2. Die Volksgemeinschaft als Massenstaat

Rasse und Staat

Aus dem rassischen Ausgangspunkt resultierte ein eigenes Staatsverständnis. Der Nationalsozialismus wandte sich strikt gegen die Anschauung, dass der Staat „ein Produkt wirtschaftlicher Notwendigkeiten, bestenfalls aber das natürliche Ergebnis politischen Machtdranges sei.“ Im Gegenteil war der „Trieb der Arterhaltung (…) die erste Ursache zur Bildung menschlicher Gemeinschaften. Damit aber ist der Staat ein völkischer Organismus und nicht eine wirtschaftliche Organisation.“ Gegen jede preußisch begründete Staatsüberhöhung war der Staat für Hitler nicht mehr als „ein Mittel zum Zweck. Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen. Diese Erhaltung selber umfasst erstlich den rassemäßigen Bestand und gestattet dadurch die freie Entwicklung aller in dieser Rasse schlummernden Kräfte.“ [40]

War auch die Staatsbildung als solche ein großer, den Ariern geschuldeter Fortschritt, so galten die gegebenen Staaten dem Nationalsozialismus doch als künstliche politische Gebilde, weil eine völkisch-reinrassige Gemeinschaft, die „natürliche“ Daseinsform des Menschen, nirgendwo (mehr) vorhanden war. Überall umschlossen die Staatsgrenzen unterschiedliche Völkerschaften und war der arisch-germanische Rassekern nicht länger blutrein. Obwohl die Deutschen rassisch höher als andere standen, war auch ihr Stamm vermischt mit anderem Blut. „Unser deutsches Volkstum beruht leider nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern.“ Deshalb zielte der Auftrag der Vorsehung über Deutschland und die Deutschen hinaus. „Wer von einer Mission des deutschen Volkes auf der Erde redet, muss wissen, dass sie nur in der Bildung eines Staates bestehen kann, der seine höchste Aufgabe in der Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit sieht.“ [41] Dieser Umwandlung die Bahn zu bereiten, oblag der nationalsozialistischen Bewegung. Ihre Aufgabe war es, „das granitene Fundament zu schaffen, auf dem dereinst der Staat bestehen kann, der nicht einen volksfremden Mechanismus wirtschaftlicher Belange und Interessen, sondern einen völkischen Organismus darstellt: Einen germanischen Staat deutscher Nation.“ [42]

Das neue Reich würde nicht nur andere Grenzen als das Bismarckreich haben, sondern vor allem ein Staat anderer Art sein, mit keinem der bisherigen Nationalstaaten vergleichbar. Der neue Staat war ein „völkischer“ Staat, der neben den reinrassigen Deutschen auch die anderen Germanen umfasste und dem rassischen Lebensgesetz der Geschichte bewusst Rechnung trug. Die erste Aufgabe dieses völkischen Staates war der Kampf gegen die Juden. Schon im September 1919 schrieb Hitler in seiner ersten überlieferten Äußerung zu dieser Frage: „Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt. (…) Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein.“ Das war – zunächst als Forderung – der Schritt von der spontanen Judenfeindschaft des Mittelalters zum staatlich organisierten, auf der Rassentheorie beruhenden Antisemitismus der Neuzeit.

Als bewusste Rassengemeinschaft würde der kommende germanische Staat ungeahnte Kräfte entfalten und in nicht allzu ferner Zukunft, so prophezeite das Schlusswort von Mein Kampf, unvermeidlich auch die Weltherrschaft übernehmen. „Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muss eines Tages zum Herrn der Erde werden.“ [43] Dieser Kampf musste gegen die Zeit geführt werden, denn mit jedem Tag schritt die Rassenvergiftung voran und unterminierte die Blutskraft des Volkes. Darum musste schnell gehandelt werden, um zuerst das eigene Volk auf neue rassische und territoriale Grundlagen zu stellen und sodann in den endgültigen Kampf um die Weltherrschaft einzutreten.

Der Bauer als Fundament der Gesellschaft

Die völkische Gesellschaftsordnung, die den neuen Staat tragen sollte, basierte auf dem Bauern. Im Lebenskampf eines Volkes stand der Kampf um das tägliche Brot „an der Spitze aller Lebensnotwendigkeiten“. [44] Der Bauer gab dem Volk mit der Nahrung das Leben. Er zeichnete sich durch natürliche Kraft, Gesundheit und Zähigkeit aus. Das Ringen mit der unberechenbaren Natur forderte Tag für Tag neue Entscheidungen von ihm, die er persönlich zu verantworten hatten. Darum war sein „Persönlichkeitswert“ sehr hoch. Gleichzeitig repräsentierte er den rassisch artreinsten Teil des Volkes und war der Garant für soziale Stabilität. Für Hitler stand außer Frage, dass die „Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation (…) niemals hoch genug eingeschätzt werden (kann). Viele unserer heutigen Leiden sind nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Stadt- und Landvolk. Ein fester Stock kleiner und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen.“ [45]

In ihrem elementaren Lebenskampf um das Brot stand die Nation am Abgrund, denn in Deutschland lebte ein Volk ohne Raum. Jedes Jahr, so führte Hitler aus, betrug die Bevölkerungszunahme 900.000 Menschen. Das hatte schon vor dem ersten Weltkrieg die Politik beeinflusst. „Durch die rasende Vermehrung der deutschen Volkszahl vor dem Kriege trat die Schaffung des nötigen täglichen Brotes in immer schärfer werdender Art und Weise in den Vordergrund alles politischen und wirtschaftlichen Denkens und Handelns.“ (MK 255) Nach den Gebietsverlusten aufgrund des Versailler Vertrags stellte sich die Ernährungsfrage noch dringender.

Zwar wäre es vorübergehend möglich, die Lebensmittelerzeugung zu steigern. Die Mehrproduktion würde aber zum Teil durch gestiegene Bedürfnisse aufgefangen werden und vor allem rasch an eine absolute Grenze stoßen, weil die Fruchtbarkeit des Bodens nicht uferlos gesteigert werden konnte. „Es wird bei allem Fleiße nicht mehr gelingen, mehr aus ihm herauszuwirtschaften, und dann tritt (…) das Verhängnis abermals in Erscheinung. Der Hunger wird zunächst von Zeit zu Zeit, wenn Missernten usw. kommen, sich wieder einstellen. Er wird dies mit steigender Volkszahl immer öfter tun“. [46]

Diese Worte spiegeln eine ernst zu nehmende Überzeugung wider. Der Hunger war im Krieg und in der Nachkriegszeit eine tägliche Erfahrung für breite Massen des Volkes. Das Problem der westeuropäischen Moderne der zweiten Jahrhunderthälfte, auf dem Boden einer Bauernschutzpolitik mit den Folgen einer rapide steigenden Agrarproduktivität fertig zu werden, existierte in der ersten Jahrhunderthälfte nicht. Gleichzeitig priesen unzählige Familienmagazine und Heimatromane, von Hermann Löns bis Peter Rosegger, die Idylle des reinen Landlebens gegen die Sittenverderbnis der Großstädte und spiegelten wider, in welchem Ausmaß die Entscheidung zwischen „Agrar-“ und „Industriestaat“ im Bewusstsein breiter Massen noch offen war. Andere, hunderttausendfach verbreitete Bücher wie „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse“ (1929) oder „Neuadel aus Blut und Boden“ (1930) von Darré, dem nationalsozialistischen Bauernführer, spitzten dieses Denken auf die Rassenfrage zu.

So konnte Hitler in Mein Kampf einen von ihm „politisches Testament der deutschen Nation“ genannten Aufruf von sich geben, der am Ausgang des 20. Jahrhunderts lächerlich wirkt, aber in den ersten Jahrzehnten das Denken von Millionen traf: „Haltet das Reich nie für gesichert, wenn es nicht auf Jahrhunderte jedem Sprossen unseres Volkes sein eigenes Stück Grund und Boden zu geben vermag. Vergesst nie, dass das heiligste Recht auf dieser Welt das Recht auf Erde ist, die man selbst bebauen will, und das heiligste Opfer das Blut, das man für diese Erde vergießt.“ [47] Alle „blutreinen“ Volkszugehörigen wurden hiermit als potenzielle Bauern angesprochen – was nicht heißt, dass sie dies auch in Wirklichkeit werden sollten.

Das Parteiprogramm enthielt als bäuerliche Forderungen die „Brechung der Zinsknechtschaft“, die Verhinderung von Bodenspekulation und eine Bodenreform.

Das städtische Kleinbürgertum mit Handwerk und Handel als Kern wurde in Mein Kampf nur gestreift. Zum kleinen Handel schwieg sich das Buch ganz aus, und über das Handwerk hieß es in Hitlers Buch: „Erst die Verwelschung unseres Lebens, die aber in Wahrheit eine Verjudung war, wandelte die einstige Achtung vor dem Handwerk in eine gewisse Verachtung jeder körperlichen Arbeit überhaupt.“ Außerdem beklagte er die zurückgehenden Aufstiegsmöglichkeiten für Arbeiter, weil „das kleine Handwerk langsam abstirbt und damit die Möglichkeit der Gewinnung einer selbständigen Existenz für den Arbeiter immer seltener wird“. [48] Das Parteiprogramm verlangte in den Punkten 16 und 25 die Schaffung eines gesunden Mittelstands und die Kommunalisierung der großen Warenhäuser, die als zumeist „jüdische“ Kaufhäuser in der Kritik standen. Darüber hinaus wurde ein Monopol des Kleingewerbes auf Staatsaufträge gefordert.

Die „soziale Frage“

Die Stellung zur Arbeiterklasse nahm in Mein Kampf breiten Raum ein. Der neue Staat war nicht ohne die deutsche Arbeiterklasse aufzubauen, geschweige denn ein neuer Krieg zu führen. Schon der Parteiname zielte auf die Arbeiter, die allerdings in mehrfachem Sinn angesprochen waren: als „Arbeiter der Faust“ galt sowohl der Handwerker als auch der Proletarier, und als „Arbeiter der Stirn“ der Angestellte. Man müsse „verlangen, dass jeder Volksgenosse sich dieses Namens nicht schämt, sondern stolz darauf ist, sich Arbeiter nennen zu dürfen“, forderte Hitler. „Und unser Ziel ist es, gerade die Arbeiter, die man bisher als Arbeiter bezeichnete, für unsere Gedanken zu gewinnen. Jede Volksbewegung, die nicht Millionen hinter sich hat, ist wertlos, ist zwecklos.“ [49] Das hieß, die soziale Frage anzugehen, in Hitlers Worten: „die Bedeutung des sozialen Problems gerade für eine neue, ihrem Wesen nach revolutionäre Partei“ zu begreifen. [50] Nur wenn die Bewegung eine Politik für die Massen betrieb, waren die Massen für die Bewegung und den neuen Staat zu gewinnen.

Mit der „Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse“ war es dem Nationalsozialismus genau so ernst wie mit der Eroberung von Lebensraum. Hitler geißelte die Profitgier des Bürgertums, die zu unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen geführt hatte. Er trat für die „Kürzung der unmenschlich langen Arbeitszeit“, „Hebung der gesundheitlichen Verhältnisse in Werkstätten und Wohnungen“, die „Beendigung von Kinderarbeit“, für „Sicherung und Schutz der Frau“ ein, [51] um nur einige der in „Mein Kampf“ erhobenen Arbeiterschutzforderungen zu nennen.

Gleichzeitig verlangte er die kontinuierliche Steigerung des Konsums der Massen. Mit Blick auf die USA schrieb er in seinem Zweiten Buch: „So wie die Lebensbedürfnisse des flachen Landes sich steigern durch langsame Kenntnisnahme und den Einfluss der Großstädte, so steigert sich aber auch das Lebensbedürfnis ganzer Völker unter der Einwirkung des Lebens bessergestellter reicherer Nationen. (…) Die Meinung, man könne einem Volke von einer bestimmten Kulturfähigkeit und auch tatsächlicher kultureller Bedeutung auf die Dauer durch einen Appell an Erkenntnisse oder auch Ideale unter einem sonst allgemein gültigen Lebensstandard halten, ist falsch. Insbesondere die breite Masse wird dafür selten ein Verständnis aufbringen.“ [52] In einigen Jahren sollte zumindest jeder Facharbeiter sein eigenes Auto fahren. Auch die Haushaltsführung müsse gründlich umgestülpt werden. In einem seiner Monologe im Führerhauptquartier malte er das Bild eines modernen Haushalts: „Nicht nur, dass die Wohnblöcke den Kindergarten in unmittelbarer Nähe haben, die Hausfrau soll auch nicht mehr nötig haben, das junge Volk selbst dahin zu bringen (…) Die Hausfrau soll weiter nicht mehr nötig haben, Kehricht und Küchenabfall die Treppen herunterzuschleppen oder das Heizmaterial herauszubringen, das alles muss durch Gerätschaften sich in der Wohnung selbst erledigen lassen.“ [53]

Um die sozialen Interessen der Arbeiterklasse durchzusetzen, hielt er es für „selbstverständlich“, dass der „konzentrierten Kraft des Unternehmers allein die zur Einzelperson zusammengefasste Zahl der Arbeitnehmer gegenübertreten kann, um nicht von Anbeginn schon auf die Möglichkeit des Sieges verzichten zu müssen.“ [54] Die Befürwortung von Gewerkschaften hatte allerdings zwei Schranken. Zum einen sollten sich die Gewerkschaften auf den ökonomischen Kampf beschränken; die Hinwendung zu politischen Fragen erklärte er für einen jüdisch-marxistischen Irrweg. Zum andern waren die Gewerkschaften nur deswegen für den Arbeiter erforderlich, weil „die organisierte Volksgemeinschaft, der Staat, sich um ihn so gut wie gar nicht kümmert“ [55]. In dem Moment, wo der Staat ein anderer wurde und sich der Arbeiterinteressen annahm, wurden die Gewerkschaften überflüssig. Historisches Vorbild für die Stellung zum Proletariat war für Hitler der Umgang Preußens mit seinen Staatsdienern – nach seinen Worten die ersten, die noch vor der Arbeiterklasse als neuer, besitzloser Stand ohne eigene Produktionsmittel aus Bauern und Handwerkern hervorgegangen waren. Insbesondere durch die Regelung der Altersversorgung „wurde ein ganzer Stand, der eigentumslos blieb, in kluger Weise dem sozialen Elend entrissen und dem Volksganzen eingegliedert.“ [56]

Die Bourgeoisie, die Hitler als Besitz- und Bildungsbürgertum fasste, hatte in ihrer Raffgier die Klassenspaltung verursacht, die Arbeiter dem Staat entfremdet und sie in die Arme des jüdischen Marxismus getrieben. Ohne eigene Ideale und ohne Weltanschauung außer der der „Futterkrippe“, war das Bürgertum „für jede erhabene Aufgabe der Menschheit bereits wertlos geworden“ und „eine vom Schicksal zum Untergang bestimmte Klasse, die nur leider ein ganzes Volk mit sich in den Abgrund reißt.“ [57] Angehörige des Bürgertums durften nur in begrenzter Anzahl in die Bewegung aufgenommen werden, denn „mit der Aufnahme überaus zahlreicher gemäßigt-bürgerlicher Elemente wird sich die innere Einstellung der Bewegung immer nach diesen richten und so jede weitere Aussicht zum Gewinnen nennenswerter Kräfte aus dem breiten Volke einbüßen.“ [58] Die bürgerlichen „Parteikadaver“ waren restlos zu vernichten, denn nur dann konnte der Kampf gegen den Marxismus zur Gewinnung der Arbeiterschaft erfolgreich geführt werden.

Der Adel kam nicht besser, aber kürzer weg als das Bürgertum. In früheren Zeiten hatte er als „Schwertadel“ den Gemeinnutz vertreten. Seit geraumer Zeit war er jedoch durch die Hinwendung zum Finanzkapital hinter den „Geldadel“ zurückgetreten und rassisch verkommen, so dass er keinen Führungsanspruch mehr erheben konnte [59].

Das Klassenwesen der Volksgemeinschaft

Der Nationalsozialismus trat für die Beseitigung aller Standesschranken und Klassenvorrechte ein. Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten müssten für die gesamte Jugend des Volkes gleich sein, nicht länger gebunden an Herkunft oder Geld des Elternhauses. Der völkische Staat „hat nicht die Aufgabe, einer bestehenden Gesellschaftsklasse den maßgebenden Einfluss zu wahren, sondern die Aufgabe, aus der Summe aller Volksgenossen die fähigsten Köpfe herauszuholen und zu Amt und Würden zu bringen.“ [60] Das Parteiprogramm forderte den „gründlichen Ausbau unseres gesamten Volksbildungswesen“ und „die Ausbildung besonders veranlagter Kinder armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand oder Beruf auf Staatskosten“, um „jedem fähigen und fleißigen Deutschen das Erreichen höherer Bildung und damit das Einrücken in führende Stellung zu ermöglichen“ (Pkt. 25).

In der Volksgemeinschaft waren zwar nicht die ökonomischen, wohl aber die politisch-gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft beseitigt. „Die Volksgemeinschaft sollte die Klassenspaltung aufheben, vor allem, indem die sozialen Belange des Arbeiters eine hervorragende Berücksichtigung finden. Durch einen permanenten Umerziehungsprozess sollten bestehende Traditionen, Standesdünkel und Vorurteile abgebaut werden. Damit verbunden war ein Egalisierungsprozess in sämtlichen Lebensbereichen. Anknüpfen konnte Hitler mit diesen Vorstellungen an die sehr populären ‚Ideen von 1914‘, d. h. die Schützengraben-Gemeinschaft, die nun auf das gesamte staatliche und gesellschaftliche Leben übertragen werden sollte.“ [61]

Zitelmann, der dies schreibt, erklärt den Klasseninhalt dieser Volksgemeinschaft für „modern“. Er stellt in seiner Untersuchung über „Hitler als Revolutionär“ fest, dass Hitler sich mit Arbeiterschaft und Bürgertum sehr viel ausführlicher als mit Bauern und Kleinbürgern beschäftigte. Da sich die Äußerungen zu den Bauern vor allem in den Jahren 1925 bis 1928 häuften, schließt er daraus, dass sie mit einer vorübergehenden Hinwendung in der Agrarkrise zwecks Stimmengewinn zu tun hatten, ihnen aber keine prinzipielle Orientierung zugrunde lag. Die im Ganzen intensivere Auseinandersetzung mit den modernen Klassen der Gesellschaft ist für ihn im Gegenteil ein Beweis, dass Hitler im Unterschied zu anderen Nazipolitikern eine „modernisierende“ Politik vertrat.

Dem liegt eine massive Fehldeutung zugrunde, die sich auf den äußeren Umfang statt auf den Inhalt der gemachten Aussagen stützt. In Russland befasste sich Lenin vor und nach der Revolution von 1905 über Jahre hinweg sehr viel ausführlicher und gründlicher mit der Bauernschaft als mit der Arbeiterklasse – nicht, weil er zu einem Bauernpolitiker geworden wäre, sondern weil er im Unterschied zu den anderen russischen Marxisten begriffen hatte, dass die Lösung der Agrarfrage und damit das Bündnis mit der Bauernschaft den Schlüssel zur proletarischen Machteroberung bildeten. Umgekehrt hatte Hitler die soziale Frage als Schlüssel für die Errichtung eines völkischen Massenstaats begriffen. Mit der bäuerlich-rassischen Fundierung, vor allem aber mit dem Herangehen an die soziale Frage als Kernpunkt zur Gewinnung der Massenhegemonie in seinem Werk setzte sich Hitler von dem handwerklich-ständisch gefärbten 25-Punkte-Parteiprogramm ab. Damit ging die NSDAP zugleich über die anderen völkischen Organisationen der 20er Jahre hinaus und konnte schließlich die „Rechte“ vollständig dominieren.

Die nationalsozialistische Lösung der sozialen Frage war nichtbürgerlich. Nach dem 2. Weltkrieg gelang es der Bourgeoisie unter veränderten Bedingungen in Westdeutschland, das Konzept einer „sozialen Marktwirtschaft“ durchzusetzen, das unter grundsätzlicher Anerkennung der Erfordernisse der Kapitalbewegung die Berücksichtigung von Arbeiterinteressen und die Integration der Gewerkschaften formulierte. Auf diesem Boden konnten zuerst die Unionsparteien und sodann die SPD (Godesberger Programm 1956) zu bürgerlichen Volksparteien werden, die unter Führung der Bourgeoisie die Integration auch von anderen Klassenkräften realisieren. In der Weimarer Republik gab es keine solchen Volksparteien. DDP und DVP waren auf das direkte Umfeld bürgerlicher Schichten beschränkt, und das Zentrum war zwar klassenübergreifend, blieb aber konfessionell an den Katholizismus gebunden. Daher konnte Hitler die bürgerlichen Parteien als „politische Klubs“ abtun, die nichts anderes „als Interessengemeinschaften bestimmter Berufsgruppen und Standesklassen“ sind. [62] Damit war das Dilemma der Bourgeoisie in der Weimarer Republik treffend beschrieben.

Das von Hitler formulierte Konzept des Nationalsozialismus hatte mit einer „sozialen Marktwirtschaft“ nichts zu tun. Es ging an den Arbeiter einerseits als potentiellen Kleinproduzenten heran (daher die Klage darüber, dass ein absterbendes Handwerk nicht mehr als „Brücke“ zu einer selbständigen Existenz für den Arbeiter dienen könne) und stellte ihm andererseits den Staat als Helfer gegen die Bourgeoisie zur Seite. Die Verbindung von Staat und Arbeiterklasse unter Ausschaltung der traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung wurde unmittelbar nach der Machtübernahme in Gang gesetzt. Zeitgleich mit dem Verbot der Gewerkschaften wurde der 1.Mai zum gesetzlichen Feiertag erklärt – eine jahrzehntelang unerfüllte Forderung. Das „Gesetz über Treuhänder der Arbeit“ entzog Werktätigen und Unternehmern die Verhandlungsfreiheit über Löhne und Arbeitsbedingungen und übertrug deren Regelung staatlichen „Treuhändern der Arbeit“, die nur mit Bestätigung Hitlers ernannt werden konnten. Sie konzentrierten „Befugnisse und Vollmachten in ihren Händen, durch die sie zu einer der wichtigsten wirtschaftlichen Machtpositionen im Dritten Reich aufstiegen.“ [63] Sie sorgten keineswegs nur für einen Lohnstop im Interesse der Bourgeoisie, sondern stellten sich in Arbeitskonflikten häufig auf die Seite der Lohnabhängigen.

Wenn man darüber hinaus die mit Hitlers Billigung erfolgten Nachkriegsplanungen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zur Kenntnis nimmt, die u. a. eine einheitliche Sozialversicherung (unter Zerschlagung der ständisch gegliederten, ungleichen Renten- und Krankenversicherung), eine Altersrente für alle Volksgenossen sowie ein gewaltiges staatliches Wohnungsbauprogramm vorsahen, dann wird deutlich, dass die sozialen Zielsetzungen des Regimes keineswegs nur kriegsführungsbedingt waren.

Nach einigen Jahren an der Macht hatte der Nationalsozialismus die Arbeiterklasse gewonnen – aber weder hauptsächlich durch seine Propaganda noch durch seinen inneren Terror. Beides war nur deswegen dauerhaft wirksam, weil es sich auf eine sozial fundierte Massenpolitik stützen konnte. Das war auch der Hauptgrund, warum die alliierten Bombenteppiche im Krieg die städtischen Massen mit dem Regime zusammenschweißten, statt sie davon abzuspalten. Da die Arbeiterklasse die Novemberrevolution von 1918 noch in praktischer Erinnerung hatte, scheint auf den ersten Blick unerklärlich, warum bis zum letzten Kriegstag keine Massenbewegung gegen das Naziregime entstand. Die kritische Theorie kann das Verhalten der Massen bis heute nur mit „Handeln gegen die eigenen Interessen“ erklären, womit sie den eigenen erkenntnistheoretischen Idealismus beweist, aber sonst nichts.

Im Unterschied zur Junkerherrschaft des vorangegangenen Kriegs empfanden die Massen die Naziherrschaft trotz aller auch vorhandenen Kritik nicht als arbeiterfeindlich, geschweige denn unerträglich, weil sie positive praktische Erfahrungen damit verbanden. Vor allem die nachwachsende Arbeitergeneration machte derartige Erfahrungen mit der „Volksgemeinschaft“. „Den meisten dieser Jungen scheint der Nationalsozialismus im Gegenteil neue Räume erschlossen zu haben, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Schranken der Arbeitermilieus, die mit Einschränkungen noch für ihre Eltern galten, scheinen für sie nicht nur gesprengt, sondern Berührungen zu anderen Klassen, Schichten und Milieus wurden ebenso möglich wie das Kennenlernen neuer Orte und Lande. Vor allem HJ, BDM, Dienstverpflichtungen, Pflichtjahr, Kinderlandverschickung und Fronteinsatz waren die Vehikel in diese bisher weitgehend unbekannten Räume. Neue, milieuübergreifende Erfahrungen wurden gemacht. Auch die Aufstiegsmöglichkeiten wurden vielfältiger sowohl in der Bildung als auch in den NS-Organisationen und im Beruf. Hand in Hand mit dem Aufstiegsbewusstsein wuchs die Hoffnung auf Besserstellung durch persönliche Leistungen.“ [64]

Der SS-Staat und Deutschland

In Abgrenzung zu den Kräften der „Reaktion“ trat der Nationalsozialismus gegen die Wiedererrichtung der Monarchie und für eine „Republik“ ein; nur war diese Republik nicht parlamentarisch. Hitler kritisierte die parlamentarische Demokratie als Zersetzungsinstrument der jüdischen Rasse, weil sie u. a. „jede praktische Verantwortung“ wegfallen ließ, die „nur in der Verpflichtung einer einzelnen Person liegen (kann) und nicht in der einer parlamentarischen Schwätzervereinigung.“ Parlamente sollten vom Gemeinderat bis zum Reichstag erhalten bleiben, jedoch nur als Beratungs- und nicht als Entscheidungsorgane. „Dem steht gegenüber die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen. In ihr gibt es keine Abstimmung einer Majorität zu einzelnen Fragen, sondern nur die Bestimmung eines einzelnen, der dann mit Vermögen und Leben für seine Entscheidung einzutreten hat.“ [65]

Die mit diesen Worten umrissene „personale“ Herrschaftsform wurde nach einer Übergangszeit von einigen Jahren in Gestalt der SS-Herrschaft verwirklicht. Die SS verkörperte eine neue Konzeption der Staatsmacht, „die dem Anspruch der Führergewalt wirklich adäquat war. Und zwar wurde für die Durchsetzung und Verwirklichung des außernormativen Führerwillens aus Teilen der SS eine neue, von der staatlichen Verwaltung völlig unabhängige, von der Bindung an die staatlichen Normen im Prinzip befreite Exekutive errichtet. Diese Führerexekutive wurde nicht nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung tätig, sondern ihre Maxime war allein der Wille des Führers. Ihr wurden die eigentlich politischen Aufgaben übertragen, auf die es Hitler ankam, insbesondere die Sicherung der Macht, Bevölkerungspolitik, Besatzungspolitik, Verfolgung aller tatsächlichen und angeblichen Gegner des Regimes. (…) so wurde im Laufe der Jahre das Prinzip der Führergewalt in reiner Form realisiert und der Prozess der Entstaatlichung des öffentlichen Lebens vorangetrieben. Als Führerexekutive das eigentliche, adäquate Werkzeug der Führergewalt gewesen zu sein, darin besteht die historische Bedeutung der SS.“ [66]

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die gegenseitige Paralyse der Klassen am Ende der Weimarer Republik, die es unmöglich machte, Deutschland auf dem Boden des Parlamentarismus weiter zu regieren. Wegen des Gleichgewichts der Klassen wies die Macht Hitlers Ähnlichkeiten mit dem Bonapartismus auf, worauf Brandler und Thalheimer zu recht hinwiesen. Weder begriffen sie jedoch den eigenen Klassencharakter dieses „Bonapartismus“, sondern fassten ihn als (indirekte) Herrschaft des Großkapitals auf, noch erkannten sie, dass das Wesen des Nationalsozialismus nicht darin bestand, den bestehenden deutschen Staat mit terroristischen Mitteln jenseits der vorhandenen Gesetzlichkeit zu sichern und territorial auszudehnen, sondern dass er auf die Errichtung eines neuen germanischen Staats zielte. Dazu war die SS auf militärischem Gebiet in Gestalt der Waffen-SS das entscheidende Instrument.

Es besteht „kein Zweifel, dass das Konzept für einen langfristigen, breitangelegten Ausbau der SS auf supranationaler, pangermanischer Grundlage bereits vor Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion festlag. Es ist mithin nicht erst als eine Folge der ungeahnt verlustreichen Schlachten der Ostfront anzusehen.“ [67] In den Waffen-SS-Divisionen Wiking, Nordland, Nederland, Langemarck und Wallonie dienten Norweger, Dänen, Niederländer, Luxemburger, Flamen. Mit ihnen sollte die SS zur Keimzelle des künftigen germanischen Staats werden, der ihre Völker gleichberechtigt mit den blutreinen Deutschen umfassen sollte und als dessen Schmiede der Lebensraum im Osten gedacht war. „Die SS hatte gute Gründe, sich zum Vorreiter einer konsequenten Germanisierungspolitik aufzuschwingen. Denn für Himmler war die Integration des ‚germanischen‘ Westens die notwendige Ergänzung zur Unterwerfung des slawischen Ostens. Beide Ziele standen in einem geradezu interdependenten Verhältnis zueinander: die Eroberung und Besiedlung Osteuropas war undenkbar ohne eine erhebliche ‚Verbreiterung der germanischen Blutsbasis‘; diese wiederum konnte ihrerseits nur durch eine imperiale Zukunftsvision Sinn und Ziel gewinnen. Es war darum nur konsequent, dass den am ‚Kreuzzug gegen den Bolschewismus‘ teilnehmenden ‚germanischen‘ Freiwilligen für die Nachkriegszeit z.B. das gleiche Siedlungsrecht in den eroberten Ostgebieten zugestanden wurde wie ihren deutschen Kameraden.“ [68]

So wie Preußen 70 Jahre zuvor im Kampf den deutschen Staat geschaffen hatte, sollte Deutschland jetzt das germanische Europa schaffen – und darin aufgehen. Dazu sollten offenbar neben Deutschland und dem germanischen Osten zumindest Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Luxemburg und der flämische Teil Belgiens gehören. Darum ließ die SS das Deutsche Reich mehr und mehr hinter der Fahne Europas zurücktreten. Wie auf anderen Gebieten waren auch hier die Europaparolen keine bloße Propaganda, sondern beruhten auf einem realen Kern. Die oben benannte „Entstaatlichung der öffentlichen Gewalt“ bzw. die „Befreiung der Exekutive von staatlichen Normen“ hatte insofern einen konkreten staatsrechtlichen Hintergrund: sie bedeutete den Ausbruch aus den Fesseln der deutschen Staatlichkeit mit dem Ziel der Errichtung eines germanischen Imperiums. Die dabei entscheidenden Herrschaftsbereiche, „Sicherung der Macht, Bevölkerungs- und Besatzungspolitik“, wie Buchheim zusammenfasst, behielt Hitler sich vor und organisierte sie mithilfe der SS. Auf den anderen Gebieten der Regierungsgewalt ließ er hingegen die Zügel schleifen und verschaffte dadurch Dutzenden von späteren Historikern die Gelegenheit, ganze Lehrstühle mit dem Streit auszufüllen, ob er ein „starker“ oder „schwacher“ Diktator und die NS-Herrschaft eher eine „Monokratie“ oder eine „Polykratie“ gewesen war.

Der aus dem Gleichgewicht der Klassen in Deutschland resultierende persönliche Handlungsspielraum Hitlers konnte dabei nur eine Übergangserscheinung sein. Ab dem Zeitpunkt, wo durch die Besiedelung des Ostens der germanische Großstaat Realität geworden und die bäuerliche Hegemonie auch zahlenmäßig sichergestellt war, musste die Herrschaftsform sich erneut ändern.