Das Ende des DDR-Sozialismus

Heiner Karuscheit

(überarbeitetes Referat vom 11. Februar 2022 im Marx-Engels-Zentrum Berlin)

1. Sowjetische Deutschlandpolitik

Wenn man sich mit der Entwicklung des Sozialismus in der DDR beschäftigt, ist es unvermeidlich, mit der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945 zu beginnen.

Zum Umgang mit dem besiegten Deutschland gab es in der sowjetischen Führung wesentlich zwei unterschiedliche Positionen (die uns auch in den kommenden Jahren noch begegnen werden). Die eine Richtung wollte im Schwung des Sieges über den Faschismus zu einer sofortigen Sozialismuspolitik übergehen.

Dagegen hielt die andere Richtung mit Stalin an der Spitze eine solche Politik für verfrüht bzw. verfehlt. Stalin hatte bereits den Krieg gegen den Überfall Nazi-Deutschlands als „Großen Vaterländischen“ geführt, d.h. als nationalen Verteidigungskrieg und nicht als „sozialistischen“ Krieg (was andere Teile der sowjetischen Führung wollten). Dieselbe Zurückhaltung legte er auch gegenüber dem besiegten Deutschland an den Tag, was sich im Umgang mit der KPD zeigte.

2. KPD-SED

Diese KPD taucht nach 12 Jahren und schweren Verlusten 1945 wieder aus der Illegalität auf – und dabei knüpft die Masse ihrer in Deutschland gebliebenen Mitglieder wieder dort an, wo man 1933 aufgehört hat. D.h. man will sofort zum Sozialismus übergehen (wie auch ein Teil der Sowjetführung).

Dagegen wird in Moskau von der Exilführung der KPD eine ganz andere Programmatik verabschiedet, die unter Beteiligung (besser: Anleitung) der sowjetischen Kommunisten erarbeitet worden ist. Stalin nahm persönlich mehrfach an den Sitzungen teil, wie Tagebucheintragungen Dimitroffs belegen.

Das Ergebnis ist ein Aufruf, mit dem die KPD am 11.Juni 1945 an die Öffentlichkeit tritt. Zentraler Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass in Deutschland die bürgerliche Revolution zu Ende geführt werden muss, mit der Schlussfolgerung: a) es wäre falsch, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, d.h. den Sozialismus einzuführen, b) stattdessen steht die Errichtung einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen Rechten und Freiheiten für das Volk an. Das ist das Gegenteil von dem, was die Mehrheit der KPD-Mitglieder in Deutschland will.

Diese Demokratiepolitik wird in der SBZ auch umgesetzt. D.h. es wird eine antifaschistische, bürgerlich-demokratische Ordnung aufgebaut, die auch fortgesetzt wird, als 1949 die DDR als Reaktion auf die Staatsgründung der BRD gegründet wird.

Was ist hieran u.a. bemerkenswert? Der demokratische Aufruf von 1945 stellt einen vollständigen Bruch mit der Sozialismusstrategie dar, die die KPD bis dahin verfolgt hat, angefangen von Rosa Luxemburg bis zu Ernst Thälmann. Anstatt eine revolutionär-demokratische Strategie zur Durchsetzung der bürgerlichen Revolution zu verfolgen, ist der Spartakusbund in der Novemberrevolution mit einer Sozialismusstrategie vollständig gescheitert. Und anstatt dem aufkommenden NS mit einer demokratischen Strategie entgegenzutreten, ist die Thälmann-KPD 1933 mit derselben Sozialismusstrategie noch viel folgenreicher gescheitert.

Jetzt wird auf einmal die bürgerliche Revolution als unvollendet bezeichnet und eine Demokratiepolitik realisiert. Was aber passiert, um diese Aufgabenstellung zu vertiefen? Nichts! Die KPD-Führung setzt die im Aufruf angekündigte Politik um, aber es gibt keinerlei Diskussion über die weitergehenden, damit verbundenen Fragen.

Weder wird das Problem der bürgerlichen Revolution in Deutschland vertieft, das sich insbesondere mit Blick auf die Novemberrevolution 1918/19 stellt, erst recht nicht wird über die Fehler der Weimarer KPD diskutiert. Damit zeigt sich bereits in der ersten Stunde ein Muster, das die gesamte Geschichte der KPD/SED durchzieht: Linienänderungen – auch grundlegende – werden beschlossen und verkündet, aber es gibt keine Diskussion und Aufarbeitung der vorangegangenen Fehler. Nicht einmal der Untergang der DDR hat diese Regel gebrochen.

3. Die Militärblöcke entstehen

Damit zurück zur Geschichte: Um 1950 ändern sich die internationalen Rahmenbedingungen grundlegend: zum einen siegt die chinesische Revolution 1949 unter MaoZedong, außerdem kommt es zum Korea-Krieg, den die USA nicht in der Lage sind zu gewinnen. Schon zuvor haben die USA begonnen, in Europa ein Militärbündnis gegen die Sowjetunion zu schmieden, die 1949 entstandene NATO, der die Bundesrepublik Deutschland 1955 beitritt.

Wie soll die SU darauf reagieren? Stalin stellt dazu in einem Interview mit der Prawda fest, dass die sowjetische Wirtschaft nicht in der Lage ist, ein Wettrüsten aufzunehmen; der Staat würde dadurch in den Bankrott getrieben (10 Jahre später verkündet Chruschtschow einen Systemwettbewerb, den die SU sowohl ökonomisch und politisch als auch militärisch gewinnen würde).

Um die Überforderung zu verhindern, legt die sowjetische Regierung im März 1952 die sog. Stalin-Note vor, die zwei Kernpunkte enthält: a) das Angebot einer Wiedervereinigung Deutschlands bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung, sowie b) unter der Voraussetzung der Neutralität des wiedervereinigten Deutschland (dasselbe wie in Österreich). Damit soll die Einkreisung der Sowjetunion aufgebrochen werden bzw. gar nicht erst zustande kommen, denn Deutschland ist das Schlüsselland für die Einkreisung der SU.

4. Die Reaktion der SED

Der Parteiführung unter Walter Ulbricht ist klar, dass eine Wiedervereinigung bei freier Wahl der Gesellschaftsordnung nicht unter sozialistischen, sondern unter bürgerlich-demokratischen Vorzeichen stattfinden würde. Damit hätte man keine Möglichkeit mehr, in der DDR irgendwann den Sozialismus aufzubauen und dessen Überlegenheit über den Kapitalismus unter Beweis zu stellen.

Für das SED-Politbüro stellt das Wiedereinigungsangebot einen Ausverkauf der DDR dar, den man nicht hinnehmen will. Um das zu verhindern, lässt das Politbüro im Juli 1952, unterstützt von einem Teil der sowjetischen Parteiführung, durch die II.Parteikonferenz den Aufbau des Sozialismus in der DDR beschließen. Das ist vorher nicht angekündigt worden und kommt auch für die Delegierten völlig überraschend. Erst hat vorher keine gesellschaftliche Diskussion über den Übergang stattgefunden.

Der Grund für die Geheimnistuerei liegt auf der Hand: die Einführung des Sozialismus in der DDR konterkariert das drei Monate zuvor gemachte Wiedervereinigungsangebot, und deshalb muss man möglichst vollendete Tatsachen schaffen. Die Konsequenzen werden im Westen auch sofort benannt: Die Stalin-Note wird als bloße Propaganda abgetan, das Wiedervereinigungsangebot nicht ernst genommen. Oder anders ausgedrückt: der Sozialismusbeschluss kommt Adenauer und den USA mehr als gelegen, denn damit wird der Weg zur Westbindung der BRD gesichert – das Bündnis mit den USA und die spätere NATO-Mitgliedschaft werden zur Staatsräson der Bundesrepublik.

Jenseits dieser außenpolitischen Implikationen ist der Sozialismusbeschluss von 1952 mit einer folgenschweren innerpolitischen Weichenstellung verbunden, die für den weiteren Aufbau des Sozialismus in der DDR maßgebend ist: die Arbeiterschaft ist an der Entscheidung nicht beteiligt – sie wird vorher nicht gefragt, da keine Debatte darüber stattfindet; es wird nicht einmal der Versuch unternommen, sie von dem folgenreichen Schritt zu überzeugen. Stattdessen wird der Sozialismus der Klasse, die die neue Gesellschaftsordnung tragen muss und überhaupt nur tragen kann, einfach aufoktroyiert.

5. Der 17.Juni 1953

Die Quittung erhält die SED ein Jahr später, im Juni 1953. Die mit der Sozialismuseinführung verbundenen Folgen (Verstaatlichungen etc) stürzen die Wirtschaft der DDR in eine tiefe Krise, zu deren Behebung die SED u.a. beschließt, die Arbeitsnormen zu erhöhen.

Das bringt das Fass zum Überlaufen. Nach vorherigen Protestaktionen kommt es zu einem Aufstand, an dem sich, von Ostberlin ausgehend, Arbeiter aus allen Industrierevieren Mitteldeutschlands beteiligen, d.h. aus den Industriegebieten, die bis in die 30er Jahre ein Zentrum der revolutionären Arbeiterbewegung waren. Die erhobenen Forderungen beschränken sich nicht auf die Rücknahme der Normerhöhungen; vielmehr wird nun der Rücktritt der SED-Regierung und die Wiedervereinigung gefordert.

Das Eingreifen der sowjetischen Armee am 17.Juni 1953 beendet den Arbeiteraufstand und entscheidet gleichzeitig den Machtkampf, der in der sowjetischen Führung nach Stalins Tod ausgebrochen ist. Die zu der Zeit von Malenkow und Berija geführte Regierung hatte Anfang Juni 1953, also kurz vor dem Aufstand, die SED-Führung aufgefordert, den Sozialismusbeschluss rückgängig zu machen und stattdessen den Kurs auf eine deutsche Wiedervereinigung unter bürgerlich-demokratischen Vorzeichen umzusetzen, dieser Teil der Führung wollte also die Politik nach den Maßgaben der Stalin-Note fortsetzen.

Dagegen steht eine andere Fraktion in der Partei mit Chruschtschow an der Spitze. Sie will den Sozialismuskurs in der DDR auf jeden Fall beibehalten (und lässt wenige Jahre später den Übergang zum Kommunismus in der SU beschließen). Diese Fraktion geht ein Bündnis mit der Armeeführung ein (die die DDR aus militärischen Gründen als Vorposten im Westen erhalten will), und entscheidet so den Moskauer Machtkampf am 17.Juni für sich. Berija wird wegen seiner Position in der deutschen Frage als Agent des Imperialismus hingerichtet (für jeden erkennbar, richtet sich seine Verurteilung gegen die mit der Stalin-Note eingeschlagene Politik). Zugleich macht Malenkow einen politischen Salto rückwärts und distanziert sich von Berija und seiner vorherigen Position. Damit hat sich nicht nur Chruschtschow die Macht gesichert, gleichzeitig ist die SED-Führung und mit ihr der gerade eingeführte Sozialismus gerettet – zumindest bis 1989.

6. Mauerbau und NÖS

Trotz aller Wirtschaftshilfe aus der UdSSR entwickelt sich die DDR-Ökonomie nicht in dem Ausmaß, das nötig ist, um mit der BRD mitzuhalten. Die Folge ist, dass ein regelmäßiger Strom von Menschen den Staat Richtung Westen verlässt. Als Reaktion darauf wird 1961 die sog. Mauer gebaut, die die DDR vom Westen abschließt. In die Sprache der Ökonomie übersetzt bedeutet dies, dass die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums nunmehr mit stummer Gewalt dazu gebracht werden sollen, den Sozialismus aufzubauen.

Auf diesem Boden führt Ulbricht, von einer Gruppe von Ökonomen beraten, bald darauf das sogenannte Neue Ökonomische System NÖS bzw. NÖSPL ein. Kernpunkt ist, dass die Wirtschaft nicht mehr administrativ, sondern ökonomisch gesteuert werden soll, indem die Betriebe größere Selbständigkeit erhalten, marktwirtschaftliche Elemente praktizieren und vor allem das Leistungsprinzip durchsetzen sollen.

Gleichzeitig werden bestimmte Schlüsselindustrien besonders gefördert und soll die Kybernetik Einzug in die Ökonomie halten. Parallel dazu geht Ulbricht daran, das Verhältnis zur BRD zu verbessern, um von ihr die notwendige fortgeschrittene Technik zu erhalten. Auf diese Weise, so ist er überzeugt, wird es mit Hilfe des NÖS möglich sein, die Produktivkräfte binnen kürzester Frist sprunghaft zu entwickeln, die BRD zu überholen, dadurch den Westen von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen und auf dieser Basis die deutsche Einheit unter sozialistischem Vorzeichen wiederherzustellen. Das ist Ulbrichts „Masterplan“. Gleichzeitig zeigt sich wieder dasselbe Muster des Sozialismusaufbaus: der Übergang zum NÖS wird dekretiert, ohne dass es vorher eine gesellschaftliche Debatte darüber gegeben hat.

Tatsächlich werden in ausgewählten, besonders bevorzugten Industriezweigen auch erhebliche Produktivitätsfortschritte erzielt. Gleichzeitig bleiben andere Industriezweige jedoch umso weiter zurück; in der Wirtschaft als Ganzer nehmen die Disproportionen zu und mit ihnen vergrößern sich die Versorgungsschwierigkeiten. Als es deswegen in der Bevölkerung zu wachsenden Unmutsbekundungen kommt, steht auf einmal wieder das Gespenst des 17.Juni vor der Tür des Politbüros. Die Angst davor lässt die Mehrheiten in Politbüro und ZK 1971 umschlagen. Ulbricht wird zum Rücktritt gezwungen und Honecker tritt an seine Stelle.

7. Honecker: Sozialpolitik und Leistungsprinzip

Die neue Führung lässt als erstes die ökonomischen Disproportionen beheben, so dass sich auch die Versorgungslage verbessert. Um die Massen ruhigzustellen, lässt Honecker darüber hinaus ein umfangreiches Sozialprogramm auflegen, u.a. durch den massenhaften Bau neuer Wohnungen, aber auch durch die Verbesserung anderer Leistungen – es gibt eine sog. „zweite Lohntüte“ (politökonomisch betrachtet wird dadurch das Leistungsprinzip entwertet, weil die Sozialleistungen leistungsunabhängig gewährt werden).

Wie die restliche Führung weiß jedoch auch Honecker, dass dadurch der Rückstand zur BRD nicht aufzuholen ist. Vielmehr muss auf jeden Fall die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit erhöht werden, und deshalb fassen die Parteitage der SED regelmäßig Beschlüsse, in denen die notwendigen Produktivitätssteigerungen genau berechnet und vorgegeben werden.

Um sie umzusetzen, wird ebenso regelmäßig versucht, das Entlohnungssystem umzugestalten, um dem Leistungsprinzip mehr Geltung zu verschaffen, weil allen Beteiligten klar ist, dass hier der Schlüssel für die Produktivitätsentwicklung liegt. Doch alle diese Versuche gehen aus wie das Hornberger Schießen, nämlich ergebnislos, und zwar jedes Mal aus demselben Grund: sobald aus den Betrieben Anzeichen von Unzufriedenheit unter den Beschäftigten gemeldet werden, werden die Versuche sofort wieder eingestellt. D.h. es gelingt nicht, mit der Durchsetzung des Leistungsprinzips zugleich die notwendigen Produktivitätsfortschritte zu erzielen.

Marx schreibt im „Kapital“, dass die produktive Entwicklung der menschlichen Gesellschaft im letzten Grund nicht auf Maschinerie und Technik beruht, sondern dass die entscheidende Produktivkraft der Mensch selber ist. Aber während das Kapital die Steigerung des Leistungsvermögens der von ihm kommandierten Arbeitskräfte durch die Drohung mit Entlassung und Arbeitslosigkeit erzwingen kann, ist dieser Weg dem Sozialismus versperrt. Er ist angewiesen auf die Bereitschaft der produktiven Klasse, Hirn, Nerven und Muskelkraft für den Aufbau einer neuen Gesellschaft einzusetzen, und das ist in der DDR nicht der Fall. Die Arbeiterschaft hatte weder an dem Übergang zum Sozialismus noch an dem Übergang zum NÖS Anteil – in der Konsequenz ist sie nicht bereit, sich für die ihr aufoktroyierte Gesellschaftsordnung zu engagieren, weder politisch noch ökonomisch.

8. Der Untergang der DDR

In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wird der Niedergang der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers immer offenkundiger.

In der DDR entsteht zu der Zeit, großenteils im Umkreis der ev. Kirche, eine Oppositionsbewegung von Angehörigen der Intelligenz vor allem aus dem Kulturbereich. Sie führt zunächst in Leipzig und bald auch in anderen Städten die sog. „Montagsdemonstrationen“ durch, die bald immer mehr Zulauf erhalten. Die Träger dieser Bürgerbewegung sind nicht gegen den Sozialismus, sie sind gegen die SED-Herrschaft und für einen besseren, einen demokratischen Sozialismus.

Es gelingt dieser Bewegung auch – ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Unterstützung eines „Reformflügels“ in der SED, grundlegende Änderungen herbeizuführen. Am 18.Oktober 1989 wird Honecker von Egon Krenz abgelöst, und drei Wochen später wird eine sog. Reformregierung unter Hans Modrow gebildet, die führende Rolle der SED wird aus der Verfassung gestrichen und freie Wahlen werden angekündigt.

Damit sind faktisch die Ziele der Bürgerbewegung erreicht. Wie aber soll es mit der Wirtschaft der DDR weitergehen, die in einem desolaten Zustand ist? Die Bürgerbewegung hat dazu kein Konzept; denn sie hat sich immer auf demokratisch-politische Forderungen beschränkt. Dagegen versucht die Regierung Modrow, binnen kürzester Zeit ein ökonomisches Sanierungskonzept zu erstellen (was nicht so einfach ist). Das Ergebnis knüpft in vielen Punkten an das NÖS der 60er Jahre an, jetzt nur erheblich erweitert und vertieft.

Kernpunkt ist, die bisherigen Staatsbetriebe in die Selbständigkeit zu entlassen, sie sollen Produktion und Preise künftig frei gestalten können, unter Aufsicht des Staats und bei Wahrung der sozialen Rechte der Beschäftigten. Gleichzeitig setzt man auf die BRD, von der man sich großzügige Wirtschaftshilfen erhofft. Das Ergebnis soll eine „sozialistische Marktwirtschaft“ sein bzw. ein „marktwirtschaftlicher Sozialismus“. Propagiert wird dies als „besserer Sozialismus“ in einer selbständig bleibenden DDR.

Wie reagiert nun die Arbeiterschaft auf diese Entwicklung? Sie ist bis dahin weitgehend abwartend geblieben – die Demokratiebewegung ist eine Bewegung der Intelligenz, nicht der Arbeiter; bestenfalls finden sich Arbeiterjugendliche bei den Montagsdemonstrationen ein. Jetzt aber geht es ans Eingemachte, nämlich an die Ökonomie, und da muss die Arbeiterschaft reagieren.

Im Prinzip will sie keinen Kapitalismus (das ergeben Befragungen in den Betrieben, die zu diesem Zeitpunkt frei stattfinden können). Dann jedoch erfolgt binnen weniger Wochen ein Umschwung, und zwar als direkte Reaktion auf die Wirtschaftspläne der Regierung Modrow.

Die Arbeiter begreifen nämlich (völlig zu Recht), dass die von der neuen Regierung angekündigte Wirtschaftsordnung auf nichts anderes als den Kapitalismus hinausläuft, allerdings nur halbherzig und gewunden, sozusagen mit dem Rücken voran und als besserer Sozialismus deklariert.

Wenn dem aber so ist, wenn die Zukunft also auf jeden Fall kapitalistisch sein wird, dann will man sofort an den positiven Seiten dieses Kapitalismus teilhaben, sprich an dem Lebensstandard, den der Westen bietet. Dafür wiederum gibt es einen einfachen Weg – nämlich die deutsche Einheit, und das bedeutet, die nationale Frage zu stellen.

Im Laufe des Monats November erfolgt so eine erdrutschartige Verschiebung in der Arbeiterschaft, an deren Ende ihre große Mehrheit schließlich zur Verwirklichung ihrer sozialen Interessen die Wiedervereinigung so schnell wie möglich fordert.

Ablesbar ist dies an den Montagsdemonstrationen in Leipzig, die ein untrüglicher Seismograph sind. Anfang November noch lautete die zentrale Parole noch „Wir sind das Volk“, dagegen hat die Montagsdemonstration am 27.November eine ganz andere Zusammensetzung mit anderen Parolen: „Eine Masse von Arbeitern, Angestellten, Handwerkern, in der Mehrzahl ‚kleine Leute‘, darunter viele Jugendlich aus den Betrieben, auch das Gros der Restgeneration der Alten war es, die sich über alle politische Konvention und Tabus auf beiden Seiten der Mauer hinwegsetzten und dieses Deutschland einig Vaterland hinausschrien“. (Sozialismus ohne Basis, S.130)

Die Volkskammerwahl im März 1990 dokumentiert die Verschiebung anhand des Stimmzettels. Dabei zeigt sich eine deutliche soziale Scheidung: Die sog. „Intelligenz“ unter Einschluss der verbliebenen SED-Anhänger stimmt für Parteien, die an der Selbständigkeit der DDR festhalten. Dagegen stimmt die Mehrheit der Arbeiterschaft und damit der Wahlbevölkerung für Parteien, die für die schnelle Wiedervereinigung eintreten. Die Wahlforschung hat dieses Verhalten als „rational choice“, als rationale Wahl bezeichnet: „Die Arbeiter hatten von der Verlängerung der jetzigen Verhältnisse am meisten zu befürchten, nämlich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen zu sein. Von der raschen Übernahme bundesdeutscher Regeln glaubten sie, am meisten erhoffen zu können, nämlich am Wohlstand des westdeutschen Alltags auf schnellstem Wege teilzuhaben. Die Allianz für Deutschland bot hier die glaubwürdigste Alternative.“ (ebda, S.133)

Auf diese Weise besiegelt die Wahl das Ende der DDR.

9. Schlussbemerkung

Damit kommen wir zum Schluss, nämlich der Frage, worin der letzte Grund für das Scheitern des Sozialismus in der DDR zu suchen ist.

Wenn man mit Marx davon ausgeht, dass der Sozialismus-Kommunismus als Assoziation freier Menschen nur möglich ist auf Basis eines freiwilligen Zusammenschlusses der produzierenden Klasse zur Errichtung einer neuen Gesellschaft, liegt die Antwort auf der Hand:

Angefangen mit ihrem Beschluss von 1952 hat die SED versucht, eine sozialistische Gesellschaftsordnung ohne und gegen die arbeitende Klasse zu errichten. Geleitet von der Überzeugung, damit eine ökonomische Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung zu vollstrecken, hat sie die Massen, als deren Avantgarde sie sich selber deklarierte, nicht als Subjekt der eigenen Geschichte, sondern als Objekt ihrer Politik behandelt.

Dieser Versuch ist vollständig gescheitert, und damit ist zugleich die revolutionäre Theorie, der Marxismus, in eine tiefe Krise gestürzt worden. Umso dringender stellt sich deshalb die Aufgabe, eine grausam-gründliche Kritik und Selbstkritik des eigenen Scheiterns vorzunehmen, wie Marx das im „18.Brumaire“ von proletarischen Revolutionen gefordert hat. Ohne eine solche Analyse wird auch jeder neue Anlauf hin zu einer freien, nichtkapitalistischen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt sein.