Fritz Gött
I. Evolutionsbiologische Fragestellungen und Antworten
Evolutionsbiologische Fragestellungen und Antworten schaffen es selten in die linke Publizistik. Dabei illustrieren die Ergebnisse doch den ewigen Wandel und die Veränderbarkeit des Daseins. Im Folgenden stelle ich Neuerscheinungen zu verschiedenen Schwerpunkten vor.
1. Die Evolution des Lebendigen ist eine Tatsache. Evolutionstheorien hingegen sind der zeitbedingte Versuch des Menschen die Triebkräfte, Mechanismen und Ergebnisse der (biologischen) Evolution zu beschreiben und zu verstehen. Ein offener Erkenntnisprozess, der viele Akteure und Leuchtfeuer kennt, so: Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) und Charles Darwin (1809-1882). Heute deuten sich im tradierten Theoriegebäude der Evolutionswissenschaften (in der sogenannten „Synthetischen Theorie“) neuerliche Modifikationen und Umbrüche an. Neues Wissen hat sich aufgehäuft, das der Einordnung und Bewertung bedarf. Einblicke in die durchaus kontrovers geführten Diskussionen vermitteln da die Arbeiten:
* Neil Shubin: Die Geschichte des Lebens. Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt. (2020) Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2021
* Diethard Tautz: Biologie. Evolutionstheorie auf dem Prüfstand. in: Spektrum der Wissenschaft, Nr. 5/2021, S. 12 – 19
2. Die „Epigenetik“ als Fach- und Forschungsrichtung ist eine junge Disziplin. Im Cover des hier angezeigten Buches von Isabelle M. Mansuy (u.a.) heißt es: „Die Epigenetik lehrt: Erfahrungen und unser Lebensstil steuern unser Erbgut. Stress, Traumata, Ernährung und Umwelteinflüsse entscheiden darüber, ob unsere Gene aktiviert oder deaktiviert werden, und bestimmen so unser Schicksal und das unserer Kinder und Enkel.“ Vieles ist dabei jedoch noch aufzuklären. Schon in der Vergangenheit gab es gute populärwissenschaftliche Arbeiten zum Thema, so Bernhard Kegel, 2009 und Peter Spork, 2009/2017. – Das folgend angezeigte Buch der Autorin führt den Reigen weiter, auch inhaltlich, da die Autorengruppe gleichfalls zu den Mechanismen, der Behandlung und der Beseitigung von psychischen Traumata arbeitet.
* Isabelle M. Mansuy /J.M. Gurret / A. Lefief-Delcouet: Wir können unsere Gene steuern. Die Chancen der Epigenetik für ein gesundes und glückliches Leben. München: Berlin Verlag, 2020
3. Männer und Frauen sind zu gleichen geistigen Leistungen fähig. Doch ihre Körper ticken auch unterschiedlich. Zwar gibt es die Kinder- und Frauenheilkunde um dieser Tatsache zu entsprechen. Doch in vielen Physiologie- und Medizinwerken dominiert in der Betrachtung eine Standardnorm des gesunden, jungen und weißen Mannes. Dem widerspricht u.a. die sogenannte „Gendermedizin“, die zu Recht eine „Geschlechtssensible Medizin“ anstrebt: „Frauen und Männer erkranken und genesen anders. Selbst bei gleicher Krankheit sind Risikofaktoren, Symptome und das Ansprechen auf Medikamente nicht immer identisch. Warum ist das so? Welche medizinischen Unterschiede lassen sich eindeutig belegen?“, heißt es im Cover des nun angezeigten Buches. Das Werk stammt aus der Feder von Vera Regitz-Zagrosek (u.a.). Es ist der Versuch die „Gendermedizin“ lehrbuchartig und dennoch praktisch anwendbar zu fassen. Als Rezensent teile ich nicht jede Auffassung der Autoren. Ich teile aber ihr Anliegen die „Schulmedizin“ entsprechend den objektiven Fakten zu reformieren. Blicke in das Buch lohnen sich.
* Vera Regitz-Zagrosek / Stefanie Schmid-Altringer: Gendermedizin. Warum Frauen eine andere Medizin brauchen. München: Scorpio Verlag, 2020
4. Evolutionsbiologische Faktoren finden sich – neben dem Sozialen und Gesellschaftlichen – auch in Gesundheit und Krankheit: „Seitdem Svante Pääbo, Paläogenetiker vom Max-Plank-Institut für evolutionäre Anthropologie, das Erbgut des Neandertalers entziffert hat, wissen wir, dass immer noch Gene dieses Frühmenschen in uns schlummern. Im vergangenen Jahr stieß seine Arbeitsgruppe auf einen überraschenden Zusammenhang: Bestimmte Genvarianten des Neandertalers sollen das Risiko für eine schwer verlaufende Corona-Erkrankung erhöhen. Was steckt dahinter?“, heißt es im Vorspann zu:
* Svante Pääbo (Interview): Paläogenetik. „Jeder besitzt Erbgut vom Neandertaler.“ in: Spektrum der Wissenschaft, Nr. 5/2021, S. 30 – 35
II. Back to the roots
Mit dem Denken und Bewusstsein haben sich bereits die marxistischen Klassiker befasst:
* „Das Bewusstsein ist … von vornherein … ein gesellschaftliches und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.“ (K. Marx)
* „ … unser Bewusstsein und Denken, so übersinnlich es scheint, das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organ, des Gehirns, ist.“ (F. Engels)
* „…in Wirklichkeit bleibt noch eingehend zu untersuchen, wie die angeblich überhaupt nicht empfindende Materie sich mit einer Materie verbindet, die aus den gleichen Atomen (oder Elektronen) zusammengesetzt ist, zugleich aber eine klar ausgeprägte Fähigkeit des Empfindens besitzt. Der Materialismus stellt klar die noch nicht gelöste Frage, wodurch er auf ihre Lösung und weiter Experimentalforschung hindrängt.“ (W.I. Lenin)
Moderne Forschungen
1. Wer das Thema „Bewusstsein“ angeht, kann es aus verschiedenen Blickwinkeln tun. Eine wissenschaftliche Psychologie z.B. hat mit zu ergründen, wie die Natur das Bewusstsein hervorgebracht hat. Nicht jedes Lebewesen hat Bewusstsein im Sinne von bewusstem Sein. Wahres Bewusstsein hat nur der soziale Mensch: Eine These, die zu beweisen wäre. Ursprung und Entwicklung des Bewusstseins in der Evolution des Menschen müssen aufgezeigt werden sowie die Entwicklung des Bewusstseins im heutigen Individuum. Alles in allem ist das kein leichtes Unterfangen.
Einer, der vorhandenes Quellenmaterial durchgearbeitet und verschriftet hat, der sich zudem in der aktuellen Diskussion zum Bewusstseinsproblem positioniert, ist Joseph LeDoux, ein US- amerikanischer Psychologe, der am Center for Neural Science an der New York University unterrichtet, unverkennbar mit einer Neigung zum modernen, aufgeklärten Behaviorismus.
Zur Intention der unten angezeigten Studie schreibt der Autor: „Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre handelt von der Evolution des Verhaltens. Dabei geht es nicht nur um das Verhalten des Menschen oder anderer Säugetiere, nicht einmal nur um das von Tieren. Es geht darum, dass Verhalten schon anfing, sobald die allerersten Organismen entstanden waren. Diese einzelligen Mikroorganismen, Vorfahren der Bakterien und unsere Mitbewohner auf der Erde, mussten bereits vieles tun, was auch wir tun, um zu überleben – Beschädigung vermeiden, Nährstoffe aufnehmen, Flüssigkeitshaushalt und Temperatur regulieren, und sich fortpflanzen. Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre zeichnet nach, wie spätere Organismen ihr Überleben sichern, indem sie genau diese grundsätzlichen Anforderungen über ihr Verhalten erfüllen. Aber natürlich ergeben Ähnlichkeiten nur dann einen Sinn, wenn man auch die Unterschiede in den Blick nimmt; so soll dieses Buch vor allem auch herausarbeiten, wodurch wir uns von allen anderen Lebewesen am meisten unterscheiden: Sprache, Kultur, unsere Fähigkeit zu denken und unsere Vernunft zu gebrauchen sowie unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion. Das alles ist neu – doch die Wurzeln reichen zurück bis an die Anfänge des Lebens.“
Man muss nicht gleich jede Schlussfolgerung des Autors teilen, um das Buch (mit dem Wort des Nobelpreisträgers für Medizin Eric R. Kandel) „außergewöhnlich“ zu finden. Reichlich Stoff zum Nachdenken, Nachschlagen und Weiterdenken bietet es allemal:
*Joseph LeDoux: Bewusstsein. Die ersten vier Milliarden Jahre. (2019) Stuttgart: Klett-Cotta, 2021
2. Der Mensch denkt und handelt vermittelst seines Gehirns. Das ist als Feststellung beim heutigen Kenntnisstand eigentlich banal. Jedoch sind keineswegs alle Fragen an die „Hardware“, „Software“, und an die Programmierung des Gehirns geklärt. Doch immer neue Techniken und Experimente erlauben ‚Fenstereinblicke‘ ins arbeitende Gehirn: Pionierarbeit ohne absehbaren Endpunkt.
Dennoch: Die Motive der Akteure unterscheiden sich. Dem einen geht es um Erkenntnisgewinn und Dienst am (kranken) Menschen, dem Geschäftemacher hingegen um Vorteile im Reibach-Machen. Dazu berichtet ein Buch von John-Dylan Haynes (u.a.). Zum Inhalt des Buches heißt es im Cover: „Wie entstehen Gedanken? Sind sie vor Zugriffen von außen sicher oder wird man irgendwann per Gehirnscan unsere Wünsche, Lügen und Gefühle erkennen können? Wird das Marketing unsere Hirnprozesse gezielt beeinflussen, um ein Verlangen nach bestimmten Produkten zu erzeugen? Haben wir überhaupt einen freien Willen? Wieso kann man Entscheidungen im Gehirn schon sehen, bevor sich jemand bewusst entscheidet? … (die Autoren) gehen diesen Fragen nach und liefern spannende Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen der Hirnforschung.“
Wer sind die Autoren der Schrift? Haynes steht dem modernen Materialismus nahe, ist ein akademisch lehrender und experimentell arbeitender Psychologe und Neurowissenschaftler, sein Co-Autor M. Eckoldt ein mehrfach ausgezeichneter Wissenschaftsjournalist. Auch wenn die angezeigte Arbeit populärwissenschaftlich gefasst ist und im Stil flott daherkommt, ist sie anspruchsvoll und verlangt Aufmerksamkeit im Studium. Doch auch dieses Buch hat seinen Kritiker. So Stephan Schleim unter der Überschrift „Was zeigt der Blick in das Gehirn?“. (FAZ, 3. Juli 2021, S. 10) Wer sich das anregende Buch von J.D. Haynes vornimmt, sollte auch in diese negative, abwertende Rezension blicken. Man kann die Widersprüche und Sichtweisen der Autoren ja durchdenken und vergibt sich dabei nichts:
* John-Dylan Haynes / Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Berlin: Ullstein, 2021
3. Die Gattung Mensch ist besonders. Ihre biologische und gesellschaftliche Stammesgeschichte hat einen einzigartigen physischen und psychischen Leistungskatalog der Spezies hervorgebracht. Das Ergebnis unterscheidet uns von unseren nächsten tierischen Verwandten, den Menschenaffen. Auch die individuelle und psychologische Herausbildung des menschlichen Kleinkindes erfolgt anders als beim äffischen Jungtier und dementsprechend mit anderen Resultaten, doch immer im gesellschaftlichen/sozialen Kontext: „Die moderne Evolutionstheorie betont, dass Organismen ihre Umwelt ebenso erben wie ihre Gene: Ein Fisch erbt nicht nur Flossen, sondern auch das Wasser. Menschenkinder erben einen soziokulturellen Kontext voller Artefakte, Symbole und Institutionen, ohne den ihre einzigartigen Fähigkeiten sich nicht entwickeln könnten.“ – heißt es bei Michael Tomasello. Der Autor war Jahrzehnte lang Co-Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Von ihm stammt das unten angezeigte Werk, das interessante Arbeitshypothesen zum angesprochenen Themenkomplex enthält. Einerseits greift der Autor auf das vielfältige theoretische, empirische und experimentelle Material seines Instituts zurück, also auf das Vergleichsmaterial von Menschenkindern und Schimpansen, Bonobos usw.; andererseits bezieht sich der Autor auf ältere Überlegungen des sowjetischen Pädagogen/Psychologen und Publizisten marxistischer Couleur Lew S. Wygotski (1896 – 1934), einem der Gründungsväter der „Kulturhistorischen Schule“ in der Sparte Psychologie der Sowjetwissenschaften. – Wer sich auf die Arbeit Tomasellos einlässt, hat eine spannende, jedoch keineswegs leichte Lektüre zur Ontogenese vor sich. Der Stil ist arg akademisch, die Materialfülle beachtlich, ein Fremdwörterbuch beim Lesen ist angezeigt. Wer durchhält, gewinnt viel:
*Michael Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Berlin: Suhrkamp, 2020