasse der ‚feudalen‘ Fürsten und Bojaren zu zerschlagen. ‚Als sie (die Freien in Russland) Vasallen waren, bekamen sie noch keine Entschädigung vom Herrn, hatten keine Lehen, das heißt, sie lebten zum größeren Teil auf ihren Wotschinen (erblicher Grundbesitz, Allod, A. S.)“‚ schreibt Peter Struve. ‚Und als sie Lehen in Form von Pomestjen zu erhalten begannen, hörten sie auf, Vasallen, das heißt, Diener durch Vertrag zu sein.'“57

Bauern und Kosaken

Mit der Beibehaltung und verschärften Eintreibung der ehemals tatarischen Steuer wie der Schaffung eines neuen Dienstadels musste sich zugleich die rechtliche Stellung des russischen Bauern verändern. Bis ins 16. Jahrhundert war die weitaus größte Zahl der russischen Bauern frei, d.h. an keinerlei Herr­schaft dauerhaft gebunden. Die Großfamilien oder Dorfgemeinden gingen zeit­lich befristete Verträge mit dem jeweiligen Bojaren (Grundbesitzer) ein, die an bestimmten festgelegten Terminen in jedem Jahr gekündigt werden konnten.

Mit der Zerschlagung der Tataren-Khanate wurde die Besiedlung der fruchtbaren russischen Steppe im Osten und Süden möglich. Da der nomadisierende Ackerbau für den russischen Bauern seit Jahrhunderten Existenzgrundlage gewesen war, eröffnete der militärische Sieg den Weg zur bäuerlichen Kolonisation dieser Regionen. Die Bauern verließen in Scharen ihren Grundherrn und siedelten in diesen noch nicht staatlich erschlossenen Regionen. Sie entflohen damit der [staatlichen] Steuer und der Abgabepflicht gegenüber einem Grundherrn. Das Land im Süden und Osten war „frei“, noch existierten in diesen Regionen weder eine Grundherrschaft noch Ansätze einer staatlichen Verwaltung. Auf der Flucht vor der neu entstehenden russischen Staatlichkeit mit ihrer Steuerpflicht und der Auslieferung der Bauernfreiheiten an den neuen Dienstadel zog es den Bauern in die Weiten der russischen Steppe.

„Um der Ausbeutung durch den Grundherrn zu entgehen, floh der Bauer in die Steppe, um dort ein nicht ungefährliches, aber freies Leben zu führen in einer ziemlich weitgehenden Anpassung an die Kampfweise und Lebensgewohnhei­ten der tatarischen Kosaken. Dieses aus dem sozialen Protest ständig genährte freie Kosakentum hatte seine Siedlungszentren, soweit von einer festen Siedlung in den Anfangszeiten überhaupt gesprochen werden kann, am Unterlauf des Dnepr und des Don.“58

Damit entwickelte sich in den kosakischen Siedlungsgebieten, die auch andere klimatische Verhältnisse aufweisen als der russische Norden und Westen, ein freies Bauerntum, das individuell wirtschaftete. Ohne an grundherrschaftliche Macht gebunden zu sein, ähnelte es der auch in den Randregionen Westeuropas anzutreffenden Wehrbauernschaft. Für die dauerhafte Gestellung eigenständiger Formationen im zaristischen Heer wurde ihnen eine weitgehende Selbstverwaltung eingeräumt. Erst zur Zeit Katharinas II. (1762-1796) begann der russische Zarismus, systematisch die kosakischen Freiheiten einzuschränken, und versuchte, ihre Siedlungsgebiete mit seiner Staatsverwaltung zu überziehen.

Die große Mehrzahl der russischen Bauernschaft aber wurde durch die Aufhe­bung der Freizügigkeit, die bis ins 16. Jahrhundert unbestrittenes Recht der Bauern war, faktisch in die Leibeigenschaft überführt. Dieser faktischen Leibei­genschaft der russischen Bauernschaft entsprach eine fehlende rechtliche Absicherung ihres Status in zweifacher Hinsicht. Zum einen besaß der russische Bauer keinerlei verbriefte Rechte. In der Praxis bedeutete dies, dass ihm jedermann ungestraft Unrecht antun konnte. Da er nicht gerichtsfähig war, „war er allen Autoritätspersonen gegenüber völlig wehrlos.“59

Andererseits war sein Status als Leibeigener genauso wenig rechtlich gesichert, was eine dauerhafte Bedrohung der ökonomischen Lage des Adels darstellte. „Eine der Anomalien der russischen Sozialgeschichte besteht darin, dass man die Leibeigenschaft trotz ihrer entscheidenden Bedeutung für die Entwicklung des Landes immer in einem rechtlichen Zwielicht ließ. Nie war ein Ukas ergangen, der Bauern zu Leibeigenen machte, niemals auch bestätigte ein Zar in dokumentarischer Form den Eigentumsanspruch der Grundbesitzer auf ihre Leibeigenen. Die Institution entwickelte sich in der Praxis aus einer Vielzahl von Ukasen und Gebräuchen und wurde durch allgemeinen Konsens aufrechterhalten, doch ohne ausdrückliche offizielle Sanktionen. Man ging immer von der – wiederum stillschweigenden – Voraussetzung aus, dass die Grundbesitzer ihre Leibeigenen nicht eigentlich als Eigentum besaßen, sondern sozusagen im Namen des Zaren verwalteten.“60

Mit der Aufhebung der Freizügigkeit der Bauern musste sich auch ihre Produktionsweise verändern. Das bis dahin übliche System der Brandrodung beruhte darauf, den nach wenigen Jahren unfruchtbar gewordenen Boden zu verlassen, an einer anderen Stelle erneut vermittels Brandrodung eine entsprechend der Fruchtbarkeit drei- bis sechsjährige Bestellung des so neu erschlossenen Bodens durchzuführen und dann wiederum weiterzuziehen. Mit der Aufhebung der bäuerlichen Freizügigkeit konnte eine nomadisierende Brandrodung nicht mehr die Grundlage der agrarischen Produktion bilden. Die russische Bauernschaft war nun gezwungen, zu einer Form der Mehrfelderwirtschaft überzugehen, die eine Erschöpfung des Bodens verhinderte. Ungefähr zur Mitte des 16. Jahrhunderts war ein allgemeiner Übergang zur Dreifelderwirtschaft feststellbar. An der Struktur der bäuerlichen Familie und der Dorfgemeinde änderte sich wenig.

Für die Mehrzahl der bürgerlichen Historiker fällt die Entstehung der russischen Dorfgemeinde, des mir, in diesen Zeitabschnitt. Ursache ihrer Entstehung sei die von den Tataren übernommene Steuer und das vom Zarismus entwickelte System ihrer Eintreibung.61 Über 99 % der russischen Bevölkerung, also alle Personen, die weder dem Dienstadel noch der Geistlichkeit angehörten, hatten gegenüber dem Staat eine Reihe von Verpflichtungen, die sowohl in Geld als auch in Arbeit zu leisten waren. Diese Verpflichtungen wurden den einzelnen Regionen auferlegt. Sie mussten eine bestimmte Steuersumme aufbringen, bestimmte Wege- und Befestigungsbauten errichten und eine vorgegebene Anzahl Soldaten stellen. Diese Verpflichtungen wurden in den Regionen nicht dem Einzelnen auferlegt, sondern jeweils der kollektiven Gruppe, der der Einzelne angehörte, also der Stadt oder der Dorfgemeinde. Das jeweilige Kollektiv haftete für die Aufbringung der Leistung. „Alle Tjalgopflichtigen (so hieß dieses ‚Steuersystem‘, A.S.) bildeten Gemeinschaften, deren Mitglieder für die Aufbringung der ihrer Gruppe abgeforderten Zahlungen und Dienste gemeinsam verantwortlich waren. Dieses System behinderte die Entwicklung einer individualisierten Landwirtschaft (…).“62

Mit der Begründung des Dienstadels und der Aufhebung der Freizügigkeit der Bauern findet eine bedeutsame Umstrukturierung der russischen Gesellschaft statt. Zum einen beginnt ein Prozess der Zerschlagung der alten Bojarenfamilien mit ihrem großen privaten Landbesitz, zum anderen entwickelt sich eine Zweiteilung der russischen Bauernschaft: es entstehen der freie „kosakierende“ Bauer der Steppen und Grenzgebiete sowie der faktisch leibeigene Bauer der zentralrussischen Gebiete. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Teilen der russischen Bauernschaft lassen sich bis hin zur stalinschen Kollektivierung verfolgen. Während der russische Bauer vom Gemeineigentum allen Landes ausgeht, verficht der Kosak das Prinzip des Privateigentums. Der kosakische Bauer wird somit – trotz aller kosakischen Unruhen – letztendlich zu einer dauerhaften Stütze der zaristischen Herrschaft.

Bildete sich in Westeuropa der feudale Kriegerstand naturwüchsig aus den Gefolgschaften und einzelnen Vertretern der freien Bauernschaft, die in ihrer Gesamtheit den Anforderungen des Kriegsdienstes nicht mehr gewachsen war, so war der russische pomestje ein künstliches Produkt des Zarentums. Er wurde der russischen Gesellschaft von außen, als Kopie einer in Westeuropa bereits überlebten Heeresverfassung, übergestülpt. Zwischen dem pomestje und dem Zaren gab es kein Lehensverhältnis im westeuropäischen Sinne, sondern nur ein Dienstverhältnis, wie wir es auch zwischen einem [Sipahi (osmanischer Lanzenreiter)] und dem Sultan im Osmanischen Reich antreffen.

Der pomestje war gegenüber dem Zaren genauso rechtlos wie es der Bauer war; besaß er eine besondere Rechtsstellung in einer Region, war sie Ergebnis eines zaristischen Amtes (z. B. des Wojewoden, einer Art Provinzherrscher, der administrative, fiskalische, militärische und gerichtliche Funktionen ausübte), dessen Inhaberschaft jährlich, allerspätestens zweijährig, gewechselt wurde.

Die russische „Feudalität“ reduzierte sich auf die Einführung eines Dienstadels sowohl für den Heeresdienst als auch für die Staatsverwaltung. Der Dienst für den Staat wurde mit Land und Arbeitskräften entlohnt. Diese Maßnahmen sind typisch für alle agrarisch geprägten Länder mit einem akuten Mangel an Geld. Wir treffen sie im Heereswesen überall, wo ein Volksaufgebot nicht mehr mög­lich und Geld für die Bezahlung größerer Berufsarmeen nicht vorhanden ist. Dies war beispielsweise in der Spätphase des Römischen Reiches der Fall, ebenso wie in Byzanz oder im Osmanischen Reich. Die Parallelität zur westeuropäischen Feudalität reduziert sich hier auf ein Element der Heeresverfassung. Staat und Staatsaufbau sowie die Stellung des Adels in diesem Staat sind von völlig unterschiedlicher Gestalt. Die angeführten Gesellschaften besaßen einen zentralisierten Staatsapparat. Dieser brachte den neuen Adel hervor, der Adel war ein Produkt dieses Staates und von seiner Existenz abhängig.

Einschub: Ursprung der russischen Dorfgemeinde

Der nachfolgende Einschub ist meinem Artikel in den AzD Nr. 90 von Oktober 2019, S. 12 ff., entnommen.

Marx und die russische Dorfgemeinde

Zur Zeit Marxens war die russische Dorfgemeinde gerade erst „entdeckt“ worden, durch den bereits erwähnten preußischen Regierungsrat Haxthausen und seine viel beachteten Veröffentlichungen darüber. Für die Slawophilen in der russischen Intelligenz war diese Dorfgemeinde Ausdruck der sozialen Überlegenheit der slawischen Rasse und Angelpunkt einer künftigen sozialen Neugestaltung des zaristischen Russlands. Nicht der qualvolle kapitalistische Weg des Westens wäre das Schicksal Russlands, sondern dank der „sozialistischen“ Struktur des russischen Dorfes (Gemeineigentum der Dorfgemeinde) könne Russland ohne wesentliche ökonomische und soziale Umgestaltungen allein durch die politische Revolution (Bakunin) direkt zum Sozialismus gelangen. Der russische Bauer war für sie „der geborene Revolutionär“. Für diese Auffassungen bildete die „Entdeckung“ der Dorfgemeinde als Umteilungsgemeinde die theoretische und politische Grundlage. Bis Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts standen Marx und Engels in heftiger Auseinandersetzung mit dieser Strömung des Anarchismus (Bakunin) und den slawophilen „Revolutionären“ in Russland. Der Brief von Marx (an Engels), auf den sich Goehrke im obigen Zitat beruft, macht dies deutlich.

Auf dem Museum … u.a. die neuesten Schriften von old Maurer (dem alten bayrischen Staatsrat, der schon Rolle gespielt als einer der Regenten Griechenlands und die Russen mit zuerst, lang vor Urquhart, denunziert) geochst über deutsche Mark-, Dorf- etc. Verfassung. Er zeigt ausführlich nach, dass das Privateigentum am Boden erst später entstand usw. Die blödsinnige westfälische Junkeransicht, dass die Deutschen sich jeder für sich niedergelassen und erst nachher Dörfer, Gaue etc. gebildet, vollständig widerlegt. Interessant gerade jetzt, dass die russische Manier der Wiederverteilung in bestimmten Terminen (in Deutschland erst jährlich) des Bodens sich in Deutschland stellenweis bis ins 18. und selbst 19. Jahrhundert erhielt. Die von mir aufgestellte Ansicht, dass überall die asiatischen resp. indischen Eigentumsformen in Europa den Anfang bilden, erhält hier (obgleich Mauerer nichts davon weiß) neuen Beweis. Für die Russen verschwindet aber auch die letzte Spur eines Anspruchs of originality, selbst in this line. Was ihnen bleibt, ist, noch heute in Formen zu stecken, welche ihre Nachbarn seit langem abgestreift. Die Bücher des old Maurer (von 1854 und 1856 etc.) sind mit echt deutscher Gelehrsamkeit geschrieben …“63 (Hervorhebung von mir; A.S.) Dies schrieb Marx 1868. Die Spitze gegen die russischen Slawophilen ist nicht zu überlesen.

Wenige Jahre später hat Marx neue Informationen über die russische Dorfgemeinde erhalten und bittet den russischen Übersetzer des Kapitals, Danielson, um Auskunft. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar für einige Informationen über Tschitscherin’s Auffassungen von der geschichtlichen Entwicklung des Gemeindeeigentums in Russland und über seine Polemik in dieser Angelegenheit mit Bjeljajew.64 Die Art, wie diese Form des Eigentums (geschichtlich) in Russland begründet wurde, ist natürlich eine Frage zweiten Ranges und hat überhaupt nichts mit der Bedeutung dieser Einrichtung zu tun. (Hervorhebung von mir, A. S.) … Zudem spricht alle historische Analogie gegen Tschitscherin. Wie soll es möglich sein, dass in Russland diese Institution als rein fiskalische Maßnahme, als Begleiterscheinung der Leibeigenschaft eingeführt worden sein soll, während sie überall natürlich entstanden ist und eine notwendige Phase der Entwicklung freier Völker bildete?“65

Die Nachfrage verdeutlicht, dass sich in Russland unterschiedliche Auffassungen zur Entstehungsgeschichte der russischen Dorfgemeinde herausbildeten. Marx – obwohl noch immer in offener Frontstellung zu den Slawophilen – hält die Entstehung der Dorfgemeinde aus „fiskalischen Maßnahmen“ für unwahrscheinlich, da für ihn weiterhin das Gemeineigentum am Boden „überall natürlich entstanden ist und eine notwendige Phase der Entwicklung freier Völker bildete“. Aber noch immer war die „Faktenlage“, der Forschungsstand der damaligen Zeit über die tatsächliche Entstehungsgeschichte, so spärlich, dass gesicherte Erkenntnisse nicht zu formulieren waren. Und so sprach nichts Ernsthaftes gegen die Hypothese von Marx und er konnte seinem Briefpartner (der Volkstümler war) das Zugeständnis machen, dass die Entstehung der Dorfgemeinschaft eine Frage „zweiten Ranges“ sei gegenüber der Bedeutung ihrer tatsächlichen Existenz. Wir werden sehen, dass auch diese Annahme falsch war.

Die wirkliche Geschichte der russischen Bauernschaft

Einerseits lässt man den Ausländer nicht das Dorf besuchen, damit er nicht etwas erblickt und es der Welt erzählt; anderseits wird der Russe vom Dorf ferngehalten, damit er nicht überflüssiges Licht in dasselbe hineinträgt. Ist es da nicht verwunderlich, dass nicht nur Europa, sondern auch Russland das Dorf nicht kennt.“ Wie schwierig es im 19. Jahrhundert gewesen war, ein genaueres Bild von der russischen Dorfgemeinde zu gewinnen, macht das obige Zitat aus dem Jahr 1906 deutlich. Carsten Goehrke, der es in seiner dreibändigen Geschichte des russischen Alltags anführt, fügt noch hinzu: „Die bäuerliche Welt Russlands zeigte sich also auch am Anfang des 20. Jahrhunderts Außenstehenden immer noch als ein kaum zugänglicher eigener Kosmos, und der Autokratie war es nur recht so.“66

Von der „russischen Bauernschaft“ zu sprechen ist irreführend, da sie sowohl geographisch als auch sozial sehr unterschiedlich geprägt war. Stephen A. Smith umreißt die ungefähre zahlenmäßige und regionale Verteilung der unterschiedlichen Teile der russischen Bauernschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „1905 verfügten in den 46 Provinzen des europäischen Teils von Russland 8,68 Millionen Haushalte über Land, das formell der kommunalen Neuaufteilung unterstand, während 2,3 Millionen über Landbesitz auf erblicher Basis verfügten (das also vom Vater auf den Sohn überging). … Im Baltikum gab es keine derartigen Dorfgemeinschaften, und in der Ukraine herrschte die Erbfolge vor.“67 In den zwei Jahrzehnten vor der Revolution sind also etwas mehr als ein Viertel der russischen Bauern Landeigentümer und annähernd dreiviertel der Bauern sind keine Eigentümer ihrer Ackerflächen. Sie besitzen sie durch die Dorfgemeinde, die Eigentümerin des Bodens ist und über seine Verteilung in der Dorfgemeinde entscheidet. Diese unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse sind dazu regional deutlich geschieden. Die Ukraine, das Baltikum, teilweise Sibirien und verschiedene kosakische Siedlungsgebiete sind Regionen mit Privateigentum am Boden. Hier nimmt die Revolution einen anderen Verlauf als in den Gebieten der Umteilungsgemeinde.

So kann auf den folgenden Seiten nur ein ganz kursorischer Rückblick auf die Geschichte der russischen Bauernschaft, hauptsächlich jener Bauern in den zentralrussischen Gebieten gegeben werden, um den Umfang dieser Rezension nicht zu sprengen. Hier und weiter südlich in dem zentralen Schwarzerdegebiet dominierte im 19. und 20. Jahrhundert die Umteilungsgemeinde, die auch im Zentrum der weiteren Darstellung stehen wird, da sie die entscheidende Kraft der bäuerlichen Agrarevolution 1917/18 bildete. Der interessierte Leser wird allerding genug Quellenhinweise finden, um das Thema vertiefen zu können.

Sehr dünn ist diese Quellenlage, wenn es um die Situation der Bauernschaft zur Zeit des Kiewer Rus geht. Gesicherte Hinweise aus Klosterakten gibt es erst ab dem 14. Jahrhundert. Dort ist von einer Umteilungsgemeinde noch keine Rede. Der Bauer sitzt auf einem durch Brandrodung (Schwendwirtschaft) geschaffenen Hof und ist im Regelfall auch Eigentümer des Hofes, wobei das „Eigentum“ an Land von geringer Bedeutung war, da er aufgrund seiner Wirtschaftsweise alle 20 bis 30 Jahre „umzog“. Geographisch bedingt ist er zumeist Waldbauer, der seinen Lebensunterhalt durch Jagd, Fischfang, Zeidlerei etc. aufbesserte.

Den Wald zu roden brauchte einen Arbeitsaufwand, der die Kräfte eines einzelnen überstieg. Daher kann man annehmen, dass anfänglich die erwachsenen Söhne mithalfen, die neue Wirtschaft aufzubauen, bevor auch sie sich selbstständig machten. Gelegentlich wurde auch ein Fremder als ‚Nachbar‘ (sosed) in Haus und Wirtschaft aufgenommen, um eine zusätzliche Arbeitskraft zu gewinnen. … Streusiedlung und Schwendwirtschaft bedingten einander anfänglich, denn da der Rotationszyklus der Schwendäcker zwanzig bis 30 Jahre betrug, benötigte schon ein einzelner Hof geeignete Waldreserven … Wegen des großen Arbeitsaufwandes und des Schrumpfens der Waldreserven dürften die Bauern sehr bald dazu übergegangen sein, die hofnahen Ackerländereien dauernd zu bewirtschaften.“68

Wie lässt sich der ökonomische, der soziale und rechtliche Status des russischen Bauern im Spätmittelalter fassen? „So entstand im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts der Typus des grossrussischen Waldbauern, der an Bewegungsfreiheit, wirtschaftliche Eigeninitiative und Selbstständigkeit gewöhnt war. Persönlich frei und an niemandes Weisungen gebunden entschied er selbst darüber, ob er an einem Ort bleiben wollte oder nicht. Das Spätmittelalter war eine Zeit ungebremster bäuerlicher Mobilität. Zeigte sich der Siedelplatz gegenüber Kriegszügen als zu exponiert, als zu anfällig für Missernten oder lagen die Abgaben zu hoch, suchte man sich einen anderen und nutzte die steuerfreien Jahre für Neusiedler. Diese Einstellung behielt der Bauer auch, wenn er sich auf dem Land eines Klosters oder weltlichen Grundherren niederließ. Zwar versuchten einzelne große Klöster bereits seit der Mitte des 15. Jahrhundert die Freizügigkeit ihrer Hintersassen einzuschränken, aber erst die Gerichtsordnung von 1497 schrieb generell vor, dass Bauern das von ihnen bewirtschaftete Land nur zu einem einzigen Termin im Jahr – jeweils eine Woche vor und nach dem St. Georgstag im Herbst (26. November) verlassen dürfen.“69

Der russische Bauer im 14. Jahrhundert ist in der Regel persönlich frei, von „ungebremster bäuerlicher Mobilität“, kennt zwar das „mir“ als unterste Verwaltungseinheit des zaristischen Staates, aber eben nicht als Umteilungsgemeinde. Die Steppe mit ihren fruchtbaren Schwarzerdeböden war noch von den Tataren beherrscht und konnte noch nicht von den russischen Bauern besiedelt werden. In den nordrussischen Waldregionen war die Siedlungsdichte der Bauernschaft weiterhin gering.

Rodesiedlung aber war gestreute Kleinsiedlung. Repräsentativ lässt sich dies auf Grund der weitgehend erhaltenen Steuerkataster des ausgehenden 15. Jahrhunderts für das Nowgoroder Land ermitteln, wo über 89 Prozent aller Siedlungen nicht mehr als vier Höfe zählten, über 40 Prozent aus lediglich einem Hof und 40 Prozent aus zwei Höfen bestanden. … Auch in den zentraler gelegenen Regionen des Nordost-Rus um Moskau prägte die Kleinsiedlung das Landschaftsbild. Steuerkataster aus dem 15. Jahrhundert sind hier zwar nicht erhalten, doch lassen sich aus den Grundbesitzakten vor allem des Metropolitenhauses und der großen Klöster lokale Situationsbilder gewinnen. Selbst im Kreise Moskaus zählten von den 130 Siedlungen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Besitz des Troize-Sergijew-Klosters standen, mehr als 45 Prozent nur einen bis zwei Höfe, mehr als drei Viertel hatten höchstens fünf Höfe.“70 Unter diesen Bedingungen ist eine Umteilungsgemeinde in der bäuerlichen Praxis bereits wegen der Dorfgröße weder sinnvoll noch erklärbar, erst recht nicht aufgrund der Produktionsweise, die vielfach noch immer durch die Brandrodung geprägt ist.

Die Entstehung der Umteilungsgemeinde und die „außerökonomische Gewalt“

Wie nun ist aus dieser persönlich freien und von erheblicher Mobilität geprägten Bauernschaft die Umteilungsgemeinde mit leibeigener Bauernschaft entstanden? Dies geschah keineswegs durch die Entwicklung der Produktivkräfte, die sich bis weit in die Moderne im russischen Dorf kaum änderten. Die Änderung der Produktionsverhältnisse und der rechtlichen Lage der Bauernschaft geschah durch „außerökonomische Gewalt“, durch Eingriff des Staates, der Klöster und der großen Landbesitzer. Sie verwandelten den freien und örtlich nicht gebunden russischen Bauer in einen unfreien, leibeigenen und dauerhaft an die Dorfgemeinde gefesseltes Ausbeutungsobjekt. Dies begann im 18. Jahrhundert, und der Prozess dieser gewaltsamen Umwandlung dauerte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Je nach Region und Rechtstellung der Bauernschaft geschah diese Umwandlung schneller oder langsamer. Im Zentrum der Schwarzerdegebiete geschah es deutlich schneller als in den Randregionen, bei den Staatsbauern langsamer als bei den Gutsbauern.

Aber dieser Eingriff der außerökonomischen Gewalt hatte auch eine bedeutende gesellschaftspolitische Auswirkung, die von den bürgerlichen Historikern wenig thematisiert wurde: Sie gab den landlosen und armen Bauern, also jenen Kategorien der Landbevölkerung, mit denen Lenin später das klassenpolitische Bündnis suchte, Land auf Kosten der wohlhabenden und landbesitzenden Bauernschaft. Die zwangsweise Erschaffung der Umteilungsgemeinde durch Staat, Kirche und Grundbesitz hatte neben der Steuereffizienz im Interesse der Herrschenden auch diese zweite Seite, dem landarmen Dorfbewohner Land zu verschafften und entsprechend der Entwicklung seiner Familiengröße auch weiterhin zu garantieren.

Die Annahme von Marx, dass „die Art, wie diese Form des Eigentums (geschichtlich) in Russland begründet wurde, … eine Frage zweiten Ranges“ sei, war darum unzutreffend. Für die Masse der armen Bauernschaft war die Schaffung der Umteilungsgemeinde gegen die landbesitzende, wohlhabende Bauernschaft ein wesentlicher Fortschritt bei der Verbesserung ihrer Lebenssituation. Dies erklärt, weshalb die große Mehrheit der russischen Bauernschaft die Umteilungsgemeinde auch im 20. Jahrhundert mit „Zähnen und Klauen“ verteidigt hat. Folgen wir nun den bürgerlichen Darstellungen aus verschiedenen Quellen, wie sie diesen Prozess der Entstehung der Umteilungsgemeinde schildern.

Alle Reformen (gemeint sind die Verwaltungs-, Armee- und Steuerreformen von Peter I; A.S.) kosteten Geld … Um die Reform zu finanzieren, … wurde das gesamte Steuersystem von der bisherigen Steuer je Hof (auf dem sich ja eine große Familie versammeln ließ) auf eine Kopfsteuer umgestellt, die Bauern und Sklaven gleichsetzte und von ‚jeder männlichen Seele‘ erhoben wurde. … Um die erhöhte Belastung durchzusetzen, mussten Gutsbesitzer und Staat die Gesamthaftung der bäuerlichen Gemeinden ausbauen. Da Steuer und Rekrutenaushebung Reiche und Arme in gleicher Weise trafen, wirkten sich Flucht oder Armut einer Familie, die einmal im staatlichen Register aufgenommen war, für alle im Dorf verheerend aus. Gutsbesitzer und Bauern gingen deshalb immer mehr dazu über, den alten Dorfgemeinden eine neue Funktion zuzuweisen – das Land unter alle gleichmäßig zu verteilen. Daraus folgte, da die Familien unterschiedlich wuchsen, dass das Land nach gewissen Fristen wieder neu verteilt werden musste, wobei als Maß entweder jede (männliche) ‚Seele‘ oder das ‚Joch‘ eines Ehepaares galten. Wo diese Regelung durchgesetzt wurde, verloren die Bauern also das private Besitzrecht am Boden.“71

Aus der untersten Verwaltungseinheit des russischen Staates, dem ‚MIR‘, entstand nun zusätzlich die Umteilungsgemeinde mit gemeinschaftlichem Bodeneigentum. Dies geschah natürlich keineswegs so reibungslos und harmonisch, wie die Darstellung Noltes es nahelegt. Der Druck des Staates und der Grundbesitzer auf die Bauern nahm bei dieser Neuordnung erheblich zu, die Leibeigenschaft der Bauern und ihre Bindung an die Dorfgemeinde bildeten sich heraus, und die wohlhabenden Landeigentümer wehrten sich entsprechend ihren Möglichkeiten.

Dies alles: die staatlichen (einheitlichen)72 wie die privaten (nach dem Grundherrn des zu bearbeitenden Landes differenzierten) Abgaben und Dienste organisierte und verteilte die Dorfgemeinde. Sie nahm nun in der Tat jene multifunktionale Form an, die ihr die Slawophilen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zuschrieben. Gehäuse der Selbstverwaltung war sie schon lange; diese Funktion dürfte die älteste gewesen sein und bis ins Mittelalter zurückreichen. … Als Gesamteigentümer und Organ der Um- und Zuteilung sowohl des Grund und Bodens als auch der staatlichen wie der privaten Abgaben und Leistungen aber nahm sie erst in den frühen Dekaden des 18. Jahrhunderts Gestalt an.“73

Die Einführung der Kopfsteuer samt der Regularisierung von bars̆c̆ina74 und obrok75 gab diesem Prozess einen weiteren endgültigen Schub. Denn nun bot es sich an, die erforderliche fiskalisch-ökonomische Leistungsfähigkeit durch eine entsprechende Landausstattung sicherzustellen. Die Verwaltungsgemeinde wurde über die Umteilungsgemeinde zur Solidarhaftungsgemeinde, der vor allem daran gelegen sein musste, nicht ‚steuerfähige‘ Armut zu vermeiden. Dass sie darüber hinaus die Ausbildung bestimmter Denk- und Handlungsmuster begünstigte und eine spezifische dörfliche Mentalität entstand, ergab sich mit erheblicher Zwangsläufigkeit. Und auch eine weitere, generelle Beschränkung der Freizügigkeit in Gestalt des 1719 verfügten Passzwangs gehört nicht nur in den Kontext der Konskription und des Problems der Desertion. Vielmehr half sie den Dorfgemeinden, … ihren Steuerpflichten nachzukommen. Da der Fiskus seine Forderungen auf der Grundlage der Revisionszählungen pauschal … an die obs̆c̆iny übermittelte, hatten diese ein lebhaftes Interesse daran, ihre Mitglieder am Ort zu halten. … Wenn man daher auf die einst heftig diskutierte Frage nach der Entstehung der obs̆c̆ina, ihrem historischen Kontext und ihren Gründen, eine Antwort geben will, so lässt sich am ehesten auf den Zusammenhang mit der Herausbildung der Leibeigenschaft bis hin zu ihrer fiskalischen Festschreibung unter Peter und seinen Nachfolgern verweisen: Die Dorfgemeinde in ihrer entwickelten Form des 19. Jahrhunderts war ihr Geschöpf und ihre elementare, unverzichtbare Funktionseinheit. Endgültig wurde die obs̆c̆ina nun zur geschlossenen dörflichen Lebenswelt, zu jenem monadischen Kosmos, der wenig Kontakte nach außen hatte und den Staat nicht nur als fremd, sondern vor allem als ausbeuterisch und bedrohlich betrachtete.“76

Wie kurz dargestellt, ist es einer ganzen Reihe bürgerlicher Wissenschaftler gelungen, die inzwischen zugänglichen Quellen zu nutzen, um die wirkliche Geschichte der Dorfgemeinschaft zu erforschen. Sie sind heute in der Lage, eine komplett andere Geschichte der russischen Dorfgemeinde präsentieren zu können, als wir sie in den Schriften von Marx oder Lenin finden können. Und dazu konnten wir erkennen, dass die „uralte Institution“ der Umteilungsgemeinde gerade wenige Jahrzehnte vor ihrer „Entdeckung“ durch Haxthausen ihre endgültige Form gewonnen hatte.

Ende des Einschubs aus den AzD Nr. 90]

Die Unterschiede zur europäischen Feudalität

Anders verlief die Entwicklung in der westeuropäischen Feudalität. Hier bestand der Staat aus der Lehenspyramide des Adels (Personenverbandsstaat). Der Adel konstituierte den Staat. Der westeuropäische Adel war nicht abhängig vom Staat, die feudale Staatlichkeit war abhängig von der Bereitschaft des Adels, seinen Lehensverpflichtungen nachzukommen. Die Staatlichkeit dieses Personenverbandsstaates endete bei den Rechten und Immunitäten, die sich der Adel und die Städte erstritten. Die Schwäche dieses feudalen Staatsgebildes ermöglichte erst den Aufstieg der europäischen Städte zur ökonomischen und politischen Selbständigkeit, eine Unmöglichkeit in den zentralisierten Staaten des Ostens.

Bildete der westeuropäische Ritter die militärische und verwaltungstechnische Grundlage des feudalen „Personenverbandsstaates“, dessen innere Zerrissenheit und Schwäche gerade die Grundlage für das Aufkommen der „freien euro­päischen Stadt“ (F. Heer) war, so bildete der russische „Ritter“ ein Organ der zentralistischen Macht des Zaren über die gesamte Gesellschaft. „Der moskowitische Dienststand (…) ist ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte der gesellschaftlichen Institutionen. Eigentlich ist er durch keine aus der abendländischen Geschichte entlehnte Bezeichnung wie Aristokratie oder Landadel befriedigend zu definieren. Er bildete ein Reservoir von erfahrenen Männern, die der Staat für alle erdenklichen Aufgaben heranzog, zur Kriegsführung, in Verwaltung, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Diplomatie, Handel und Gewerbe. Dass sie ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich aus der Nutzung des Landes und nach den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts durch die Ausbeutung der Arbeitskraft von Unfreien und Leibeigenen bezogen, ging auf eine Eigentümlichkeit der russischen Geschichte zurück, nämlich den Mangel an Bargeld. Später dann, im 18. und 19. Jahrhundert, wurde der beamtete Zweig des Dienststandes besoldet, womit sich aber weder sein Charakter noch seine Funktion nennenswert veränderten. Diese Klasse hatte ihre Wurzeln nicht, wie der Adel sonst überall in der Welt, im Land, sondern im Dienst für den Herrscher.“77

Der ökonomische Unterbau der europäischen Feudalität, der Bauer auf seinem individuellen Hof, fehlte in Russland – mit den benannten Ausnahmen – ebenso wie das Handwerk und Handelskapital der westeuropäischen Stadt. Damit fehlte aber in Russland das Entscheidende der westeuropäischen Feudalität, es fehlten alle jene Momente, die die Fortentwicklung der westeuropäischen Gesellschaften ermöglichten. Dieselben sind nicht mit der Übernahme eines Elements der westeuropäischen Heeresverfassung in die russische Gesellschaft zu verpflanzen.

Dass für Hintze die russische Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert feudale Züge aufweist, liegt an der Begrenztheit seines Zugangs, der ausschließlich staatsrechtliche Elemente und die Militärorganisation in den Blick nimmt. So gelangt er auch zu einem osmanischen und japanischen Feudalismus, bei dem ebenso Ähnlichkeiten oder Übernahmen der Heeres- und Staatsverfassung feststellbar seien, ohne dass vergleichbare gesellschaftliche Grundlagen vorliegen. Was man einem bürgerlichen Historiker, dessen Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, nur begrenzt zum Vorwurf machen kann, nämlich das Übersehen der ökonomischen Basis einer Gesellschaft, muss den „marxistischen“ Feudalismus-Anhängern der osteuropäischen Entwicklung unbedingt vorgeworfen werden: Sie ignorieren hartnäckig, dass der russische Bauer von gänzlich anderer Art war als sein westeuropäischer Widerpart, dass der russische Städter und Kleinbürger so gut wie nicht existierte und der russische „Ritter“ nur eine um 500 Jahre verspätete Kopie eines Teils der feudalen Heeresverfassung war, ohne jemals die historisch fortschrittliche Rolle des europäischen Ritters zu verkörpern und ohne dessen Rechte gegenüber seinem Lehnsgeber zu besitzen.

Gesellschaft und Staat

Nach der „asiatischen“ Modernisierung durch die Geldsteuer der Mongolen war die „europäische“ Modernisierung Russlands durch die Schaffung eines Dienst­adels das zweite Standbein des Zarentums. Beide Elemente wurden der russi­schen Gesellschaft „von außen“ aufgezwungen, entsprangen nicht ihrer eigenen sozialen Struktur.78 Diese Einflüsse aber machten Russland weder zu einer Gesellschaft asiatischen Typs, wie wir sie in China oder Indien finden, noch zu einem in der geschichtlichen Entwicklung zu spät gekommenen Feudalstaat westeuropäischen Zuschnitts. Mit den asiatischen Gesellschaften hat Russland die schwache Entwicklung des Privateigentums – eine Folge der vielfach als feudal eingeschätzten Reformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Dienstadel, [beginnende] Aufhebung der Freizügigkeit der Bauern) – und die patrimoniale Stellung des Herrschers79 gemeinsam. Von Europa entlehnte Russland seine Heeresreformen und später – im Zeitalter des europäischen Absolutismus – Momente der Staatsverwaltung.

Die russische Gesellschaft war trotz dieser Übernahmen weder asiatisch noch war sie feudal. Sie war eine Gesellschaft slawischer Ackerbauern unter den Bedingungen des kontinentalen Klimas. Aufgrund ihrer inneren Struktur war sie weitgehend unfähig zu einer dauerhaften Staatsbildung. Die Elemente der Staatsbildung mussten der slawischen Ackerbaugesellschaft unter den Bedin­gungen des Kontinentalklimas „von außen“ aufgezwungen werden. „Auf den ersten Blick betrachtet, hat die Natur Russland zur Existenz eines dezentralisierten Landes bestimmt, das aus einer Vielzahl in sich abgeschlossener Gemeinschaften besteht, die sich selbst verwalten. Hier spricht alles gegen eine Staatsbildung: Die Kargheit des Bodens, die weite Entfernung von den großen internationalen Handelsstraßen, die dünne Bevölkerung und ihre Mobilität.“80 So wie die Moskauer Staatsgründung Russlands auf die tatarischen Einflüsse zurückgreifen kann, so weist sie in der Organisation des Heerwesens und späterhin (unter Peter) in der Staatsverwaltung europäische Einflüsse auf.

Diese Widersprüchlichkeit zwischen russischer Gesellschaft und russischem Staat bildet die Grundlage für die unterschiedlichen Einschätzungen über den Charakter der russischen Verhältnisse. Wittfogel und später in seinem Gefolge Dutschke betonen die asiatischen Einflüsse, die [sowjetische] Geschichtsschreibung dagegen die europäischen Einflüsse. So kommen die erstgenannten zur „asiatischen Despotie“ und der osteuropäische Marxismus zum „Feudalismus“ der russischen Gesellschaft. In beiden Fällen wird die eigenständige ökonomische Struktur der russischen Gesellschaft missachtet.

II. Die europäische Feudalität

Die Sichtweise Lenins und fast des gesamten Marxismus zur Geschichte Russlands war um die Jahrhundertwende durch die europäische Entwicklung geprägt. Inwiefern Russland einen grundsätzlich anderen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung genommen hatte, wurde weder von Lenin noch von anderen führenden russischen Marxisten problematisiert. So schrieb beispielsweise Trotzki: „Die Grundelemente des russischen Feudalismus waren die gleichen wie im Westen“. Diesen Tatbestand hielt er für „unbedingt nachgewiesen“.81

Im vorigen Abschnitt haben wir das Problem des Charakters der russischen Gesellschaft behandelt [und kamen zu einem anderen Ergebnis]. Als eine Gesellschaft slawischer Ackerbauern war die russische Gesellschaft letztlich weder europäischen (feudal) noch asiatischen (hydraulische Gesellschaft) Zuschnitts. Sie war zweifelsfrei von den Einflüssen der unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen beider Kontinente gezeichnet, ohne jedoch ihre bestimmende Eigentümlichkeit als slawische Ackerbaugesellschaft zu verlieren. In der Oktoberrevolution, die mit ihrem „Dekret über den Grund und Boden“ faktisch ganz Russland zu einer Dorfgemeinde erklärte,82 wurde dieser Charakter der russischen Gesellschaft offenkundig.

Was im vorherigen Abschnitt am konkreten Fall Russlands erörtert wurde, soll im Folgenden grundsätzlicher aufgeworfen werden: die Frage nach dem Charakter der Gesellschaftsordnungen in Europa und im „Rest der Welt“ seit der Jahrtausendwende. Dies kann in einem Buch über die russische/sowjetische Geschichte nur thesenhaft geschehen, ist aber zu einer Abgrenzung gegenüber dem osteuropäischen Marxismus und seiner Interpretation sowohl der russischen Revolution im konkreten als auch seiner Gesellschaftslehre im Allgemeinen, notwendig. Der Verfasser ist in dieser Frage – im Gegensatz zum osteuropäischen Marxismus – der Ansicht, dass einzig die europäische Gesellschaft zu einer progressiven Entwicklung fähig war; während die anderen Regionen der Erde letztendlich durch Stagnation und Niedergang gekennzeichnet waren. Die allein in Europa sich herausbildende Feudalität war die Voraussetzung nicht nur für das Aufkommen – welches in vielen Gesellschaften zu beobachten war -, sondern auch für den Sieg der Bourgeoisie über die feudale Gesellschaft und den europäischen Siegeszug über die Erde.

Die Feudalität – ein Sonderfall der Geschichte

„Der Feudalismus ist nicht das Geschöpf einer immanenten nationalen Entwicklung, sondern einer weltgeschichtlichen Konstellation (…). Wir müssen das Vorurteil fahren lassen, das vielfach im Schwange geht, als ob er ein allgemeines Durchgangsstadium sei, das jedes Volk einmal durchmachen müsse. So einfach liegt die Sache nicht.“83 Für Otto Hintze, von dem diese Zeilen stammen, sind zwei Gedanken zum Thema Feudalismus bedeutsam. Zum ersten ist für ihn der Feudalismus nicht das alleinige Produkt der inneren Entwicklung eines einzigen Volkes, sondern nur als das Ergebnis eines Zusammentreffens unterschiedlicher Völker und Kulturkreise möglich.

Konkret entwickelt er diesen Gedanken am Beispiel der Entstehung der europäischen Feudalität: „Wir sehen vielmehr an dem Beispiel des fränkischen Reiches und der römisch-germanischen Welt, dass bei der Entstehung des Feudalismus zwei verschiedene Faktoren zusammenwirken, die wir auseinanderhalten müssen: einmal ein in der Geschichte häufig und mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrender, wir können sagen soziologischer Prozess, nämlich der Übergang von einer lockeren Stammes- und Sippenverfassung zu einer festeren Staats- und Gesellschaftsordnung, wie sie bei völliger und endgültiger Sesshaftigkeit einzutreten pflegt; und zweitens eine weltgeschichtliche Fügung – beim fränkischen Reiche der Kontakt mit der absterbenden Kultur und Zivilisation des römischen Reiches -, die diesen Prozess von seinem natürlichen, regelmäßigen Gange ablenkt und ihm die schicksalsvolle Richtung auf einen plötzlich, d. h. unvermittelt einsetzenden, viele Etappen überfliegenden Imperialismus gibt, der nichts geringeres bezweckt, als dieses gewaltige Weltreich oder wenigstens seine abendländische Hälfte durch eine heroische Kraftanstrengung jugendlich-roher kriegerischer Stämme zu unterwerfen und zu regieren (…) Meine These ist also die: Feudalismus im vollen Sinne stellt sich in der Regel nur da ein, wo die normale, direkte Entwicklung vom Stamm zum Staat abgelenkt wird durch eine weltgeschichtliche Konstellation, die zu einem überstürzten Imperialismus führt.“84

Die Feudalität im Sinne Hintzes hat also zwei Voraussetzungen: Einerseits ein Barbarenvolk auf der höchsten Stufe der Barbarei (definiert durch die beginnende Sesshaftigkeit und den Übergang von der lockeren Stammes- und Sippenverfassung zu einer festeren Gesellschaftsordnung) und zweitens jene „weltgeschichtliche Fügung“ des Zusammentreffens dieses kriegerischen Stammes mit der „absterbenden Kultur und Zivilisation“ eines Weltreiches.85 Aus dem Zitierten wird Hintzes zweite Grundthese deutlich. Wenn die Entstehung der Feudalität an das Zusammentreffen eines untergehenden Weltreiches mit einer „jugendlich-rohen“ Kriegergesellschaft auf der Oberstufe der Barbarei gebunden ist, so kann sie kein notwendiges, allgemeines Entwicklungsschema der Menschheit darstellen, welches alle Völker durchlaufen müssen.

Bei Hintze wird damit die Feudalität zu einem Sonderfall der Geschichte, zu einer Abweichung von der „normalen“ Entwicklung, die für Hintze vom Stamm zum Staat führt. Die Feudalität dagegen führe zum „überstürzten Imperialismus“ und behindere die Ausbildung eines „normalen“, zentralisierten Staatsapparates. Bei der Feudalität haben wir es somit mit einer Gesellschaftsordnung zu tun, die einerseits „viele Etappen überfliegend“ einen Imperialismus hervorbringt, andererseits einer normalen Ausbildung des Staatsapparates, der Weiterentwicklung einer Stammesgesellschaft zum Staat, im Wege steht.

Neben den angeführten Besonderheiten, die Voraussetzung für die Entstehung einer feudalen Gesellschaftsstruktur sind, arbeitet Hintze auch die seiner Auffassung nach bestimmenden Momente einer Feudalgesellschaft heraus: „Das sind also die drei Faktoren, die als Gesamteffekt den Feudalismus hervorbringen – wir können auch sagen: die drei Funktionen, in denen der Feudalismus sich auswirkt:
1. die militärische: Aussonderung eines hochausgebildeten, dem Herrscher in Treue verbundenen berufsmäßigen Kriegerstandes, der auf Privatvertrag beruht und eine bevorrechtigte Stellung einnimmt,
2. die ökonomisch-soziale: Ausbildung einer grundherrschaftlich­-bäuerlichen Wirtschaftsweise, die diesem privilegierten Kriegerstand ein arbeitsfreies Renteneinkommen gewährt,
3. lokale Herrenstellung dieses Kriegsadels und maßgebender Einfluss oder auch selbstherrliche Absonderung in einem Staatsverband, der dazu prädisponiert ist, durch eine sehr lockere Struktur, durch das Überwiegen der persönlichen Herrschaftsmittel über die anstaltlichen. (…)
Ich bin nun der Meinung, dass man von Feudalismus schlechtweg, d.h. in vollem Sinne, im Sinne eines Verfassungssystems, nur da sprechen sollte, wo diese drei Faktoren, sich gegenseitig bedingend, zusammenwirken, wie es bei den Nachfolgestaaten des karolingischen Reiches der Fall war, nicht aber schon da, wo nur der eine oder andere dieser Faktoren oder gar nur ein Ansatz dazu nachgewiesen werden kann. Dergleichen Ansätze finden sich zu allen Zeiten und bei vielen Völkern.“86

Feudalität wäre also nur dort anzutreffen, wo alle drei von Hintze benannten Faktoren, besondere (bevorrechtete) Stellung eines auf „Privatvertrag“ beruhenden Kriegerstandes, grundherrschaftlich-bäuerliche Wirtschaftsweise und „lockere Struktur“ des Staatsverbandes (Personenverbandsstaat) existieren. Einzelne dieser Elemente seien bei vielen Völkern zu verschiedenen Zeiten anzutreffen, nur die Gesamtheit dieser Faktoren aber erlaube es, von einer Feudalgesellschaft zu sprechen.

Marx und Engels zur Entstehung der Feudalgesellschaft

Die Ausführungen von Marx und Engels zur Entstehung der Feudalgesellschaft weisen in zentralen Punkten eine weitgehende Übereinstimmung mit den zitierten Auffassungen Otto Hintzes auf, ohne dass die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sich wie Hintze auf die staatsrechtliche Problematik dieser Frage konzentriert hätten.

Marx wie Engels gingen in ihren Arbeiten davon aus, dass die Ausbildung einer feudalen Gesellschaftsstruktur eine spezifisch europäische Besonderheit sei. Den Ursprung der europäischen Feudalität sahen sie – nach einer Formulierung von Marx – im Zusammentreffen von „germanischer Heeresverfassung“ und jenen „in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräften“87. Diese Formulierung entspricht weitgehend dem später (1928) von Hintze entwickelten Gedanken vom Zusammentreffen einer „absterbenden Kultur und Zivilisation“ eines untergehenden Weltreiches mit der eines Barbarenvolkes auf der Oberstufe der Barbarei, bei beginnender Sesshaftigkeit und dem „Übergang von einer lockeren Stammes- und Sippenverfassung zu einer festeren Staats- und Gesellschaftsordnung“.

Wie nun sahen Marx und Engels die „germanische Heeresverfassung“ und die „in den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte“, die beide zusam­mengenommen erst die Herausbildung der europäischen Feudalität ermöglicht hätten. Die germanische Heeresverfassung kennt mit Sicherheit seit der Zeitenwende zwei Momente, den Heerbann des gesamten Volkes und die Gefolgschaften des Stammesadels.88 Mit der Sesshaftigkeit des Stammes89 einerseits und den wachsenden Anforderungen des Kriegswesens (Verpflegung, Ausrüstung und Dauer der Kriegszüge) andererseits, verfällt der Heerbann und werden die ehemaligen Gefolgschaften immer mehr zur eigentlichen Grundlage der kriegerischen Macht.

Engels beschreibt diesen Prozess mit den Worten: „Die freien grundbesitzenden Bauern, die Masse des fränkischen Volkes (…), die ursprünglich das ganze Heer und nach der Eroberung Frankreichs dessen Kern gebildet hatten, waren am Anfang des neunten Jahrhunderts so verarmt, dass kaum noch der fünfte Mann ausziehen konnte. An die Stelle des direkt vom König aufgebotenen Heerbanns freier Bauern trat ein Heer, zusammengesetzt aus den Dienstleuten der neuaufgekommenen Großen“.90

Diese „Dienstleute der neuaufgekommenen Großen“ haben in den germani­schen Gefolgschaften ihren historischen Ursprung. Sie bilden die Grundlage für das sich später herausbildende Rittertum, d.h. für den berittenen, später gepanzerten Krieger von Profession. Die Kampfweise des Ritters erforderte seine individuelle Ausbildung und dauerndes körperliches Training; seine Ausrüstung (Pferd, Ersatzpferd, Speer, Lanze, Schild, Panzerung, Verpflegung, Knappe und weitere Begleitung) entsprechende arbeitsfreie Einkünfte. Das Berufskriegertum, in den germanischen Gefolgschaften bereits angelegt, erfuhr in der feudalen Kriegsverfassung in dem europäischen Ritter seine vollständige Ausbildung und christliche Verbrämung.

Die ökonomische Grundlage des feudalen Berufskriegers waren arbeitsfreie Einkünfte. Dieselben erwarb er entweder durch Landbesitz und die Abgabever­pflichtung der dort ansässigen Bauern oder durch den Eintritt in die Gefolgschaft eines größeren Fürsten, immer begleitet von der Hoffnung, durch seinen Kriegsdienst in den Besitz von Land zu gelangen. Und hier sind wir bei dem Problem des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte. Engels spricht in Bezug auf die Produktivkräfte zu Beginn der Feudalzeit davon, dass sie jenen glichen, die am Ende des römischen Reiches anzutreffen gewesen seien und deshalb „mit Notwendigkeit“ ähnliche Verhältnisse hervorgebracht hätten.91 Zugleich arbeitet er aber auch in diesem Zusammenhang das qualitativ Neue der europäischen Gesellschaft seit dem neunten Jahrhundert heraus.

Dem Schein nach war also die Masse der Bevölkerung nach vierhundert Jahren ganz wieder am Anfang angekommen. Das aber bewies zweierlei: Erstens, dass die gesellschaftliche Gliederung und die Eigentumsverteilung im sinkenden Römerreich der damaligen Stufe der Produktion in Ackerbau und Industrie voll­ständig entsprochen hatte, also unvermeidlich gewesen war; und zweitens, dass diese Produktionsstufe während der folgenden vierhundert Jahre weder wesentlich gesunken war noch sich wesentlich gehoben hatte, also mit derselben Notwendigkeit dieselbe Eigentumsverteilung und dieselben Bevölkerungsklassen wieder erzeugt hatte. Die Stadt hatte in den letzten Jahrhunderten des Römerreichs ihre frühere Herrschaft über das Land verloren und in den ersten Jahrhunderten der deutschen Herrschaft sie nicht wiedererhalten. Es setzt dies eine niedrige Entwicklungsstufe sowohl des Ackerbaus wie der Industrie voraus. Diese Gesamtlage produziert mit Notwendigkeit große herrschende Grundbesitzer und abhängige Kleinbauern. Wie wenig es möglich war, einerseits die römische Latifundienwirtschaft mit Sklaven, anderseits die neuere Großkultur mit Fronarbeit, einer solchen Gesellschaft aufzupfropfen, beweisen Karls des Großen ungeheure, aber fast spurlos vorübergegangene Experimente mit den berühmten kaiserlichen Villen. (…) Und doch war man während dieser vierhundert Jahre weitergekommen. Finden wir auch am Ende fast dieselben Hauptklassen wieder vor wie am Anfang, so waren doch die Menschen andere geworden, die diese Klassen bildeten. Verschwunden war die antike Sklaverei (…) Zwischen den römischen Kolonen und dem neuen Hörigen hatte der freie fränkische Bauer gestanden. (…) Die Gesellschaftsklassen des neunten Jahrhunderts hatten sich gebildet, nicht in der Versumpfung einer untergehenden Zivilisation, sondern in den Geburtswehen einer neuen. (…) Das Verhältnis von mächtigen Grundherren und dienenden Bauern (…) war jetzt (…) Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung. Und dann, so unproduktiv diese vierhundert Jahre auch scheinen, ein großes Produkt hinterließen sie: die modernen Nationalitäten, die Neugestaltung und Gliederung der westeuropäischen Menschheit für die kommende Geschichte. Die Deutschen hatten in der Tat Europa neu belebt, und darum endete die Staatenauflösung der germanischen Periode nicht mit normannisch-sarazenischer Unterjochung, sondern mit der Fortbildung der Benefizien und der Schutzergebung (Kommendation) zum Feudalismus.“92

Der Untergang des Römischen Reiches hat nach Engels mit Notwendigkeit die Herausbildung einer agrarisch geprägten Wirtschaftsweise von „mächtigen Grundherren und dienenden Bauern“ hervorgebracht. Die teilweise auf Sklaverei beruhende Wirtschaftsweise des Römischen Weltreichs war ökonomisch unhaltbar geworden und hatte sich mit dem Untergang des Reiches auch politisch überlebt. An die Stelle der mit Sklavenarbeit betriebenen Latifundien trat das Kolonat, eine Bewirtschaftung durch weitgehend rechtlose, an die Scholle gefesselte und mit dem Boden verkaufbare Arbeitskräfte. Dieselben Produktivkräfte – die vierhundert Jahre später an der Wiege der europäischen Feudalität noch immer prägend sind – bringen nun die bäuerlich-grundherrschaftliche Struktur der Landwirtschaft in Westeuropa hervor. Diese aber hatte nicht im römischen Kolonen, sondern im freien fränkischen Bauern mit seiner Markgenossenschaft ihr produktives und gesellschaftsprägendes Fundament.93 Damit wurde ein gesellschaftliches Verhältnis (Großgrundbesitz/Kolonat) welches in der antiken Gesellschaft eine „ausweglose Untergangsform“ war, bei einem weitgehend identischen Stand der Produktivkraftentwicklung in seiner neuen Form am Ende der Völkerwanderung als Verhältnis von Grundherr und Bauer, zum „Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung“, zur „Fortbildung (…) zum Feu­dalismus“. (Engels)

Das Verhältnis Grundherr/Bauer, welches die europäische Feudalität kenn­zeichnet, erlebte im Laufe der sieben Jahrhunderte des europäischen Mittelalters (800-1500) manche Formveränderung. Ausgangspunkt der Grundherrschaft ist die Verleihung bzw. Verschenkung von Land an die Notablen für Kriegsdienst und Verwaltungsaufgaben und die „Schutzbegebung“ des nicht mehr dem Heerbann Folge leisten könnenden Bauern.94 Somit wird die Grundherrschaft zu einer Herrschaft über „Land und Leute“.

„Das Wort Grundherrschaft meint, dass diese Bauern nicht nur deshalb Abgaben und Dienstleistungen an ihren Grundherrn erbringen, weil sie nicht Eigentümer des Bodens sind. Wäre es nur so, dann könnten wir sie als Pächter bezeichnen. Die grundherrlichen Bauern sind aber nicht nur im Hinblick auf den von ihnen bewirtschafteten Boden vom Grundherrn abhängig, sie unterstehen dem Grundherrn und sind ihm zu Diensten und Abgaben auch insofern verpflichtet, als er im Bereich seiner Grundherrschaft Funktionen ausübt, die wir heute staatliche Funktionen nennen würden. Der Grundherr sorgt für den Frieden in seiner Grundherrschaft, d. h. er sorgt für den geregelten Ausgleich von Konflikten unter den von ihm Abhängigen, er ist ihr Richter, und er sorgt für Schutz vor auswärtigen Angriffen, er führt Waffen. Oder, mit einem Ausdruck aus der Kirchenverfassung gesagt: die Grundherrschaft ist eine Art Immunität, d. h. ein Bezirk, in welchem der Herrscher, der König oder der Herzog, keine Gewalt ausübt, ein Bereich, in welchem die herrscherlichen Funktionen vom Grundherrn wahrgenommen werden, der deshalb auch die entsprechenden Abgaben und Dienstleistungen empfängt. Der Grundherr ist nicht nur Herr über Grund und Boden, sondern auch über die diesen bewirtschaftenden Menschen. Grundherrschaft ist ‚Herrschaft über Land und Leute‘.“95

Zwei der drei von Otto Hintze angeführten Faktoren, die seiner Auffassung nach zusammengenommen die Feudalität ausmachen würden (die bevorrechtete Stellung eines auf Privatvertrag beruhenden Kriegerstandes und die grundherrschaftlich-bäuerliche Wirtschaftsweise), haben wir in den Ausführungen von Marx und Engels zur Entstehung der europäischen Feudalgesellschaft ebenfalls auffinden können. Auf die dritte Besonderheit, die Lehenspyramide und den auf ihr beruhenden Personenverbandsstaat, werden wir im weiteren Verlauf der Darstellung noch eingehen. Wenden wir uns nun dem osteuropäischen Marxismus und seiner Sicht der Feudalgesellschaft zu.

Der osteuropäische Marxismus oder das weltweite Auftreten der Feudal­ordnung

Als Otto Hintze 1928 die eingangs dieses Kapitels zitierten Zeilen schrieb, hatte der osteuropäische Marxismus noch kein eigenständiges theoretisches Gesicht, die Konzeption, dass der Feudalismus keine europäische, sondern eine weltweite Erscheinung sei, hatte noch nicht das Attribut, eine „marxistische“ Konzeption zu sein. In den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts war die Situation bereits eine andere.

Der osteuropäische Marxismus hatte inzwischen ein eigenständiges theoretisches und politisches Gesicht gewonnen. So hieß es zum Thema Feudalismus in einem weit verbreiteten „Lehrbuch der Politischen Ökonomie“ von 1954: „Die Feudalordnung bestand, mit diesen oder jenen Besonderheiten, in fast allen Ländern. Die Epoche des Feudalismus umfasst eine lange Periode. In China bestand die Feudalordnung mehr als zweitausend Jahre. In den Ländern Westeuropas erstreckte sich der Feudalismus über Jahrhunderte, vom Untergang des Römischen Reiches (5. Jahrhundert) bis zu den bürgerlichen Revolutionen in England (17. Jahrhundert) und in Frankreich (18. Jahrhundert); in Russland bestand der Feudalismus vom 9. Jahrhundert bis zur Bauernreform 1861, in Transkaukasien vom 4. Jahrhundert bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, bei vielen Völkern Mittelasiens vom 7./8. Jahrhundert bis zum Sieg der proletarischen Revolution in Russland.“96

In den offiziellen Lehrbüchern wie in den entsprechenden Sammelbänden zur Geschichte bestimmter Regionen wird die Herausbildung einer Feudalgesell­schaft auf fast allen Kontinenten der Erde festgestellt. Dem entsprechend müs­sen wir auch in allen diesen Regionen Parallelen zur europäischen Entwick­lungsgeschichte ausmachen können. So heißt es z.B. in einer in der DDR erschienenen mehrbändigen Geschichte Afrikas: „In der Zeit seit dem 8./9. Jahrhundert hatte der Feudalismus welthistorisch die erste Klassen- und Ausbeutungsgesellschaft, wie sie im Alten Orient und in Gestalt der griechisch-römischen Sklaverei auftrat, bereits abgelegt, und er wurde für die gesellschaftliche Weiterentwicklung vieler Gebiete ausschlaggebend. Die konkreten natürlichen und historischen Bedingungen ließen die feudalen Verhältnisse in einer Vielzahl paralleler Varianten und Formen reifen und schufen in Afrika gleichfalls Spezifika dieser sozialökonomischen Entwicklung.“97

Eine afrikanische Variante der Feudalität wird so auch im „subsaharischen Afri­ka“ entdeckt. Der unleugbare Tatbestand einer weitgehenden gesellschaftlichen Stagnation in dieser Region wird den äußeren Einflüssen der westeuropäischen Kolonialmächte zugeschrieben.98 Die Tatsache, dass in diesen Regionen der Pflug nicht bekannt war, der Ackerbau als nomadisierende Brandrodung mit der Hacke betrieben wurde, dass das individuelle Eigentum kaum entwickelt war und die agrarische Produktion noch von „zahlreiche(n) urgesellschaftliche(n) Organisationsformen der patriarchalischen Sippe und der Großfamilie“99 geprägt wurde, dies alles hielt keinen Geschichtsforscher des osteuropäischen Marxismus von der Konstatierung feudaler Verhältnisse in Afrika ab.

Das hier am Beispiel des südlichen Afrikas demonstrierte Vorgehen treffen wir in den entsprechenden Büchern über die Geschichte Indiens, Chinas, Japans, Byzanz, des Osmanischen Reiches etc. durchgängig an. Die Feudalität als pro­gressive Gesellschaftsformation hat in den Lehr- und Geschichtsbüchern des osteuropäischen Marxismus die Völker fast aller Länder dieser Erde heimge­sucht. Ausschlaggebend für die Konstatierung feudaler Verhältnisse ist in diesen Publikationen weder der Entwicklungsstand der Produktivkräfte, noch ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem agrarischen Produzenten und dem Aneigner seines Mehrproduktes, noch eine näher bestimmte Form der Staatsverfasstheit, sondern einzig die Existenz sich verfestigender Ausbeutungsverhältnisse, die nicht entscheidend auf der Sklaverei oder dem industriellen Kapital beruhen.

Wenn die Feudalität – ganz im Gegensatz zu den eingangs vorgestellten Gedanken Otto Hintzes und den durchaus ähnlichen Auffassungen von Marx und Engels – überall die gesellschaftliche Entwicklung vorangetrieben haben soll (wie uns die osteuropäischen Marxisten und ihre westlichen Anhänger versichern), so bleibt die Frage nach den Ursachen des europäischen Siegeszugs über den Rest der Welt am Ausgang des Mittelalters zu erklären. Wenn dieser Siegeszug kein Produkt einer auf Europa beschränkten progressiven Gesellschaftsformation war, sondern diese Gesellschaftsformation sozusagen Gemeingut der Menschheit seit dem 9. Jahrhundert war, bedarf der europäische „Take-off‘ einer besonderen Erklärung.

Weshalb war Europa zu einer „schnelleren“ Entwicklung als die anderen „Feudalgesellschaften“ befähigt? In den marxistisch geprägten Geschichtsbü­chern wird auf den Entwicklungsstand der Produktivkräfte und die Konzentration des Kapitals verwiesen. Der „Frühkapitalismus“ der oberitalienischen und deutschen Handelsstädte wird so zum Vorboten des europäischen Siegeszuges über die Erde. Diese Argumentation hinkt und ist unbefriedigend.

Zum einen erklärt sie nicht, warum nur in Europa eine solche Entwicklung der Städte seit der Jahrtausendwende möglich war. Zum anderen macht eine vergleichende Betrachtung von Europa, China und dem Osmanischen Reich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert deutlich, dass weder von einem höheren Entwicklungsstand der Produktivkräfte in Europa die Rede sein kann, noch von einer stärkeren Konzentration des Handels- und Geldkapitals.

Der Entwicklungsstand der außereuropäischen Weit

Die drei großen Entdeckungen des europäischen Mittelalters, das Schießpulver mit seinen Folgen für das Kriegswesen, die Buchdruckerei mit ihren Folgen für die kulturelle Entwicklung und die entscheidenden Verbesserungen in der Hochsee-Schifffahrt, sind allen drei Kulturkreisen bekannt und haben zumeist sogar ihren Ursprung in der asiatischen oder islamischen Welt.

So schreibt Paul Kennedy mit Recht über den Entwicklungsstand der Produktivkräfte in China: „Für Leser, die erzogen wurden, die ‚westliche‘ Wissenschaft zu bewundern, muss das eindrucksvollste Merkmal der chinesischen Zivilisation seine technologische Frühreife sein. Schon früh gab es riesige Bibliotheken. Druck mit beweglichen Lettern gab es bereits im China des 11. Jahrhunderts, und schon bald erschien eine große Anzahl von Büchern. Handel und Industrie waren, angeregt durch den Kanalbau und den Bevölkerungsdruck, hochentwickelt. Die chinesischen Städte waren viel größer als die im mittelalterlichen Europa. (…) Papiergeld hatte den Handelsfluss und das Wachstum der Märkte gefördert. In den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts gab es in Nordchina bereits eine gewaltige Eisenindustrie. Sie produzierte etwa 125.000 t pro Jahr. (…) Bemerkenswert ist, dass diese Produktion weit höher war, als die des britischen Eisenausstoßes zu Beginn der Industriellen Revolution sieben Jahrhunderte später! Auch waren die Chinesen wahrscheinlich die ersten, die echtes Schießpulver erfanden; und Kanonen wurden bereits im späten 14. Jahrhundert von den Ming benutzt,100 um die mongolischen Herrscher zu stürzen (…) Der magnetische Kompass war eine weitere chinesische Erfindung, manche ihrer Dschunken waren so groß wie später die spanischen Galeonen.“101

Ähnliches ließe sich über die islamischen Großreiche seit dem 9. Jahrhundert zitieren. Maurice Lombard schreibt über die Stadtentwicklung in der islamischen Welt: „Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert ist die Islamische Welt Schauplatz eines phantastischen urbanen Aufschwungs. Dieser Aufschwung macht sich zunächst in der Gründung neuer Städte bemerkbar, von denen einige schnell die größten der Welt werden. (…) Neben diesen neuen Ballungszentren, die zum größten Teil ihre Rolle als Großstädte bis heute bewahrt haben, werden alte städtische Zentren wiederbelebt; ihr Territorium, ihre Bevölkerungszahl und ihr Einzugsgebiet erreichen Proportionen, die bis dahin unbekannt waren. Auf diese Weise entsteht ein umfassendes urbanes Netz, das durch die Verbindung von Stadt zu Stadt so etwas wie ein Kommunikationssystem der Islamischen Welt darstellt und gleichzeitig den Schaltkreis der großen Ströme der Kultur bildet. Das ist ein Faktum, dessen Tragweite bisher weder genügend beachtet, noch ins rechte Licht gerückt wurde; und doch überschreitet die Urbanisierungsbewegung bei weitem die des Römischen Reiches nach Kraft und Umfang“.102

Die Islamische Welt startete also ins zweite Jahrtausend nicht nur mit einer Kontinuität der Stadtentwicklung, die noch vom Römischen, später Oströmischen Reich herrührte, sondern erfuhr seit dem 8. Jahrhundert einen gewaltigen urbanen Aufschwung, der es zum „Schaltkreis der großen Ströme der Kultur“ machte. In diesen islamischen Metropolen ballten sich sowohl das Geldkapital, wie die kulturellen und technischen Errungenschaften des Altertums. Alle produktionstechnischen und ökonomischen Möglichkeiten des islamischen “Take-offs“ waren hier ebenso gegeben, wie in China zur Zeit der Ming-Dynastie. Was den Entwicklungsstand der Produktivkräfte und erst recht den des Geld- und Handelskapitals anbelangte, erreichte Europa (und dies auch nur in einzelnen seiner Regionen) erst zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert das Niveau der islamisch-asiatischen Welt.

Die klassischen „marxistisch-leninistischen“ Erklärungen verfangen also nicht, sie können keinen speziellen Grund dafür angeben, warum gerade das ökono­misch und politisch so zersplitterte Europa seinen Siegeszug gegenüber den zentralisierten Großreichen der asiatisch-islamischen Welt antreten konnte. Bürgerliche Historiker wie Kennedy oder Braudel, aber auch bürgerliche Wirtschaftstheoretiker wie Sombart erklären den europäischen Aufstieg vielfach gerade aus dieser Zersplitterung. Der Konkurrenzdruck treibe zur Entwicklung und Modernisierung, was in den zentralisierten Großreichen nicht gegeben sei.103 Oder sie erklären die europäische Entwicklung im Anschluss an Max Weber aus der Reformation, die das protestantische Arbeitsethos hervorge­bracht und in der Folge auch die katholische Kirche und ihre Weltanschauung modernisiert habe. Für Marxisten sind diese Erklärungen unbefriedigend, blei­ben sie doch auf der Ebene der Ideologie und der politischen Oberfläche. Letztlich können sie keine ökonomischen und sozialen Triebkräfte für den europäischen „Take-Off“ am Ausgang des Mittelalters benennen.

Die Besonderheiten der europäischen Feudalität

Hier gilt es noch einmal, den Schritt zurück zu machen zu den afrikanischen „Feudalgesellschaften“ des 11. bis 15. Jahrhunderts, die wir vorhin bereits erwähnt haben. Wenn wir diese Gesellschaften mit der europäischen Gesell­schaft vergleichen, fallen bei genauerer Betrachtung eine Fülle von Differenzen zur europäischen Feudalgesellschaft auf; Unterschiede, die aber ebenso zur sozialen Struktur der islamisch-asiatischen Großreiche bestehen, die zweifelsfrei ökonomisch und kulturell deutlich fortgeschrittener waren als jene noch weitgehend der Urgesellschaft angehörenden „Feudalreiche“ Afrikas aus den Märchenbüchern [des osteuropäischen Marxismus].

Im Folgenden soll nun versucht werden, über den staatsrechtlich beschränkten Blickwinkel Otto Hintzes hinausgehend, zu einer Definition der entscheidenden Besonderheiten der europäischen Feudalordnung zu gelangen. Entscheidende Besonderheiten sind jene konstitutiven Momente, die die europäischen Gesell­schaften zu einer progressiven Entwicklung befähigten, die schließlich zur Her­ausbildung kapitalistischer Verhältnisse, zur „Europäisierung der Erde“ führten.

Die erste Besonderheit besteht m.E. in der Produktion des materiellen Lebens. Ackerbau und Viehzucht – ein feststehender und heute leicht abwertend belegter Begriff – sind als geschlossene Wirtschaftseinheit vermutlich eine europäische Besonderheit.104 Historisch war dies eine Folge der Verschmelzung der Berg- und Nomadenvölker mit den Ackerbauern der Flusstäler. Diese Entwicklung ist eine historische Besonderheit Europas,105 da diese beiden Kulturen (Ackerbauern und viehzüchtende Nomaden) sich in der außereuropäischen Welt getrennt entwickelten und feindlich gegenüberstanden. Alle Großreiche Asiens beruhen letztendlich auf dem Ackerbau106 und waren das beständige Opfer der sie alle 100 bis 200 Jahre überfallenden Nomadenvölker.

Das spezielle, geschlossene Wirtschaftssystem Europas dagegen beschreibt Braudel folgendermaßen: „Weizenanbau und Viehzucht sind also eng miteinander verbunden, nicht nur was die Düngung, sondern auch was die Bewirtschaftung der Felder betrifft, die nur mit Hilfe von Zugtieren bewältigt werden kann. Ohne zusätzliche Hilfe kann der Mensch höchstens zwei Hektar Land umgraben, er kann sich also unmöglich allein an die Bearbeitung des Ackerlandes machen. (…) Im Laufe der Zeit hat sich auf diese Weise im Getreideanbau Europas – mit regionalen Unterschieden – nach den Beobachtungen von Ferdinand Lot, ‚ein kompliziertes System von Beziehungen und Gewohnheiten herausgebildet, in dem alles bis ins Kleinste geregelt ist’. Pflanzen, Tiere und Menschen – alles hat hier seinen bestimmten Platz. Ohne das Zusammenwirken von Bauern und Zugtieren, aber auch ohne die nach dem Almabtrieb auf den abgeernteten Feldern weidenden Tierherden und ohne die zur Erntezeit ins Land kommenden Saisonarbeiter, wäre der Getreideanbau undenkbar.“ Braudel bewundert an diesem System „die Arbeitsteilung zwischen landwirtschaftlicher Arbeit und der Viehzucht sowie Verwendung der Tiere, diese für die ländlichen Gebiete des Okzidents und des Mittelmeerraums so charakteristische Verbindung“.107 Diese auf Ackerbau- und Viehzucht beruhende Gesellschaftsformation schreitet mit Notwendigkeit zur Herausbildung von Privateigentum des Produzenten an seinem Ackerland – nicht an der gemeinsamen Viehweide – fort.

Eine völlig andere Produktionsweise liegt den auf der Reisproduktion beruhen­den Reichen Asiens zugrunde. Der Reis spielt in dieser Region noch eine vergleichsweise bedeutendere Rolle für die Ernährung der Bevölkerung als Weizen und Roggen in Europa. In Europa lag der Anteil von Weizen und Roggen an der Ernährung der Bevölkerung zwischen 50 und 70 %, in Asien besaß der Reis einen Anteil von deutlich über 90 %.

Braudel beschreibt die gesellschaftliche Organisation des Reisanbaus: „Alles in allem erfordert der Anbau von Reis einen ungeheuer großen Arbeitsaufwand und den Einsatz zahlloser Menschen. Zudem funktioniert das Ganze nur dann reibungslos, wenn die verschiedenen Teile der ganzen Bewässerungsanlage genau aufeinander abgestimmt sind und einer ständigen Überwachung unterliegen. Voraussetzung hierfür ist eine festgefügte Gesellschaft, die Autorität eines Staates und schließlich ununterbrochene Arbeit. (…) Der Anbau von Reis führte regelmäßig zu einem Zusammenschluss mehrerer Dörfer, da einerseits die damit zusammenhängende Arbeit nur im Kollektiv zu bewältigen ist, anderseits die ländlichen Gebiete Chinas häufig von Überfällen bedroht wurden, gegenüber denen der einzelne machtlos war. Dort, wo die Reisfelder gediehen sind, haben sich eine große Bevölkerungsdichte und starke gesellschaftliche Ordnungen herausgebildet.“108 Eine auf Überschwemmungs- oder Bewässerungskulturen basierende Ackerbaugesellschaft bedarf nicht nur des Staates – für die öffentlichen Arbeiten -, sondern der Arbeit der gesamten Dorfgemeinde bei Auspflanzung und Ernte. Der Herausbildung individuellen Eigentums an Grund und Boden steht hier die fortgesetzte gesellschaftliche Form der Produktion entgegen.

So argumentiert auch Engels, wenn er schreibt: „Die Abwesenheit des Grundeigentums ist in der Tat der Schlüssel zum ganzen Orient. Darin liegt die politische und religiöse Geschichte. Aber woher kommt es, dass die Orientalen nicht zum Grundeigentum kommen, nicht einmal zum feudalen? Ich glaube, es liegt hauptsächlich im Klima, verbunden mit den Bodenverhältnissen, speziell mit den großen Wüstenstrichen, die sich von der Sahara quer durch Arabien, Persien, Indien und die Tatarei bis ans höchste asiatische Hochland durchziehen. Die künstliche Bewässerung ist hier erste Bedingung des Ackerbaus, und diese ist Sache entweder der Kommunen, Provinzen oder der Zentralregierung.“109 Hier führt Engels die gemeinschaftliche Form der Produktion und Bewässerung als Grundlage für den faktischen Staats- oder Gemeindebesitz an Grund und Boden im Osten an.110

Kommen wir nun zur zweiten Besonderheit der europäischen Feudalität. Die weitgehend individuelle Form der agrarischen Produktion wirkt auch auf das Kriegswesen. Die verstreuten agrarischen Produzenten sind nicht in der Lage, Massenheere zu finanzieren und aufzustellen, wie wir sie vom Altertum oder den Großreichen des Ostens her kennen. Der europäische Krieger des Mittelalters ist der gepanzerte Reiter (Ritter), der sowohl in Ausrüstung wie Art der Kriegsführung sich deutlich von denen in der Regel auf Sklaverei oder Nomadenkriegern beruhenden Massenheeren des asiatisch-islamischen Raumes unterscheidet.

In welchem Maße der europäische Ritter Produkt sowohl der schwachen ökonomischen Grundlage der Feudalgesellschaft als auch Antwort auf die militärischen Erfordernisse des ausgehenden ersten Jahrtausends war, entwickelt Michael Howard: „Der Feudalismus war eine Antwort sowohl auf wirtschaftliche als auch auf militärische Erfordernisse. (…) Zu Anfang des 9. Jahrhunderts (war) Geld in Europa knapp geworden und daher Grund und Boden die einzige Quelle von Wohlstand. Außerdem machte die Vielfalt der Bedrohungen, deren sich die Karolinger zu erwehren hatten, eine möglichst große Beweglichkeit ihrer Kräfte erforderlich, – eine mindestens ebensolche Beweglichkeit, wie sie die Wikinger dank ihrer wendigen Schiffe oder die Magyaren mit ihren robusten kleinen Pferden besaßen. Nur das Pferd konnte eine solche Beweglichkeit gewähren. Und nachdem im 8. Jahrhundert bei den Franken der Steigbügel in allgemeinen Gebrauch gekommen war, konnte das Pferd (…) auch zum Kampf benutzt werden. Geschwindigkeit konnte in Stoßkraft umgesetzt werden. Der Speer brauchte nicht mehr geworfen, sondern konnte als Lanze angelegt und in den Körper des Gegners gerammt werden. Ein solchermaßen bewaffneter Reiter besaß gegenüber einem zu Fuß Kämpfenden einen ebensolchen Vorteil wie tausend Jahre später ein Schütze mit einem Hinterladergewehr gegenüber einem nur mit einem Speer bewaffneten Feinde. (…) So war im 8. und 9. Jahrhundert der einzige ernstzunehmende Krieger – der einzige miles (Soldat), der zählte – der bewaffnete Reiter, der Ritter.“111

Das, was Michael Howard hier aus den Erfordernissen des Kriegswesens und der Entwicklung der Technik herleitete, entwickelt Hintze aus der Sozialstruktur der Gesellschaft mit denselben Argumenten wie wir sie bereits von Friedrich Engels kennen. „Militärisch bedeutet das Feudalsystem die Verdrängung des alten Heerbannes, der in der Hauptsache Fußvolk gewesen war, durch eine schwer gerüstete Reiterei, die nicht sowohl in taktischen Verbänden durch den Schock des Massenangriffs, als vielmehr durch die persönliche Tapferkeit und Geschicklichkeit des einzelnen Ritters, im Einzelkampf also, ihre Erfolge erringt. Der alte Heerbann verschwand nicht völlig, aber er verlor seine militärische Bedeutung. Mit den wirtschaftlich-sozialen Veränderungen seit der Besiedlung des gallischen Landes, mit der festeren Einwurzelung der Bevölkerung in den Boden, mit der Entstehung grundherrlich-bäuerlicher Abhängigkeitsverhältnisse hatte der alte Kitt der germanischen Heere, der familienhaft-genossenschaftliche Zusammenhalt, seine Kraft verloren; und zur künstlichen Disziplinierung eines Fußvolkes war in den naturalwirtschaftlichen Verkehrsverhältnissen der Zeit keine Möglichkeit vorhanden.“112 Der berittene, später gepanzerte Einzelkämpfer, der von einer abgabenpflichtigen Bauernschaft – die sich dadurch vom Militärdienst befreite – unterhalten wird, bildet die Grundlage des feudalen Heerwesen und des Staatsaufbaus.

Damit aber sind wir bei der dritten Besonderheit der europäischen Feudalität, dem feudalen „Personenverbandsstaat“, dem europäischen Gegenstück zu den zentralisierten Reichen des Ostens. Dass sich auf dem Boden der weiter oben geschilderten unterschiedlichen Formen der Agrarproduktion dauerhaft auch deutlich unterschiedliche Formen des Eigentums, des Militärwesens und der Staatsverwaltung herausbilden, liegt auf der Hand. Eine auf Ackerbau und Viehzucht beruhende Produktionsweise bedarf nicht jener staatlichen Zentralisation, die für die großen Bewässerungs- und Überschwemmungskulturen Asiens, Nordafrikas und auch Lateinamerikas unumgänglich für Produktion und Verwaltung waren. Die politische Zersplitterung Europas im Mittelalter ist in gewissem Sinne unausweichliche Folge dieser Form der agrarischen Produktion.

Die europäische Feudalität besaß nicht nur eine eigenständige Wirtschaftswei­se, bildete nicht nur einen besonderen Kriegertypus heraus, sondern ebenso eine besondere Form der Staatsverwaltung – soweit man in der Feudalität über­haupt von einer solchen sprechen kann. Feudalität ist eine Form des „Personenverbandsstaats“, der erst am Ende seiner Existenz einen entwickelten Staatsapparat herausbildete. Grundlage des „Feudalstaates“ ist die bereits beschriebene Grundherrschaft. Sie beruhte zumeist auf einem Lehen, der Vergabe von Grundbesitz durch den Fürsten oder König für geleistete und zukünftige Kriegsdienste. Dieser Landbesitz sollte dem Ritter ein arbeitsfreies Einkommen sichern und damit seinen fortgesetzten Kriegsdienst ermöglichen. Zugleich aber war er mit der Annahme des Lehens dem Lehensgeber verpflichtet, sowohl zum Kriegsdienst als auch zu Verwaltungsaufgaben.

Die so entstandene Lehenspyramide113 war die Grundlage der feudalen Staatsverwaltung. Sie war funktionsfähig, solange der Belehnte seinen Verpflichtungen nachkam, bzw. der Lehensgeber die Einhaltung der Verpflichtungen durchsetzen konnte. Verfiel die Macht des Lehensgebers, oder entwickelte sich die Macht des Lehensnehmers, z. B. durch die Annahme weiterer Lehen von anderen Fürsten, zerfiel der darauf beruhende Staatsaufbau.

In diesem System angelegt ist die Verselbständigung des Lehens gegenüber dem Lehensherrn. Hat der Lehensmann einmal Land (oder einen Gerichtsbe­zirk) zu seiner Verfügung erhalten, fällt es dem Lehensherrn von Generation zu Generation schwerer, seine Oberhoheit über das Lehen zu behaupten. Solche Entwicklungen prägen das gesamte europäische Mittelalter, das deshalb eine Vielzahl von konkurrierenden Feudalherrschaften hervorgebracht hat. Unter diesen Bedingungen konnte sich kein starker Zentralstaat herausbilden.

Vergleichen wir diese Staatsverwaltung bspw. mit dem chinesischen Gesell­schaftsaufbau. Staat und Gesellschaft in China waren wesentlich durch die Beamtenschaft, die Mandarine, geprägt. Mit Hilfe eines Prüfungssystems gelang es dem Kaisertum, sich unabhängig von einer rivalisierenden Aristokratie einen funktionierenden Herrschaftsapparat aufzubauen.

Wer in die Dienste des Kaisers treten wollte, musste sich einer Prüfung unterziehen, deren Bestandteil u.a. die Kenntnis des konfuzianischen Systems war. Um die Prüfung erfolgreich zu bestehen, war eine umfassende und langjährige Vorbereitung unabdingbar. Diese Vorbereitung erforderte einen erheblichen finanziellen Aufwand, der von der Familie des Prüflings erbracht werden musste. Gelang es, die Prüfung erfolgreich zu absolvieren und in die Reihen der Beamtenschaft aufzurücken, wurde zum einen das Ansehen der gesamten Familie gehoben. Wesentlicher noch war jedoch die Tatsache, dass der Beamte in kaiserlichem Dienst ein Vermögen erwerben konnte. Dieses Vermögen ersetzte der Familie die Auslagen für die Ausbildung des Prüflings und vermehrte u.U. darüber hinaus das Familienvermögen.

Das chinesische Prüfungssystem gewährleistete die Stabilität des Zentralstaats. Die feudale Zersplitterung des europäischen Raumes konnte auf diese Weise vermieden werden. Gleichzeitig widerstand das Prüfungssystem aber jeder Veränderung. Die Beamtenschaft verhinderte aktiv das Aufkommen einer unabhängigen Handelsbourgeoisie, die ihre gesellschaftliche Monopolstellung bedroht hätte. So wurde im 15. Jahrhundert durch ein einfaches kaiserliches Edikt der florierende chinesische Überseehandel verboten. China isolierte sich vom Rest der Welt. Weite Teile des sonstigen Handels wurden zum Staatsmonopol gemacht. Gewinne aus dem Handel unterlagen einer hohen Besteuerung.

Die Kaufleute waren darauf verwiesen, ihre Kinder auf das Prüfungssystem zu orientieren. Sie wurden so Bestandteil der chinesischen Organisation von Staat und Gesellschaft und entfalteten niemals in diesem System Sprengkraft. Der Preis des chinesischen Zentralstaats war die Stagnation von Staat und Gesell­schaft über einen Zeitraum von fast einem Jahrtausend hinweg.114

Der hier als Beispiel geschilderte chinesische Zentralstaat erscheint als ein un­geheuer mächtiges Gebilde gegenüber den europäischen Staaten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Die unübersehbare innere Schwäche des feudalen Staates, angelegt im Lehenssystem, wurde aber die Grundlage der progressiven euro­päischen Entwicklung. Nur sie ermöglichte das Aufkommen der Städte, mit denen später das Königtum die Macht der feudalen Territorialherrscher brechen konnte. Die feudale Gesellschaftsordnung, diese „weltgeschichtliche Fügung“ wie Hintze ihre Entstehung in Europa bezeichnet, diese Abweichung von der normalen Entwicklung, ist das Geheimnis des europäischen Aufstiegs ab der Jahrtausendwende. Mit der Entwicklung der feudalen Gesellschaft, mit der Entstehung der bürgerlichen in ihrem Schoß – und nur in diesem Schoß konnte sie entstehen – begann der europäische Siegeszug über die Erde.

Die Überwindung der feudalen Zersplitterung bedarf eines Moments, einer Kraft, die außerhalb dieser Form der Produktion und in einem gewissen Sinn auch außerhalb der feudalen Staatsverwaltung liegt: der europäischen Stadt. Damit sind wir bei der vierten unübersehbaren europäischen Besonderheit, der Stadtentwicklung und ihrer speziellen Stellung im ökonomischen und politischen System des Feudalismus. Auch die europäische Stadt ist einzigartig, sowohl in ihrer Entwicklung als auch ihrer Rechtsstellung. Nicht die Größe der Städte macht ihre Bedeutung für die europäische Entwicklung aus – hier waren die Metropolen Asiens und der islamischen Reiche immer deutlich größer als die bedeutendsten europäischen Städte des Mittelalters.115 Ihre einzigartige Stellung beruht auf der letztendlich durch die Form der agrarischen Produktion bedingten politischen Zersplitterung Europas. Sie ermöglichte es den Städten, zu einer eigenständigen, der agrarisch-feudalen Gesellschaft gegenüberstehenden Wirtschafts- und Rechtsform zu gelangen.

Die mittelalterliche europäische Stadt ist insofern Bestandteil der Feudalität, als sie sich nur in diesem durch die Feudalität geprägten Raum entwickeln kann. Sie steht im Gegensatz zu dieser feudalen Gesellschaft, weil sich in ihr die Kräfte und Mittel entwickeln, die zur Überwindung der feudalen Zersplitterung notwendig sind. Zutreffend definiert Friedrich Heer den Unterschied zwischen einer russischen und der europäischen Stadt. „Die russische Stadt entwickelt sich aus einer Burg (gorod = Stadt heißt diese Fluchtburg der Stämme ursprünglich), in ihrer Nähe lassen sich Handel- und Gewerbetreibende nieder: in der Vorstadt, im possad. Mit dem Handel befassen sich die höchsten Schichten, die Fürsten und ihr Waffengefolge. Später betreiben die ‚Gäste‘, privilegierte Kaufleute, Handel im Auftrag des Zaren (…) als eine Art Angestellte des Zaren. Der Moskauer Zar wird der größte Händler seines Landes.

Der Herrensitz in der Stadt, der Kreml, ist, entsprechend frühmittelalterlichen westeuropäischen Verhältnissen, streng getrennt durch Burg und Mauer von der ‚Vorstadt‘, dem possad, dessen Kaufleute und Handwerker nie zu einer rechtlichen Einheit, zu einem Bürgerverband der Stadt aufsteigen. Es gibt in Russland kein Stadtbürgertum westlicher Prägung.

Hier gibt es keine Bürgergemeinde, kein Stadtrecht, keinen Rechtssatz wie ‚Stadtluft macht frei‘. In der Stadt, im possad, hausen freie und unfreie Leute. Der später in die Stadt ziehende Bauer bleibt ein Leibeigener, kann von seinem Herrn jederzeit auf das Land zurückgeholt werden. Das städtische Handwerk ist kümmerlich, wenig entwickelt. Das Gewerbe ist in Russland weithin eine bäuerliche Tätigkeit. In der Stadt kommt es deshalb auch zu keiner Bildung von Zünften und Gilden. Ein und dieselbe Person ist da oft gleichzeitig Schneider, Schumacher, Bauer und Holzarbeiter. Stadt und Land gleiten ineinander über, während in Westeuropa die Trennung des städtischen Rechts- und Friedensbezirkes vom Land den wesentlichen Unterschied ausmacht, den Aufstieg der Städte begründet. Die adeligen Herren herrschen da, in der russischen Stadt, ebenso über ihre Leute wie auf dem Land. Das Fehlen eines Stadtbürgertums bildet zusammen mit der Untertänigkeit der Bauern und des Adels – sie alle sind später ‚Seelen‘, die dem Zaren gehören – das wichtigste Merkmal einer östlichen Gesellschaftsordnung, die sich im Mittelalter wie nachher fundamental von der Westeuropas abhebt.“116

In ähnlicher Weise schildert Braudel die „Städte des Orients und des Fernen Ostens“ im Unterschied zu der westeuropäischen Stadt: „Die Stadt ist der Sitz der Beamten und der Grundbesitzer; Kaufleute und Handwerker spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Entwicklung eines Bürgertums ist hier mit manchen Schwierigkeiten verbunden (…). Ein Eigenleben der Städte hätte sich nur dann entwickeln können, wenn sich die Stadtbewohner und das Wirtschaftsleben frei hätten entfalten können.“117 Dementsprechend war der Aufstieg der Städte im Osten an die Stärke und Festigkeit der Zentralgewalt gebunden. War diese Zentralgewalt stark, wuchsen die Städte; war sie schwach, zerfielen sie.

Ganz anders die Entwicklung der Städte im europäischen Mittelalter. Für ihre Entfaltung war die Schwäche der staatlichen Macht geradezu das Lebenselixier. Deshalb brachten Italien und Deutschland zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert die entwickelsten Stadtkulturen Europas hervor.118 Erst mit der Herausbildung der zentralisierten Staatsmacht am Ausgang des Mittelalters wurde die Macht und Bedeutung „der Glanzpunkt(e) des Mittelalters“, die Marx im „Bestand souveräner Städte“119 in Europa sah, gebrochen. Die mittelalterlichen Städte wurden vom absoluten Königtum unterworfen und waren nunmehr eine Stütze der Zentralmacht, die in der Regel bereits die modernen europäischen Nationalstaaten repräsentierte, gegen die feudale Zersplitterung. Die europäische Stadt, die nur unter den Bedingungen des „schwächlichen“ Personenverbandsstaates entstehen konnte, leistete so ihren Beitrag zur Überwindung einer feudalen Staatsstruktur.

Hier wäre nun der Bogen zu schließen. Es ist eine schlichtweg falsche Annahme, dass sich die gesamte außereuropäische Welt auf einer progressiven, aus inneren Gegensätzen gespeisten Entwicklung zur Moderne befunden habe, die durch den europäischen Kolonialismus abgeschnitten oder behindert worden sei. Vielmehr ist jene vom osteuropäischen Marxismus als „reaktionär“ und „bürgerlich“ bezeichnete Auffassung von einem weitgehend stationären Charakter fast aller außereuropäischen Gesellschaften wohl zutreffend.

Diese Anschauung hat zumindest zwei offenkundige Vorzüge: Zum ersten kann sie den europäischen Aufstieg vom Ausgang des Mittelalters an erklären,- ohne das Niveau der Produktivkräfte und des Kapitals in den anderen entwickelten Regionen der Welt zu missachten – und zweitens entspricht sie – wie wir gesehen haben – sowohl den Tatsachen, wie auch den Auffassungen von Marx und Engels, die nie etwas anderes formuliert hatten, als die Feudalität als etwas spezifisch Europäisches zu begreifen.

Nicht der europäische Kolonialismus hat somit der dritten Welt den Weg in das industrielle Zeitalter verbaut, sondern im Gegenteil hat derselbe den stationären Charakter dieser Gesellschaften aufgesprengt, wie Marx es am Beispiel Indiens und Chinas in einer ganzen Reihe von Artikeln erläutert hat – und dieselben Staaten damit erstmals für eine „europäische“ Entwicklung geöffnet.

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1 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Bd. 2, S. 375

2 Herman Gorter, Offener Brief an den Genossen Lenin, in: A. Pannekoek, H. Gorter, Orga­nisation und Taktik der proletarischen Revolution. Frankfurt 1969, S. 178.

3 Pannekoek, Weltrevolution und Kommunistische Taktik, in: ebd. S.159

4 Ebd. S. 131 ff.

5 Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hrsg. von Christian Riechers, Frankfurt/M. 1967

6 Karl A. Wittfogel, Die Orientalische Despotie. Frankfurt/M. Berlin Wien 1977, S. 261.

7 Ebd., S. 250-251

8 Karl Marx, Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1977.

9 Ebd., S. 81

10 Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Berlin 1974, S. 55ff.

11 Eine kurze, aber treffende Zusammenfassung der Kritiken an Dutschkes Position gibt Marcel van der Linden, in: Von der Oktoberrevolution bis zur Perestroika: der westliche Marxismus und die Sowjetunion, Frankfurt/M. 1992, S. 177ff.

12 Dutschke, a.a.O., S. 55

13 Geschichte der UdSSR in drei Teilen. Teil I, Köln 1977, S. 22.

14 Z. (Zeitschrift Marxistische Erneuerung), Nr. 12, Dezember 1992, S. 34 – 54. Der Beitrag von Michael Schneider besitzt die Originalität, alle Argumente und Schlussfolgerungen Dutschkes zu wiederholen und dies als neue Erkenntnis über einen niemals vorhandenen Sozialismus in der UdSSR zu verkaufen.
Ernsthafter ist die Arbeit von J. Kuczynski, „Asche für Phönix“, Köln 1992. Kuczynski unterstellt, dass der Sozialismus im 20. Jahrhundert ebenso wie das römische Kolonat und die oberitalienischen Städte „Frühformen“ der jeweils anstehenden neuen Gesellschaftsformation gewesen seien, die der noch immer vorhandenen Stärke der alten Weltordnung unterlagen. Unbewiesen und m. E. falsch ist Kuczynskis Annahme, dass es vom römischen Kolonat einen direkten Weg zur Feudalität gegeben habe.

Ebenso führte von den oberitalienischen Städten kein direkter Weg zum modernen Kapitalismus. Im Gegenteil, die Niederwerfung der [politischen Macht und Eigenständigkeit der] frühkapitalistischen Städte der Feudalgesellschaft war eine der Voraussetzungen der Entstehung der modernen Nationalstaaten Europas. Beide Erscheinungen, das Kolonat und die frühkapitalistischen Städte, so bedeutsam beide in ihren jeweiligen Zeitabschnitten waren, bildeten doch letztendlich Sackgassen der gesellschaftlichen Entwicklung. Ihre Überwindung war jeweils Voraussetzung der europäischen Modernisierung.

15 Marx, Engels, Die deutsche Ideologie. MEW Bd. 3, Berlin (DDR) 1983, S. 64f

16 Ebd., S. 24

17 „Dafür, dass die deutschen Barbaren die Römer von ihrem eigenen Staat befreiten, nahmen sie ihnen zwei Drittel des gesamten Bodens und teilten ihn unter sich. Die Teilung geschah nach der Gentilverfassung; bei der verhältnismäßig geringen Zahl der Eroberer blieben sehr große Striche ungeteilt, Besitz teils des ganzen Volks, teils der einzelnen Stämme und Gentes. In jeder Gens wurde das Acker- und Wiesenland unter die einzelnen Haushaltungen zu gleichen Teilen verlost; ob in der Zeit wiederholte Aufteilungen stattfanden, wissen wir nicht, jedenfalls verloren sie sich in den Römerprovinzen bald, und die Einzelanteile wurden veräußerliches Privateigentum, Allod. (…) Je länger die Gens in ihrem Dorfe saß und je mehr Deutsche und Römer allmählich verschmolzen, desto mehr trat der verwandtschaftliche Charakter des Bandes zurück vor dem territorialen; die Gens verschwand in der Markgenossenschaft.“ Engels, Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates. MEW Bd. 21, S. 145/46.

18 „Die freien grundbesitzenden Bauern, die Masse des fränkischen Volks wurde durch die ewigen Bürger- und Eroberungskriege, (…) ganz so erschöpft und heruntergebracht wie früher die römischen Bauern in den letzten Zeiten der Republik. Sie, die ursprünglich das ganze Heer und nach der Eroberung Frankreichs dessen Kern gebildet hatten, waren am Anfang des neunten Jahrhunderts so verarmt, dass kaum noch der fünfte Mann ausziehen konnte. An die Stelle des direkt vom König aufgebotenen Heerbanns freier Bauern trat ein Heer, zusammengesetzt aus den Dienstleuten der neuaufgekommenen Großen (…) Nach der Eroberung des Römerreichs bildeten diese Gefolgsleute der Könige neben den unfreien und römischen Hofbedienten den zweiten Hauptbestandteil des späteren Adels.“ Ebd., S. 147

19 „Die griechische und römische Stadt der Antike öffnet sich zum Land hin, das gegenüber der Stadt eine untergeordnete Rolle spielt. (…) Die mittelalterliche Stadt gehört zum Typ einer geschlossenen Stadt; sie ist eine Einheit für sich, ein winziges kleines ‚Vaterland‘. Wenn man ihre Festungsanlagen passiert, so hat das die gleiche Bedeutung, als wenn man heute die Grenzen eines schwer zugänglichen Landes überschreitet. Auf der anderen Seite der Grenze befindet man sich unter dem Schutz der Stadt. Der Bauer, der sein Land verlässt und sich in die Stadt begibt, wird dort sofort ein anderer Mensch: Er ist frei, d.h. von seinem Frondienst und der verhassten Knechtschaft entbunden (…)“
Braudel, F., Die Geschichte der Zivilisation, München 1971, S. 603/604.

2023 Roger Portal, Die Slawen. München 1971, S. 41 (Hervorhebung von mir, A. S.)

21 Richard Pipes, Rußland vor der Revolution. München 1984, S. 35-36.

22 Ebd., S. 25-26.

23 Zum Charakter der bäuerlichen Familie in Westeuropa schreibt Georges Duby: “Die Struk­turen der bäuerlichen Familie sind schwer auszumachen. Die aufschlussreichsten Hinweise stammen aus der Karolingerzeit. In den Inventarien der Grundherrschaften werden häufig und mit großer Sorgfalt alle diejenigen Personen aufgezählt, die auf den abhängigen kleinen Höfen lebten. Sie vermitteln das Bild von Familien, die sich jeweils auf Vater, Mutter und Kinder beschränkten. Manchmal gehörten auch unverheiratete Brüder und Schwestern dazu, aber nur selten entferntere Verwandte. Die verheirateten Söhne gründe­ten wahrscheinlich meistens ein eigenes Heim. (…) Dennoch scheint es ausgeschlossen, für diese Zeit die Existenz zahlenmäßig großer, nach patriarchalischem Muster organisier­ter Familienverbände anzunehmen. In ihrer Größe unterscheiden sich die damaligen Bauernhaushalte wahrscheinlich kaum von denen, die heutzutage in Europa überall dort zu finden sind, wo sich die traditionellen ländlichen Strukturen erhalten haben.“ (Georges Duby. Krieger und Bauer. Die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft bis um 1200. Frankfurt/M. 1977, S. 47.)

Während Duby die bäuerliche Kleinfamilie als agrarische Produktionseinheit für den euro­päischen Westen bereits zur Karolingerzeit belegen kann, wird in Russland noch 1861 bei der sog. Bauernbefreiung von der patriarchalisch strukturierten bäuerlichen Großfamilie ausgegangen. „Der traditionelle Typus der bäuerlichen Familie in Russland, wie er bis vor einem Jahrhundert vorherrschend war, war die sogenannte Großfamilie; sie bestand aus Vater, Mutter, Kindern und verheirateten Söhnen mit deren Frauen und Nachwuchs. Ihr Oberhaupt (…) war fast immer der Vater (…), seine Autorität, ursprünglich aus dem Gewohnheitsrecht abgeleitet, erhielt in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts juristischen Status, als die ländlichen Gerichte bei Rechtsstreitigkeiten innerhalb der Familie sein Urteil als bindend anerkannten. Alles war Gemeinbesitz.“ (Pipes, a.a.O., S. 26/27.)

24 Pipes, a.a.O. S. 19

25 „Während bei Cäsar die Deutschen teils eben erst zu festen Wohnsitzen gekommen sind, teils noch solche suchen, haben sie zu Tacitus‘ Zeit schon ein volles Jahrhundert der Ansässigkeit hinter sich; dementsprechend ist der Fortschritt in der Produktion des Lebensunterhalts unverkennbar.“ Engels, MEW Bd. 21, S. 137.

26 „Wenn es vorher“ (gemeint ist vor dem Ende des 12. Jahrhunderts, A. S.) „eine Perfektio­nierung gegeben hat, so bezieht sie sich auf das Werkzeug selbst, auf das wichtigste Rüstzeug, das dem Bauern für die Bearbeitung des Bodens zur Verfügung stand (…). Was die Entwicklung der Technik angeht, so steht die Vermutung, dass der Pflug perfektioniert wurde, gewiss im Zentrum dieser quellenarmen Zeit der Landwirtschaftsgeschichte. Zunächst einmal können wir annehmen, dass die Stärke des Gespanns, das den Pflug zu ziehen hatte, zunahm. (…) Hinzu kommt, dass im Laufe des 11. Jahrhunderts mit Sicherheit auch bessere Methoden zum Einspannen der Zugtiere entwickelt wurden. So wurde etwa das Stirnjoch für die Ochsen erfunden, mit dessen Hilfe ihre Zugkraft besser genutzt werden konnte. Schließlich beschlossen die Landwirte einiger Provinzen, für die Ackerarbeit Pferde statt Ochsen zu verwenden (…) Der Vorteil der Pferde war ihre Schnelligkeit. Spannte man sie vor den Pflug, ging die Bodenbearbeitung wesentlich rascher voran, so dass die Pflugarbeit vermehrt und zugleich das Eggen als neue Praxis eingeführt werden konnte. (…) Es ist anzunehmen, dass der Pflug selbst während dieser Zeit (…) ebenfalls technische Verbesserungen erfahren hat. Zu der bloß aus Holz beste­henden Konstruktion der Karolingerzeit kamen Eisenelemente hinzu, die die Wirkung der entscheidenden Teile, des Pflugmessers, der Schar und des Streichbretts, wesentlich erhöhten. Nach dem Jahr 1000 sind die Fortschritte der Metallurgie in ganz Europa nicht mehr zu übersehen.“ (Duby, a.a.O., S. 252ff.)

Während Duby hier sehr vorsichtig und zurückhaltend bei der Darstellung des technischen Fortschritts formuliert, sind die entsprechenden Ausführungen in der DDR-Geschichtsschreibung bestimmter. „Immerhin kann es als sicher gelten, dass der schon (…) um die Mitte des 1. Jahrhunderts erwähnte ‚plaumorati‘, der Räderpflug, zum schweren Bodenwendepflug mit Streichbrett weiter verbessert und vervollkommnet, mit Sech oder Kolter und Eisen­schar versehen, seit dem 8 /9. Jh. in Nordwesteuropa zwar häufiger auftrat, den leichteren und weniger komplizierten Wühl- und Hakenpflug aber bloß langsam verdrängte. Gegen­über dem einfachen alten Haken, der den Boden nur recht oberflächlich durchwühlte, bot der Wendepflug manche Vorteile. (…) Bald blieb daher den weniger komplizierten Geräten vorwiegend die Bearbeitung der älteren, leichteren Kulturböden überlassen, während der schwere Wendepflug vor allem bei der Kultivierung und Melioration neuer, bisher unangebauter Flächen unschätzbare Dienste leistete.

Aber der schwere, tiefergehende Pflug erforderte auch eine sehr viel höhere Zugleistung und folglich einen größeren Zugviehbestand sowie die gründlichere Ausnutzung der Leistungskraft der Tiere. Die Verbreitung des schweren massiven Wendepflugs mit Radvorgestell hatte deshalb zumeist den Übergang zu einer veränderten Anspannungsmethode, der Kummetanschirrung zur Folge, die zwischen Rhein und Elbe seit dem 10. Jh. häufi­gere Anwendung fand und überhaupt erst die Einbeziehung des Pferdes in das Wirt­schaftsleben der feudalen Gesellschaft gestattete.“ (Stern, L., Deutschland in der Feudal­epoche von der Mitte des 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1978, S. 19-20.

27 Pipes, a.a.O.

28 Marx, Geheimdiplomatie, a.a.O., S. 80.

29 Valentin Gittermann, Geschichte Rußlands. Band I, Hamburg 1949, S. 37.

30 Ebd., S. 76.

31 Insofern weist der „Kiewer Rus“ Parallelen (sowohl inhaltlich wie zeitlich) mit den islamisch-arabischen Staatsgründungen auf. Siehe dazu: Maurice Lombard, Blütezeit des Islams. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte des 8. – 11. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1992.

32 Gittermann, a.a.O., S 87.

33 Portal, a.a.O., S. 62-63

34 Otto Hintze, Staat und Verfassung. Göttingen 1962, S. 89f. (Hervorhebung von mir, A.S.)

35 Ebd., S. 90.

36 Ebd., S. 92

37 Portal, a.a.O., S.62

38 Günther Stökl, Russische Geschichte. Stuttgart 1990, S. 82

39 „Der Kriegsführer, der sich einen Ruf erworben, versammelte eine Schar beutelustiger junger Männer um sich, ihm zu persönlicher Treue, wie er ihnen, verpflichtet. Der Führer verpflegte und beschenkte sie, ordnete sie hierarchisch; eine Leibgarde und schlagfertige Truppe zu kleineren, ein fertiges Offizierskorps für größere Auszüge. Schwach wie diese Gefolgschaften gewesen sein müssen und auch z.B. bei Odovaker in Italien später erscheinen, so bildeten sie doch schon den Keim des Zerfalls der alten Volksfreiheit und bewährten sich als solche in und nach der Völkerwanderung. (…) Sie (konnten), wie schon Tacitus bemerkt, zusammengehalten werden nur durch fortwährende Kriege und Raubzüge. Der Raub wurde Zweck. Hatte der Gefolgsherr in der Nähe nichts zu tun, so zog er mit einer Mannschaft zu anderen Völkern, bei denen es Krieg und Aussicht auf Beute gab (…).“ Engels, F.; MEW Bd. 21, S. 139.

So ging der Kiewer Staatsgründung durch die Normannen zuerst die fortgesetzte Plünderung der Handelsstraße durch die späteren Staatsgründer voraus. Aus der Plünderung erwuchs der ständige Tribut für den militärischen Schutz dieser Handelsverbindung, aus dem Schutz der Handelsverbindung die Herrschaft über die Fernhandelsstädte, deren Gesamtheit das „Reich der Städte“ – bezeichnenderweise ein normannischer Begriff – den Staat des „Kiewer Rus“ ausmachte.

40 Marx, Geheimdiplomatie, a.a.O., S. 79

41 „Aus den Rechtsdenkmälern des Kiewer Reiches erfahren wir, dass der Besitz an Grund und Boden neben dem Handel immer größere Bedeutung gewann, sowohl für den Fürsten selbst als auch für seine Gefolgschaft. Ein Feudalsystem wie im Westen ging daraus jedoch nicht hervor, schon weil der Grundbesitz uneingeschränkt erblich und nicht an den Dienst bei einem bestimmten Fürsten gebunden war. Beim Wechsel des Dienstverhält­nisses konnte der Angehörige der ‚druzina‘ (Gefolgschaft, A. S.) und später der Bojare auch seinen Grundbesitz mitnehmen, was erst die Moskauer Zaren mit drakonischen Maßnahmen unterbanden.“ (Neander, Irene; Russische Geschichte in Grundzügen. Darm­stadt 1988, S. 29/30.)

42 Zur Entwicklung der agrarischen Produktionsinstrumente und ihren Auswirkungen auf die soziale und politische Lage der Bauernschaft siehe: Duby, a.a.O., S. 255ff.

43 „Nach wie vor bleibt das Problem bestehen, ob die Mongolenherrschaft wirklich die ent­scheidende Ursache für die wirtschaftliche und politische Spätentwicklung des Landes gewesen ist. Für den Verfall des Staats von Kiew sind die Mongolen nicht verantwortlich zu machen. Was aber das Schicksal des neuen Fürstentums Susdal-Wladimir“ (aus dem der spätere Moskauer Staat hervorging) „angeht, so ist nicht mit Sicherheit zu behaupten, dass es ohne die Mongolen günstiger verlaufen wäre. Die Besetzung der Steppen durch die Mongolen, die einen Teil des russischen Volkes zwang, auf verhältnismäßig beschränktem Raum, noch vermehrt durch Flüchtlinge zu siedeln und damit seine Bevölkerungsdichte zu verstärken, hat die günstigsten Voraussetzungen für eine Staatsgründung geschaffen. Schließlich hat die Autorität des Khans den Auflösungstendenzen, die aus den gegenseitigen Kämpfen der Fürsten resultierten, entgegengewirkt, indem er die Politik der Fürsten von Wladimir stützte.“ (Portal, a.a.O., S. 80/81) Obwohl Portal die Bedeutung der mongolischen Steuer für die Moskauer Staatsgründung unzureichend erkennt, muss auch er einen positiven Einfluss der Mongolen auf die neuerliche (Moskauer) Staatsgründung zugestehen.

44 Geschichte der UdSSR. Bd. I, a.a.O., S. 62

45 Hintze, a.a.O., S. 99

46 Stökl, a.a.O., S. 147/148.

47 Ebd. / Anmerkung: Es darf aber als gesichert gelten, dass das fränkische Lehnswesen Elemente der spätrömischen Commendatio (Ergebenheit in ein persönliches Schutzverhältnis) mit Teilen des auf Treue basierenden germanischen Gefolgschaftswesens verband.

48 Hintze, a.a.O., S. 99.

49 Gittermann, a. a. O., S. 87

50 „Die Städte, die im Kiewer Reich eine so große Rolle gespielt hatten, waren hier im Nord­osten ohnehin meist fürstliche Gründungen ohne bedeutende eigene Rechte und Funktio­nen. Sofern sie noch aus alter Zeit stammten, waren sie durch Zerstörung und Niedergang des Handels so geschwächt, dass sie dem Fürstenhader keine eigenen Kräfte ent­gegensetzen konnten.“ Neander, a.a.O., S. 50/51.

51 „Die Unterwürfigkeit gegenüber der Goldenen Horde brachte den Moskauer Fürsten man­chen persönlichen Gewinn gegenüber ihren russischen Rivalen, aber letztlich auch Vortei­le für das ganze Land. Vor allem aber wurde dadurch, dass Iwan I. von Moskau (1328-41) das alleinige Recht zur Eintreibung des Tributs für den Tatarenkhan erhielt, den Übergrif­fen einzelner Häuptlinge und willkürlichen Einfällen tatarischer Horden auf russisches Gebiet eine Schranke gesetzt. Die Steuerlast wurde dadurch zwar nicht geringer und Iwan unterließ es dabei nicht, die anderen Länder stärker heranzuziehen als sein eigenes (…). Die Mehrung ihrer ‚Hausmacht‘ gelang den Moskauer Fürsten sogar weitgehend ohne kriegerische Verwicklungen. Aus den Tributeinnahmen Iwans I. mag gut ein Teil in seine eigene Kasse geflossen sein, was ihn und seine Nachfolger in den Stand setzte, Lände­reien, ja ganze Städte zu kaufen, andere erhielten sie als Erbschaft oder Heiratsgut.“ Neander, a.a.O., S. 52/53. Neander gibt hier, wie in weiten Teilen ihres Buches, eine beschönigende und rechtfertigende Darstellung des Moskauer Zarentums.

52 Marx, Geheimdiplomatie, a.a.O., S. 81

53 Gittermann, a. a. O., S. 87

54 Stökl, a. a. O., S. 146

55 Pipes, a.a.O., S. 59

56 Ebd., S. 97

57 Ebd., S. 61

58 Stökl, a.a.O., S. 236

59 Pipes, S. 159

60 Ebd., S. 184/185.

61 Unter Historikern ist die Datierung der Entstehung der russischen Dorfgemeinde umstrit­ten. Pipes vertritt die Auffassung, dass eine Mehrheit [der Historiker] der Position zuneige, den Ursprung der russischen Dorfgemeinde aus dem zaristischen Steuersystem abzuleiten, da sie zuvor schriftlich nicht belegt sei. Demnach wäre die russische Dorfgemeinde ein Produkt der letzten Jahrhunderte.

Problematisch an dieser Position ist zweierlei. Erstens wird durch diese Argumentation die Existenz einer Dorfgemeinde nur für Russland erklärt. Zweitens wird die Entstehung der Dorfgemeinde hauptseitig politisch hergeleitet, ohne dass ihre Wurzeln in den Produk­tionsbedingungen der slawischen Ackerbaugemeinden berücksichtigt würden. Tatsächlich lassen sich Formen dorfgemeinschaftlichen Lebens aber sowohl im süd- wie im ostslawischen Raum, also nicht nur in Russland, nachweisen. Klima wie Entwicklungsstand der Produktivkräfte lassen eine andere Form der agrarischen Produktion als die genossenschaftliche Produktion während des gesamten Mittelalters kaum denkbar erscheinen. Nur bei den Westslawen (Polen, Tschechen, Slowaken etc.) finden wir, teil­weise auf Grund anderer klimatischer Bedingungen, sicherlich aber auch durch eine weit­gehende Einbeziehung dieser Regionen in jenen von der westeuropäischen Feudalität geprägten Entwicklungsprozess, eine durch die bäuerliche Einzelwirtschaft auf Basis der Kleinfamilie geprägte Wirtschaftsweise.

62 Pipes, a. a. O., S. 107

63 MEW Bd. 32, S. 42-43

64 Der Herausgeber des Briefwechsels verweist darauf, dass diese Auseinandersetzung im Jahr 1856 in verschiedenen russischen Zeitschriften geführt wurde. „Während Tschitscherin … in der Agrarkommune eine staatliche Verwaltungseinrichtung jüngeren Datums sah, betrachtete Bjeljajew … sie als uralte slawische Volkseinrichtung.“

65 Marx, 22.03.1873: Die Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Danielson, Leipzig 1929, S. 14

66 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 2, S. 178

67 Smith, S. 37-38.

68 Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 1, S. 181

69 Ebd, S. 179

70 Ebd, S.178

71 Nolte, S. 97

72 Gemeint sind die Kopfsteuer und die Rekrutensteuer (Abstellung von Rekruten in bestimmter Anzahl für die Armee).

73 Hildermeier 2013, S. 596

74 Fronleistungen.

75 Bäuerlicher Zins

76 Hildermeier 2013, S. 596-597

77 Ebd., S. 105 -106 (Hervorhebung von mir, A. S.)

78 „Dass der moskowitische Staat von Anfang an despotische Züge aufwies und seine Regie­rungsformen dem straff zentralistisch regierten Mongolenstaat entlieh, steht außer allem Zweifel.“ Neander, a.a.O., S. 43.

79 „Es bietet erhebliche Vorteile, die Bezeichnung ‚patrimonial‘ beizubehalten, wenn man ein Regime definieren will, in dem die Souveränitäts- und Eigentumsrechte bis zur Ununter­scheidbarkeit ineinander übergehen und politische Macht in der gleichen Weise ausgeübt wird wie wirtschaftliche. (…) Das patrimoniale Regime ist eine Regierungsform aus eige­nem Recht (…). Konflikte zwischen Souveränität und Eigentum entstehen hier nicht, ja können nicht entstehen, weil sie, wie im Fall einer primitiven, von einem Pater familias geführten Familie, ein und dasselbe sind. Ein Despot verletzt Eigentumsrechte seiner Untertanen; ein patrimonialer Herrscher erkennt nicht einmal ihre Existenz an. Infolgedes­sen kann es unter einem patrimonialen Regime keinen klaren Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft geben, denn eine solche Unterscheidung postuliert das Recht von Personen neben dem Souverän, Kontrolle über Sachen und (dort wo Sklaverei besteht) über Menschen auszuüben. In einem patrimonial regierten Staat gibt es keine formellen Einschränkungen politischer Herrschaft. (…) Mit dem patrimonialen System ist am besten der Herrschaftstypus definiert, der sich zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert in Russland herausbildete“. Pipes, a.a.O., S. 32/33.

8066 Ebd., S. 28/29.

81 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution in 3 Bänden. Band 1, Frankfurt 1973, S. 14

82 In dem diesem Dekret beigefügten „Bäuerliche(n) Wählerauftrag zur Bodenfrage“ heißt es: „1. Das Privateigentum am Grund und Boden wird für immer aufgehoben, der Boden darf weder verkauft noch gekauft, weder in Pacht gegeben noch verpfändet, noch auf irgendeine andere Weise veräußert werden. (…) 6. Das Recht auf Bodennutzung erhalten alle Bürger des Russischen Staates (ohne Unterschied des Geschlechts), die den Boden selbst, mit Hilfe ihrer Familie, oder genossenschaftlich bearbeiten wollen, und zwar nur so lange, wie sie imstande sind ihn zu bearbeiten. Lohnarbeit wird nicht zugelassen. (…) 7. Die Bodennutzung muss ausgleichend sein, d. h., der Boden wird je nach den örtlichen Verhältnissen auf Grund der Arbeitsnorm oder Ver­brauchsnorm unter die Werktätigen aufgeteilt.“ Zit. nach: LW Bd. 26, S. 250/251

83 Hintze, a.a.O., S. 100.

84 Ebd., S. 100/101. Was hätte die deutsche Linke doch für eine Freude am Werk Otto Hin­tzes, würde sie es nur kennen. Hier fände sie Material – und gar bürgerliches Material – welches es ihr ermöglichen würde, eines ihrer Lieblingsdogmen – das von der besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus – bereits aus der europäischen Frühgeschichte herleiten zu können. Der „überstürzte Imperialismus” stände damit sozusagen an der Wiege der deutschen Nation, die Junker des Kaiserreichs und das nationalsozialistische Regime wären nur Spätfolgen einer fünfzehn Jahrhunderte dauernden Fehlentwicklung der Deutschen. Dass theoretisches Desinteresse auch positive Seiten haben kann, erleben wir an dieser Frage. Eine politische Aufarbeitung Hintzes durch die deutsche Linke blieb uns bisher erspart.

85 Denselben Gedanken finden wir bei Engels: „Alles, was die Deutschen der Römerwelt Lebenskräftiges und Lebenbringendes einpflanzten, war Barbarentum. In der Tat sind nur Barbaren fähig, eine an verendender Zivilisation laborierende Welt zu verjüngen. Und die oberste Stufe der Barbarei, zu der und in der die Deutschen sich vor der Völkerwanderung emporgearbeitet, war gerade die günstigste für diesen Prozess. Das erklärt alles.“ Engels, F., MEW Bd. 21, S. 151

86 Ebd., S. 95/96, Hervorhebung von mir, A. S.

87 Marx, MEW Bd. 3, S. 24 und 64.

88 „Der Kriegsführer, der sich einen Ruf erworben, versammelte eine Schar beutelustiger junger Männer um sich, ihm zu persönlicher Treue, wie er ihnen, verpflichtet. Der Führer verpflegte und beschenkte sie, ordnete sie hierarchisch; eine Leibgarde und schlagfertige Truppe zu kleineren, ein fertiges Offizierskorps für größere Auszüge. Schwach wie diese Gefolgschaften gewesen sein müssen (…), so bildeten sie doch schon den Keim des Verfalls der alten Volksfreiheit und bewährten sich als solche in und nach der Völkerwan­derung. Denn erstens begünstigten sie das Aufkommen der königlichen Gewalt. Zweitens aber konnten sie (…) zusammen-gehalten werden, nur durch fortwährende Kriege und Raubzüge. (…) Nach Eroberung des Römerreichs bildeten diese Gefolgsleute der Könige neben den unfreien und römischen Hofbedienten den zweiten Hauptbestandteil des späteren Adels.“ Engels, F., MEW Bd. 21, S. 139/140.

89 „Es findet jedoch schon während des frühen Mittelalters ein Wandel statt. Der Anteil des Ackerbaus an der landwirtschaftlichen Produktion wächst, und die Bodennutzung wird intensiver, vor allem dadurch, dass man an Stelle des leichten, den Boden nur ritzenden Hakenpfluges schwerere, schollenbrechende Pflüge zu benutzen lernt. Die intensivere Bodenbearbeitung aber hat einen erhöhten Zeitaufwand zur Folge, so dass der Ackerbauer nun weniger für andere Aufgaben zur Verfügung steht. Und das heißt, es wurde schwieri­ger für ihn, Kriegsdienst zu leisten.“ Boockmann, H., Einführung in die Geschichte des Mittelalters. München 1988, S. 31. (Hervorhebung von mir, A. S.)

90 Engels, F., MEW Bd. 21, S. 147.

91 Die von Engels hier angesprochenen Entwicklung im untergehenden Römischen Reich schildert er selbst folgendermaßen: „In Italien waren die seit Ende der Republik fast das ganze Gebiet einnehmenden ungeheuren Güterkomplexe (Latifundien) auf zweierlei Weise verwertet worden. Entweder als Viehweide, wo die Bevölkerung durch Schafe und Ochsen ersetzt war, deren Wartung nur wenige Sklaven erforderte. Oder als Villen, die mit Massen an Sklaven Gartenbau in großem Stil trieben, teils für den Luxus des Besitzers, teils für den Absatz auf städtischen Märkten. Die großen Viehweiden hatten sich erhalten und wohl noch ausgedehnt; die Villengüter und ihr Gartenbau waren verkommen mit der Verarmung ihrer Besitzer und dem Verfall der Städte.

Die auf Sklavenarbeit gegründete Latifundienwirtschaft rentierte sich nicht mehr; sie war aber damals die einzig mögliche Form der großen Agrikultur. Die Kleinkultur war wieder die allein lohnende Form gewor­den. Eine Villa nach der anderen wurde in kleine Parzellen zerschlagen und ausgegeben an Erbpächter, die eine bestimmte Summe zahlten, oder partiarii, mehr Verwalter als Pächter, die den sechsten oder gar nur neunten Teil des Jahresprodukts für ihre Arbeit erhielten. Vorherrschend aber wurden diese kleinen Ackerparzellen an Kolonen ausgetan, die dafür einen bestimmten jährlichen Betrag zahlten, an die Scholle gefesselt waren und mit ihrer Parzelle verkauft werden konnten; sie waren zwar keine Sklaven, aber auch nicht frei, konnten sich nicht mit Freien verheiraten, und ihre Ehen untereinander werden nicht als vollgültige Ehen, sondern wie die der Sklaven als bloße Beischläferei (contubemium) angesehen. Sie waren die Vorläufer der mittelalterlichen Leibeignen. Die antike Sklaverei hatte sich überlebt. Weder auf dem Lande in der großen Agrikultur noch in den städti­schen Manufakturen gab sie einen Ertrag mehr, der der Mühe wert war – der Markt für ihre Produkte war ausgegangen.“ Engels, F., MEW Bd. 21, S. 143/144. (Hervorhebung von mir, A. S.)

Aus Stellen wie dieser folgert Jürgen Kuczynski, dass es sich beim Kolonat um eine frühe Form der feudalen Gesellschaft gehandelt habe. (Siehe dazu: Kuczynski, J., Asche für Phönix. Köln 1992, S. 17 – 44.) Die Kolonen waren, wie Engels richtig bemerkte, „Vorläufer“ der mittelalterlichen Leibeigenen; Gesellschaften mit einer durchs Kolonat geprägten Agrarverfassung sind damit aber nicht notwendig „Frühformen der Feudalität”. Kuczynski übersieht bei seiner Argumentation, dass die geschilderten ökonomischen Ver­hältnisse nur eine, aber für sich alleine völlig unzureichende Voraussetzung für die Her­ausbildung einer feudalen Gesellschaft sind. Das Hinzutreten der „Germanischen Heeres­verfassung“, weiterhin die durch den Ackerbau und die Heeresverfassung bedingte Her­ausbildung des Ritters, jener speziellen Form des feudalen Kriegers und die Formung des Staatsapparates vermittels der Lehenspyramide (Personenverbandsstaat) sind weitere unabdingbare Bestandteile einer feudalen Gesellschaft. Nur wo eine Gesellschaft alle diese Elemente hervorbrachte, damit tatsächlich und nicht nur im „osteuropäisch-marxistischen“ Sinne feudal war, lieferte sie auch aus sich heraus die Anstöße zur Entwicklung des modernen Kapitalismus.

92 Engels, F., MEW Bd. 21, S. 148/149

93 „Wenn sie wenigstens in dreien der wichtigsten Länder, Deutschland, Nordfrankreich und England, ein Stück echter Gentilverfassung in der Form der Markgenossenschaft in den Feudalstaat hinüberretteten und damit der unterdrückten Klasse, den Bauern, selbst unter der härtesten mittelalterlichen Leibeigenschaft, einen lokalen Zusammenhalt und ein Mittel des Widerstandes gaben, wie es weder die antiken Sklaven fertig vorfanden noch die modernen Proletarier – wem war das geschuldet, wenn nicht ihrer Barbarei, ihrer aus­schließlich barbarischen Ansiedlungsweise nach Geschlechtern?“ Ebd., S. 150.

94 „Ein Teil der Freien hat sich diesen veränderten Anforderungen (gemeint sind die Anforde­rung des Kriegsdienstes, A. S.) offensichtlich dadurch entzogen, dass er seinen Rechtssta­tus aufgab und sich einem Herrn unterstellte, einem Adligen oder auch einer Kirche (…) Er erhielt von seinem neuen Herrn seinen Besitz dann zur Bewirtschaftung zurück und musste ihm Abgaben und Dienste leisten. Aus dem Freien wurde damit zwar kein servus, kein Unfreier im antiken und frühmittelalterlichen Sinne, kein Rechtloser also, über den sein Herr nach Belieben verfügen konnte, sondern eine Person mit eingeschränktem Rechts­status, ein Höriger”. Boockmann, a.a.O., S. 32.

95 Boockmann, a.a.O., S. 32/33.

96 Politische Ökonomie (Lehrbuch), deutsche Übersetzung der russischen Ausgabe von 1954. Berlin/DDR 1971, S. 48/49. (Hervorhebung von mir, A. S.)

97 Büttner, T., Afrika. Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Teil I, Köln 1979, S. 117 (Nachdruck einer Ausgabe des Akademie-Verlages Berlin / DDR).

98 Dementsprechend wird in besagtem Geschichtsbuch argumentiert: „Immer noch behaup­ten sich bürgerliche Ansichten, die bezüglich des subsaharischen Afrika von einer über Jahrhunderte dauernden Stagnation auch seit den frühen Staatenbildungen sprechen. Es werden nicht nur die verheerenden Auswirkungen der mit den Portugiesen beginnenden europäischen Kolonisation und des transatlantischen kapitalistischen Sklavenhandels geleugnet, darüber hinaus wird die innere gesellschaftliche Entwicklung als ‚jeglicher Dynamik fremd’ und das Niveau stammesmäßig-patriarchalischer Beziehungen nicht überschreitend dargestellt (…) Seit dem ersten Jahrtausend haben zahlreiche Völker Afri­kas bedeutsame Staaten auf der Basis von Ausbeutungsverhältnissen und frühen Klas­sengesellschaften begründet, und durchaus eine Aufwärtsentwicklung durchlaufen. Sie wurden jedoch häufig durch ‚äußeren‘ Einfluss, vor allem durch die Auswirkungen der seit Ende des 15. Jahrhunderts beginnenden europäischen Kolonisation, aber auch aus innergesellschaftlichen Gründen abgebrochen oder deformiert.“ (Ebd., S. 116/117)

99 Ebd., S. 122

100 Bei den Osmanen wurden Kanonen erstmals 1385 bei Konya durch Murat I. eingesetzt. Siehe dazu: Matuz, J., Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 1985, S. 38. Die artilleristische Überlegenheit des Osmanischen Heeres gegenüber den byzantinischen Verteidigern war eine entscheidende Voraussetzung für die Eroberung Kon­stantinopels 1453. (Siehe dazu: Runciman, Die Eroberung Konstantinopels 1453. München 1977.

101 Kennedy, P., Aufstieg und Fall der großen Mächte. Frankfurt/M. 1989, S. 32/33.

102 Lombard, M., Blütezeit des Islam. Frankfurt/M., S. 129. (Hervorhebung von mir, A.S.)

103 „Es war eine Kombination von wirtschaftlichem Laisser-faire, politischem und militäri­schem Pluralismus und intellektueller Freiheit – wie rudimentär jeder Faktor im Vergleich zu späteren Zeitaltern auch erscheinen mag -, die in ständiger Interaktion standen, um das ‚Europäische Wunder‘ zu schaffen. Da das Wunder historisch einmalig ist, scheint es plausibel, anzunehmen, dass nur eine Entsprechung aller Komponenten anderswo ein ähnliches Resultat produziert hätte. Weil diese Mischung entscheidender Zutaten weder in Ming-China, noch in anderen zuvor untersuchten Gesellschaften existierte, schienen sie stillzustehen, während Europa sich auf die Mitte der Weltbühne zubewegte.“ Kennedy, a.a.O., S. 68.

104 Der entwickelten Form der Reisproduktion in China ist die Verbindung von Ackerbau und Viehzucht, die für Europa typisch ist, völlig fremd. So schreibt Braudel dazu: “Waldwirtschaft und Viehzucht sind den Chinesen unbekannt (sie trinken keine Milch, essen keinen Käse und nur sehr wenig Fleisch), der Versuch einer Integration der Berg­völker in das allgemeine Leben wurde im Gegensatz zu Europa nie unternommen. (…) Im Süden des Landes ist den Chinesen die Nutzbarmachung der Gebirgsregionen nicht etwa misslungen: Man hat im Gegenteil noch nicht einmal den Versuch dazu unternommen. Nachdem man fast alle Haustiere vertrieben und seine Tür vor den armseligen Bergvöl­kern der Trockenreiskulturen verschlossen hat, geht es aufwärts; aber der Chinese muss die ganze Arbeit allein bewältigen, (…) Die Wasserbüffel helfen dem Bauern nur bei der Feldarbeit; Pferde, Maultiere und Kamele gibt es nur im Norden, der aber nicht mehr zu den eigentlichen Reisländern Chinas zählt.“ Braudel, F., Die Geschichte der Zivilisation. München 1971, S. 162/163

Ähnliches gilt für den arabisch-­islamischen Raum. Hier „spielte die Viehzucht eine geringere Rolle als in Europa, denn obwohl man die Tiere bei der Feldbestellung und bei dem Betrieb der Wasserhebema­schinen heranzog, benötigte sie der Orient doch weniger als der Westen, wo mehr schwerer Boden zu bearbeiten war; auch Dünger wurde, außer in Gebieten, wo Nomaden ihn billig lieferten, kaum benutzt (…) Esel und Maultiere brauchte man für den Transport von Lasten und Männern (nicht Frauen); Schweine waren vom Islam verpönt“. (Cahen, Claude, Der Islam I. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanen Reiches. Fischer Weltgeschichte Bd. 14) Frankfurt/M. 1968, S. 147/148

105 „In Europa gibt es keine solchen ‚wilden‘ Völker, hier wurden die Bergbewohner sehr früh unterworfen, ohne dass man sie wie in Ostasien als Parias behandelte.“ (Braudel, S. 52) Auch bei Marx ein Hinweis zu diesem Problem: „Es lassen sich übrigens 1. allgemeines Ver­hältnis nachweisen bei allen orientalischen Stämmen, zwischen dem settlement (der Sesshaftigkeit, A. S.) des einen Teils derselben und der Fortdauer im Nomadisieren bei dem andern, seit die Geschichte geschieht.“ (Marx, K., Brief an F. Engels vom 02.06.1853, MEW Bd. 28, S. 251)

106 Dies spiegelt sich auch in der jeweiligen Ernährung wider. So schreibt Lombard: „Die Ernährung der sesshaften Völker des Orients und des Mittelmeers ist im Wesentlichen vegetarisch. Sie basiert auf Getreide – Mehl, Brot, verschiedene Brei- und Teigarten – auf den Oliven, deren Öl das in der Küche verwendete Fett schlechthin liefert, auf Gemüse und Früchten (…). Die Ernährung der Nomadenvölker Zentralasiens, des Iran, Arabiens und der Sahara beruht im Gegensatz dazu auf den Produkten der Herden, auf Fleisch- und Milcherzeugnissen.“ Lombard, a. a. O. S.168.

Anders dagegen die Essgewohnheiten in Europa. „Der luxuriöse Fleischkonsum im 15. und 16. Jahrhundert scheint indes nicht nur ein Privileg reicher Leute gewesen zu sein. (…) ‚Im Jahr 1550‘ schreibt Heinrich Müller, ‚aß man bei den schwäbischen Bauern anders, als es heute der Fall ist. Damals gab es jeden Tag Fleisch und Essen in Hülle und Fülle; an der Kirmes und an Feiertagen bogen sich die Tische unter der Last‘. (…) ‚Zur Zeit meines Vaters‘, schreibt 1560 ein normannischer Edelmann, ‚gab es alle Tage Fleisch, die Teller liefen über‘. Braudel, a.a.O., S. 196 -199.

Derselbe schreibt über den Fleischkonsum in Asien: „‚Die Bewohner Japans‘, berichtet 1609 ein Spanier, ‚essen nur Rebhühner, die sie auf der Jagd erlegt haben.‘ In Indien verschmähen die Einwohner glücklicherweise fleischliche Nahrung. Die Soldaten des Großmoguls Aureng Zeb stellen nach Aussagen eines französischen Arztes im all­gemeinen wenig Ansprüche: ‚Wenn sie nur ihre kicheris oder Reismischung und anderes Gemüse bekommen, über das sie rote Butter gießen, sind sie schon zufrieden‘. In China wird nur ganz selten Fleisch gegessen. Der täglichen Reismahlzeit wird manchmal etwas Fisch zugesetzt …‘ „. Ebd., S. 203. Die angeführten unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten dürften ihren Ursprung in der jeweiligen Form der landwirtschaftlichen Produktion haben. Nur eine geschlossene Wirtschaftseinheit von Ackerbau und Viehzucht ist in der Lage, den Fleischkonsum breiter ländlicher Bevölkerungsteile im Mittelalter sicherzustel­len. Zugleich erklärt dies die weitgehend vegetarische Ernährung der sesshaften Acker­baukulturen Asiens.

107102 Braudel, a.a.O., S. 117

108 Ebd., S. 155. (Hervorhebung von mir, A. S.)

109 Engels, F., Brief an Marx vom 06.06.1853, MEW Bd. 28, S. 259. (Hervorhebung von mir, A. S.)

110 Eine vom osteuropäischen Marxismus besonders gern zitierte Stelle aus F. Engels Schrift „Anti-Dühring“ scheint obige Ausführungen einzugrenzen. Engels spricht davon, dass „erst die Türken im Orient in den von ihnen eroberten Ländern eine Art grundherrlichen Feudalismus eingeführt“ (hätten), während sonst „im ganzen Orient, wo die Gemeinde oder der Staat Grundeigentümer ist, sogar das Wort Grundherr in den Sprachen (fehle)“. Engels, MEW Bd. 20, S. 164. Zu dieser Aussage gelangte Engels in einer Pole­mik gegen Eugen Dühring, der die Entwicklung der Landwirtschaft an die Existenz von großem Grundeigentum und seiner Bearbeitung von abhängigen Knechten band. Demge­genüber betonte Engels sowohl die Existenz selbständiger Bauern wie die Nichtexistenz des privaten Grundherrn im ganzen Orient.

Die von Engels vermutete Ausnahme von dieser den „Osten“ insgesamt kennzeichnenden Erscheinung unter der türkischen Herrschaft war so nichtzutreffend. „Der Boden, das Hauptproduktionsmittel, gehörte seit Mehmet II. (1451 – 1481) zum größten Teil dem Staat. Der Privatbesitz an Boden (mülk) spielte seither nur noch eine untergeordnete Rolle. Das vererbbare private Grundeigentum dürfte kaum mehr als 5 -10 % der Gesamt­bodenfläche ausgemacht haben. (…) Der staatliche Bodenbesitz (…) wurde durch den Fiskus verwaltet und zu einem guten Teil in kleineren oder größeren Stücken in der Form von Pfründen hauptsächlich militärischen, seit Beginn des 16. Jahrhunderts aber auch zivilen Bediensteten zur Nutznießung übertragen.“ Matuz, a.a.O., S. 104. Der jewei­lige Nutznießer gelangte bei diesem System nicht in den Besitz des Bodens, er konnte seine Pfründe weder verkaufen noch verschenken, bei seinem Tod fielen sie an den Staat zurück. Weiterhin besaß er keine Rechtsimmunität und die Abgaben leistenden Bauern unterstanden nicht seiner Gerichtsbarkeit und waren nicht leibeigen. „Allod und Fronhof waren im osmanischen Timar System“ – dies war die Bezeichnung des Pfründensystems – „unbekannt. So ist es kaum verwunderlich, dass der Pfründner sich um die Landwirtschaft gar nicht kümmerte: er erschien bei den Bauern lediglich, um die ihm zugewiesene Rente und die staatlichen Steuern einzutreiben; letztere hatte er an den Fiskus weiterzuleiten.“ Ebd. S. 105

111 Howard, M., Der Krieg in der europäischen Geschichte, München 1981, S. 10/11. Die historische Datierung des Übergangs vom Speerwurf zum Lanzenstoß ist umstritten. So vertritt Maurice Keen die Ansicht, dass der Lanzenstoß erst zur Mitte des 11. Jahrhunderts übliche Kampfweise des Ritters wurde. „Das 11. Jahrhundert war eine wichtige Epoche der mittelalterlichen Militärgeschichte und insbesondere der Kavallerietaktik. Die Einführung des Steigbügels (eine Erfindung des Ostens) in Europa hat seit dem frühen 8. Jahrhundert die Bedeutung der Reiterei beträchtlich gesteigert. Steigbügel gaben dem bewaffneten Krieger eine weitaus größere Sattelfestigkeit und ermöglichten eine bessere Führung des Pferdes. Es scheint aber, dass sich erst im 11. Jahrhundert, als Ergebnis weiterer technischer Neuerungen, eine Taktik entwickelte, bei der ein Angriff der schweren Reiter mit eingelegter Lanze zum richtigen Zeitpunkt den Ausgang der Schlacht entscheiden konnte. Nach anderen Auffassungen soll es sich bei dieser Taktik bereits um eine frühere, mit der Einführung des Steigbügels parallelen Erscheinung gehandelt haben. Es deutet aber vieles darauf hin, dass erst in der Zeit nach 1000, vielleicht erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts, diese Kampfweise – lange Zeit die klassische Taktik mittelalterlicher Kriegsführung – zum ersten Mal angewendet wurde „ (Hervorh. von mir, A. S.) Keen, M., Das Rittertum, Hamburg 1991, S. 41. Keen stützt sich bei seiner Argumentation auf mittelalterliche Bild- und Literaturzeugnisse, die eine spätere Datierung nahelegen.

112 Hintze, a.a.O., S. 62. (Hervorhebung von mir, A. S.)

113 Zur Entstehung der Lehenspyramide und ihrer weiteren Entwicklung siehe Boockmann, a.a.O., S. 36ff.

114 vgl. Bach, P., Erben der Europäisierung der Erde, in: Kommunistische Presse (1993), Nr. 16. Die Ausführungen zur chinesischen Gesellschaftsordnung wurden diesem Aufsatz weitgehend entnommen.

115 „Lange Zeit gab es große Städte nur im Fernen Osten. Marco Polo berichtet erstaunt: Der Osten ist die Heimat der Kaiserreiche und der riesigen Städte. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts, mehr noch in den folgenden zwei Jahrhunderten entstehen auch im Abendland große Städte. (…) Europa holt damit einen Rückstand auf, beseitigt einen Mangel (…).“ (Braudel, S. 617)

116 Heer, F., Mittelalter. Zürich 1961, S.159-60.

117 Braudel, a.a.O., S. 615.

118 „In ganz Europa gab es nur zwei Länder, in denen das Königtum und die ohne es damals unmögliche nationale Einheit gar nicht oder nur auf dem Papier bestanden: Italien und Deutschland.“ (Engels; MEW Bd. 21, S. 401)

119 MEW Bd. 23, S. 743